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German Pages 250 [249] Year 2006
Yvonne Ehrenspeck · Dieter Lenzen (Hrsg.) Beobachtungen des Erziehungssystems
Yvonne Ehrenspeck Dieter Lenzen (Hrsg.)
Beobachtungen des Erziehungssystems Systemtheoretische Perspektiven
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
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1. Auflage August 2006 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Stefanie Laux Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN-10 3-531-14992-X ISBN-13 978-3-531-14492-9
Inhalt Inhalt Ehrenspeck / Dieter Lenzen Yvonne Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Jochen Kade Lebenslauf – Netzwerk – Selbstpädagogisierung. Medienentwicklung und Strukturbildung im Erziehungssystem . . . . .
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Dirk Baecker Erziehung im Medium der Intelligenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Jürgen Markowitz Funktionale Differenzierung und strukturelle Folgen . . . . . . . . . . . . .
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Hans Merkens Erziehungssystem im Wandel. Zu den Problemen der Veränderung seiner Grenzen und des Verhältnisses von Fremd- und Selbstreferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Raf Vanderstraeten Die Unwahrscheinlichkeit der pädagogischen Kommunikation . . . . . .
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Thomas Kurtz Erziehung, Kommunikation, Person. Zur Stellung des Erziehungssystems in einem besonderen Quartett gesellschaftlicher Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kai-Uwe Hellmann Erziehung in der Umwelt des Erziehungssystems. Funktionale Äquivalenzen zwischen Erziehung und Werbung . . . . . .
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Johannes Bellmann / Birger P. Priddat Pädagogische und ökonomische Lernwelten zwischen Differenzierung und Entdifferenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Harm Kuper Eröffnen sich aus dem Erziehungssystem Alternativen zur funktionalen Differenzierung pädagogischer Kommunikation? . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Thomas Brüsemeister Das Erziehungssystem zwischen Code und regionaler Differenzierung – Vergleiche mit dem Wirtschaftssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Volker Kraft Unwissenheit schmerzt nicht oder: Gesundheits- und Erziehungssystem in vergleichender Perspektive . . .
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Annette Scheunpflug Biologische und soziale Evolution. Erziehung und die Entwicklung biologischer, psychischer und sozialer Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort Waren zunächst der schulische Unterricht und das Kind als Medium des ErzieVorwort hungssystems im Fokus der Systemtheorie, so richtete sich angesichts der beobachtbaren Entgrenzung und Universalisierung des Pädagogischen spätestens seit Mitte der 1990er Jahre die Aufmerksamkeit Niklas Luhmanns auch auf den Sektor Weiterbildung. Die Frage nach dem Medium des Erziehungssystems stellte sich erneut, und es wurde vorgeschlagen, den Lebenslauf als Medium des Erziehungssystems zu beobachten. Diese Neufassung für das (Kommunikations-)Medium des Erziehungssystems reflektiert nicht nur die vergleichsweise schnellen Veränderungsprozesse und Entgrenzungsphänomene dieses Systems, sondern wirft weitere Fragen nach dessen Spezifika auf. Auch teilsystemübergreifende Phänomene, wie die Umstellung der gesellschaftlichen Differenzierung auf Strukturen, die der Kommunikation im Medium des Computers angepasst sind, oder Effekte der Globalisierung, die sich im Erziehungssystem an den Umgehensweisen des Systems mit der PISA-Herausforderung zeigen, machen eine Nachjustierung der systemtheoretischen Beschreibungen des Erziehungssystems in Relation zu anderen Teilsystemen der Gesellschaft notwendig. Die Frage: „Hat das Erziehungssystem eine sich wandelnde Sonderstellung im Club der funktional differenzierten Systeme?“ war deshalb der Ausgangspunkt einer Tagung, die im Frühjahr 2004 an der Freien Universität Berlin stattfand. Die Antworten auf diese Frage, die in Erinnerung und Fortsetzung der von Niklas Luhmann und Karl Eberhard Schorr inaugurierten systemtheoretisch-erziehungswissenschaftlichen Kolloquien „Fragen an die Pädagogik“ gestellt wurde, werden im folgenden Band dokumentiert. Die Teilnehmer der Tagung waren aufgefordert, den Besonderheiten des Erziehungssystems im Hinblick auf folgende Aspekte nachzugehen: das Verhältnis von Medium und Form, Kommunikationscode, Elemente des Erziehungssystems, Elementrelationen, Umweltkontakt, das Verhältnis des Erziehungssystems zu anderen sozialen und nichtsozialen, z. B. biologischen, organischen Systemen, strukturelle Kopplungen, Ausdifferenzierungstempo und Ausmaß sowie Stabilitätskriterien des Erziehungssystems. An der kontrovers diskutierten Neufassung des (Kommunikations-)Mediums des Erziehungssystems setzt der Beitrag von Jochen Kade an. Kade rekapituliert die Bestimmungen des Begriffs Lebenslauf als Medium des Erziehungssystems und macht darauf aufmerksam, dass es eine „Grundschwäche“ des Erziehungssystems sei, dass der Lebenslauf nicht bereits ein Medium darstellt, welches der pädagogischen Kommunikation auch operativ zugänglich ist. Kade definiert den Lebenslauf deshalb als ein dem Erziehungssystem lediglich vorausgesetztes gesellschaftliches Medium der Vermittlung von sozialem und psychischem Sys-
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Vorwort
tem. Als Kommunikationsmedium des Erziehungssystems eigne sich der Lebenslauf deshalb nicht. Kade plädiert für die Unterscheidung von Medium und Kommunikationsmedium („Heider“-Medium/„Parsons“-Medium) und plausibilisiert, dass diese Unterscheidung im Fall des Erziehungssystems eine Bedeutung gewinnt, die im Fall anderer Funktionssysteme der Gesellschaft vernachlässigt werden kann. Bezogen auf das Kommunikationsmedium des Erziehungssystems, vertritt Kade die These, dass dieses zwei Kommunikationsmedien entwickelt hat, die es erlauben, dem Lebenslauf feste Kopplungen und damit Formen abzugewinnen: Wissen und Zertifikate. Ein Erziehungssystem, das sich über Zuständigkeit für den Lebenslauf begründet und seine Funktion in der Bildung von Formen im Lebenslauf sieht, kann sich nach Kade allerdings nur auf der Basis einer eher schwachen Institutionalisierungsordnung entwickeln. Auch Dirk Baecker problematisiert mit Rekurs auf die Ausführungen von Kade die Vermutung, der Lebenslauf sei das Medium des Erziehungssystems, prüft im Gegenzug „Intelligenz“ als Kommunikationsmedium und bezieht sich dabei auf einen Vorschlag von Talcott Parsons, der Ende der 1960er Jahre Intelligenz als Kommunikationsmedium, zumindest der höheren Erziehung, an den Universitäten konzipiert hat. Parsons beschreibt die Universität als „Intelligenzbank“ und bestimmt Intelligenz entsprechend als Kommunikationsmedium des akademischen Systems. Intelligenz ist nach Parsons ein Austauschmedium, das als solches dieselben Strukturmerkmale aufweist wie die bekannteren Austauschmedien Geld, Sprache, Macht und Einfluss. Baecker prüft mithilfe der von Luhmann entwickelten Strukturmerkmale, inwieweit „Intelligenz“ über das akademische System hinaus auch als Kommunikationsmedium des Erziehungssystems beschrieben werden kann. Wurde in den Beiträgen von Kade und Baecker eine mögliche Sonderstellung des Erziehungssystems im „Club funktional differenzierter Systeme“ am Beispiel der Bestimmung des oder der Kommunikationsmedien des Erziehungssystems diskutiert, widmen sich die folgenden Überlegungen dem Aspekt der funktionalen Differenzierung des Erziehungssystems sowie dem Problem der Grenzziehung bzw. des Verhältnisses von Fremd- und Selbstreferenz. Jürgen Markowitz geht davon aus, dass die Sonderstellung des Erziehungssystems insbesondere dann deutlich wird, wenn man die quer zur Funktionsdifferenzierung liegenden Ebenendifferenzierungen auf deren Funktion hin befragt. Aus dieser Perspektive resultiert die Sonderstellung nach Markowitz daraus, dass zur Begründung dieser Sonderstellung nicht der Primat der Funktion behauptet werden muss, sondern dass neben dem Funktionsbezug der Akteursbezug von gleichrangiger Bedeutung ist. Das Erziehungssystem zeichnet sich dadurch aus, dass im Erziehungssystem insbesondere die Vermittlung zwischen Akteursbezug und Funktionsbezug reflektiert und praktiziert wird.
Vorwort
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Hans Merkens widmet sich der Frage nach der Sonderstellung des Erziehungssystems insbesondere in diachroner Weise. Er fragt nach dem Wandel des Systems und der daraus resultierenden Veränderung der Grenzen des Erziehungssystems. Merkens diskutiert zur Beantwortung dieser Fragen das Medium und die Funktionen des Erziehungssystems sowie das Verhältnis des Erziehungssystems zu anderen Teilsystemen der Gesellschaft. Merkens zeigt, inwiefern das Erziehungssystem im Zuge seiner Ausdifferenzierung immer wieder von anderen Teilssystemen der Gesellschaft, wie der Wirtschaft oder der Politik, „fremdbestimmt“ wird, wie diese Fremdbestimmung zugleich strukturbildend wirkt und welche Implikationen dies für die Programme des Erziehungssystems hat. Raf Vanderstraeten geht demgegenüber insbesondere auf die Interaktionsebene des Erziehungssystems ein und zeigt auf, dass für das Funktionssystem Erziehung die bleibende Angewiesenheit auf Interaktion (zwischen Eltern und Kindern, Lehrern und Schülern) charakteristisch ist. Erziehung findet vor allem auf der Interaktionsebene statt; die Expansion des Erziehungssystems vollzieht sich nach Vanderstraeten entsprechend als Prozess des zellulären Wachstums und der Multiplikation von Interaktionssystemen. Daraus folgt, dass die der Interaktion inhärenten Limitationen das System belasten. Was immer in und durch Erziehung möglich ist, hängt davon ab, was in Interaktion möglich ist. Vanderstraeten weist darauf hin, dass dies vor allem für Schulklassen mit thematisch deutlich fokussierten Kommunikationsprozessen gilt. Diese Limitationen können auf der Ebene der Organisation nicht kompensiert oder aufgehoben werden. Organisationen können lediglich sicherstellen, dass Interaktionen häufig und regelmäßig stattfinden; sie können aber nicht sicherstellen, dass/wie Erziehung stattfindet. Auch Thomas Kurtz grenzt das Erziehungssystem im Hinblick auf die Besonderheiten der Bedeutung des Interaktionssystems, dem Ziel des „people-processing“ sowie der Formung personaler Lebensläufe gegen andere Systeme wie Politik oder Wissenschaft ab. Kurtz weist jedoch auch darauf hin, dass das Erziehungssystem mit den Systemen Religion, Recht und Krankenbehandlung zugleich die Besonderheit teilt, dass in diesen Systemen der professionellen Arbeit den Interaktionssystemen eine wichtige Rolle beigemessen wird. Denn es geht dort nicht nur um systeminterne Anschlussfähigkeit von Kommunikation, sondern um Eingriffe in die personale Umwelt der Gesellschaft bzw. der einzelnen Funktionssysteme. Das Erziehungssystem spielt somit in einem „Quartett mit drei anderen Systemen“ (Kurtz). Kurtz arbeitet heraus, dass das Erziehungssystem sich von den anderen drei Systemen des Quartetts nur in Nuancen abgrenzt und keine herausragende Rolle einnimmt. Es spielt nach Kurtz nur „eine von vier Stimmen in einer lebenslangen Aufführung: der Formung der Person beziehungsweise des Lebenslaufs“.
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Vorwort
Kai-Uwe Hellmann meldet im Hinblick auf die bereits von Kurtz relativierte Sonderstellung des Erziehungssystems im Club funktional differenzierter Systeme ebenfalls Bedenken an und geht möglichen funktionalen Äquivalenzen zwischen Erziehung und Werbung nach. Erziehung, so kann Hellmann zeigen, kommt nicht nur im Erziehungssystem, sondern auch in seiner Umwelt, wie etwa der Werbung, vor. Vor dem Hintergrund des Vergleichs von Erziehungssystem und Werbung wird deutlich, dass die Absicht zu erziehen zu unspezifisch ist, um eine eindeutige Grenzziehung zwischen Funktionssystem und innergesellschaftlicher Umwelt zu leisten. Wie das Erziehungssystem trägt sich auch Werbung mit Erziehungsabsichten und hat mit einem vergleichbaren Technologiedefizit zu kämpfen. Johannes Bellmann und Birger P. Priddat gehen der Frage nach der möglichen Sonderstellung des Erziehungssystems in einem Vergleich mit dem Wirtschaftssystem nach. Als besonders aufschlussreich erweist sich dabei die Untersuchung der Semantik des Lernens, die in beiden Systembeschreibungen eine große Rolle spielt. Bellmann und Priddat führen dabei einen interdisziplinären Dialog über die unterschiedlichen Modellierungen von Lernwelten im Kontext des Erziehungs- und der Wirtschaftssystems. In diesem die Systemreferenzen fokussierenden Gespräch wird deutlich, dass die Semantik von Bildung und Lernfähigkeit ebenso wie die Semantik von Markt und Knappheit sich nicht eindeutig systemspezifisch zuordnen lässt. Vielmehr handele es sich um „entdifferenzierte Ganzheitssemantiken mit verführerischer Anschlussfähigkeit“ (Bellmann). Auch Harm Kuper beschäftigt sich mit der pädagogischen Semantik des Lernens, indem er Regionalisierungstendenzen im Bereich Weiterbildung und dem Anspruch der „Lernenden Region“ nachgeht. Die Aufmerksamkeit für die Sinndimension des Raums im Feld Weiterbildung führt Kuper zu der Frage, ob Besonderheiten der funktionalen Differenzierung des Erziehungssystems die Entwicklung von Strukturen begünstigen, in denen räumliche Grenzen von Bedeutung sind. Während Kuper Merkmale der funktionalen Differenzierung des Erziehungssystems betrachtet und dabei auf die Regionalisierung der Weiterbildung eingeht, konzentriert sich Thomas Brüsemeister vor dem Hintergrund eines Systemvergleichs von Erziehungs- und Wirtschaftssystem auf das allgemeinbildende Schulwesen. Im Zentrum seiner Analyse stehen, neben dem Systemvergleich in Bezug auf Systemreproduktion, basale Elemente des Erziehungssystems, symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien und regionale Differenzierungen, die systemische Integration sowie die Frage, wie im Schulsystem das Verhältnis zwischen Code und regionalen Einheiten zu beschreiben ist.
Vorwort
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Nach den komparativen Studien zu Gemeinsamkeiten und Differenzen von Erziehungssystem, Werbung und Wirtschaftssystem geht Volker Kraft in vergleichender Perspektive der Sonderstellung von Gesundheits- und Erziehungssystem nach. Kraft sieht die Sonderstellung von Gesundheits- und Erziehungssystem darin begründet, dass es sich um Funktionsbereiche handelt, in denen das Problem und der angestrebte Erfolg nicht in der Kommunikation selbst liegt, sondern in der Änderung der Umwelt. Kraft vergleicht Codierung und Reflexion beider Systeme und stellt heraus, dass für beide Systeme die Beziehung zwischen Körper und Bewusstsein zentral ist. Hieraus ergibt sich im Hinblick auf die Relation zwischen Kommunikation und Bewusstsein und zwischen Bewusstsein und Körper, psychischem und biologischem System das Problem der „doppelten Umweltorientierung“ (Kraft). Kraft geht dabei auch den vielfältigen strukturellen Kopplungen mit Teilsystemen der Gesellschaft nach, in die das Erziehungs- und das Gesundheitssystem eingebunden sind, und fragt nach den Spezifika der Gesundheitspädagogik. Die Relation von biologischen, psychischen und sozialen Systemen spielt auch eine besondere Rolle in dem Beitrag von Annette Scheunpflug. Sie untersucht das Verhältnis des Erziehungssystems zu den nicht-sozialen, biologischen Systemen sub specie Systemtheorie und beschreibt die Evolution biologischer und sozialer Systeme. Die systemtheoretische Beschreibung dieser Vorgänge wird in einem weiteren Schritt um eine biowissenschaftliche Perspektive ergänzt, wobei Scheunpflug insbesondere die Sicht der Soziobiologie vorstellt, von der sich Luhmann strikt abgrenzt. Abschließend beleuchtet Scheunpflug die Beziehung zwischen biologischen und sozialen Systemen aus erziehungswissenschaftlicher Sicht. In einer Gesellschaft, in der das politische System weiterhin gern alle nicht primär erzieherisch induzierten, sondern durch Unterlassen und Vertagen in anderen Politikfeldern entstandenen Probleme in pädagogische umdefiniert, um sich ihrer zu entledigen, ist die theoretisch angemessene Beschreibung solchen Wandels der Grenzen des Erziehungssystems essenziell. Diese Beschreibung kann allerdings nicht an die Stelle von notwendigen Entscheidungen treten, weder was die Selbstbegrenzung des Erziehungssystems betrifft noch was den Verzicht aus dem politischen System angeht; für empirische Forschung sind solche Beschreibungen indessen essenziell, wenn diese dazu neigen, Effekte „des“ Erziehungssystems, die eigentlich solche des politischen Systems sind, den Akteuren im Erziehungssystem zuzuschreiben. Berlin, im Juni 2006
Yvonne Ehrenspeck, Dieter Lenzen
Lebenslauf – Netzwerk – Selbstpädagogisierung. Medienentwicklung und Strukturbildung im Erziehungssystem Medienentwicklung Jochen Kade und Strukturbildung im Erziehungssystem
Jochen Kade 1. Einleitung: Medienentwicklung und Institutionalisierung Die Überlegungen der systemtheoretischen Soziologie zum Erziehungssystem haben sich zunächst auf den schulischen Unterricht und das Kind als Medium bezogen. In einer seiner letzten Veröffentlichungen zu Lebzeiten (1997) hat Niklas Luhmann vor dem Hintergrund der Weiterbildung und als Antwort auf eine in den Erziehungswissenschaften beobachtete Entgrenzung und Universalisierung des Pädagogischen – Parsons hatte bereits in den 1970er Jahren von einer ungezügelten Expansion der Pädagogik als Merkmal moderner Gesellschaften gesprochen (vgl. Luhmann 2002, S. 122) – an die Stelle des Kindes den Lebenslauf gesetzt und damit das Medium des Erziehungssystems von seiner lebensphasenbezogenen Anbindung abgelöst, ohne zugleich jedoch den institutionellen Raum des Erziehungssystems neu zu bestimmen. Zwar hat Luhmann für das politische System die „tief liegenden Zusammenhänge“ erläutert, die zwischen dem „Aufbau von Strukturen und den medienorientierten Operationen bestehen“ (Luhmann 2000b, S. 65). Bezogen auf das Erziehungssystem stellte er jedoch trotz der lebensphasenbezogenen Entgrenzung seines Mediums weiter die Schule und die Unterrichtsinteraktion in den Mittelpunkt. Dieser organisationszentrierte Begriff des Erziehungssystems überspielte die Schwächung der operativen Spezifik und damit der institutionellen Struktur des Erziehungssystems, die sich aus der Entgrenzung des Mediums ergab. Denn anders als das Kind bezeichnet der Lebenslauf zunächst nicht ein dem Erziehungssystem eigenes Medium. Er ist ihm vorausgesetzt, dies jedoch nicht bereits in einer ihm assimilierten pädagogischen (Um-)Deutung.1 1 Auch im Falle des Kindes hat sich der heute selbstverständliche starke pädagogische Zugriff auf die Kindheit erst relativ spät durchgesetzt. Die Gleichsetzung von Kind und Schulkind ist Resultat eines langen Kampfes, in dem die Schule als Veranstaltung des Staates, um das Kind dem Einfluss partikularer Mächte zu entreißen, eine zentrale Rolle spielt. Dieser Kampf wird immer wieder neu geführt. Die gegenwärtig zu beobachtenden Impulse zur Entkopplung von
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Jochen Kade
Ich will im Folgenden zunächst die Frage des Mediums des Erziehungssystems noch einmal aufnehmen. Vor dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen dem Lebenslauf als Medium und den Kommunikationsmedien Wissen und Zertifikate werde ich anschließend die Frage der Institutionalisierung von Erziehung und Bildung näher betrachten. Meine These wird sein, das sich ein Erziehungssystem, das sich über die Zuständigkeit für den Lebenslauf begründet und seine Funktion in der Bildung von Formen im Lebenslauf sieht, nur auf der Basis einer eher schwachen Institutionalisierungsordnung – vergleichbar der des Religionssystems (vgl. Luhmann 2000a, S. 288) – entwickeln kann, die durch eine lose Kopplung seiner Operationen gekennzeichnet ist, genauer: die lose Kopplung von lose und strikt gekoppelten Operationen pädagogischer Kommunikation.
2. Lebenslauf, Wissen, Zertifikate Gesellschaftliche Funktionssysteme differenzieren sich nur in dem Maße aus, in dem es ihnen gelingt, die Zuständigkeit für ein relevantes gesellschaftliches Problem für sich zu reklamieren und darauf bezogen durch eine spezifische Kommunikationsoperation reproduzierte Formen zu entwickeln, die sie von anderen sozialen Systemen deutlich unterscheidbar machen. Code und Medium sind daher zentrale Bestimmungen pädagogischer Kommunikation, der Basisoperation des Erziehungssystems. Nachdem mit der Differenzierung in Vermitteln, Aneignen und Überprüfen pädagogische Kommunikation als basale operative Einheit des Erziehungssystem und mit ,vermittelbar/nicht-vermittelbar‘ und ,besser/schlechter‘ die Frage der Codierung pädagogischer Kommunikation – zunächst einmal – als geklärt gelten kann (vgl. Kade 1997; 2004; Luhmann 2002)2, bedarf für einen „klaren Begriff von Erziehung“ (Luhmann 2002, S. 42) die Klärung des Mediums pädagogischer Kommunikation näherer Analyse.3 Kind und Schule, etwa in den Diskussionen über ein Recht des Kindes auf Arbeit, sind dafür ein deutliches Zeichen. Zugleich lässt sich gegenläufig zu solchen Tendenzen der Exklusion des Kindes aus dem Erziehungssystem eine zunehmende Inklusion des Erwachsenen in dieses beobachten, die sich etwa in pädagogischen Adressatenkonstruktionen des Erwachsenen als Teilnehmer oder Klient niederschlägt. Insofern wäre das Verhältnis von Kindheit und Erwachsenenleben zum Erziehungssystem gleichermaßen durch Inklusion wie Exklusion bestimmt (vgl. schon Schulenberg 1968). 2 Ausgehend davon, dass die Systemtheorie es nur vordergründig mit ,geordneten Verhältnissen‘ zu tun hat, sie sich inzwischen daher vermehrt eher ,unordentlichen‘ Bereichen zuwendet, auf die ihre Kategorien (zunächst) nicht passen, hat Peter Fuchs (2006) den Reiz des Codes ,vermittelbar/nicht-vermittelbar‘ in dem Spielen mit der Ambiguität von Vermitteln im Sinne von ,Vermitteln von Wissen‘ und ,Vermitteln von Personen/Karrieren‘ gesehen. Damit wird die Kombination einer binären (vermittelbar/nicht-vermittelbar) mit einer dimensionalisierten Unterscheidung (besser/schlechter) zum Kennzeichen der Codestruktur des Erziehungssystems. 3 Diese Frage spielt im „Erziehungssystem der Gesellschaft“ so gut wie keine Rolle. Erwähnt
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2.1 Der Lebenslauf als Medium Ein grundlegender Unterschied der Operationen des Erziehungssystems von denen anderer Funktionssysteme liegt im Medium, an dem diese Operationen sich orientieren, in dem sie stattfinden und aus dem heraus sie Formen bilden. So bildet etwa das Wirtschaftssystem seine Formen im Medium Geld (vielleicht sollte man eher sagen: im Medium Wert), das politische System im Medium der (politischen) Macht, das Wissenschaftssystem im Medium Wahrheit und das System der Liebe im Medium Liebe. Das Erziehungssystem bildet Formen im Medium Lebenslauf. Dieses Medium lässt unschwer die Nähe zum Individuum und zur Bildung als den eingeführten pädagogischen Orientierungsmarken zu erkennen. Mit dem Lebenslauf wird das Erziehungssystem über einen Bezugspunkt begründet, der das Individuum temporalisiert und gegenüber Bildung insbesondere die Kontingenz und Ungewissheit der Lebensverhältnisse in der Moderne betont (vgl. Helsper/Hörster/Kade 2003). Der Lebenslauf ist Ausdruck der für moderne Gesellschaften kennzeichnenden Individualisierung und Temporalisierung. Hinter ihm steht die Erfahrung und Einsicht einer Zunahme der Komplexität empirischer Individualität, die es nicht mehr erlaubt, die Vorstellung aufrechtzuerhalten, die Individuen seien „abhängige Variable eines Planungs- und Verwaltungsvorgangs“ (Luhmann 2000c, S. 285). Er beschreibt das Individuum, sofern es wesentlich in der Zeit prozessiert und eine offene, ungewisse Zukunft hat, und ist damit eine „Antwort auf das Problem der Zukunftsungewissheit“ (Luhmann 2002, S. 96). Durch die Formung des Lebenslaufes erzeugt das Erziehungssystem im Individuum die Ressourcen zur Teilnahme an anderen sozialen Systemen. Anders als insbesondere das Geld, aber auch noch einmal im Unterschied zum Kind, das auf Grund der ihm inhärenten Struktur des Noch-Nicht selbstverständlich auf eine Wissensdifferenz verweist, die mit seinem Erwachsensein, in dieses mündend, aufzuheben ist, ist der Lebenslauf kein für das Erziehungssystem spezifisches Medium. Es nimmt diesen nur in Anspruch. Er verweist gerade nicht selbstverständlich auf ein aufzuhebendes Wissensdefizit, sondern setzt sich auch jenseits pädagogischer Kommunikation fort, wenn auch nicht als ein mit Steigerungs- bzw. Verbesserungsabsichten gestalteter Lebenslauf.4 wird der Begriff des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums nur einmal im Zusammenhang der Rede von einem noch fehlenden „klaren Begriff von Erziehung“. Offenbar wusste Luhmann noch keine Antwort, wollte aber auch nicht an der These vom Fehlen eines symbolischen Kommunikationsmediums festhalten, die etwa Giancarlo Corsi noch 1997 in seinem Glossar zusammen mit dem Hinweis auf das Codierungsdefizit als Spezifikum des Erziehungssystems wiederholt hatte. Zumindest zunächst einmal schien das Medium Lebenslauf dieses Theorievakuum zu füllen. Als Yvonne Ehrenspeck auf der Berliner Tagung zur Systemtheorie von 1997, auf der Luhmann ja für die Ersetzung des Mediums Kind durch den Lebenslauf votierte, fragte, ob das Medium Lebenslauf das sei, was früher als Kommunikationsmedium bezeichnet worden sei, stimmte Luhmann nach kurzem Zögern auffallend lakonisch zu. Damit war das Thema erledigt. 4 Projekte zur Erforschung des Weltwissens der Kinder (vgl. Elschenbroich 2000) gehen nicht
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Wie alle Medien so erhält sich auch der Lebenslauf nur, indem er Formen bildet. Deren Verkettung als Biographie bildet seinen Verlauf ab. Wenn die Formen erst einmal gebildet sind, kann der Eindruck entstehen – wie dies etwa im Fall der Biographie geschieht –, sie seien fest aneinander gekoppelt und ergäben sich etwa aus einem Identitätskern des Individuums heraus. Der Lebenslauf ist aber immer nur eine lockere Kopplung, eine kontingente Abfolge von Ereignissen. Nur seine Formen sind jeweils feste Kopplungen aus Elementen dieses Mediums. Sie haben aber keinen Bestand. Bestand hat nur der sich durch sie reproduzierende Lebenslauf. Das Medium selbst ist unsichtbar, daher natürlich auch nicht durch Handeln gestaltbar. Der Lebenslauf existiert – und das ist die allgemeinste Bestimmung des Mediums, wie Luhmann bezogen auf die Macht erläutert – als „operative Einheit von Potentialität und Aktualität“. Er ist das „Mehrprodukt (!, J.K.) seiner selbst“ (2000b, S. 35). Es macht – verglichen etwa mit dem Wirtschaftssystem – eine Grundschwäche des Erziehungssystems aus, dass der Lebenslauf nicht bereits ein Medium ist, das der pädagogischen Kommunikation operativ zugänglich ist. Das Erziehungssystem ist für den Lebenslauf (noch) nicht zuständig wie das Schulsystem für die Lebensphase der Kindheit, genauer: das Kind als Schulkind. Er verfügt darüber auch nicht wie das politische System über die (politische) Macht und das Wirtschaftssystem über das Geld. Dies wird leicht übersehen, wenn die Einführung des höchst voraussetzungsvollen Mediums Lebenslauf5 als Begründung einer Handlungsaufgabe, nämlich der der Lebenslaufbetreuung, (miss)verstanden wird (vgl. Lenzen 1997). Damit wäre das Erziehungssystem zweifelsohne überfordert. Auch ist der Lebenslauf darauf nicht angewiesen, er ist nur Voraussetzung des Erziehungssystems. Er ist ein dem Erziehungssystem vorausgesetztes gesellschaftliches Medium der Vermittlung von sozialem und psychischem System. Er ist nichts anderes als die in der Zeit prozessierende, immer neue Formen bildende Vermittlung; er kommt also dem nahe, was in nicht temporalisierter Gestalt – bezogen auf das psychische System – als Sozialisation gefasst wird. Im Lebenslauf werden soziale und psychische Systeme kontinuierlich vermittelt. Und diese Vermittlung geschieht jeweils in den konkreten Formen, die der Lebenslauf annimmt, die sich in ihm einprägen und in denen er beobachtbar wird.
2.2 Medium und Kommunikationsmedium Weil es im Erziehungssystem um die Vermittlung von sozialem und psychischem System geht, am Erziehungssystem also zwei Systeme beteiligt sind, trägt von einem zu überwindenden ,Noch-nicht‘, damit der schulischen Konstruktion einer Differenz aus, sondern von einer Differenz von Wissensformen und dabei einem spezifischen Weltwissen von Kindern. Umgekehrt bekommt das Wissen des Erwachsenen in dem Maße, in dem diesem eine Schülerrolle zugemutet wird, den Status der Vorläufigkeit. 5 Wie voraussetzungsreich auch die Kindheit ist, zeigt Lenzen 1989.
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in ihm die in anderen Funktionssystemen mögliche In-Einsetzung von Medium und Kommunikationsmedium nicht. Im Fall des Erziehungssystems gewinnt die Unterscheidung zwischen beiden Medien, dem sog. Heider-Medium und dem Parsons-Medium (vgl. Baecker 2006), eine Bedeutung, die im Fall anderer Funktionssysteme, etwa des Wirtschaftssystems, vernachlässigt werden kann.6 Seinem allgemeinen Begriff nach ist das Heider-Medium durch die Medium/ Form-Differenz bestimmt. In den Blick gerückt wird damit der generell, d. h. auch außerhalb von Funktionssystemen, bedeutsame Übergang von lockerer zu fester Kopplung von Elementen. Dieser Übergang wird begriffen als Formbildung in einem Medium.7 Der Rekurs auf diesen Medienbegriff macht deutlich, dass Kommunikation nicht als Übertragung von Informationen von einem Lebewesen zu einem anderen zu verstehen ist, sondern als ein eigenständiger Ort der Formbildung im Medium Sinn. Wenn Luhmann Erziehung als Formbildung im Medium Lebenslauf beschreibt, bezieht er sich gerade auf diesen Medienbegriff. Formbildung ist dabei nicht an die soziale Operation Kommunikation gebunden, die Medium/FormDifferenz kann auch zur Analyse von Operationen des Bewusstseins verwendet werden. Das Konzept Medium dient dazu, die Bedingungen der Möglichkeit des Unmöglichen zu erklären, von einem sozialen System auf ein psychisches System einzuwirken; nämlich indem eine dritte Realitätsebene in Anspruch genommen wird, die beide übergreift.8 Im gewissen Sinne dringt damit ein Moment religiöser Kommunikation in pädagogische Kommunikation ein; insofern nämlich, als in der Immanenz der Kommunikation auf die sie transzendierende Sinnform des Bewusstseins Bezug genommen wird. Vielleicht ist Bildung daher eher eine Transzendenz- als eine Kontingenzformel.9 Der bei Luhmann theoretisch schon länger eingeführte Begriff des (symbolisch generalisierten) Kommunikationsmediums bezieht sich demgegenüber nur auf die Kommunikation. Er antwortet auf das Problem, dass Kommunikation zunehmend unwahrscheinlich wird, konkreter: dass die Akzeptanz von Kommunikationsofferten durch die dabei Adressierten unter den Bedingungen der Individualisierung unwahrscheinlich wird. Das Theorem der doppelten Kontingenz formuliert dies. Kommunikationsmedien heben diese Unwahrscheinlichkeit nicht grundsätzlich auf, aber sie machen die Annahme von Kommunikationsofferten wahrscheinlicher, insofern sie die Qualität von Mitteln für noch 6 Allerdings zieht auch Luhmann die Unterscheidung meist nicht in der gebotenen Strenge durch; zuletzt im Falle der Monographie über das Politische System, obwohl er gerade in dieser Studie die Unterscheidung zwischen Medium und Kommunikationsmedium äußerst detailliert herausarbeitet (vgl. Luhmann 2000b, insbes. S. 36ff.). 7 Dirk Baecker (2001) sieht in der gesellschaftsanalytischen Nutzung der Medium/Form-Differenz die spezifische theoretische Leistung von Luhmann, nicht etwa im Theorem der Ausdifferenzierung der Gesellschaft in Funktionssysteme. 8 Niklas Luhmann spricht deswegen auch vom „generelle(n) Medium des Aufeinanderangewiesenseins“, das Formen bildet, „in denen es symbolisch zum Ausdruck kommt und durch die es reproduziert wird“ (Luhmann 2000b, S. 40). 9 Vgl. in diesem Sinne zur Religiosität rechtlicher Kommunikation Teubner 1999.
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undefinierbare Zwecke haben, ähnlich dem Geld und der Macht als „generalisiertes Potential“ (Luhmann 2000b, S. 56). Auf pädagogische Kommunikation bezogen: die Aufgabe von Kommunikationsmedien ist die Erhöhung der Wahrscheinlichkeit, dass das vermittelte Wissen auch angeeignet wird. Weil Wissensvermittlung dies impliziert, sind Kommunikationsmedien eine Bedingung pädagogischer Kommunikation. Beim Medium seinem allgemeineren Begriff nach geht es demgegenüber nicht um die Erhöhung der Wahrscheinlichkeit pädagogischer Kommunikation innerhalb der Grenzen der Kommunikation, sondern um das Möglichmachen unmöglicher pädagogischer Kommunikation über ihre Grenze hinaus; einer Kommunikation, die ihre Grenze übersteigt und ins psychische System hineinreicht. Kommunikationsmedien sind hinreichende Bedingungen der Kommunikation, das Vorhandensein eines Medium ist die notwendige Bedingung dafür, dass Kommunikationsmedien zum Einsatz kommen können. Das Wirtschaftssystem ist vielleicht das prägnanteste Beispiel dafür, dass eine funktional spezifizierte Operation nicht über die Grenzen des Funktionssystems hinausweist. Soweit der Lebenslauf innerhalb des Erziehungssystems verläuft, pädagogische Kommunikation auf ihn Bezug nimmt, diese und der Lebenslauf sich also wechselseitig begründen, handelt es sich um den pädagogisierbaren, m. a. W.: den der pädagogischen Kommunikation bedürftigen Lebenslauf. Er ist das Medium, in dem pädagogische Kommunikation Formen bildet. Der pädagogisch codierte Lebenslauf ist als steigerbar, zumindest als gestaltbar bestimmt. Unter den Bedingungen seiner gesellschaftlichen Existenz kann vom Individuum erwartet werden, dass es den Verlauf seines Lebens bestimmt und dieses nicht als kontingente Abfolge von Formen bildenden Lebenslaufereignissen begreift. Entsprechend begründet sich das Erziehungssystem als das soziale System, durch dessen Intervention der Lebenslauf gesteigert oder zumindest gestaltet werden kann. Diese Intervention ist jedoch nicht als instrumenteller Eingriff in das individuelle Leben zu denken, sondern als Bildung von Formen im Medium Lebenslauf. Zugänglich ist dieser der pädagogischen Kommunikation nur über Kommunikationsmedien.10
10 Dirk Baecker (2006) hat in seiner Antwort auf meinen Beitrag Intelligenz als Medium vorgeschlagen. Er lässt dabei jedoch die Differenz zwischen dem sog. Parsons- und Heider-Medium unterbelichtet. Ich sehe Baeckers Überlegungen eher als Bestätigung und soziologisch akzentuierte Ausführung denn als Alternative. Die von Parsons/Platt (1999) gegebene Beschreibung der Universität als „Intelligenzbank“ und als „Einflussbank“ kommt meiner – allerdings in einem anderen theoretischen Kontext stehenden – Begründung von Wissen und Zertifikaten als Kommunikationsmedien – zumindest strukturell – sehr nahe. Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht halte ich es für sinnvoll, am Lebenslauf als Medium des Erziehungssystems festzuhalten, wenn man es deutlicher als bisher vom Kommunikationsmedium unterscheidet.
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2.3 Wissen und Zertifikate als Kommunikationsmedien Das Erziehungssystem hat – so die hier vertretende These – zwei Kommunikationsmedien entwickelt, die es erlauben, dem Lebenslauf feste Kopplungen, damit Formen abzugewinnen, ihn also gleichsam in Form zu bringen. So wie in der Wirtschaft bestimmte Zahlungen geleistet oder in der Politik bestimmte Anweisungen erteilt werden, geht es im Erziehungssystem darum, bestimmtes Wissen zu vermitteln und bestimmte Zertifikate auszugeben. Das Wissen ist die kognitive Form des Lebenslaufs, es ist insofern lebenslaufbedeutsames Wissen. Wissen im Erziehungssystem ist immer „individuelles Wissen, d. h. eine Form, die dem Lebenslauf Chancen gibt, oder auch, wenn sie fehlt, Chancen verbaut. (...) Es erweitert den Aktionsradius der Individuen“ (Luhmann 2002, S. 98). Über die Vermittlung von Wissen kann der Adressat sich Wissen aneignen, das ihm zu einem späteren Zeitpunkt die Gestaltung seines weiteren Lebenslaufes ermöglicht.11 Das Zertifikat hebt auf den Lebenslauf seiner sozialen Seite nach ab. Soweit er nach dieser Seite innerhalb des Erziehungssystems verläuft, erwirbt man durch die Vermittlung, präziser: durch die Vergabe von Zertifikaten, Anrechte auf die Teilhabe an Sequenzen pädagogischer Kommunikation, die an die je gegenwärtige Sequenz, für die das Zertifikat erworben wurde, anschließen (können). Soweit der Lebenslauf außerhalb des Erziehungssystems und in Anschluss an pädagogische Kommunikation verläuft, es also für den Lebenslauf um Formbildungen in anderen sozialen Systemen geht, ermöglichen Zertifikate – natürlich immer auch enttäuschbare – Erwartungen an den weiteren Verlauf des Lebenslaufes, an weitere Formbildungen, etwa und insbesondere in der Gestalt beruflicher Karrieren. Karrieren sind dasjenigen „Strukturmuster, das die Eigenselektion des Erziehungssystems mit der konjunkturellen Selektion des Wirtschaftssystem verknüpft“ (Luhmann 1990, S. 90), aber natürlich nicht nur mit diesem Funktionssystem. Durch die Formung des Lebenslaufes bringt das Erziehungssystem im Individuum die Ressourcen zur Teilnahme an anderen sozialen Systemen hervor. Es ist indes eine Fiktion der Aufklärung, diese Formgebung hinge nur vom Wissen ab. Daher geht es in der pädagogischen Kommunikation nicht nur um die Vermittlung von Wissen, sondern auch um die Vergabe von Zertifikaten. Zur Frage des Erziehungssystems wird damit, wie man Individuen dazu bringen kann, sich Wissen und – daran gebunden – Zertifikate für eine ungewisse Zukunft anzueignen. Die Antwort geht üblicherweise in drei Richtungen: Indem ein Zusammenhang zwischen Wissensauswahl und zukünftigem Lebenslauf kom11 Insofern das Wissen selber eine Form des Lebenslaufs ist, ändert er sich bereits im Moment seiner Aneignung. Der Lebenslauf gewinnt über die Wissensaneignung unmittelbar eine neue Form, die eine Zukunft eröffnet, aber eine andere verschließt. Wer Fahrradfahren gelernt hat, kann sich in Zukunft mit dem Fahrrad durch die Welt bewegen. Wenn er dies tut, werden ihm andere Fortbewegungsmöglichkeiten – etwa auch muskulär – ungewohnt. Auch nimmt man die Welt aus der Perspektive des Fahrradfahrens in einer Weise wahr, die bestimmte andere Sichten ausschließt.
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munikativ plausibel gemacht wird; indem der Wissenserwerb über die Vergabe von Zertifikaten mit sozialen Anrechten verknüpft wird, und schließlich indem die Mühen des Wissenserwerbs verringert und er mit anderen, positiv bewerteten oder notwendigen Aktivitäten verknüpft wird.12 Beide Kommunikationsmedien können pädagogischer Kommunikation keine gesicherte Grundlage geben, denn ihre Festlegungen im Lebenslauf sind in der Moderne in hohem Maße prekär. Dies gilt für das Wissen als Kommunikationsmedium sowohl auf Grund seiner Herkunft aus dem Wissenschaftssystem als auch inzwischen zunehmend aus dem System der Massenmedien: Als Resultat des Wissenschaftssystems kann Wissen immer zum Nichtwissen werden. Es befindet sich apriori im Übergang zum Nichtwissen. Zugleich wächst dieses mit dem Wissen zunehmend an (vgl. Wehling 2001). Als Resultat der auf Neuigkeiten, d. h. auf Informationen, abhebenden Massenmedien mangelt es dem durch sie konfirmierten Wissen grundsätzlich an Festigkeit und Dauerhaftigkeit. Und schließlich sieht man dem im Erziehungssystem vermittelten Wissen die damit behauptete Lebenslaufbedeutung nicht an. Diese Behauptung ist Resultat einer immer auch kontingenten Festlegung des Wertes des zu vermittelnden Wissens beim Übergang aus dem Wissenschafts- in das Erziehungssystem. Die bekannte Kritik am Unterrichtsstoff nach dem Motto ,Was kann ich später damit anfangen?‘, die bei jeder Bildungsreform erneut traktiert wird, ist ein Indiz dafür, dass die vom Erziehungssystem getroffenen Festlegungen der Lebenslaufbedeutsamkeit von Wissen, man kann auch sagen: seiner pädagogischen Form, in der entwickelten Moderne für die Adressaten, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Schule keine kulturell, etwa durch einen Bildungskanon, oder organisatorisch, etwa durch den Schulzwang, begründete stabile Evidenz haben (vgl. auch Rustemeyer 2003). Entsprechend gibt es pädagogische Felder, die für eher selbst determinierte Selektionstraditionen stehen, wie die Schule, und andere Felder, in denen die Wissensfestlegungen eher instabil sind und relativ ungeschützt der Irritation durch externe gesellschaftliche Erwartungen bezüglich dessen, was als lebenslaufbedeutsam zu gelten hat, ausgesetzt sind.13 Auch Zertifikate haben keine gesicherte kommunikationsunabhängige Gültigkeit. Sie können praktische Entscheidungen höchstens unvollständig informieren. Die Einlösung der mit ihnen verknüpften Erwartungen, ja, Ansprüche auf ihre soziale Anerkennung bezüglich des zukünftigen Einsatz sind nicht zuletzt wegen ihrer unvermeidbarer Inflationierung ebenso ungewiss wie das Wissen, das sie über das individuell erworbene Wissen der Zertifikatseigner kommunizieren (vgl. Kuper 2005). Ihre Verknüpfung mit dem Lebenslauf bedarf insofern eigenständiger kommunikativer Validierung. Die doppelte Instabilität der Kommunikationsmedien Wissen und Zertifikate führt nun nicht dazu, dass sie in der pädagogischen Kommunikation generell 12 Zum Verhältnis von Wissens- und Zertifizierungskommunikation vgl. Kade 2005. 13 Siehe zeitdiagnostisch vergleichbar zum Epochenbruch in der Grundgesetzinterpretation Böckenförde 2003.
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an Bedeutung verlieren und ihre Funktion etwa von den Medien Macht, Liebe oder Geld übernommen wird. Zu beobachten ist vielmehr, dass die Kommunikation der Lebenslaufbedeutsamkeit von Wissen und Zertifikaten zunehmend zu einer eigenständigen Aufgabe im Erziehungssystem wird und beide wechselseitig zur Kompensation ihrer jeweiligen Stabilitätsdefizite genutzt werden. Damit einher geht eine Steigerung der Bedeutung, die Vertrauen zur Gewährleistung unwahrscheinlicher anschlussfähiger Akzeptanz bekommt, also als Bedingung der Fortsetzung pädagogischer Kommunikation.14 Die nur unsichere Festlegung des Lebenslaufes erscheint aus dieser Sicht nicht als Mangel, sondern als Chance der individuellen Selbstfestlegung im Horizont ungewisser Zukünfte.15
3. Das Erziehungssystem als netzwerkartiger Zusammenhang von pädagogischer Kommunikation und Selbstpädagogisierung Der systemtheoretische Begriff eines ausdifferenzierten Funktionssystems für Erziehung geht bisher von einer „Symbiose von Interaktion und Organisation“ (Luhmann 2002, S. 121) aus. Er zieht damit eine scharfe Grenze zwischen Erziehung und Bildung innerhalb und außerhalb des Erziehungssystems. Luhmann war sich jedoch durchaus der „Künstlichkeit der Annahme“ bewusst, das Erziehungssystem bestünde nur aus der Schule (ebd., S.128). Die prekär gewordene organisatorische und professionelle Durchgriffsmacht auf die Annahme von Interaktionsofferten im Unterricht einerseits, die Universalisierung des Pädagogischen sowie das durch neue Entwicklungen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien mit hervorgerufene Anwachsen (massen-)medialer Formen der Wissensvermittlung (vgl. Nolda 2002) andererseits, machen eine scharfe Grenzziehung zwischen schulisch organisierter Erziehung und anderen Gestalten von Erziehung und Bildung inzwischen eher fragwürdig. Sie legen es nahe, von einem weiter gefassten Begriff eines sich entwickelnden Erziehungssystems auszugehen, dessen Elementarbegriff nicht mehr (schulische) Unterrichtsinteraktion ist, sondern pädagogische Kommunikation (vgl. Kade 2004).16 14 Der Fortgang pädagogischer Kommunikation hängt auch – das kann hier nur angedeutet werden – von der „Regulierung“ der Beziehung zur „Körperwelt“ ab. Bezogen auf die Kontrolle dieser Außenweltbezüge der Kommunikation spricht Luhmann von „symbiotischen Mechanismen“ bzw. „symbiotischen Symbolen“ (1977b, S. 378ff.). 15 Zur Aufwertung des Entscheidens als Umgang mit dem Nichtwissen vgl. Luhmann 2002, S. 198f. In diesem Sinne schlägt auch Giancarlo Corsi (2000, S. 290) eine Umstellung pädagogischer Konzepte vor von der bisher vorherrschenden Orientierung am Modell „unmöglicher Prävention vor zukünftigen Gefährdungen“ und dem Versuch, richtige Richtungen vorzuschlagen, auf Modelle, die mit dem „Komplex von Entscheidung, Risiko, Wissen umgehen“. 16 Strukturelle und semantische Entwicklungen stehen in einem mehr als zufälligen Verhältnis zueinander. Man kann die entwickelte abstraktere erziehungswissenschaftliche Begrifflichkeit ,Vermitteln‘, ,Aneignen‘, ,Überprüfen‘, ,pädagogische Kommunikation‘ als theoretische Ant-
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Die – verglichen mit dem Kind noch einmal wesentlich gesteigerte – Schwäche des Mediums eines über den organisatorisch abgesteckten Rahmen des schulischen Unterrichts hinausreichenden Erziehungssystems wird durch schwächer entwickelte pädagogische Rahmungen außerhalb des Schulsystems noch einmal verstärkt. Pädagogische Kommunikation kommt daher dort, wo sie erkennbar ist, eher rudimentär und flüchtig, geringer konturiert vor, etwa was ihre Periodenbildung betrifft. Sie heftet sich (zeitweise) eher parasitär an andere Kommunikationen an, ohne dass auf der Ausbildung von Vollformen insistiert würde (vgl. Kade/Seitter 2003a). Die Fortsetzung und Wiederholung pädagogischer Kommunikation wird damit verstärkt von Zertifizierungen abhängig, wie sie zunehmend auch für den Bereich des Lernens Erwachsener diskutiert werden, nachdem ja Formen ambulanter Professionalisierung schon seit längerem in Feldern jenseits der Professionen zu beobachten sind (vgl. Nittel 2004; einschränkend Grunert/Krüger 2004). Dieser Institutionalisierungsform des Pädagogischen ist jede Vorstellung unangemessen, die davon ausgeht, sie werde durch einen übergreifenden Willen, eine übergreifende pädagogische Absicht (professionell) integriert und koordiniert. Aber auch der Annahme, es handele sich beim Erziehungssystem um ein operativ geschlossenes autopoietisches System, mangelt es (noch) an empirischer Evidenz. Die wachsende Bedeutung von Erziehung und Bildung außerhalb schulischer Kontexte einerseits und das Brüchigwerden von organisatorischen Rahmungen, die zur Überlastung der Schule durch Erziehungs- und Bildungserwartungen führen, andererseits, sprechen dafür,17 die Frage der Ausdifferenzierung eines Erziehungssystems von verabsolutierten Stabilitätsannahmen zu lösen und sich an Institutionalisierungsformen zu orientieren, die auf Konzepte lockerer Kopplungen und Modelle dynamischer Ordnungsbildung abstellen. Daher liegt der Gedanke nahe, dass es sich beim Erziehungssystem um einen Typ netzwerkartiger Systembildung handelt (vgl. Kade/Seitter 2006; auch Wittpoth 2003).18 Das Erziehungssystem würde sich in dieser Perspektive unkoordiniert, dezentral, von vielen Punkten aus, als locker gekoppelter netzwerkartiger Zusammenhang von lebenslaufbedeutsamen Kommunikationsereignissen ohne scharfe Grenzen gegenüber seinen Umwelten reproduzieren. In einer solchen Perspektive auf „strukturierte Komplexität“ als Unterscheidung von lose und strikt gekoppelten Elementen (vgl. Luhmann 2000b, S. 196) bedeutet die Universalisierung des Pädagogischen eine Steigerung der gesellschaftlichen Unkoordinierbarkeit von Vermittlung, Aneignung und Überprüfung von Wissen. Als netzwerkartiger Zusammenhang unterschiedlicher Formen pädagogischer Kommunikation bewort auf die gesteigerte Pluralität von Erziehungsformen sehen. Die Erziehungswissenschaft beobachtet damit nicht nur die Empirie des Erziehungssystems, sondern kann insofern auch seine Ausdifferenzierung forcieren, als sie die realgesellschaftliche Herausbildung pädagogischer Kommunikation als einer eigenen Form auf den Begriff bringt und damit als solche erkennbar und reproduzierbar macht (vgl. Kade 2004; Rustemeyer 2003). 17 Vgl. in dieser Perspektive unter allgemeinem Bezug auf gesellschaftliche Entwicklungen Stehr 2000. 18 Vgl. bezogen auf Netzwerke als Form wissenschaftlicher Kommunikation Keiner 2002.
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greift das Erziehungssystem zwar organisatorisch gesicherte stabile Kopplungen pädagogischer Kommunikationsereignisse ein, sie sind aber nicht Struktur bildend für den Gesamtzusammenhang des Erziehungssystems. Das Erziehungssystem ähnelt mehr dem „hochgradig vernetzten Wirken von Massenmedien“ (Luhmann 2000, S. 306) als den organisatorisch und staatsbezogen relativ kompakt und robust integrierten Systemen von Recht und Politik. Seine Struktur ist geprägt durch organisatorische und professionelle Verdichtungen pädagogischer Kommunikation sowie komplementär dazu durch ungebundene soziale Systeme pädagogischer Kommunikation, in denen etwa ambulante Pädagogen wirken und in denen vielleicht auch pädagogische Innovationen ihren bevorzugten Ursprung haben. Die empirische Tragfähigkeit einer solchen theoretischen Perspektive hängt auch von der Entwicklung des Mediums pädagogischer Kommunikation ab; m. a. W., davon, ob der Lebenslauf als Voraussetzung pädagogischer Kommunikation vom Erziehungssystem so als pädagogisch bedürftig spezifiziert werden kann, dass die Wahrscheinlichkeit steigt, dass durch Rekursionsprozesse temporäre Festlegungen in kontingenten Kontexten des Lebenslaufes zustande kommen. Die Selbstpädagogisierung der Individuen im Zeichen des lebenslangen Lernens, die mit dem Ausbau von Gelegenheiten, aber auch Zumutungen der (Selbst-)Beobachtung einhergeht (vgl. Kade/Seitter 2004), könnte die Fragilität und Flüchtigkeit pädagogischer Kommunikation durch eine Stärkung des Mediums pädagogischer Kommunikation kompensieren. Solche Zusammenhangsbildungen lassen sich bereits im Schatten organisatorischer Institutionalisierungen auf der Ebene der Individuen beobachten. Das an deren Lebensläufe anschließende lebenslange Lernen findet nur z. T. in Erziehungs- und Bildungsinstitutionen statt. Empirische Untersuchungen zeigen, dass sich Erwachsene ihre je individuellen Orte des Lernens in sozial locker vorstrukturierten Räumen auf Grund eigener Entscheidungen suchen. Sie stellen selbst die Verknüpfungen zwischen unterschiedlichen Lernkontexten her. Nur temporär eröffnen sich ihnen wesentliche Teile des gesamten gesellschaftlich entwickelten Möglichkeitsraumes lebenslangen Lernens.19 Empirische Studien zum lebenslangen Lernen, die die Perspektive individuell pluraler Aneignung akzentuieren, haben die Transformation von Biographien in Bildungsbiographien aufgewiesen und verbunden damit die gewachsenen Leistungen aufgewiesen, die von Erwachsenen zur Vernetzung unterschiedlicher bildungs- und bildungsrelevanter Angebote erbracht werden (vgl. etwa Kade/Seitter 1995; Seitter 1999). Man kann darin die Infragestellung der exklusiven Zuständigkeit des Erziehungssystems für die Lösung des Problems der ,Vermittlung‘ sehen und zugleich eine Öffnung für das Problemlösungspotenzial, das sich, vom psychischen System ausgehend, unter der Bedingung entwickeln kann, dass die Individuen die Erwartungsstruktur pädagogischer Kommunikation internalisiert 19 Ob die beständigen Forderungen nach mehr Transparenz über die Lernangebote für Erwachsene eine wesentliche Änderung herbeiführen, bleibt abzuwarten.
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haben. Damit träte nicht nur die Kontingenz des Erziehungssystems als Institutionalisierungsform des Lernens deutlicher ins Blickfeld. Es würden sich auch Formen des Pädagogischen innerhalb des Erziehungssystem entwickeln, zu denen ein dem Schulmodell nachgebildeter Begriff eines Erziehungssystems eher in Distanz steht und denen gegenüber er gerade profiliert wurde. Das Erziehungssystem würde damit totaler und insofern erst richtig ein gesellschaftliches Funktionssystem. Es wäre auf die eher monologische Form der Selbstpädagogisierung als seine andere Seite bezogen. Zugleich würde es auch seine institutionellen Alternativen einbegreifen; d. h. Formen pädagogischer Kommunikation, die in nicht-pädagogische Institutionen eingebunden sind und die, wie etwa die Familienerziehung, nur noch als historisch überwundene Vorformen des Erziehungssystems gesehen wurden (vgl. Luhmann 2002). Aber ebenso Formen massenmedialer ,Volkserziehung‘, die unter den Bedingungen neuer Informationsund Kommunikationstechnologien verstärktes pädagogisches Gewicht bekommen.20
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20 Eine schöne literarische Darstellung des Zusammenspiels dieser Formen findet sich in Philip Roths’ Roman „Der menschliche Makel“ (2000).
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Erziehung im Medium der Intelligenz Erziehung Dirk Baecker im Medium der Intelligenz
Dirk Baecker 1 Die Erziehungswissenschaften diskutieren über Niklas Luhmanns Vermutung, dass sich das Erziehungssystem der Gesellschaft im Laufe des 20. Jahrhunderts von der bisherigen Kommunikation im Medium des „Kindes“ auf eine Kommunikation im Medium des „Lebenslaufs“ umgestellt hat (Lenzen/Luhmann 1999; Luhmann 1991, S. 19ff., 2002, S. 82ff.). Jochen Kade greift diese Diskussion in einem neuen Beitrag auf und verstärkt die Skepsis der Erziehungswissenschaften gegenüber Luhmanns Vermutung mithilfe zweier gegenläufiger Überlegungen (Kade 2006). Die erste Überlegung befürchtet angesichts des Umstands, dass auch andere soziale Systeme, vor allem Organisationen mit ihren Karriereangeboten, auf den Lebenslauf eines Individuums Einfluss nehmen, einen Autonomieverlust des Erziehungssystems. Und die zweite Überlegung befürchtet gerade umgekehrt, dass sich das Erziehungssystem gegen diesen Zugriff anderer sozialer Systeme auf den Lebenslauf des Individuums durchsetzen könnte und damit eine einzigartige, riskante und auf Dauer nicht durchhaltbare Stellung in der Gesellschaft gewinnen könnte. Für Jochen Kade ist es zu früh, der einen oder anderen Befürchtung das größere Gewicht beizumessen. Statt dessen verweist er darauf, dass zum einen nicht alle Erziehung im Erziehungssystem stattfindet, so dass ein gewisser Autonomieverlust offenbar eher zu verschmerzen ist, und dass zum anderen die erziehungswissenschaftliche Perspektive möglicherweise dazu neigt, die Ausdifferenzierung des Erziehungssystems zu übertreiben, so dass es realgesellschaftlich eher nicht so schlimm kommen wird, wie es von manchen befürchtet und anderen betrieben wird. Es mag sein, dass diese Diskussion für das Erziehungssystem so typisch ist wie für die Erziehungswissenschaften. Das System befindet sich in einer Orientierungskrise, angesichts derer die Reflexionstheorie des Systems (nämlich die Erziehungswissenschaft) nicht weiß, ob sie eher defensiv oder eher offensiv reagieren soll. Ist die Pädagogisierung der Gesellschaft dank der Übertreibung der guten Absichten der Erziehung und dank der Eroberung auch der Erwachsenen als Klientel „lebenslangen Lernens“ zu weit getrieben worden? Leistet das Erziehungssystem als inhärenter Bestandteil der Wohlfahrts- und Versorgungsgesellschaft zu viel, so dass individuelle Chancen der selbständigen Orientierung und Reorientierung in der Gesellschaft angesichts laufend neuer Lehr- und Lernangebote ungenutzt bleiben? Oder befinden wir uns eher umgekehrt in der Situa-
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tion, dass die Möglichkeiten des Erziehungssystems beim Aufbruch in die schöne neue Welt der „Wissensgesellschaft“ noch gar nicht hinreichend genutzt werden? Leistet das Erziehungssystem als nachhinkender Teil der Informationsund Wissensgesellschaft eher zu wenig, so dass sich große Teile der Bevölkerung nach wie vor in einem unmündigen Zustand des Umgangs mit den Informations- und Unterhaltungsmedien der Gesellschaft befinden? Der Beitrag von Jochen Kade beansprucht nicht, diese Fragen zu beantworten. Er macht jedoch deutlich, dass die Vermutung, die Reproduktion des Erziehungssystems vollziehe sich im Kommunikationsmedium des „Lebenslaufs“, eher ungeeignet ist, sich einer Entscheidung dieser Fragen zu nähern. Das hängt vor allem damit zusammen, dass der Lebenslauf eines Individuums dem Erziehungssystem eben nicht vollständig zugänglich ist, also nicht von diesem in Eigenregie verwaltet werden kann, sondern als gesellschaftliche Voraussetzung des Erziehungssystems hingenommen werden muss. Das Erziehungssystems kann mithilfe der von ihm angebotenen Schul- und Kompetenzkarrieren dann zwar versuchen, in diesen Lebenslauf mit eigenen Konditionierungen einzugreifen und ihm Formen einzuprägen, die nicht unbedingt auf der Linie der Vorstellungen einzelner Individuen oder der Organisationen anderer Funktionssysteme liegen; aber auch dann muss das Erziehungssystem diese Formen der Erprobung und Bewährung in der Gesellschaft aussetzen, ohne sicherstellen zu können, dass diese Erprobung und Bewährung nach pädagogischen Kriterien vorgenommen wird. Jochen Kade neigt dazu, diese Einsicht in die „Transzendenz“ des Mediums Lebenslauf gegenüber dem Erziehungssystem letztlich eher als willkommene Grenzbedingung des Systems zu bewerten, die das System mit der Gesellschaft strukturell koppelt und den Zugriff der Pädagogik auf die Gesellschaft damit einigermaßen in Grenzen hält. Das bedeutet jedoch andererseits nicht, dass die Probleme der Theorie der Erziehung damit hinreichend gelöst wären. Denn erstens hat man den Eindruck, dass die Vermutung des Kommunikationsmediums „Lebenslauf“ bei aller theoretischen Eleganz wieder nur ein Fall „enttäuschender Theorie“ ist (Rustemeyer 2001), weil die begriffliche Beweglichkeit das sachliche Urteil eher erschwert als erleichtert. Und zweitens fällt es angesichts der ungeklärten Fragen zum Medium „Lebenslauf“ schwer, eine Diskussion zu beurteilen, die über das Postulat dieses Mediums noch hinausgeht und mit Dieter Lenzen aufs Ganze eines Mediums der „Humanontogenese“ innerhalb nicht mehr nur eines Erziehungssystems, sondern eines „kurativen Systems“ der Gesellschaft geht (Lenzen 1999). Aus einer soziologischen Perspektive zögert man, dem Erziehungssystem in welcher neuen Form auch immer so viel Verantwortung für Mensch und Menschwerdung zuzuweisen, selbst wenn diese Verantwortung für das Medium der Menschwerdung und nicht für die in diesem Medium möglichen Formen des Menschlichen formuliert wird. Dieses Zögern wird jedoch nur fruchtbar, wenn man sich aus einer soziologischen Perspektive an der Diskussion um die Grenzen des Erziehungssystems beteiligt. Nur bei einem zureichenden Ver-
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ständnis der Limitationalität von Erziehung kann allzu defensiven oder offensiven, deflationären und inflationären Tendenzen der Entwicklung von Erziehung gegengesteuert werden. Die Medienfrage steht im Zentrum dieses Interesses an Limitationalität, weil sie über Autonomie und Grenzziehung des Systems gleichermaßen entscheidet. Sie entscheidet über die Autonomie, weil das Medium zu spezifizieren erlaubt, welche Kommunikation in einem Funktionssystem der Gesellschaft motivations- und selektionsfähig ist. Und sie entscheidet über die Grenzziehung, weil das Medium nicht zwangsläufig, aber doch regelmäßig mit einer binären Codierung der Kommunikation einhergeht, die als Erkenntnisregel verstanden werden kann, welche Kommunikation der Erziehung zuzuordnen ist und welche nicht. Die Medienfrage ist daher ein geeigneter Ausgangspunkt, um nach Kriterien zu suchen, unter denen dem Erziehungssystem von der Gesellschaft wieder ein Vertrauen entgegengebracht werden kann, das es weder überfordert noch unterfordert. Mein Kommentar zum Beitrag von Jochen Kade wird sich daher im Folgenden darauf konzentrieren, zum Medium „Lebenslauf“ einen Gegenvorschlag zu machen, der interessanterweise weder in den Überlegungen von Luhmann noch in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion eine große Rolle spielt, obwohl er von Talcott Parsons hinreichend prominent in Stellung gebracht worden ist. Ich möchte vorschlagen, zu prüfen, ob es aus den genannten Schwierigkeiten hinausführt, die „Intelligenz“ als Medium der Erziehung anzunehmen. Es mag sein, dass dieser Vorschlag angesichts des gegenwärtigen Zustands schulischer und universitärer Erziehung sehr weit hergeholt ist, weil man hier nur noch selten auf die Idee kommt, die beobachtbaren Vorgänge auf welche Art und Weise auch immer mit dem Stichwort „Intelligenz“ zu assoziieren. Es mag jedoch auch sein, dass dies bereits ein Beleg für die Intelligenz des Systems ist, das sich im Hinblick auf die eigenen Zustände eben keiner Selbsttäuschung hingibt und die Beobachtung der eigenen Zustände dazu nutzt, jene Umstellungen vorzunehmen, die der gesellschaftliche Strukturwandel offenbar, aber hinreichend unklar, zu fordern scheint. Darin liegt der Vorteil der soziologischen Perspektive. Sie hält Abstand zu den Professionsideologien der Erziehungswissenschaft und rekurriert stattdessen auf Versuche, die Modalitäten der Ausdifferenzierung des Erziehungssystems mit gesellschaftlichen Strukturen und deren Veränderung rückzukoppeln. Sie hält sich nicht an die Notwendigkeit einer Reflexionstheorie, die Identität des betreuten Systems zu bestätigen und zu pflegen, sondern setzt stattdessen auf die Differenz des Systems im gesellschaftlichen Zusammenhang. Anlass dazu ist zur Genüge gegeben, da die Umstellung von der Buchdruckgesellschaft auf die Computergesellschaft das Erziehungssystem nicht unberührt lässt. Das Kommunikationsmedium „Kind“ hat Luhmann als ein Produkt der Buchdruckgesellschaft beschrieben. Beim Kommunikationsmedium „Lebenslauf“ hat er keine Zuordnung zu einer gesellschaftlichen Differenzierungsstruktur vorgenommen, sondern sich stattdessen und vielleicht voreilig von der Erweiterung der Erziehung zur „Weiterbildung“ leiten lassen (Wittpoth 1999). Möglicherweise
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lässt sich das Medium „Intelligenz“ schlüssiger mit der Hypothese eines Übergangs zu einer Computergesellschaft vereinbaren. Luhmann hat seine abschließende, aber Fragment gebliebene Monographie zum Funktionssystem der Erziehung unter dem eher vorsichtigen Titel „Das Erziehungssystem der Gesellschaft“ geschrieben und nicht unter dem von der Serie seiner Monographien über die Funktionssysteme der Gesellschaft her zu erwartenden Titel „Die Erziehung der Gesellschaft“. Meines Erachtens hat er damit einen noch einzulösenden Anspruch markiert. Von der Erziehung der Gesellschaft ist erst dann schlüssig zu sprechen, wenn Erziehung und Gesellschaft über Ort und Anspruch der Erziehung mit sich im Reinen sind. Möglicherweise leistet die Medienfrage auch zur Klärung dieses Anspruchs einen Beitrag.
2 Talcott Parsons’ Vorschlag, die „Intelligenz“ als Kommunikationsmedium (er sprach unter Bezug auf einen „Austausch“ zwischen Systemen noch von „Austauschmedien“) zumindest der höheren Erziehung an Universitäten zu konzipieren, reagierte ebenfalls bereits auf eine Orientierungskrise der Erziehung, die in den 1960er Jahren durch Konflikte um die Rollenstruktur der Erziehung, sprich: durch die Auseinandersetzung der Studenten mit den Autoritätsbehauptungen der Professoren, ausgelöst worden war (Parsons 1978, S. 133ff.; Parsons/ Platt 1990). Parsons zog aus seiner Beobachtung dieses Konflikts eine denkbar weitreichende Konsequenz, die ähnlich wie Dieter Lenzens Idee eines Mediums der „Humanontogenese“ davon ausgeht, dass die Krise der Erziehung nicht nur das Ergebnis eines innergesellschaftlichen Konflikts zum Beispiel zwischen Erziehung und Wirtschaft (Arbeitsmarkt, Berufsbilder) oder zwischen Erziehung und Politik (Demokratisierungsvorstellungen) ist, sondern darüber hinaus die Ausdifferenzierung der Gesellschaft im Verhältnis zu Körper, Natur und Bewusstsein betrifft. Erst daraus ergibt sich die Bezeichnung der studentischen Bewegung als eine „kulturelle“ Krise der Gesellschaft. Denn diese Bezeichnung soll die Bewegung nicht etwa als „bloß kulturell“ abwerten, sondern ganz im Gegenteil auf den „ökologischen“ Kontext einer Neubewertung gesellschaftlicher Strukturen verweisen: „A storm center of disturbance and a primary focus of ideological preoccupation centered on the status of cognitive standards, of the academic profession and of students. The shift has been from an adaptive level within the social system – the economy, to the adaptive level in the general system of action, with special stress on the cultural level“ (Parsons 1978, S. 136). Es ging nicht nur um die Anpassung an die Bedürfnisse der Wirtschaft (obwohl auch diese nicht zuletzt aus der Perspektive akademischer Karrierebedürfnisse eine Rolle spielten), sondern darüber hinaus um die Anpassung an die „human condition“ schlechthin, die Ausdifferenzierung von „Handlung“ im
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Kontext von Kultur, Gesellschaft, Verhalten und Persönlichkeit (Parsons 1978, S. 352ff.). Parsons’ Reaktion auf die studentische Bewegung ist ein Musterfall soziologischer Beobachtung. Die damaligen Forderungen der Studenten werden gewürdigt, relativiert und neu kontextuiert – ein Moderationsangebot, das niemand aufgriff, da Parsons längst zum konservativen Denker abgestempelt worden war, dessen Einsichten und Beschreibungen keinerlei Gewinn versprachen. Zu kühl war vielleicht auch sein Hinweis darauf, dass die Antiuniversitätsideologie seiner Zeit zu viel mit einem bereits von Karl Marx gewohnten und bereits dort vergeblichen bloßen Protest gegen das Faktum der Ausdifferenzierung und mit einem bereits von Marx gewohnten und bereits bei ihm vergeblichen Ausdruck moralischer und expressiver Bedürfnisse zu tun hat. Den Einwand der „Lebenswelt“ gegen das Establishment des „Systems“ hat bereits Parsons als Ausdruck einer Furcht vor dem drohenden Einflussverlust der akademischen Welt diagnostiziert, so als sei der Lern- und Lehrraum der Universität, gegen den man doch gleichzeitig protestierte, das Musterbeispiel einer gelungenen Alternative zum herrschenden Modus der Vergesellschaftung durch funktional differenzierte Systeme. Der Protest gegen die Universität war nötig, um deren Ideal gegen ihre eigene Wirklichkeit zu behaupten und mit der Gesellschaft zu konfrontieren. Er war überdies nötig, um die Universität zu einer Veränderung ihrer Strukturen zu bewegen, von der die protestierenden Studenten nichts wissen konnten und nichts wissen wollten. Immerhin stand hier nichts Geringeres auf dem Spiel als die Anpassung der Arbeitsteilungsmuster von Erziehung und Wissenschaft an eine sich verändernde Gesellschaft. Der studentische Protest gegen die Arbeitsteilung und für neue Formen der Integration war somit funktional nichts anderes als ein Geburtshelfer der Umstellung auf neue Formen der Arbeitsteilung. Parsons schenkt den Studenten den manifesten Ausdruck ihrer Utopie und schaut sich an, welche latente Funktion der Protest wohl haben könnte. Auch das hat ihm nicht unbedingt Freunde gemacht. Parsons war aufgefallen, dass die Auseinandersetzungen an der Universität um die Frage der „Theorie“ kreisten. Nicht nur wurde erbittert um die „richtige“ Theorie (vor allem der Gesellschaft), sondern es wurde zugleich auch um den Stellenwert der Theorie überhaupt und vor allem im Vergleich mit der „Praxis“ gestritten. Das machte die Lage nicht eindeutiger, war aber ein wichtiger Hinweis auf den Kontext des studentischen Protests. Denn zum einen hatte Daniel Bell, auf den sich Parsons bezieht, das „theoretical knowledge“ als Gravitationszentrum der Rolle der Universitäten in einer „postindustriellen Gesellschaft“ identifiziert, da nur dieses theoretische Wissen eine fächerübergreifende Integrationsaufgabe in der Suche nach neuem Wissen und in der Ausbildung von neuen Kompetenzen erfüllen konnte (Bell 1973). Und zum anderen kam der Bezug auf „Theorie“ den Relevanzbedürfnissen der verunsicherten Jungakademiker entgegen, die noch nicht wussten, in welchen beruflichen Kontexten sie einmal arbeiten würden, sich von dieser Unsicherheit aber nicht daran hindern lassen wollten, die kontextübergreifenden Generalisierungen gleichsam vorab
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auf Reserve zu entwickeln und deutlich zu markieren. Im Interesse an „Theorie“ stecken akademische Verunsicherung, elitäre Bedürfnisse und kognitive Generalisierungen gleichermaßen (Marcuse 1965, S. 161). In dieser Form, so Parsons, entspricht die Theorie sowohl einer neuen Universität, die als in sich ebenso konflikt- wie chancenreiches „bundle“ (Neil J. Smelser) unterschiedlicher Anforderungen an Grundlagenforschung, angewandter Forschung, klinischer Praxis (nicht nur in der Medizin), Grundausbildung und Nachwuchsausbildung zu beschreiben ist, als auch der Rekrutierung des dafür notwendigen Personals. Wobei darauf hinzuweisen ist, dass die amerikanische Universität angesichts eines sehr differenzierten, heterogenen und freien Systems der höheren Schulbildung in einem wesentlich höheren Maße der Ausbildung des Nachwuchses für die Lehre an Colleges und Universitäten dient als das an europäischen Universitäten der Fall ist, die aus Oberschichteneinrichtungen in Anstalten der Massenausbildung verwandelt worden sind, ohne groß darüber nachzudenken, welche Nachfrage der Gesellschaft nach den eigenen Absolventen damit geschaffen werden könnte (Parsons 1978; Stichweh 1994). Das Interesse an „Theorie“, das einem „Theoretiker“ wie Parsons nicht unsympathisch sein musste und das von Jacques Derrida später zu Recht als ebenso destruktiv wie konstruktiv, nämlich als „dekonstruktiv“ beschrieben und weniger auf „Wissenschaft“ als vielmehr auf „Gesellschaft“ (und nicht zuletzt: auf „Amerika“) bezogen worden ist (Derrida 1990, S. 63f.), steht für Parsons im Zusammenhang mit seiner und Gerald M. Platts Beschreibung der Universität als „Intelligenzbank“ (Parsons/Platt 1990, S. 403f.). Eine Intelligenzbank erfüllt im akademischen System dieselbe Funktion wie eine Bank im Wirtschaftssystem: Sie nimmt Einlagen entgegen und ermöglicht aus diesen Einlagen und einer sie absichernden Organisation von Vertrauen die Vergabe von Krediten bis hin zu einer Kreditschöpfung, die über die Summe der Einlagen hinausreicht und zu neuen Einlagen führt. Die Universität erfüllt diese Funktion im Allgemeinen Handlungssystem, also in jenem System, in dem sich die universitäre als eine kulturelle Krise in den 1960er Jahren ereignet hat. Es handelt sich um Einlagen und Kredite möglichen Wissens. Im sozialen System der Gesellschaft, wie wir heute sagen würden, erfüllt die Universität hingegen die Funktion einer „Einflussbank“, das heißt durch Investitionen in die Universität und entsprechende Auszahlungen erhielt man damals (und heute?) Chancen auf die Besetzung einflussreicher Positionen in der Gesellschaft. Parsons nahm an, dass Universitäten über ihren Output an Akademikern, Intellektuellen, Künstlern und anderen Professionen über kulturellen Einfluss verfügen, der dem politischen Einfluss von Politikern, Geschäftsleuten und Gewerkschaftsführern zur Seite steht (Parsons 1977, S. 220ff.). Wir lassen die Idee der Universität als Einflussbank hier erst einmal auf sich beruhen und konzentrieren uns auf die Idee der Universität als Intelligenzbank, wobei wir uns nicht in dem Sinne an die Unterscheidung von action system und social system gebunden fühlen, wie dies der Theoriearchitektonik bei Parsons entsprechen würde. Als Intelligenzbank kann die (man ist immer wieder
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versucht zu ergänzen: „amerikanische“) Universität nur verstanden werden, weil und wenn „Intelligenz“ als Kommunikationsmedium des akademischen Systems konzipiert werden kann. Für Parsons ist dies ein begrifflich noch eher locker ausgearbeiteter Vorschlag, den er jedoch mit Platt zu einer genauen Beschreibung der Autoritätskrise der Universität der 1960er Jahre als Ausdruck einer „deflationären Panik“ nutzt (Parsons/Platt 1990, S. 446ff.). Mir kommt es im Folgenden eher auf den begrifflichen Vorschlag als auf die inhaltliche Beschreibung an. Ich möchte daher Parsons’ Vorschlag zunächst insoweit skizzieren, als er ihn selbst ausgearbeitet hat, um dann im Anschluss daran mithilfe der von Luhmann entwickelten Strukturmerkmale von Kommunikationsmedien zu überprüfen, ob Intelligenz nicht nur als Medium des akademischen Systems, sondern darüber hinaus des Erziehungssystems beschrieben werden kann. Luhmann hat dies selbst, so viel ich weiß, nicht erwogen, obwohl ihm der Vorschlag von Parsons natürlich vertraut war (vgl. Luhmann 1992a). Intelligenz ist für Parsons ein Austauschmedium, das als solches dieselben Strukturmerkmale aufweist wie die bekannteren Austauschmedien Geld, Sprache, Macht und Einfluss. Intelligenz ist keine Eigenschaft von Personen, sondern eine symbolisch generalisierte Fähigkeit der Verfügung über Wissen in Handlungssystemen, das heißt in jenen Systemen, die in jeder einzelnen Handlungseinheit (und nur dort) einen (sich anpassenden) Verhaltensorganismus, eine (Ziele verfolgende) Persönlichkeit, ein (integrierendes) soziales System und ein (Werte implementierendes) kulturelles System zur temporären (das heißt, sofort wieder auseinanderfallenden und nach Anschlüssen suchenden) Einheit bringen (Parsons/Platt 1990, S. 100ff.; Luhmann 1980). Dieses Medium „zirkuliert“ zwischen den Handlungssystemen, das heißt es kann von verschiedenen Leuten und in verschiedenen Situationen für bestimmte Verwendungen eingezahlt und für andere Verwendungen wieder ausgezahlt werden. Zu diesem Zweck muss es überdies „knapp“ sein, damit es Interesse finden kann und Auseinandersetzungen um seinen Besitz stattfinden können. Immer wieder neu zielt dieses Intelligenzmedium jedoch auf nichts anderes als auf die Realisierung kognitiver Kompetenz, das heißt Kompetenzen des Wissens, des Lernens, der Problemstellung und der Problemlösung. Intelligenzeinlagen auf der Intelligenzbank Universität, getätigt sowohl durch Studierende als auch durch Lehrende und Forschende, aber auch durch die Struktur (und den Streit) der Fakultäten und vermutlich auch durch Forschungsmittel und Beratungsaufträge, sind Investitionen in höhere Stufen von Wissen, Kompetenz und, wie Parsons immer hinzufügt, Rationalitätspotenziale, die von der Universität so treuhänderisch verwaltet (oder veruntreut) werden wie Geldeinlagen durch eine Bank, Persönlichkeitseinlagen durch ein Verwandtschaftssystem, Identitätseinlagen durch eine Nation oder Glaubenseinlagen durch eine Religion (Parsons 1977, S. 217). Abgesehen davon, dass Parsons dieses Intelligenzmedium noch sehr viel genauer als Austauschmedium im Allgemeinen Handlungssystem beschreibt, das heißt auf Bezüge zwischen Gesellschaft, Persönlichkeit, Kultur und Verhalten eingeht, die heute die Kognitions-
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wissenschaften eigentlich wieder brennend interessieren müssten, wird das Medium nicht weiter ausgearbeitet. Vor allem fehlt eine Differenzierung zwischen Form und Medium (vgl. Heider 1926; Luhmann 1997), die die Formen, die jeweils zirkulieren, vom Medium unterscheidet, das in seiner Realität und in seinem Potenzial aus diesen Formen nur „erschlossen“ werden kann. Außerdem fehlt, denn das hatte Parsons so weit noch nicht ausgearbeitet, eine Ausarbeitung des Verständnisses von Intelligenz als Kommunikationsmedium. Parsons war an Kommunikationsmedien noch nicht in dem Ausmaß interessiert wie Luhmann, weil die Stabilität und Instabilität gesellschaftlicher Strukturen noch wesentlich stärker an die Existenz von Rollenasymmetrien gebunden waren. Erziehung musste für Parsons funktionieren, solange es eine strukturelle und asymmetrische Unterscheidung zwischen Lehrern und Schülern gibt, die als solche, das heißt als Unterscheidung, dem Rollenverständnis auf beiden Seiten zugrunde liegt (Parsons 1964, S. 129ff.). Erziehung funktioniert, sobald und solange die Lehrer die Lehrer- und die Schülerrolle und sobald und solange die Schüler die Schüler- und die Lehrerrolle „internalisiert“ haben. Beide Seiten müssen wissen, vom wem sie sich unterscheiden. Zu diesem Zweck müssen die Lehrer ein bisschen Schüler sein, und die Schüler ein bisschen Lehrer. Auf beiden Seiten muss jedoch der Unterschied gewahrt bleiben, das heißt der Lehrer darf nicht zu kumpelhaft werden und der Schüler nicht zu sehr Streber, um das Spiel der Erziehung mit Gewinn für alle Beteiligten inklusive der beobachtenden Dritten laufen lassen zu können (Dreeben 1968). Genau diese Rollenasymmetrie steht jedoch in den 1960er Jahren nach der Diagnose von Parsons im Zentrum der Auseinandersetzung um die Autoritätsstruktur der Universität. Man darf annehmen, dass die wechselseitig ebenso genaue wie uneingestandene, ja dissimulierte und invisibilisierte Kenntnis der beiden Rollen die Intensität der Auseinandersetzung eher förderte als mäßigte. Immerhin rebellierte man auch gegen sich selbst – und reagierte gegen sich selbst mit Wut, Enttäuschung und Aussperrung. Talcott Parsons vermerkt auch dies. Zwar stellt er die Rollenasymmetrie nicht zur Disposition. Aber er stellt – in einer der beunruhigtesten Passagen seines Werkes – fest, dass Ordnungsmuster der Gesellschaft, die noch irgendetwas mit Schichtung zu tun haben, in der modernen Gesellschaft nicht mehr überzeugen und durch Medien – vor allem durch Medien des allgemeinen Handlungssystems: Intelligenz, Einfluss und Affekte – ersetzt werden (Parsons 1977, S. 220ff.). Luhmann wird darüber hinausgehen und zusätzlich postulieren, dass mit der Entwicklung von Kommunikationsmedien gesellschaftsstrukturelle Asymmetrien generell an Bedeutung verlieren (Luhmann 1997, S. 370). Für uns ist dies Grund genug, danach zu fragen, wie sich das Medium Intelligenz als Kandidat für die vom „Kind“ nicht mehr und vom „Lebenslauf“ nicht recht überzeugend besetzte Stelle des Kommunikationsmediums des Erziehungssystems im Kontext der Luhmannschen Theoriearchitektonik ausmachen würde.
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3 Niklas Luhmanns Ausgangspunkt seiner Diskussion von Begriff und Phänomen symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien besteht in der Frage nach der Funktion und der Differenzierung dieser Medien (Luhmann 1997, S. 316ff.). Ihre Funktion sieht er darin, dass sie auch dort noch zu unwahrscheinlicher Kommunikation motivieren können, wo die Moral und die ihr zu Hilfe kommende Rhetorik dies nicht mehr leisten. Je mehr Information man hat beziehungsweise zugemutet bekommt, so Luhmann, desto unwahrscheinlicher wird es, sich an Kommunikation zu beteiligen, weil sie gleichsam zu viel zu ändern oder in Frage zu stellen beansprucht. Jede Kommunikation stellt den status quo in Frage, so dass man nur dann zur Teilnahme an Kommunikation zu motivieren ist, wenn auf der Motivebene (die „Inhalte“ der Kommunikation ebenso sensibel registrierend wie die mitlaufenden „Beziehungsangebote“) die Redundanz der Kommunikation gesichert ist (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 1967; Ruesch/Bateson 1987). Hierbei geht es wohlgemerkt nicht um individuelle oder gar psychische Motive, sondern um soziale Motive und deswegen auch um gesellschaftliche Vorkehrungen des Wahrscheinlichmachens von unwahrscheinlicher Kommunikation. Kommunikationsmedien sichern ab, mit welchen Anschlussmöglichkeiten Kommunikation unter der Bedingung, dass damit hochunwahrscheinliche Bereitschaften der weiteren Teilnahme an Kommunikation geschaffen werden sollen, dennoch möglich ist. Konnte diese Motivation unter den Bedingungen schriftloser Gesellschaften im Wesentlichen über Moral, das heißt über die Androhung von Missachtung und die Inaussichtstellung von Achtung zwischen den an der Kommunikation beteiligten Personen, sichergestellt werden, so genügt dies in verschriftlichten Gesellschaften nicht, weil sich politische, wirtschaftliche, religiöse, wissenschaftliche, künstlerische und erzieherische Kommunikation mit Blick auf die dank Schrift größere Reichweite, aber auch auf die dank Schrift voraussetzungsvolleren Ansprüche der Kommunikation auszudifferenzieren beginnen. Diese Ansprüche mobilisieren Gründe sowohl der Annahme als auch der Ablehnung von Kommunikation, die weit jenseits des Zugriffs der Moral liegen. Letztere kann daher nur noch abstrakt, mit Verweis auf Werte, dazu ermutigen oder davor warnen, sich auf bestimmte Kommunikationen einzulassen. In jeder konkreten Situation genügt dies schon deswegen nicht, weil die Werte untereinander konfligieren und weil nicht zuletzt durch die neuen Medien mehr Werte ins Spiel kommen, als die schriftlose Gesellschaft noch für erforderlich gehalten hat. Auch zur Erziehung, soweit sie mit Kommunikation einhergeht (also nicht nur die Selbstanpassung der beteiligten Bewusstseine und Körper betrifft), muss daher durch ein Kommunikationsmedium motiviert werden. Kann man sich möglicherweise noch darauf verlassen, dass die Sozialisation der Individuen in die Gesellschaft ohne ein eigenes Medium auskommt, weil die Motivation zur Fortsetzung schlechthin der Kommunikation bereits ausreicht, sich auf die Be-
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dingungen einzulassen, unter denen diese Fortsetzung möglich ist, so bedarf die Erziehung als eine Form der Sozialisation, die mit Absichten einhergeht und diese Absichten kommunikativ deutlich werden lässt (vgl. Luhmann 1992, S. 102ff.), zusätzlicher Motive, weil die Kommunikation der Absicht auch die Gründe vermehrt, die Kommunikation abzulehnen. Die Kommunikation der Absicht der Erziehung bringt zusätzlich zu den Inhalten der Kommunikation auch eine Zukunftsaussicht, einen Erzieher und eine Selbstwahrnehmung des Zöglings ins Spiel, von denen das eine oder andere Grund genug sein kann, sich der entsprechenden Kommunikation eher zu entziehen als mitzuspielen. Und auch hier, um das zu wiederholen, geht es nicht um psychische Motive, sondern um soziale Motive. Die Konfiguration, auf die sich eine Kommunikation einlässt, wenn sie auf Erziehung zielt, mag Möglichkeiten und Ansprüche der Kommunikation markieren, die Kommunikationen in der Umwelt der Erziehung so unter Druck setzen, dass sie der Erziehung ihre Unterstützung verweigern und ihr somit die Motivation entziehen1. Den wichtigsten Beitrag zur Motivation einer Kommunikation leistet ein Kommunikationsmedium dadurch, dass es diese Kommunikation gegenüber anderer Kommunikation differenziert. Das geschieht auf den beiden Ebenen der Markierung eines Unterschieds gegenüber anderen Kommunikationen und der Strukturierung der Kommunikation selbst – zwei Ebenen, die selbstverständlich uno actu bedient werden, weil die Kommunikation keine Zeit hat, ihr Motivationsproblem stufenweise zu bearbeiten (mit jeder Markierung einer Stufe stiege überdies gleichzeitig wieder die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation). So ist Erziehung als Kommunikation möglich, wenn und weil es nicht gleichzeitig um Liebe oder Macht, um Geld oder Glauben, um Kunst oder Wahrheit geht. So sehr erzieherische Kommunikation in jedem konkret situativen Fall dazu neigen mag, sich der Ressourcen nicht nur der Moral (und Rhetorik), sondern auch der anderen Kommunikationsmedien zu vergewissern und mithilfe von Liebe und Macht, Geld und Glauben, Kunst und Wahrheit sowohl den Erzieher als auch den Zögling zur Teilnahme an Erziehung zu motivieren, so wenig wird dies auf Dauer beziehungsweise auch nur in der Verknüpfung der einen Situation mit der nächsten durchzuhalten sein. Deswegen muss die Erziehung auch intern so strukturiert werden, dass mit Verweis auf erfolgreiche Motivation erfolgreich zu ihr motiviert werden kann. Diese interne Struktur bezieht sich auf die Selektivität der Kommunikation, das heißt auf die Frage, wie geregelt wird, welche Selektionen einer Kommunikation der in unserem Fall erzieherischen Kommunikation zugerechnet werden und daher als Anschlussstellen für Folgekommunikation markiert werden. Luhmann nimmt an, dass Erziehung durch eine Selektivität strukturiert ist, die das Erleben Egos und das Handeln Alters miteinander so in Bezug setzt, dass aus diesem Bezug Motive für weitere Kommunikation im selben Medium generiert 1 Siehe dazu die Situationsstudien in dem Film „Dangerous Minds“ (USA 1995, Regie: John N. Smith, Hauptrolle: Michelle Pfeiffer).
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werden können (Luhmann 1991, S. 28f.). Erziehung wird damit strukturell zu einem Parallelfall von Liebe, die dieselbe Zurechnungskonstellation aufweist (Luhmann 1997, S. 336). Man mag daraus Hinweise für die Beantwortung der Frage gewinnen, warum Erziehung in der Regel nicht nur ihre Absichten markiert, sondern diese Absichten sogar für „gut“ hält (Luhmann 1997, S. 55). Wichtig ist für unseren Zusammenhang jedoch erst einmal nur, dass Luhmann annimmt, dass die Motivationsprobleme der erzieherischen Kommunikation gelöst werden können, wenn und indem diese Kommunikation immer wieder neu das erzieherische Handeln des Erziehers und das lernende Erleben des Zöglings sowie das lernende Handeln des Zöglings und das bewertende Erleben des Erziehers aufeinander bezieht. Es darf kein gemeinsames Erleben (das wäre Wissenschaft) und kein gemeinsames Handeln (das wäre Politik) geben. Und es darf kein bloßes Stillhalten (Erleben) des einen angesichts des Handelns des anderen geben (das wäre Kommunikation im Medium des Geldes beziehungsweise der Kunst). Sondern Erziehung fordert, dass sich das Handeln des einen auf das Erleben des anderen bezieht und aus dem Erfolg dieser Konstellation seine Motive bezieht, sich fortzusetzen. Der eine, mal der Erzieher, mal der Zögling, muss ein Handeln vorführen, das auch anders möglich wäre, und der andere daraus auf Erziehung schließen, nämlich entweder auf die Kommunikation von Lernen (auf der Seite des Zöglings) oder auf die Kommunikation von Bewertung (auf der Seite des Erziehers). In der Wahl dieser Zurechnungskonstellation innerhalb der Kombinatorik anderer Zurechnungskonstellationen hat die soziologische Theorie Freiheitsgrade, die sie für die empirische Forschung nutzen kann und durch die empirische Forschung wieder einschränken muss. Nirgendwo steht geschrieben, dass Erziehung notwendigerweise Egos Handeln und Alters Erleben miteinander relationiert. Aber im Vergleich mit anderen Konstellationen und durch die empirische Beobachtung der erzieherischen Kommunikation gewinnt (oder verliert) eine solche Hypothese so sehr an Überzeugungskraft, dass man im Rahmen einer Gesellschaftstheorie mit ihr arbeiten kann. Überzeugend wird die Wahl einer Zurechnungskonstellation daher erst dann, wenn es gelingt, Strukturen und Semantiken nachzuweisen, die als das situative und historische Produkt der Reproduktion von Kommunikation innerhalb einer solchen Zurechnungskonstellation gelten können. So wie das Kommunikationsmedium Macht Handeln und Handeln (auf beiden Seiten unter dem Gesichtspunkt der Willkür) relationiert und das Kommunikationsmedium Wahrheit dies im Hinblick auf die wechselseitige Selektion von Erleben und Erleben leistet, so muss es ein benennbares oder zumindest beschreibbares Medium geben, das als Niederschlag erzieherischen Handelns und Erlebens plausibel gemacht werden kann. Für Luhmann ist das Medium „Kind“ in genau diesem Sinne der Niederschlag der erfolgreichen Reproduktion erzieherischer Kommunikation und daher auch der Ansatzpunkt für die Suche nach erfolgreichen Formen der Anschlusskommunikation. Das Kind, nicht zu verwechseln mit den tatsächlich anwesenden (und abwesenden) Kindern in ihrer konkreten körperlichen, psychi-
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schen und grundsätzlich strukturdeterminierten Verfassung, ist jene unreife und (noch) nicht voll verantwortliche Struktur der Selektion von Anschlusskommunikation, der durch das Handeln des Erziehers Erleben zugemutet werden kann und muss, damit es (das Kind) beziehungsweise sie (die Struktur) lernt, was es beziehungsweise sie noch nicht kann. Damit geht strukturell einher, worauf Luhmann hier (Luhmann 1991) jedoch nicht eingeht, dass im Spiel des taking-the-role-of-the-other (Mead 1963, S. 73) auch dem Kind Handeln zugemutet werden muss, das der Erzieher nur erleben darf, ohne daraus eigene Handlungskonsequenzen zu ziehen. Man sieht, wie attraktiv es für das Erziehungssystem sein muss, in Macht, Wahrheit, Liebe und Kunst Rückhalt zu suchen, weil die eigene Zurechnungskonstellation der Kommunikation laufend diese benachbarten Konstellationen streift, und wie wahrscheinlich es ist, dass Pädagogiken und Antipädagogiken die entsprechenden Chancen aufgreifen. Ein Kommunikationsmedium allein wird daher die Funktion, durch seine Selektivität zu bestimmter Kommunikation zu motivieren, nicht erfüllen können. Es muss in Begleitstrukturen institutionalisiert werden, so Parsons, beziehungsweise strukturell ausdifferenziert werden, so Luhmann. Nur wenn man eine solche Institutionalisierung beziehungsweise Ausdifferenzierung nachweisen kann, kann der empirische Nachweis eines Mediums als gelungen gelten. Zum Medium Kind eines Erziehungssystems hat sich Parsons nie geäußert, da er zumindest für die höhere Erziehung das Medium Intelligenz annahm und dieses in der Universität institutionalisierte. Wir können jedoch vermuten, dass Parsons ein Medium „Kind“ vor dem Hintergrund der Reziprozitätsverweigerung geprüft hätte, die die Kommunikation mit Kindern von der Kommunikation unter Erwachsenen unterscheidet, und daraus auf Institutionen geschlossen hätte, die einen eher permissiven Umgang sowohl mit konformem als auch mit abweichendem Verhalten sicherstellen (Parsons 1951, S. 297ff.). Er hätte nach einer Institutionalisierung von Permissivität gesucht und hätte unter diesem Aspekt Schulen prüfen müssen. Möglicherweise wäre er hier im Hinblick auf Toleranz gegenüber abweichendem Schülerverhalten und durchaus normgerechtem Lehrerverhalten auch fündig geworden. Er hätte daraus die Diagnose einer gewissen Tendenz zur Markierung schulischen Verhaltens als folgenlos im Vergleich zum Verhalten in der gesellschaftlichen Umwelt ableiten können und hätte sich fragen können, inwieweit diese Markierung auch das Verhalten der Lehrer bis zur Auswahl der Lerninhalte in Mitleidenschaft zieht beziehungsweise unter einen spezifisch permissiven, Folgen außerhalb der Erziehung indifferent setzenden Druck setzt. Die nicht nur auf Kritik, sondern positiv auf Ausdifferenzierung zielende Reflexion der Erziehung im Erziehungssystem diskutiert das Leiden an und die Ausnutzung von Permissivität und gesellschaftlicher Folgenindifferenz unter dem Stichwort „Frivolität“2. Als Frivolität seitens der Lehrenden erscheint hier eine Form des Bestehens auf Indifferenz, die nicht in 2 Siehe etwa präzise in Szene gesetzt im Theaterstück von Davis Mamet, Oleanna. New York: Pantheon Books, 1992.
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Rechnung stellt, dass die Lernenden im Unterschied zu den Lehrenden nicht ihr ganzes Leben im Erziehungssystem verbringen, sondern unter Selektionsanforderungen stehen, die Anschlusschancen außerhalb des Systems betreffen. Tatsächlich lagen eine solche Fragestellung und Diagnose Parsons eher fern. Zu sehr dachte der Durkheimleser bei Erziehung weniger an Permissivität als vielmehr an Disziplin3 und daher an eine Institutionalisierung der Erziehung in einer Rollenstruktur, die Autorität sicherstellt und sich dafür des organisatorischen Rückhalts in einer Anstalt mit Disziplinargewalt vergewissert. Luhmann lässt die Frage der Ausdifferenzierung des Mediums Kind offen. Er geht davon aus, dass das Kommunikationsmedium Kind im Gegensatz zu anderen Kommunikationsmedien nicht binär codierbar ist (Luhmann 1991, S. 34f.)4, womit bereits der Ansatzpunkt für eine strukturelle Ausdifferenzierung fehlt und woraus eine Reihe von Strukturdefiziten des Erziehungssystems abgeleitet werden kann (vgl. Luhmann/Schorr 1979), die Luhmann zunächst mehr interessieren als die Suche nach einem alternativen Medium, das dann eventuell binär codierbar ist. Auch dies ist ein Beispiel für die Freiheitsgrade der soziologischen Theorie zum einen und die immer mitlaufende Positionierung dieser soziologischen Theorie in einem zuweilen auch polemischen Gespräch mit anderen Theorien zum anderen. Für das Medium Lebenslauf deutet Luhmann Unterscheidungen wie bereits beschriebener/noch nicht beschriebener Lebenslauf oder auch bereits erworbenes/noch nicht erworbenes Wissen an (Luhmann 1997, S. 18), aber diese Diskussion leidet darunter, dass er hier Heiders Begriff des lose gekoppelten Mediums, in dem verschiedene Formprägungen möglich sind, verwendet und nicht Parsons’ und seinen Begriff des Kommunikationsmediums. Diese beiden verschiedenen Medienbegriffe liefen in Luhmanns Werk lange Zeit parallel und sind erst in der Arbeit über „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ einigermaßen schlüssig (nämlich evolutionstheoretisch) zusammengeführt worden (Luhmann 1990, S. 181f., 1997, S. 358). Aber in dieser Arbeit wird das Kommunikationsmedium der Erziehung für unsere Zwecke nicht ausführlich genug diskutiert (Luhmann 1997, S. 976f.). Wir halten daher fest, dass wir für die Suche nach einem Kommunikationsmedium der Erziehung eine Zurechnungskonstellation bestimmen können, die Luhmann am Beispiel des Kindes plausibel gemacht hat und die sicherlich auch für das Medium Lebenslauf nicht ohne Überzeugungskraft ist, die jedoch institutionell beziehungsweise strukturell noch eher in der Luft hängt. Tatsächlich ist noch nicht einmal hinreichend klar, ob der Lebenslauf eine geeignete Vorstellung ist, die Schüler dazu motivieren kann, sich erlebend in ein Verhältnis zu einem Wissen zu versetzen, das man zugunsten von Fortsetzungschancen dieses Lebenslaufs erst noch erwerben muss. Zu sehr ist die Plausibilität der Figur des Lebenslaufs und damit die Konditionierbarkeit des Lebenslaufs durch 3 Siehe, noch ohne Kenntnis von Begriff und Phänomen der Kommunikationsmedien geschrieben, Emile Durkheim, L’éducation morale. Paris: Alcan, 1925, S. 37ff. 4 Vgl. jedoch die Diskussion der Unterscheidung Kindsein/Erwachsensein in: Luhmann 1997, S. 11ff.
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Erziehung, auf die Luhmann so viel Wert legt (Luhmann 2002, S. 94ff.), daran gebunden, sich selbst als Handelnden im Kontext seines eigenen Lebenslaufs sehen zu können und sehen zu müssen. Oder will man umgekehrt davon ausgehen, dass die in den 1990er Jahren beschriebene „no future“-Haltung von Schülern und Studierenden auch damit zusammenhing, dass man ihnen jede Entschlossenheit zu ihrem eigenen Leben dadurch abgekauft hat, dass man sie zu bloß Erlebenden ihres eigenen Lebens gemacht hat? Man erlaube mir daher, die These von Funktion und Differenzierung eines Kommunikationsmediums der Erziehung zu übernehmen, seine konkrete Ausprägung jedoch mit Parsons eher in der Intelligenz als im Kind oder im Lebenslauf zu sehen und diese Vermutung mithilfe von Luhmanns Beschreibung der Strukturen von Kommunikationsmedien zu überprüfen.
4 Zunächst ist jedoch zu prüfen, ob sich ein Medium der Intelligenz eignet, jene Zurechnungskonstellation zu bedienen, die Luhmann für die Erziehung, wenn auch mit Blick auf die von ihm für plausibel gehaltenen Medien, ausgemacht hat. Wenn wir mit Parsons unter „Intelligenz“ die symbolisch generalisierte Verfügung über Wissen verstehen und damit auf eine Kommunikation abstellen, die eine „power of appropriate selection“ (vgl. Ashby 1981, S. 295ff.) zitieren können muss, liegt eine Zurechnungskonstellation, die ein Handeln mit der abwartenden, still haltenden, erlebenden Beobachtung der Effekte dieses Handelns in Beziehung bringt, zunächst einmal nicht fern. Kommunikation im Medium der Intelligenz hieße dann, Selektionen des Handelns selbst und darüber hinaus einer Problemwahrnehmung und möglicherweise einer Problemlösung als solche, das heißt im Hinblick auf ihre beabsichtigte oder auch unwillkürliche Angemessenheit hin vorzuschlagen und zu beurteilen. Kommunikation im Medium der Intelligenz hieße darüber hinaus, dies so zu tun, dass die Chance der Reproduktion einer solchen Kommunikation, das heißt die Chance des Findens von Anschlusskommunikation gleichen Typs, eher steigt als sinkt. Intelligente Kommunikation ist dann immer auch eine Kommunikation, die die Intelligenz, die sie in Anspruch nimmt, nicht nur verbraucht, sondern auch wiederherstellt und als Medium anschließender Kommunikation zur Verfügung stellt. Insofern wollen wir hier von einem Kommunikationsmedium reden, das zugleich die Bedingung eines Heidermediums erfüllt, auch wenn wir diesen Aspekt im Folgenden nicht so stark unterstreichen wie den Aspekt der Struktur des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums. Wenn wir dieses Kommunikationsmedium Intelligenz jedoch nicht nur wie Parsons für den Spezialfall der Universität, sondern für die Erziehung im Allgemeinen in Anspruch nehmen wollen, und wenn wir uns daher nicht auf seine Institutionalisierung in der Universität verlassen können (so einleuchtend es dann auch wäre, die universitäre Ausbildung aller Lehrer zu fordern), müssen
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wir unser Verständnis dieses Kommunikationsmediums im Sinne zum Beispiel der von Luhmann aufgelisteten Strukturen eines Kommunikationsmediums ausbauen. Vor dem Hintergrund des Verständnisses dieser Strukturen wird dann auch deutlicher werden, was unter „Intelligenz“ zumindest in diesem Zusammenhang zu verstehen ist.5 (1) Als erstes ist festzuhalten, dass das Medium der Intelligenz die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die erzieherische Kommunikation von einer Verankerung in Rollenasymmetrien, also auch von einer entsprechenden Behauptung von Autorität (und Disziplin) abgelöst und statt dessen auf die Motivationsstruktur des Mediums selbst eingestellt werden kann, wie es Parsons und Luhmann, ersterer nicht ohne Zögern, für die Gesellschaft insgesamt vermutet haben. Denn das Medium der Intelligenz kommt ohne jene strukturelle Beschreibung von Personen als entweder „Kinder“ oder „Erwachsene“ aus und ist daher offen für ein taking-the-role-of-the-other, dessen jeweilige Ausprägung nicht an den asymmetrischen Rollenzuschreibungen, sondern an situativen Relevanzen sein Maß finden kann. Lehrer wie Schüler können sich intelligent verhalten. Und Lehrer wie Schüler können voneinander lernen. Eine darauf zielende Pädagogik kann sich mittlerweile auf eine die Semantik des Kindes zugleich beerbende und ablösende kognitionswissenschaftliche Forschung berufen, in der Altersunterschiede nicht mehr unter dem Gesichtspunkt reif/unreif und entsprechenden Perfektionsvorstellungen, sondern zusammen mit anderen Unterschieden unter dem Gesichtspunkt kreativ/routiniert behandelt werden. Die in der Pädagogik vielbeschworene Umstellung der Tonalität der erzieherischen Kommunikation von „Disziplin“ auf „Spaß“ hat darin ihren Sinn, in den Situationen der Erziehung die Investition und die Beobachtung von Intelligenz in eine gewisse Reichweite zu rücken, so sehr dann auch in der Auseinandersetzung mit der Situation dann wieder Ernst, Risiko und Wettbewerb ihren intelligenzfördernden Einfluss gewinnen können. Entscheidend ist, dass das Medium der Intelligenz Formen der Erziehung vorstellbar macht, die sich von den klassischen anstaltsartigen (also zwingenden) Institutionen der Verankerung der Autorität des Lehrers und seiner Absichten inklusive entsprechender Engführung von Curricula und Lehr- und Lerndidaktik weitreichend unterscheiden werden. Vor allem wird durch die Einklammerung der Rollenasymmetrie jene Fiktion überflüssig, nach der dem einen Lehrer auch eine Klasse (The Child) gegenübersteht und von ihm kontrolliert werden muss; statt dessen kontrollieren sich die Kinder, mehr oder minder moderiert durch den Lehrer und unter der Bedingung der Produktion und Ausnutzung von Vielfalt, gegenseitig (vgl. Robinson 1979, S. 369ff.).
5 Siehe jedoch auch die mit Parsons Verständnis von Intelligenz kompatible Beschreibung von Jean Piaget, La psychologie de l’intelligence, Paris: Armand Colin, 1947, die auf équlibration, adaptation, assimilation und accomodation abstellt und in diesen Hinsichten nicht nur die Psychologie interessiert.
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(2) Aber für alles Weitere ausschlaggebend ist die Frage, ob man sich vorstellen kann, dass das Kommunikationsmedium Intelligenz binär codiert ist oder nicht. Man erinnere sich daran, dass die binäre Codierung es nach den Analysen von Luhmann ermöglicht, die Kommunikation innerhalb eines Funktionssystems der Gesellschaft in die Form einer harten Entweder/Oder-Unterscheidung zu bringen und dass erst dann die Ausdifferenzierung dieses Funktionssystems entsprechend wahrscheinlich wird (Luhmann 1997, S. 359ff.). Wir berühren hier demnach unsere Ausgangsfrage nach der Limitationalität all dessen, was man als Erziehung in unserer Gesellschaft beschreiben kann. Binäre Codierungen sind Zwei-Seiten-Formen, von denen immer nur eine Seite benutzt werden kann und von denen die eine Seite als positiver Anschlusswert der Kommunikation und die andere Seite als reflexiver Negationswert der Kommunikation im System behandelt werden. Beide Werte des binären Codes regeln Kommunikationen des Systems. Es ist nicht etwa so, dass der Negationswert die Umwelt des Systems bezeichnet. Vielmehr dienen beide Werte dazu, die Umwelt des Systems nach Maßgabe des Systems auf Möglichkeiten der Anschlusskommunikation abzusuchen. Mir scheint es einen Versuch wert zu sein, die beiden Werte des Wissens und des Nichtwissens als den binären Code des Kommunikationsmediums Intelligenz zu begreifen. Attraktiv ist dies zumindest in dem Moment, in dem man Intelligenz nicht nur als Fähigkeit zur Symbolverarbeitung versteht (vgl. Newell/ Simon 1976, S. 113ff.), sondern darüber hinaus als Fähigkeit zum Umgang mit Kontexten, über die man definitionsgemäß nicht vollständig Bescheid wissen kann (vgl. Weston/v. Foerster 1973; Ashby 1981). Intelligenz setzt daher die Einsicht in das eigene Nichtwissen und deswegen sowohl Reflexivität als auch Rekursivität voraus, weil nur unter dieser Voraussetzung Wissen als Wissen profiliert werden kann (Baecker 2002, S. 41ff.). Diese Formulierung lässt es offen, sich einen Zugriff auf Wissen und Nichtwissen auch in anderen Funktionssystemen und nicht zuletzt in der Gesellschaft insgesamt (werde diese nun als „Wissensgesellschaft“ beschrieben oder nicht) vorzustellen. Wissen und Nichtwissen gibt es auch außerhalb des Erziehungssystems. Es mag nicht uninteressant sein, dies mit Blick auf eine bestimmte déformation professionelle von Lehrern (inklusive Hochschullehrern) ausdrücklich festzuhalten. Aber die Artikulation von Wissen und Nichtwissen im Rahmen einer Zwei-Seiten-Form, ihre Zuspitzung auf die beiden Werte eines binären Codes, überhaupt die Formulierung des einen als des Gegenteils des anderen ist eine Leistung der Erziehung für die Zwecke der Ausdifferenzierung der erzieherischen Kommunikation. Man kann daher auch alten Weisheitslehren Recht geben, die für Politik (inklusive Kriegführung) und Wirtschaft, für Kunst und Religion und auf einer gesellschaftlichen Ebene auch für Erziehung und Wissenschaft behaupten, dass das Nichtwissen selbst eine Form des Wissens und jedes Wissen zugleich ein Nichtwissen ist. Die Erziehung darf sich von einem Wissen um den weisen Sinn solcher Paradoxien jedoch nicht davon abhalten lassen, in aller Schärfe und Eindeutigkeit zwischen Wissen und Nichtwissen
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zu unterscheiden und diese Unterscheidung sowohl situativ als auch personal jeweils für operativ verlässlich zu halten. In einer Situation weiß man entweder, wie eine Frage zu formulieren oder ein Problem zu lösen ist, oder man weiß es nicht. Und auch einer Person, Lehrer oder Schüler, kann jeweils eindeutig zugerechnet werden, ob sie weiß oder nicht. Hier nachzufragen und auf die Einheit der Unterscheidung hin zu beobachten, macht erzieherisch nur dann Sinn, wenn es um die Erziehung zur Philosophie geht (Derrida 1983, 2001), für die dann allerdings auch wiederum gelten muss, dass man entweder begriffen hat, worin die philosophische Frage besteht, oder nicht. Für das Erziehungssystem hat diese binäre Codierung des Intelligenzmediums durch die Unterscheidung von Wissen und Nichtwissen den Vorteil, dass mithilfe dieser Unterscheidung sowohl gelernt und gelehrt als auch geprüft werden kann, ohne dass das eine mit dem anderen verwechselt werden müsste. In der Prüfung wird temporär mithilfe der Kommunikation einer Rollenasymmetrie (Prüfer/Prüfling) eine Differenz von Wissen und Nichtwissen ausgeflaggt, das heißt für die Selektion von Anschlusshandlungen ausgewiesen, die auch unabhängig von der Rollenasymmetrie und auch in der Prüfung selbst unabhängig von der Rollenasymmetrie gegeben ist. Die Prüfung hält als Differenz zwischen Bewertung von Wissen und Nichtwissen fest, woran gleich anschließend, zuweilen schon in der (mündlichen) Prüfung selbst unter dem Gesichtspunkt eines Wissensgefälles wieder gearbeitet werden kann. Nur so kann es dem Erziehungssystem gelingen, in der Markierung der erzieherischen Kommunikation so exklusiv wie möglich und zugleich im Bezug der erzieherischen Erfolge auf gesellschaftliche Situationen außerhalb der Erziehung so inklusiv wie möglich zu sein. Jedes Wissen und jedes Nichtwissen der Gesellschaft kann in der Erziehung zum Thema gemacht oder kann von der Erziehung zum Anlass von erzieherischen Bemühungen gemacht werden, dies jedoch nur in der Form ihrer scharfen Unterscheidung. Man kann lehren, lernen und prüfen, ohne dass man befürchten müsste, dass irgendjemand innerhalb der Erziehung, weder die Lehrer noch die Schüler, die Erziehung mit irgendetwas anderem außerhalb der Erziehung verwechselt. Und man kann sich vor dem Hintergrund jeweils bereits vorhandenen Wissens und jeweils plausibel zu machenden Nichtwissens die Frage stellen, welches neue Wissen vermittelbar ist und welches nicht, ohne dafür auf anderes zu rekurrieren als die Erfolge (und Misserfolge) der bisherigen Erziehung (vgl. Kade 1997). (3) Wie andere Binärcodes auch, ist der Code Wissen/Nichtwissen des Erziehungssystems als Präferenzcode formuliert, das heißt die Unterscheidung wird so getroffen, dass die Realisierung des einen Wertes der Realisierung des anderen Wertes innerhalb des Erziehungssystems vorgezogen wird, so sehr man dies dann wiederum außerhalb des Systems anders sehen mag (vgl. Simon 1997). Im Erziehungssystem wird das Wissen dem Nichtwissen und daher auch das Lernen dem Nichtlernen vorgezogenen und wird diese Präferenz dazu benutzt, zur Erziehung zu motivieren, und zwar wiederum auf beiden Seiten, auf der Seite
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des Schülers und der Seite des Lehrers. Sowohl der Schüler als auch der Lehrer ziehen das Wissen dem Nichtwissen vor, der eine, weil er dann weiß, was er lernen soll, der andere, weil er dann weiß, was er prüfen kann. An dieser Präferenz erkennt man, dass Schüler und Lehrer im Erziehungssystem operieren, denn nirgendwo sonst gilt dieser Vorzug des Wissens, so sehr auch andere Funktionssysteme der Gesellschaft in dieser Hinsicht unter einer anfallartigen oder auch schleichenden Pädagogisierung zu leiden haben und so sehr Funktion und Leistung des Nichtwissens in einer nach wie vor im Zeichen der Aufklärung stehenden Gesellschaft bislang eher latent geblieben sind (Baecker 2002, S. 134ff.). Aus der Einsicht in die erzieherische Asymmetrie von Wissen und Nichtwissen ergeben sich jedoch soziologische Chancen, Präferenzen für Nichtwissen auch dann für möglich zu halten, wenn diese, zum Beispiel in den Professionen der Moderne, eher latent gehalten worden sind.6 Vermutlich darf man es als eine auch die Erziehung selbst in Mitleidenschaft ziehende Folge der pädagogischen Revolution der modernen Gesellschaft (Parsons/Platt 1990, S. 11) betrachten, dass zahlreiche Umwege nicht zuletzt über eine eher „ökologische“ Denkweise erforderlich waren, um die Differenz von Wissen und Nichtwissen zu resymmetrisieren und auch Nichtwissen für (wohlgemerkt:) kognitiv anschlussfähig und erkenntnistheoretisch aufschlussreich zu halten (Smithson 1989; Luhmann 1992; Japp 1997). Nichts weniger als die Unterdrückung der in den erzieherischen Impuls mit eingebauten Präferenzen für das Wissen war und ist dazu erforderlich. Wie auch im Fall anderer Funktionssysteme ist es bemerkenswert, dass das professionelle Wissen des Erziehungssystems eher an Fragen des Nichtwissens ansetzt als an Fragen des Wissens (Baecker 2002). Wer nichts weiß, muss etwas lernen – und wie das geht, lehren Pädagogiken und Didaktiken. Wer jedoch bereits weiß, ist für das System eigentlich schon verloren. Interessanterweise gilt das vielfach auch für Lehrer, die nicht wirklich wissen dürfen, was sie lehren sollen, und die noch nicht einmal wissen dürfen, wie sie Schülern verlässlich beibringen können, was diese lernen sollen.7 Die gesamte professionelle Reflexion des Systems hängt an seinem Negativwert, versteckt aber genau dies in der Struktur seines Präferenzcodes. (4) Aber auch in der Erziehung ist die Einheit der Differenz des Codes von Bedeutung. Wissen und Nichtwissen sind als Positiv- und Negativwert der Unter6 Siehe zu verschiedenen Praktiken des Nichtwissens Baecker 2002, S. 134ff. 7 Die Präferenz für das Wissen ist vermutlich auch ein Korrelat der gesetzlichen Schulpflicht, die politisch nur legitimiert werden kann, wenn jederzeit nachgewiesen (geprüft) werden kann, was in der Schule gelernt werden kann. Deswegen muss die gesetzliche Schulpflicht fallen, wenn, so auch Ulrich Oevermann (Oevermann 1996, S. 70–182, hier: S. 141ff.) das erzieherische Handeln mit Blick auf die Autonomie, die Selbstbegründung des „pädagogischen Arbeitsbündnisses“ (Oevermann) in den beiden Werten des Codes, professionalisiert werden soll. Im Rahmen der gesetzlichen Schulpflicht kann die Erziehung nicht vollständig professionalisiert werden, weil sie dazu die Möglichkeit haben muss, die Schule als Angebot an die Eltern zu positionieren, diesen bei der Wahrnehmung ihres Erziehungsauftrags zu helfen.
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scheidung nicht nur voneinander unterschieden, sondern auch aufeinander bezogen. Die Unterscheidung trennt nicht nur, sie formuliert (oder artikuliert) zugleich die beiden Seiten der Unterscheidung als die beiden Seiten derselben „Form“ (Spencer-Brown 1972). Das kann im System nur um den Preis der Entdeckung der Paradoxie der Selbigkeit des Unterschiedenen reflektiert werden und wird daher in der Regel nicht reflektiert. Dass das Wissen immer auch ein Nichtwissen und das Nichtwissen ein Wissen ist, ist ein Wissen, das man der Weisheitslehre überlässt, die ihre tiefere Einsicht jedoch konsequent mit einer bestimmten mangelnden Praktikabilität (Operationalität) bezahlt. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Einheit der Differenz des Codes in der Erziehung keine Rolle spielt. Im Gegenteil, die Duplikation des Positivwerts als Negativwert und umgekehrt, schafft, so Luhmann (Luhmann 1997, S. 364), „die Grundlage (...) für das Entstehen eines medialen Substrats mit lose gekoppelten Elementen (...)“, das heißt die Grundlagen für die Entstehung eines Heidermediums. An jeder konkreten Form, das heißt an jedem Erziehungsinhalt, aber auch an jedem Curriculum, an jeder Didaktik, an jeder Prüfung, ist jedes Wissen als Nichtwissen zuweilen desselben, zumindest aber eines anderen Sachverhalts ablesbar, und umgekehrt. Ohne dass man dies beobachten könnte, enthält jede Form, verstanden als strikt gekoppeltes „Ding“ im Sinne von Heider, Hinweise auf ihre eigene Auflösung, die kommunikativ für die Erprobung anderer Formen genutzt werden können. Man versucht sich an den Grundlagen der Mathematik und merkt irgendwann, dass es einfacher ist, mit der Geometrie als mit der Algebra zu starten und dass die Didaktik des teaching-back Sachverhalte leichter zu erschließen erlauben als der Frontalunterricht. Wenn man solche und andere Erfahrungen sammelt, hat man konkrete Konstellationen von Wissen und Nichtwissen innerhalb einer Form der Erziehung aufgelöst, die Kombination der Elemente variiert und eine neue Form erprobt. Das kann evolutionär zufällig geschehen und auf „Erfahrung“ (des Lehrers) zugerechnet werden; das kann jedoch auch geplant werden, wobei hier in der Regel andere Gesichtspunkte als das Wissen um Wissen und Nichtwissen eine Rolle spielen, zum Beispiel Fragen der Organisierbarkeit von Erziehung oder Fragen der Brauchbarkeit der Erziehungsprodukte für Zwecke der Fremdselektion („Karriere“), die meist dazu führen, dass die neuen Formen der Erziehung überraschende Folgen haben. Für uns ist nur wichtig, dass auch hier nicht Wissen und Nichtwissen als solches, sondern ihre Differenz den ganzen Unterschied macht. Mit dieser Differenz gewinnt das Erziehungssystem einen Boden, der jeden anderen Realitätsbezug erübrigt, weil von dieser Differenz her beliebige Weltsachverhalte für die Zwecke der Erziehung restrukturiert werden können8. Würde das Erziehungssystem jedoch auf die Einheit der Differenz reflektieren, stieße es auf eine Paradoxie und „hinter“ dieser Paradoxie nicht auf die Erziehung, sondern auf die Gesellschaft, mit der es jedoch nichts machen könnte. 8 Beispielhaft die Experimente Löwenzahns im Fernsehen: http://www.tivi.de/loewenzahn.
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(5) Unter dem Gesichtspunkt der Selbstplacierung des Codes in einem seiner Werte beschreibt Luhmann eine Eigenschaft der Kommunikation in einem Kommunikationsmedium, die soziologisch generell größere Aufmerksamkeit verdient, weil sie empirisch höchst aufschlussreich ist. Gemeint ist, dass einer der beiden Werte, in der Regel der Präferenzwert, auf die Kommunikation so abfärbt, dass sie sich selbst für das hält oder als das darstellt, was sie doch allererst kommunizieren soll. Wer verliebt ist, spricht liebend. Wer zahlt, kommuniziert als Eigentümer. Wer Recht beansprucht, hat schon Recht. Wer eine wissenschaftliche These aufstellt, hat die Wahrheit bereits auf seiner Seite. Und wer erzieht, weiß. Man kann sich vorstellen, dass diese Selbstplacierung die Motivations- und Selektionsfunktion des Kommunikationsmediums zum einen unterstreicht, das heißt im Zuge der Ausdifferenzierung des Systems und seines Codes und im Zuge der Durchsetzung gegen die Alternative des moralischen Kommunizierens sicherlich ihre Funktion erfüllt. Man kann sich jedoch auch vorstellen, dass die Selbstplacierung den Code, die Präferenz und damit die Funktion des Systems überzieht und dann nur noch unangenehm auffällt. Man hat es mit einer strukturellen Eigenschaft des Codes zu tun, die durch Übertreibung der Selbstfundierung, durch eine gewisse Selbstgerechtigkeit gleichsam, den Code als solchen markiert und bei den Beobachtern das Interesse an Alternativen der Kommunikation weckt. Anders gesagt, die Selbstplacierung ist zugleich ein „Wiedereintritt“ (Spencer-Brown) des Codes und damit des Systems in das System zugunsten der Beobachtung des Unterschieds des Systems zu seiner Umwelt als „Form“ und damit zugunsten der Möglichkeit, anstelle des Systems seine Umwelt zu beobachten und eine Form der Kommunikation zu wählen, die Anschlüsse außerhalb des Systems sucht. Man kann sich auch vorstellen, dass es spätestens im Anschluss an einen solchen Wiedereintritt des Systems in das System für interne und externe Kritiker des Systems attraktiv wird, die Selbstplacierung des Codes in seinem Negativwert zu unterstellen und grundsätzlich das Gegenteil anzunehmen: Wer erzieht, weiß nicht. Wer eine wissenschaftliche These aufstellt, kann nur falsch liegen. Wer Recht beansprucht, hat Unrecht. Wer zahlt, erhöht den Mangel (an Möglichkeiten nichtökonomischen Güteraustausches). Liebe quält (nämlich als „Passion“). Und so weiter. Man bekommt auf diese Art und Weise einen großen Teil der Palette der Kritik der Moderne zu Gesicht und bekommt eine Ahnung davon, dass die Kritik zugleich an der Erweiterung der medialen Möglichkeiten ihren Anteil hat, indem sie Formen auflöst und die Suche nach neuen Formen stimuliert. Auch das Erziehungssystem wäre wohl ohne die Kritik von Habitus und Gestus des wissenden Lehrers und ohne die scharfe Zurückführung des Wissens des Lehrers auf ein Nichtwissen relevanten anderen Wissens nicht das, was es heute ist. (6) Ein binärer Code hat für die Zwecke der Kommunikation vor allem darin seinen Vorteil, dass er den Wechsel zwischen den beiden Seiten der Unterschei-
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dung erleichtert und diesen Wechsel sogar zu „technisieren“ erlaubt. Es bedarf nur eines geringfügigen Blickwechsels des Lehrers, und das Wissen des Schülers wird zum Nichtwissen (der Begründung, des nächsten Schrittes im Curriculum, des Kontexts, der Anwendung oder was auch immer). Es bedarf nur eines mehr oder minder großen Lernaufwands, und das Nichtwissen des Schülers wird zum Wissen. Diese strukturelle Eigenschaft des Codes führt dazu, dass auch die Unterscheidung und Differenzierung von Beobachtung erster und Beobachtung zweiter Ordnung erleichtert wird und auf diese Art und Weise eine für Luhmann wesentliche Struktureigenschaft der Moderne auch im Erziehungssystem realisiert wird. Sobald man das Hin- und Herkreuzen zwischen Wissen und Nichtwissen beobachten kann, kann man zum einen schneller sehen, was jeweils gewusst und was nicht gewusst wird, und zum anderen besser darauf achten (und daraus lernen), wie andere Schüler oder andere Lehrer diesen Wechsel bewerkstelligen. Man lernt nicht nur, welche Gesten erforderlich sind, um der Unterstellung von Wissen entgegenzukommen und Nichtwissen zu dissimulieren (Dreeben 1968), man lernt auch, mithilfe welcher Verfahren es anderen (oder auch einem selbst) gelingt, den Wechsel vom Nichtwissen zum Wissen zu bewältigen und zurück zum Nichtwissen zu vermeiden. Nicht zuletzt hieraus motiviert sich die Umstellung des Erziehungssystems vom inhaltlichen Lernen auf ein methodisches Lernen. Das Erziehungssystem kapriziert sich auf die Beobachtung zweiter Ordnung, das Lernen des Lernens, und damit wird auch in diesem System, „mit immensen Folgen, die Beobachtung erster Ordnung freigegeben und auf Überraschungen eingestellt“ (Luhmann 1997, S. 375). (7) Aber gerade weil der Wechsel zwischen den beiden Werten so leicht ist (immer unter der Voraussetzung allerdings: dass die Einheit der Unterscheidung dabei nicht auffällt), muss das System Mittel und Wege finden, festzulegen, wann eine Kommunikation jeweils dem Positivwert des Wissens und wann sie dem Negativwert des Nichtwissens zugerechnet wird. Die Leichtigkeit des Wechsels darf die Härte der Unterscheidung nicht in Frage stellen. Deswegen entwickelt das System Programme, in denen festgelegt wird, wann es richtig ist, von Wissen, und wann es richtig ist, von Nichtwissen zu reden. Hier kommen verschiedene Pädagogiken und Didaktiken ins Spiel, die nicht nur spezifizieren, was sie unter Wissen und unter Nichtwissen verstehen, sondern die auch festlegen, was jeweils als ein Wechsel zu gelten hat. Hier kommen nicht zuletzt auch Organisationsformen wie die der Schulform, der Klassenbildung und des Prüfungswesens ins Spiel, die es ermöglichen, Episoden des Wissenserwerbs (inklusive des dazu erforderlichen Verlernens anderen Wissens) zu definieren und Entscheidungen darüber zu treffen, wann ein Wissen als erworben gelten kann, so dass man nicht immer wieder neu prüfen muss, ob es vorhanden ist oder nicht. Programme erlauben es, mit anderen Worten, festzulegen, wann ein bestimmtes Wissen und das dazugehörige Nichtwissen auch wie-
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der vergessen werden dürfen, weil es um Anschlussfragen anderen Wissens und anderen Nichtwissens geht. Im Gegensatz zum Code, über den innerhalb des Systems nicht disponiert werden kann, solange er befolgt wird, stehen die Programme des Systems dem System prinzipiell zur Disposition. Sie können ausgewechselt werden, um neue und andere Formen der Zurechnung erzieherischer Kommunikation auf Wissen und Nichtwissen zu erproben. So kann unter dem Gesichtspunkt eines im System mobilisierbaren Wissens über das Wissen und das Nichtwissen einzelner Schulformen, Klassen und Curricula überprüft werden, welche Selektivität des Vergessens und Erinnerns im Zuge der schulischen und universitären Ausbildung Sinn macht und können neue Organisationsformen vorgeschlagen und ausprobiert werden, die im Hinblick auf die Beobachtung von Nichtwissen und den darauf bezogenen Erwerb von Wissen intelligenter scheinen. Nicht nur die Diskussion über Schulung durch Fächer versus Schulung durch Projekte, die seit jeher „traditionelle“ von „progressiven“ Schulen unterscheidet (Parsons 1964, S. 135), sondern auch die ebenso beliebte Diskussion über theorieorientierte versus praxisorientierte Ausbildung gehören hierher, weil „Fach“, „Projekt“, „Theorie“ und „Praxis“ in diesem Zusammenhang nichts anderes sind als je unterschiedliche Cluster von Wissens- und Nichtwissenskombinationen inklusive von Vorstellungen darüber, wie man vom einen zum anderen kommt und behält, was man gelernt hat. (8) Jedes Kommunikationsmedium bedarf eines so genannten symbiotischen Mechanismus, der die Anbindung der jeweiligen Kommunikation an die von den Individuen, die sich an der Kommunikation beteiligen, mitgebrachten Körper ermöglicht. Über symbiotische Mechanismen stellt die Kommunikation sicher, dass sie durch die Körper, die Psyche und sonstige Charakteristika der sich beteiligenden Individuen hinreichend irritierbar ist, um immer wieder neu die Bedingungen überprüfen zu können, unter denen sie für die Individuen attraktiv genug ist, um Aussichten auf Fortsetzung zu haben. Wenn es der Kommunikation nicht mehr gelingt, Teilnehmer zu rekrutieren, stirbt sie aus (wer weiß, wann Ökologen verschiedene soziale Formen der Kommunikation als weitere Fälle von „endangered species“ entdecken werden). Nicht nur die Soziologie, sondern auch die Sozialpsychologie entdecken diese Notwendigkeit des Rekrutierens von Personal für die anspruchsvollen Kommunikationsprozesse in Organisationen und Funktionssystemen als einen möglichen Engpassfaktor der aktuellen Gesellschaft (Luhmann 1997, S. 19; Weick/Sutcliffe 2001). Wer findet sich noch bereit zu Börsenhandel, Parteipolitik, universitärer Lehre, ehelicher Liebe, experimenteller Kunst und säkularisiertem Priestertum, wenn er die Chance hat, an den eigenen körperlichen und mentalen Zuständen den Zumutungsgehalt zu ermessen, der in diesen Kommunikationsformen liegt? Man sieht, dass sich hier das Motivations- und Selektionsproblem wiederholt, auf das die Kommunikationsmedien antworten sollen, und dass es sich hier an jener Grenze der Ausdifferenzierung von Gesellschaft wiederholt, wo
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die Kommunikation selber, als Einheit der Differenz von Kommunikation und Individuum, auf dem Spiel steht. Der symbiotische Mechanismus des Erziehungssystems ist die Kompetenz, ganz im Sinne von Parsons verstanden als auf dieses zurechenbare Fähigkeit eines Individuums, in Situationen problemstellend und problemlösend aktiv zu werden. Jedes Wissen und jede Mitführung und jedes Aushalten von Nichtwissen muss sich letztlich daran bewähren, was ein Individuum kann. Kommunikation im Medium der Intelligenz ist für Individuen dann attraktiv, wenn sie ihre eigenen Erfahrungen von und Erlebnisse mit kompetentem Verhalten und kompetentem Denken bestätigt oder zumindest im Vergleich mit diesen Erfahrungen und Erlebnissen nicht allzu dramatisch enttäuscht. Und umgekehrt bleibt die erzieherische Kommunikation für Körper und Psyche der Individuen in ihrer Umwelt hinreichend irritierbar, solange es ihr gelingt, die Kompetenz der Körper und Bewusstseinssysteme dieser Individuen zu beobachten, Anregungen aufzugreifen und Enttäuschungen zu registrieren. Daran sind auch die beiden Codewerte in ihrer Unterscheidung voneinander immer wieder neu zu messen: Welches Wissen und welches Nichtwissen machen für Individuen, insofern diese ein Interesse an Kompetenzen haben, einen Unterschied? Man kann feststellen, dass es eine mitlaufende Beobachtung dieses symbiotischen Mechanismus in nahezu allen Formen von Erziehung gibt, sobald man darauf achtet, welche Stoppregeln zitiert werden, um ein Interesse an „Theorie“ oder an „Praxis“, am „Fach“ oder am „Projekt“ nicht zu überziehen. Hier ist dann oft von „Relevanz“ die Rede. Aber diese Relevanz ist nicht eindeutig gesellschaftlich definiert, sondern sie soll und sie muss erst noch überzeugen, und zwar Individuen überzeugen, die es jederzeit überzeugender finden können (gemessen an ihren Fähigkeiten und gemessen an ihren Aussichten), sich für anderes zu interessieren. Wie in den Fällen anderer Kommunikationsmedien auch, ist der symbiotische Mechanismus des Erziehungssystems, die Kompetenz, kein objektiv und systemextern bereits vorliegender Sachverhalt, sondern ein Produkt des Erziehungssystems selber, genauer: ein Produkt der Koevolution von Erziehung und Individuum. Damit eröffnen sich auch Chancen für Forschungsprogramme, die der Form dieser Kompetenz und dem Misstrauen gegenüber dieser Kompetenz im erzieherischen und gesellschaftlichen Rahmen in seinen Auswirkungen auf Prozesse der Individualisierung nachgehen. Zu erforschen wären hier Prozesse auf der Ebene des allgemeinen Handlungssystems im Sinne von Talcott Parsons. Doch die Kognitionswissenschaften, die wie berufen sind, sich diesen Fragen zu widmen, finden bislang unter Ausschluss der Soziologie statt. Luhmann unterstreicht, dass sich die Symbole des symbiotischen Mechanismus nicht von selbst verstehen. Was Kompetenz „ist“, bedarf einer Interpretation, die ihrerseits zwischen der Gesellschaft und den Individuen, die dies für attraktiv halten müssen, immer wieder neu ausgehandelt wird. Inwieweit Kompetenz auf Vernunft und Rationalität abstellt, wie es das 18. und 19. Jahrhundert angesichts der erschrockenen Entdeckung der unzugänglichen und damit
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unkontrollierbaren und somit nur zu disziplinierenden Sinnlichkeit der Individuen gegen den zwar nicht begrifflichen, aber phänomenologischen Einspruch der Dichter behauptet hat, oder inwieweit Kompetenz neben einer „kognitiven“ auch eine „soziale“ und „emotionale“ und neben einer „abstrakten“ auch eine „eingebettete“ Dimension hat, ist zwangsläufig umstritten, weil nur der Streit attraktiv ist und nur der Streit irritierbar macht und nur der Streit zum Ausgangspunkt der Erprobung neuer erzieherischer Formen taugt. Festzuhalten ist bei allem Streit nur eines: Selbstbefriedigung ist auch im Fall des symbiotischen Mechanismus Kompetenz verboten. Ebenso wenig, wie man sich Recht und Wahrheit, Kunst und Liebe selber machen darf, darf man sich auch die Kompetenz nicht selber bestätigen. Die Adressierung von Kompetenz bedarf des kommunikativen Umwegs, der Auseinandersetzung mit anderen, der Bestätigung und der Hinterfragung durch andere. Kompetent bin ich nicht, wenn ich mich dafür halte, sondern wenn sich diese Annahme im gesellschaftlichen Verkehr bewährt. Luhmann vermutet, dass symbiotische Mechanismen ihrerseits nicht im Körperbezug, sondern in Organisation abgesichert werden, als traue auch hier die Gesellschaft letztlich nur sich selber. Das scheint auch für die Kompetenz zu gelten, wenn man sich anschaut, wie sehr gerade in diesem Punkt Schulen, Universitäten und ihre Abnehmer, Unternehmen, Behörden und andere Organisationen, miteinander abzustimmen suchen, was als praktische und theoretische, als fachliche und methodische, als sachliche und soziale Kompetenz jeweils zu gelten hat. Michel Foucault ist deswegen darin Recht zu geben, wenn er unterstreicht, wie sehr es Gerichten, Gefängnissen, Krankenhäusern und Psychotherapeuten darum zu tun ist, die Kompetenz der Beteiligten auf beiden Seiten der jeweiligen Rollenasymmetrie, das heißt unter Richtern und Angeklagten, Wächtern und Strafgefangenen, Ärzten und Patienten, Liebhabern und Geliebten so zu definieren, dass sie individuell durchsetzbar wurde (Foucault 1961, 1963, 1975, 1976, 1984). Und möglicherweise haben wir es hier tatsächlich mit Formen einer „Kontrollgesellschaft“ zu tun, die die Individuen „dividuiert“ und sie zu einem laufenden upgrading und updating ihrer Kompetenzen je nach den neuesten Anforderungen und Moden zwingt (Deleuze 1993). Aber all das, so organisiert es ist, muss sich an der Fähigkeit, die dazu passenden Individuen auch tatsächlich zu rekrutieren, messen lassen. Mit „Herrschaft“ allein ist es nicht getan. Nicht zuletzt deswegen entwickelt das Erziehungssystem ein ausgeprägtes Interesse daran, die gegenwärtige Kompetenzkrise in den Organisationen der Gesellschaft mit der Legitimitätskrise der Erziehung in einen Bezug zu setzen und den Fluchtpunkt hier wie dort weniger in der Rebellion der Individuen als vielmehr in ihrer ökologischen Unruhe zu sehen (vgl. Harney/Hartz; 2001; Kurtz 2001). (9) Eine der ertragreichsten Vermutungen im Zusammenhang der Entdeckung von Austausch- beziehungsweise Kommunikationsmedien durch Parsons besteht darin, dass diese Medien ebenso wie das Geld, das zunächst einmal das
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Schema ihrer Analyse abgab, Prozessen der Inflation und Deflation unterliegen und dies möglicherweise auch gleichzeitig. Luhmann reformuliert das entsprechende Konzept dahingehend, dass er nicht wie Parsons auf „Realien“ der Kommunikation abstellt, sondern auf Vertrauen beziehungweise Misstrauen im Hinblick auf die weitere Verwendbarkeit der im Rahmen der Kommunikation „erworbenen“ Sinnsymbole. Wir haben es mit einer Inflation im Medium der Intelligenz zu tun, wenn die Erziehung ihre Möglichkeiten der Ausbildung von Wissen und Kompetenz überschätzt beziehungsweise überzieht und feststellen muss, dass sie diese Ausbildung nicht einlösen kann, das heißt, dass sie sie nicht absetzen kann. Und wir haben es mit einer Deflation im Medium der Intelligenz zu tun, wenn Möglichkeiten, Vertrauen zu gewinnen, nicht genutzt werden, das heißt wenn Wissen ausgebildet, Nichtwissen markiert und Kompetenzen angeboten werden könnten, die Erziehung jedoch auf all dies aus welchen Gründen auch immer verzichtet. Beides, Inflation wie Deflation, betrifft sowohl interne Systemprozesse als auch Leistungsbeziehungen mit der gesellschaftlichen Umwelt. Auch innerhalb der Erziehung selbst kann man es daher mit zu viel beziehungsweise zu wenig Vertrauen in die Erziehung selbst zu tun bekommen, so dass Symbole des Wissens, des Lernerfolgs, der Problemlösungskompetenz hergestellt werden, die im System unglaubwürdig sind und außerhalb kein Interesse finden, beziehungsweise auf die Herstellung dieser Symbole verzichtet wird, obwohl Lehrer wie Schüler die Möglichkeit hätten, sie herzustellen und außerhalb des Systems für sie Nachfrage zu finden. Man könnte das Verhältnis von Hochschulen und Fachhochschulen in Deutschland in den letzten zwanzig Jahren als ein Verhältnis der Inflation universitärer und allmählich korrigierter Deflation fachhochschulmäßiger Ausbildung beschreiben, weil die Hochschulen zu viel Vertrauen in fachgebundene Ausbildung und die Fachhochschulen zu wenig Vertrauen in praxisorientierte Ausbildung vorausgesetzt haben. Aber auch das Verhältnis von Theorie und Praxis an den Hochschulen ist durch einen solchen Parallelvorgang geprägt, insofern lange Zeit zu viel Vertrauen in Theoriebezug und zu wenig Vertrauen in Praxisbezug gesetzt wurde. Interessanterweise bestätigt das eine das andere, so dass sich die Inflationsspirale und die Deflationsspirale gegenseitig angetrieben haben. Letztlich geht es um die Frage, wie „liquide“ ein System in seinem Medium ist und wie sehr es ihm gelingt, die Symbole des Mediums gesellschaftsweit „zirkulieren“ zu lassen. Mit Blick auf das Medium des Erziehungssystem hat man den Eindruck, dass es in den vergangenen Jahren regelrecht ausgetrocknet ist und hier kaum noch eine Intelligenz zirkuliert, von der doch Erziehungswissenschaftler und Pädagogen wissen, dass sie vorhanden ist und ausgebaut werden könnte. (10) Wenn ein Kommunikationsmedium universell, das heißt nicht überall, aber doch unter allen Umständen, verwendet werden können soll, muss es, so wiederum Luhmann, über eine „Nullmethodik“ verfügen, die es ihm ermög-
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licht, auch den Einschluss des Ausschlusses zu symbolisieren. Jedes Kommunikationsmedium, so die Annahme, ist selektiv beziehungsweise in der Form einer Unterscheidung gebaut und schließt daher zwangsläufig Sachverhalte aus, deren Ausschluss allerdings im System mitreflektiert werden muss, um das System mit Stopp- und Go-Regeln und damit mit Anhaltspunkten für die Wiedereinbettung des ausdifferenzierten Systems in die gesellschaftliche Umwelt auszustatten. Für das Erziehungsmedium Intelligenz liegt diese Nullmethodik vermutlich in der Reflexion auf die Dummheit der Intelligenz. Heinz von Foerster hat diese Reflexion in eine Form jeweils für Lehrer und für Schüler gebracht. Ersteren schreibt er ins Stammbuch: „Auch vom Dümmsten kann man lernen“, und letzteren: „Lasst sie deppert sterben (v. Foerster 2002, S. 21f.)“. Damit ist eine Reflexion darauf gemeint, dass – seit Nietzsche – niemand sicher sein kann, worin die Intelligenz der Intelligenz und worin möglicherweise die Intelligenz des Stumpfsinns oder auch des Wahnsinns besteht. Auch der Dümmste könnte etwas wissen. Und auch vom Dümmsten kann man lernen, was ein Fehler ist und wie er möglicherweise zu vermeiden ist. Immerhin steckt in der Kunst der Fehlerdiagnose und laufenden Fehlervermeidung die operativ genaueste Form der Intelligenz (Baecker 2003). Und mit der Aufforderung „Lasst sie deppert sterben“ können sich Schüler mit Blick auf die am wenigsten wünschenswerte Alternative selbst dann noch zur Kommunikation im Medium der Intelligenz motivieren, wenn dieses jedes weitere Interesse vermissen lässt. Die Reflexion auf die Dummheit der Intelligenz läuft deswegen in Schulen und mehr noch in Universitäten immer mit, sobald Wiedereinbettungsfragen im Sinne von Fragen des Anschlusses von Erziehung an Gesellschaft behandelt werden müssen und man sich im System darüber Klarheit verschafft, was man ausschließen muss, wenn man sich auf Fragen des Wissens und Nichtwissens spezialisiert. Eine Zweitfassung dieser Nullmethodik, die Albernheit, sichert ihr in Schulen und Universitäten einen nach Bedarf abrufbaren Alltag und findet auch außerhalb des Erziehungssystems, vor allem in auf den Bedarf von Jugendlichen spezialisierten Unterhaltungssendungen der Massenmedien, großes Interesse.9 (11) Im letzten Punkt schließlich, den wir hier nennen wollen, fassen wir die beiden von Luhmann unter den Stichworten Systembildung und Selbstvalidierung genannten Punkte zusammen (Luhmann 1997, S. 387ff.). Ein Medium, so Luhmann, sei ein Katalysator für Systembildung, da erst im Medium eine Kommunikation zu Vor- und Rückgriffen auf Kommunikation desselben Typs und damit zur Autopoiesis befähigt werde. Dies hänge jedoch nicht zuletzt davon ab, dass es dem Medium gelingt, über einen Verweis auf die offene Zukunft, an deren Bewältigung es sich misst und messen lässt, sich selbst zu bestätigen. Nur dann, wenn Erziehung im Medium der Intelligenz Anhaltspunkte für die 9 Stichwort: Harald Schmidt.
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Strukturbildung des Systems und ineins damit Anhaltspunkte für die zukünftige Bewährung des Systems innerhalb dieser Strukturen, innerhalb der gesellschaftlichen Umwelt und innerhalb der Strukturen der Ausdifferenzierung der Gesellschaft findet, bewährt sich dieses Medium und funktioniert Erziehung. Es ist dieser Aspekt der Orientierung des Erziehungssystems an seiner offenen Zukunft, der uns noch einmal an den Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurückkehren lässt, um zu fragen, welche Anhaltspunkte in der Umstellung gesellschaftlicher Strukturen wir möglicherweise haben, um unsere Vermutung plausibilisieren zu können, dass wir mitten drin stecken in der Umstellung des Erziehungssystems vom Medium Kind auf das Medium Intelligenz.
5 Im Prinzip ist über den Aspekt einer möglichen Umstellung der gesellschaftlichen Differenzierung von Strukturen, die der Kommunikation im Medium des Buchdrucks angepasst sind, auf Strukturen, die der Kommunikation im Medium des Computers angepasst sind, noch nicht sehr viel zu sagen. Zu jung ist die Computergesellschaft, zu unerprobt sind die Grundlagen ihrer soziologischen Beobachtung. Es ist kein Zufall, dass Niklas Luhmann sein abschließendes Werk zur Gesellschaftstheorie der Buchdruckgesellschaft widmete, obwohl er mit zu jenen gehörte, die der Einführung des Computers in die Gesellschaft ähnlich weitreichende Folgen zutrauen wie einst der Einführung der Schrift und später der Einführung des Buchdrucks – von der Einführung der Sprache zu schweigen. Nur wenn wir uns darüber im Klaren sind, was es für die Gesellschaft bedeutete, sich von der Schrift auf den Buchdruck umzustellen, können wir auch nur anfangen, über die Folgen der Einführung des Computers nachzudenken. Und Luhmann war bescheiden genug, anzunehmen, dass seine Gesellschaftstheorie damit begonnen hat, die Umstellung auf den Buchdruck nachzuvollziehen. Dem Computer räumte er, ähnlich wie dem Menschen, eine „Unbestimmtheitsstelle“ ein (Luhmann 1997, S. 118), genauer bestimmt als mögliche strukturelle Kopplung zwischen Computern auf der einen Seite und Bewusstsein und Kommunikation auf der anderen Seite, deren Verständnis und Beschreibung nichts weniger verlangt als die Berücksichtigung des ganzen Arsenals an kommunikations-, evolutions- und differenzierungstheoretischen Begriffen und Einsichten, die Luhmann entwickelt hat. Aber das nur zur Warnung. Immerhin gibt Luhmann einige Hinweise, worauf es bei der Beobachtung der entstehenden Computergesellschaft ankommen könnte. Und immerhin brauchen wir diesen Aspekt hier nur insoweit, als es darum geht, die Annahme der Umstellung des Erziehungssystems auf das Medium Intelligenz zu plausibilisieren. Da wir es den Erziehungswissenschaftlern überlassen müssen, die Annahme des Intelligenzmediums für verschiedene Schul- und Universitätsformen, für Curricula, Prüfungswesen und Reflexionsformen des Erziehungssystems zu überprüfen, beschränken wir uns hier auf die
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gesellschaftliche und damit die soziologische Perspektive. Uns interessiert, ob die gegenwärtige Krise der Erziehung in Schulen und Universitäten damit etwas zu tun hat, dass das gesellschaftliche und dann auch individuelle Vertrauen in die Erziehung angesichts der Beobachtung neuer Formen der gesellschaftlichen Reproduktion von Kommunikation im Medium des Computers eher abgenommen als zugenommen hat. Wir lassen die Frage auf sich beruhen, ob nicht auch Kino und Fernsehen als zwei weitere jüngere Verbreitungsmedien der Kommunikation einen erheblichen Anteil an diesem Vertrauensverlust haben. Aber wir erwähnen diese Frage, um sie zumindest nicht aus den Augen zu verlieren. In einem der spekulativsten Kapitel seines Buches „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ stellt Luhmann Überlegungen dazu an, dass nicht zuletzt an der Theorie, für die er sich Zeit seines Lebens am meisten interessiert hat, an der Systemtheorie nämlich, ablesbar sein könnte, wie sich vielleicht noch nicht die Gesellschaft, aber, in Form einer Art preadaptive advance, zumindest schon einmal ihre Kulturform auf den Umgang mit dem Computer umzustellen begonnen hat (Luhmann 1997, S. 409ff.). Als eine „Kulturform“ bezeichnet Luhmann hier die Art und Weise, wie eine Gesellschaft mit dem Überschusssinn fertig wird, den ein Verbreitungsmedium der Kommunikation in die Gesellschaft schon dadurch einführt, dass es Optionen der Kommunikation in Reichweite rückt. Auf den durch die Schrift eingeführten Verweisungsüberschuss (Kommunikation mit Nichtanwesenden) reagiert die Gesellschaft durch die Entwicklung der Kulturform Zweck (Teleologie), für die der Name Aristoteles steht und die es ihr ermöglicht, neue Sinnangebote unter dem Gesichtspunkt gegenzuprüfen, ob und welcher Zweck mit ihnen eingeht und, das ist der Sinn der Sache, andernfalls unberücksichtigt zu lassen. Man müsste sich noch einmal in die Geschichte der antiken Gesellschaft vertiefen, um zu ermessen, was diesem Prüfkriterium alles zum Opfer gefallen ist (Lloyd 1979; Vernant 1982). Auf den durch den Buchdruck eingeführten Verweisungsüberschuss (Kommunikation unter Gesichtspunkten von Vergleich und Kontrolle) reagiert die Gesellschaft durch die Entwicklung der Kulturform Unruhe (Selbstreferenz), für die der Name Descartes steht und die es ihr ermöglicht, neue Sinnangebote unter dem Gesichtspunkt einer Art „operational research“ (Ashby 1958), nämlich einer mitlaufenden Gedächtniskontrolle unter Konsistenzgesichtspunkten, gegenzuprüfen. Dem fällt, wenn auch naturgemäß nicht sofort, nicht zuletzt das teleologische Denken zum Opfer, weil die Zweck/Mittel-Relation für diesen Prüfbedarf strukturell zu arm ist. Sie kann vom gesellschaftlichen Zugriff befreit werden und wird Organisationen anheimgestellt, die in ihr Rationalitätschancen ergreifen, die solange gelten, wie man nicht nach dem Zweck des Zwecks fragt (Luhmann 1977; Gutenberg 1983). Parallel zu dieser Bewältigung neuen, durch Verbreitungsmedien produzierten Überschusssinns in Kulturformen stellt sich die Primärform der gesellschaftlichen Differenzierung um, von der segmentären zunächst auf die stratifikatorische, dann funktionale Differenzierung, beziehungsweise, etwas plakati-
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ver, vom Ordnungsprinzip Geheimnis (Religion) zunächst auf das Ordnungsprinzip Familie (Stamm), dann auf das Ordnungsprinzip Bibliothek (Funktion). Darauf können wir hier nicht eingehen (Luhmann 1997, S. 230ff.). Wichtiger ist, dass an der jeweiligen Kulturform und an der jeweiligen Primärform der gesellschaftlichen Differenzierung unterschiedliche Formen der Erziehung ansetzen, über die Erziehungshistoriker Auskunft geben können (vgl. Baecker 2000). Wir überspringen die historische Entwicklung – nicht ohne festzuhalten, dass nur ihre Berücksichtigung Klarheit darüber verschaffen kann, welche Leitfragen sich theoretisch durchhalten lassen – und gehen statt dessen auf die Kulturform ein, die Luhmann glaubt, in der Auseinandersetzung der Gesellschaft mit dem Verweisungsüberschuss des Computers identifizieren zu können. Wohlgemerkt, es geht nicht um irgendein Verständnis oder gar eine Theorie des Computers selbst, so sehr dessen Beobachtung theoretisch aufschlussreich sein mag,10 sondern es geht um das Verständnis und die Theorie der Gesellschaft in der Auseinandersetzung mit dem vom Computer in Reichweite gerückten Verweisungsüberschuss der Kommunikation. Der Computer zwingt die Gesellschaft zu einer Reaktion, weil er Kommunikationen optionalisiert, die man sich bisher nicht hätte vorstellen können und die von der Gesellschaft auf der Ebene ihrer Erwartungsstrukturen (andere Strukturen hat sie nicht) bereits im Vorgriff, diesen dadurch Form und Medium gebend, behandelt werden müssen. Luhmann vermutet, dass sich gegenwärtig eine Kulturform entwickelt, die unter dem Stichwort Form (Differenz) steht und die es ermöglicht, neue Sinnangebote unter dem Gesichtspunkt temporalisierter Formen zu prüfen, genauer: unter dem Gesichtspunkt der Inanspruchnahme einer Zwei-Seiten-Form bestehend aus einer markierten und einer nichtmarkierten Seite (Luhmann 1997, S. 304f.). Schwer zu sagen, welcher Name dereinst für diese Kulturform stehen wird, wenn es denn ein einziger sein wird. Luhmann enthält sich hier der Stimme, aber schon das deutet an, dass er sich auf Spencer-Brown eben nicht festlegt, sondern sich vielleicht auch seinen eigenen Namen vorstellen kann – nicht aus Unbescheidenheit, das sei hier hinzugefügt, sondern um den ultimativen Test zu benennen, dem er seine eigene Theorie ausgesetzt sieht (Baecker 2001). Auch das verdeutlicht, dass seine Theorie der Buchdruckgesellschaft ein Beitrag zur Theorie der Computergesellschaft ist. Das bedeutet unter anderem, dass sich neben der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft (Prinzip Bibliothek) eine neue Primärform der gesellschaftlichen Differenzierung entwickelt, von der wir bislang allenfalls das Prinzip erahnen, nämlich das Netzwerk,11 jedoch nicht ihre Struktur. Und das wiederum bedeutet, dass wir hier nicht nur über ein neues Kommunikationsmedium des Funktionssystems Erziehung nachdenken, sondern zugleich auch über ein neues Vernetzungsprinzip. 10 Siehe zum Exempel Kittler 1998. 11 Siehe dazu, mit eingebauter Skepsis gegenüber dem Systembegriff (S. 289), die Grundlagenarbeit von Harrison C. White 1992.
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Wie dem auch sei, wir benötigen hier zum Abschluss unserer Überlegungen nur einen Hinweis darauf, ob das Medium Intelligenz, anders als die Medien Kind und Lebenslauf, für ein Erziehungssystem mit Blick auf die entstehende Computergesellschaft so attraktiv sein kann, dass es für die Umstellung auf dieses Medium die eigene Krise riskiert. Es liegt begrifflich wie buchstäblich auf der Hand, dass das Medium Kind aufs Beste mit der Kulturform der Buchdruckgesellschaft, mit der Unruhe und ihrer Theorieform, der Selbstreferenz, korrespondiert. Was man am Erwachsenen trotz Montaigne, Descartes und Pascal schwer eingestehen konnte, nämlich seine Unruhe und sowohl die Möglichkeit wie auch Leere seiner Selbstreferenz (Luhmann 1980, S. 162ff.), das fiel am Kind nicht schwer, so dass seine Erfindung (Ariès 1975) nicht nur in die Erziehung, sondern über diese Erziehung hinaus auch in die Gesellschaft all das einzuführen erlaubte, was man mit Blick auf die Buchdruckgesellschaft an neuen Formen der Spezifizität und Selektivität von Kommunikation brauchte. Vielleicht darf man sagen, dass inzwischen auch die Erwachsenen diese Lektion gelernt haben (Stichwort: Hedonismus, Marcuse 1938; Stichwort: Kulturindustrie, Horkheimer/Adorno 1969, S. 128ff.). Zugleich fällt jedoch auf, dass diese Unruhe und Selbstreferenz möglicherweise den Verbreitungsmedien Kino und dem Fernsehen noch gewachsen sind (Stichwort: zerstreute Aufmerksamkeit, Benjamin 1961), dem Verbreitungsmedium Computer jedoch nicht. Das Verbreitungsmedium Computer, das sich anschickt, Mitteilung und Verstehen im Kommunikationsprozess zu entkoppeln, die Nachfrage nach Quelle und Absicht der Kommunikation zu erübrigen und schließlich sogar mit den Rechenleistungen einer „unsichtbaren Maschine“ (Luhmann) in die Informationserarbeitung der Kommunikation einzugreifen (Luhmann 1997, S. 302ff.), stellt die Kommunikation vor die Herausforderung, im Moment des Angebots einer Kommunikation ohne die üblichen, vom Verdacht gesteuerten, aber hier ins Leere laufenden Überprüfungsmöglichkeiten eine Entscheidung über die Annahme und Weiterverarbeitung der Kommunikation zu treffen. Anders formuliert, die Kommunikation im Medium des Computers hat nichts anderes als die Information selbst, um darüber zu entscheiden, ob etwas und was damit zu machen ist. Man glaubte zu schnell, dass dies die endgültige Realisierung des Traums der sich über sich selbst aufklärenden und dabei keine soziale Verzerrung mehr duldenden modernen Gesellschaft sei. Denn das Gegenteil ist der Fall, weil mit der Reduktion auf die Information die Korrekturmöglichkeiten der sozialen Verzerrung fortfallen, also das Artefakt der nur sachbezogenen Information gar nicht mehr herauszufiltern ist. Statt dessen sieht man sich mit dem Pauschalverdacht der kompletten Fiktionalität, also einer durchweg virtuellen Welt („Matrix“, USA 1999, Regie: Andy und Larry Wachowski), konfrontiert, ohne daraus irgendeine andere Konsequenz als die der verschärften Beobachtung der Differenz von Realität und Fiktion ableiten zu können. Das führt dazu, dass die Gesellschaft sich in der Gestalt zahlreicher Netzwerke neu formiert, in denen je nach Bedarf und Kontrollmöglichkeit Sachverhalte unterschiedlichen Realitätsgehalts so miteinander kombiniert werden, dass von
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Wiedererkennbarkeit und Reproduzierbarkeit die Rede sein kann (White 1992). Typischerweise handelt es sich dabei um Kombinationen von Sachverhalten, die in dem Sinne „hybrid“ sind, dass sie bislang vertraute Kategorien übergreifen und „Gewebe“ herstellen, die unterschiedliche Sach-, Sozial- und Zeitdimensionen ineinander „verknoten“ (Serres 1985; Deleuze 1988; Latour 1994; Bensaude-Vincent 1998). Man erkennt an der Metaphorik, wie ungewohnt die Machart dieser Netzwerke ist. Aber entscheidend ist, dass hier Sachverhalte adressiert werden, die offensichtlich einen Weg gefunden haben, ihrem Misstrauen gegenüber sich selbst zu begegnen, indem Elemente aufeinander bezogen werden, die jedes für sich einen unverzichtbaren Beitrag leisten und bei Aufgabe ihrer Bindung an das Netzwerk etwas Unverzichtbares verlieren würden. Man hat aus der Analyse der Institutionen des Kapitalismus gelernt, so möchte man annehmen, und verlässt sich nur noch auf Risikostrukturen, in denen jedes Element durch das von ihm eingegangene und von ihm, wenn auch nicht von ihm allein, beherrschbare Risiko kenntlich und berechenbar wird (Williamson 1985; Baecker 1991). Der Gedanke der „Form“ im Sinne SpencerBrowns, das heißt der Gedanke an die Einheit der Unterscheidung eines markierten und eines unmarkierten Zustands formuliert in diesem Zusammenhang das Prinzip der Vernetzung selber, das für beides empfänglich sein muss, für den Zusammenhang und für den Zusammenhang mit dem Unbekannten, Unverfügbaren und Unberechenbaren. Denn nur daraus können Anhaltspunkte für die Selektion von Verknüpfungen entwickelt werden. Auch diesem Gedanken können wir hier nicht weiter nachgehen. Ich möchte nur meinem Eindruck Raum geben, dass das Medium der Intelligenz diesem Sachverhalt der Vernetzung heterogener Elemente wie auf den Leib geschnitten ist, weil es mit seiner Codierung durch die Unterscheidung von Wissen und Nichtwissen selbst auf eine Form abstellt, die zum Errechnen von prekären und temporalisierten Formen taugt. Wir haben es mit jener Intelligenz zu tun, die Luhmann andernorts als Intelligenz im Labyrinth beschrieben hat (Luhmann 2000, S. 420; Baecker 2003) und die auf die Unterscheidung von Wissen und Nichtwissen zurückgreift, um laufend nicht nur neue Ressourcen des Erkenntnisgewinns, sondern auch laufend den Verdacht gegenüber sich selber (und nicht mehr, denn das führt zu nichts: den Verdacht gegenüber anderen) mobilisieren zu können. Wenn es zutrifft, dass Erziehung der Personwerdung des Menschen dient (Luhmann 1991, 2002), dann ist diese Person selbst eine „Form“ im Netzwerk der Gesellschaft und damit für alle Belange der Kommunikation darauf angewiesen, sich im Zusammenhang mit allem anderen und alles andere im Zusammenhang mit sich errechnen zu können. Eben deswegen fand Luhmann es ja so attraktiv, vom Medium Lebenslauf auszugehen, das laufend Möglichkeiten der Selbstbeobachtung und der Neukombination der eigenen Orientierung zur Verfügung stellt. Eben deswegen möchte ich dem jedoch den Alternativvorschlag des Mediums Intelligenz zur Seite stellen. Denn wo der Lebenslauf sich an der Organisation („Karriere“) orientiert und damit eher noch der Buch-
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druckgesellschaft entspricht, da orientiert sich die Intelligenz am Individuum („Kompetenz“) und an seinem Bedarf, nicht nur mit Organisationen und deren Selbstauflösung, sondern auch mit anderen prekär werdenden gesellschaftlichen Sachverhalten inklusive des Sachverhalts der Gesellschaft selber zurandezukommen. Sein Lebenslauf garantiert ihm, als Produkt der eigenen Erziehung, zunehmend nur noch Zufälligkeit und bestenfalls Glück sowie schlimmstenfalls Pech. Daraus ist für die Gestaltung dieses Lebenslaufs wenig zu gewinnen. Unter diesem Gesichtspunkt scheint es attraktiver, den Lebenslauf auf sich selbst beruhen zu lassen und sich statt dessen und mithilfe erzieherischer Angebote auf die Ausbildung der eigenen Kompetenz im Sinne der Bewegung im Medium der Intelligenz zu konzentrieren. Erziehung motiviert dann zwar nur noch projektförmig, dies jedoch anschlussfähig, aufschlussreich und verlässlich (Kade/Seitter 2003). Die gegenwärtige Herausforderung liegt allerdings nicht darin, dies einzusehen, an dieser Einsicht mangelt es nicht, sondern darin, die dazu passenden Organisationsformen zu finden. Es bleibt dabei, dass das Erziehungssystem primär über organisationsbasierte Interaktion in wie immer modifizierten und moderierten Schulklassen ausdifferenziert wird (Luhmann 1997, S. 111ff.). Und es bleibt dabei, dass die Organisationen der Erziehung in diesem Zusammenhang nicht mehr für Instanzen oder gar Anstalten der Vernunft und Rationalität gehalten werden müssen, sondern für Zwecke der Respezifikation des (selbst zu stellenden) Erziehungsauftrags freigeben werden können (Luhmann 1997, S. 156). Eine Reflexion auf die Intelligenz als Medium der Erziehung mag jedoch dazu beitragen, sowohl die Interaktion als auch die Organisation zu entlasten, indem Ansatzpunkte für und Maßnahmen der Erziehung auch außerhalb von Schulklassen als lebensweltliche und alltägliche Emergenzmomente von Erziehung identifiziert werden können. Damit wäre für die Reflexion des Systems im System sichergestellt, dass Erziehung nicht nur als organisierte Veranstaltung abläuft. Das wiederum ist die Voraussetzung dafür, dass man im System umso genauer und experimenteller darüber nachdenken kann, welche Interaktionsformen und welche Organisationsformen den Ansprüchen einer intelligenten, im Hinblick auf Wissen und Nichtwissen ebenso trennscharfen wie flexiblen Erziehung gewachsen sind. Hinreichend deutlich ist nur, welchem Kriterium diese Interaktion und diese Organisation genügen müssen. Sie müssen in der Lage sein, Formen der Kombination heterogener Sachverhalte zu erproben, in denen zwar prinzipiell jedes Element ausgetauscht werden kann, gleichzeitig jedoch auch für jedes Element, seien es Personen, Inhalte oder Curricula, hinreichend dauerhafte Chancen gegeben sein müssen, Erfahrungen zu machen, aus ihnen zu lernen, sich zu ändern und daraus wiederum neue Konsequenzen zu ziehen. Kurz, Erziehung im Medium der Intelligenz wird in erster Linie darauf abstellen müssen, Selbstbeobachtung in verschiedenen Kontexten auszubilden. Selbstbeobachtung ist Beobachtung des Selbst als Form, als Zwei-Seiten-Form, das heißt in der Auseinandersetzung mit je verschiedenen Sachverhalten. Wer
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das kann, darf als erzogen gelten und damit als hinreichend präpariert für Zwecke der Weiterbildung. Und wer das kann, wird sich nicht nur mit der Schrift und mit dem Buchdruck, sondern auch mit dem Computer, das heißt mit der flexiblen Relationierung von Datenbanken, weltweiter Kommunikation und eigenen Formangeboten, zurechtfinden.
6 Wir beschließen unsere Überlegungen mit einer Bemerkung zur Kontingenzformel des Erziehungssystems, zur Bildung. Eine Kontingenzformel, so wiederum Luhmann (Luhmann 1997, S. 182f.), erlaubt eine „Bewirtschaftung“ der Fülle der Möglichkeiten, mit der ein Funktionssystem sich konfrontiert sieht, sobald es beginnt, sich selbst zu beschreiben. Wirtschaft und Politik, Kunst und Religion, Wissenschaft und Recht und eben auch die Erziehung stoßen in ihrem aus ihrer Selbstbeschreibung gewonnenen Selbstverständnis immer auch auf die Möglichkeit, die Probleme der Welt insgesamt zu lösen. Es gibt nichts, was einem Funktionssystem in seiner Selbsteinschätzung nicht möglich ist. Reflexionstheorien, also zumeist wissenschaftlich ausgearbeitete Selbstbeschreibungen wie die Ökonomie und die Politologie, die Ästhetik und die Theologie, die Wissenschaftstheorie und die Rechtswissenschaften und eben auch die Pädagogik bestärken das jeweilige System in dieser Selbsteinschätzung, weil es sich in der Regel um Offensivsemantiken zur Durchsetzung und Wahrung der Autonomie des Systems handelt, so dass es letztlich nur die professionelle Reflexion des Systems im System ist, die diese Selbstüberschätzung auf ein erträgliches Maß wieder abkühlt. Es ist interessant, dass diesen professionellen Reflexionen ausdifferenzierte Subdisziplinen der Reflexionstheorien zu Hilfe kommen, wie zum Beispiel die Erziehungswissenschaften im Verhältnis zur Pädagogik, die Erkenntnistheorie im Verhältnis zur Wissenschaftstheorie, die Kunstlehre im Verhältnis zur Ästhetik oder auch die Managementlehre im Verhältnis zu den Wirtschaftswissenschaften, die es den Professionen erleichtern, auf Einschränkungen zu reflektieren, ohne den Selbstzweifel zu übertreiben. Kontingenzformeln unterstützen diese professionelle Korrektur der Selbstüberschätzung ebenfalls. Sie tun es jedoch interessanterweise auf eine doppelte Art und Weise. Sie markieren die Grenzen des Systems nicht nur von innen, sondern auch von außen, und erlauben es damit, die Selbstbescheidung des Systems mit dem Rekrutieren laufend neuer Anforderungen an das System von seiten der Gesellschaft zu kombinieren. Die Selbstüberschätzung des Systems wird gleichsam an die Gesellschaft abgegeben, die stellvertretend für das System immer zuviel erwartet und immer zu wenig bekommt und in dieser Figur die Ausdifferenzierung des Systems in einer prekären und immer neu zu findenden Balance hält.
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Die Kontingenzformel der Religion, Gott, die Kontingenzformel der Wirtschaft, Knappheit, die Kontingenzformel des Rechts, Gerechtigkeit, sind dafür ebenso gute Beispiele wie die Kontingenzformel des Erziehungssystems, die Bildung. Der Begriff der Bildung bezieht sich in einer spezifisch deutschen Tradition zunächst einmal auf die an den einzelnen Menschen ergehende Aufforderung, sich nach dem Bilde Gottes zu gestalten. Der Begriff wird später, zumal von Hegel, insoweit säkularisiert, dass es um die Bildung zum Allgemeinen und Menschlichen geht, und im Zuge des 19. Jahrhunderts bis hin zu Nietzsche um die Dimension des Selbstverstehens aus dem Fremdverstehen, das heißt auch um die Dimension der Geschichte und Gemeinschaft erweitert (Gadamer 1990, S. 15ff.). Der Bildungsbegriff ist dabei immer von einer mehr oder minder starken Spannung zwischen der Betonung von sophia, Weisheit, einerseits und von phronesis, Geschicklichkeit, andererseits gekennzeichnet, so dass der Gebildete sich nach Bedarf auf die Kontemplation zurückziehen oder in der Eloquenz erproben kann (Gadamer 1990, S. 24ff.). In diesem doppelten und damit immer hinreichend unklaren Bezug auf Vernunft und Urteilskraft, Theorie und Praxis, kann das Erziehungssystem am Begriff der Bildung arbeiten und ihn zu einer Kontingenzformel ausarbeiten, der die genannte Funktion der Selbstbescheidung im Zusammenhang mit dem Rekrutieren gesellschaftlicher Erwartungen erfüllt. Der Bildungsbegriff wird typischerweise daher auch immer dann ins Feld geführt, wenn es darum geht, allgemeine gesellschaftliche Erwartungen an das Erziehungssystem so in Stellung zu bringen, dass spezifische Ausbildungserwartungen einzelner Funktionssysteme, vor allem der Politik und der Wirtschaft, aber auch der Wissenschaft auf Abstand gehalten werden können. Bildung lässt sich als value added zu jeder Berufsorientierung verstehen, aber eben auch als Ablehnung einer allzu dominanten Berufsorientierung (Schily 1993). Im Bildungsbegriff steht die Ausdifferenzierung des Erziehungssystems selbst zur Diskussion. Sie wird angezweifelt und sie wird verteidigt, sie wird als Irrweg beschrieben und als Notwendigkeit dargestellt. Man sollte sich darüber im Klaren sein, dass diese Diskussion auch und gerade in den Aspekten, in denen sie fruchtbar ist, die Ausdifferenzierung des Systems voraussetzt und nicht etwa tatsächlich und zugunsten der Unterordnung der erzieherischen Kommunikation unter die Familie, die Kirche, den Staat oder die Industrie in Frage stellt. Die Diskussion ist die Begleitmusik zur Wiedereinbettung eines ausdifferenzierten Systems; sie kann daher durch die Steigerung der Ausdifferenzierung nur gewinnen, nicht verlieren. Man kann dies leicht testen, indem man sich anschaut, dass und wie sich im Bildungsbegriff noch einmal alle Probleme wiederholen, die das Erziehungssystem zu bewältigen hat. Das gilt zunächst und vor allem für die Motive zur Erziehung selber. Das deutsche Bildungsbürgertum ist dafür sprichwörtlich geworden, dass es im selben Atemzug die Notwendigkeit der Erziehung zum Beruf pragmatisch befürwortet und die Irrelevanz der Erziehung zum Beruf angesichts der viel wichtigeren Berufung zur Kultur emphatisch unterstreicht (Bol-
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lenbeck 1994). Man geht in die Schule, man besucht die Universität, man befürwortet, wenn es sein muss, auch die Frühpädagogik und die Weiterbildung; und man weiß doch zugleich, dass es auf all dies nicht wirklich, nämlich im Angesicht des Herrn, ankommt. Und man weiß dies wie immer als Schüler und als Lehrer, so dass man sich innerhalb der Erziehung auf die Grenzen der Erziehung verständigen kann, aber auch außerhalb der Erziehung dazu motivieren kann, nicht ganz auf sie zu verzichten. Dieser gleichsam ideologische Vorbehalt der Bildung gegenüber der Erziehung kann zweitens zu einer Arbeitsteilung genutzt werden, ohne die es sich die Gesellschaft vermutlich nicht leisten könnte, das Erziehungssystem überhaupt auszudifferenzieren. Diese Arbeitsteilung sieht vor, dass die Erziehung im System auf den Erwerb von Zeugnissen, Scheinen und Zertifikaten und die Vermittlung des dafür erforderlichen Wissens operativ und organisatorisch zugespitzt werden kann (Kade 1997), ohne dass jemals der Eindruck aufkommen kann, dass das, was in diesem System als Lernen eingerichtet, vorgehalten und ermöglicht wird, bereits abdeckt, was in der Gesellschaft als Lernen möglich und erforderlich ist. Man hat oft den Eindruck, dass sich das Erziehungssystem damit selbst ad absurdum führt. Wie kann man Kommunikation auf Erziehung und damit auf Lehre zuspitzen, wenn man nicht laufend darüber nachdenkt, ob und wie auch gelernt wird, was hier gelernt werden soll! Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Nur so, nur unter Abstraktion vom Vorgang des Lernens, ist erzieherische Kommunikation möglich, weil nur so das Handeln der Erzieher auf das Erleben der Zöglinge bezogen werden kann, ohne für dieses Erleben ein eigenes Handeln unterstellen zu müssen. Lernen ist und bleibt Zufall; und nur in dieser Fassung kann sichergestellt werden, dass es im Erziehungssystem genauso möglich ist wie außerhalb. Das ist kontraintuitiv und sichert auch in dieser Form die immer nur prekäre Ausdifferenzierung des Systems. Es bedeutet, dass die scheinbare Selbstbefriedigung des Erziehungssystems im Bereich der Noten, Zeugnisse, Versetzungen und Curricula nicht zuletzt ein Dienst an der Gesellschaft ist. Nicht der Rückzug aus der Notenvergabe, sondern im Gegenteil ihre Weiterentwicklung wäre daher die Forderung, die an das Erziehungssystem zu stellen ist. Mit der Note und dem Zeugnis bringt das Erziehungssystem seine Leistung nicht nur auf den Punkt, sondern erlaubt es zugleich auch die Relativierung dieser Leistung. Wie die Preise in der Wirtschaft (Luhmann 1988, S. 13ff.; Baecker 1999) leisten die Noten eine Verdichtung der Information, die es in dieser Form nicht nur ermöglicht, sondern auch nahelegt, sich nach den jeweiligen Kontexten zu erkundigen, um eine eigene Einschätzung dieser Information vornehmen zu können. Drittens leistet der Bildungsgedanke eine Beobachtung zunächst der Schüler/ Lehrer-Asymmetrie und später der Kommunikation im Medium der Intelligenz, die es erlauben, die Spezifika dieser Rollenasymmetrie und dieser pädagogischen Kommunikation (Kade 2003) sowohl als Besonderheiten zu markieren als auch zum Exempel möglicherweise wünschenswerter Kommunikation au-
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ßerhalb des Erziehungssystems zu machen. Bildung, so hat man immer wieder festgestellt, zielt mindestens auf die Sozialdimension der eigenen Verhaltenskompetenzen, also auf die Chance, bei anderen Verständnis zu finden (Luhmann 2002, S. 191), wenn nicht sogar auf die Konstitution von Gemeinschaft in einem idealisierten Sinne, an dem dann nicht zuletzt auch die Schulen und Universitäten selber scheitern können.12 Auch hier hält der Bildungsgedanke ähnlich wie ein bestimmtes Kulturverständnis (Baecker 2001, S. 98ff.) den Einwand der Verhältnisse gegen die Verhältnisse fest, ohne doch an diesen Verhältnissen etwas ändern zu können oder zu wollen. In dieser Form kann die Rollenasymmetrie von Lehrern und Schülern als Symmetrie der Bildungsinteressierten und kann die pädagogische Kommunikation im Medium der Intelligenz als Musterfall der Navigation in der Wissensgesellschaft dargestellt werden (Priddat 2002, S. 101ff.), ohne dass man doch je Gefahr laufen würde, diese Darstellung mit den Mühen, Risiken und Aussichten der Kommunikation in Gesellschaft zu verwechseln. Dazu eben dient der Gemeinschaftsgedanke, den die Bildung hochhält: zur Markierung der begrenzten Reichweite von Gemeinschaft in Gesellschaft. Viertens erlaubt es die Bildung, das Problem der Intelligenz noch einmal in ein sowohl günstiges als auch skeptisches Licht zu rücken und so auch in dieser Form noch einmal das System in das System und in die Gesellschaft, in der es ausdifferenziert wird, wiedereinzuführen.13 Denn ebenso wie alle Intelligenz letztlich auf Bildung, nämlich auf die Fähigkeit, einschätzen zu können, was man wissen kann und was nicht, hinausläuft, so ist es doch genau diese Bildung, die das Interesse an Intelligenz zu relativieren vermag. Dabei geht es einerseits um die bereits zitierte Weisheit, die jedes Wissen als Nichtwissen und umgekehrt darzustellen vermag, andererseits jedoch um die Erinnerung und Mitführung von Verhaltenskompetenzen, die mit Wissen und Nichtwissen nichts, dafür jedoch sehr viel mit Stil, Geste und Habitus zu tun haben. Wer mit Bildung vertraut ist, weiß, dass es in der Kommunikation eben nicht unbedingt auf die Darstellung von Wissen und das Eruieren von Nichtwissen in einem sachlichen Sinne ankommen muss, sondern dass sie sich sehr weitgehend darauf kaprizieren kann, das Wissen um die Kommunikation selber vorzuführen beziehungsweise andere am Nichtwissen um diese Kommunikation gesellschaftlichen (beziehungsweise: geselligen) Schiffbruch erleiden zu lassen. Das Medium der Intelligenz erfährt im Bildungsgedanken eine Selbstreflexion, die sich mit bestimmten Formen der Intelligenz niemals ganz beruhigen lässt, sondern die immer den Wechsel und die Bewährung der einen, zum Beispiel sachlichen, an der anderen, zum Beispiel sozialen, Intelligenz sucht. Deswegen spricht man zum Beispiel von „Herzensbildung“, wenn eine Form emotionaler, das heißt, mit Talcott Parsons (Parsons 1977, S. 251ff.), an Solidarität 12 Siehe dazu Bill Readings, The University in Ruins. Cambridge, Mass.: Harvard UP, 1996. 13 So formuliert in Anspielung auf den re-entry-Gedanken von Spencer-Brown, Laws of Form. A.a.O., S. 56.
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appellierender Intelligenz vorliegt, die ihr eigenes Wissen und Nichtwissen hat und sich darin von sachlichen Einwänden und zeitlichen Vorwänden nicht beeindrucken lässt. Fünftens wird mit der Kontingenzformel der Bildung eine Differenz wieder aufgehoben, die wie keine andere für Erziehung konstitutiv ist, nämlich die Differenz zwischen Sozialisation mit Absicht (Erziehung) und Sozialisation ohne Absicht (Sozialisation) (Luhmann 2002, S. 54ff.). Denn Bildung lässt sich weder auf absichtsvolle pädagogische Kommunikation noch auf bloßes Erlernen des Mitkommunizierens zurückführen, sondern verweist auf die eigenen Absichten des Gebildeten, die aber auch nicht als individuelle Absicht, als handele es sich um ein Interesse an Bildungsgütern, dargestellt wird, sondern als eine Art Dienst, ein Gottes-, ein Liebes-, ein Herrschaftsdienst an der Bildung selber verstanden wird. Das ermöglicht es, die Absichten der Erzieher im emphatischen Sinne zu verstehen. Und es ermöglicht es, sie abzulehnen, weil sie der Art widersprechen, wie man den eigenen Dienst zu verrichten gedenkt. So kommt man als Gebildeter selbst ins Spiel, und zwar als Handelnder ins Spiel, ohne doch genau darauf den Akzent legen zu dürfen. Der Gebildete kann die eigene Sozialisation als Absicht darstellen – und muss dann riskieren, durch Ideologiekritik, Literaturkenntnis und Psychoanalyse, jenes Dreigestirn des Motivverdachts, eines Besseren beziehungsweise Schlechteren überführt zu werden. Aber auch das relativiert das Erziehungssystem und rekrutiert Motive, sich auf seine Angebote und Absichten einzulassen, weil sie als kompatibel mit den eigenen Absichten dargestellt werden können. Im Ergebnis lässt man sich dann vom Erziehungssystem sozialisieren – und kann sich dann nur noch als Philister beschimpfen lassen. Oder man sucht, gegenwärtig wohl die weit verbreitete Strategie, nach Bildungsangeboten, die dadurch qualifiziert sind, dass sie an keiner (staatlichen) Schule oder Universität vorkommen. Damit wird der Bildung ein reiches Spektrum an Selbsthilfeliteratur und Selbsthilfekursen bis hin zu allen möglichen Formen der Esoterik, und auch dies wieder in Form von Literatur wie von Unterricht, erschlossen, an denen die Absicht weniger unangenehm auffällt, weil sie zunächst einmal als die eigene verstanden und dann im Rahmen flankierender therapeutischer Maßnahmen auch abgesichert wird. Durch Bildung wird die Absicht eingeklammert. Aber das heißt nicht, dass sie unmöglich wird. Sondern es bedeutet, dass sie unwahrscheinlich wird, und dass das Erziehungssystem sein eigenes Medium in Stellung bringen muss, um diese dergestalt aufgefrischte Unwahrscheinlichkeit wiederum in Wahrscheinlichkeit zu transformieren. Auch in dieser Form ist die Bildung Kontingenzformel in dem Sinne, dass sie die Kontingenz der Erziehung sowohl zu reflektieren als auch zu bearbeiten vermag. Grundschulen führen Meditations- und Ruheräume ein und ermutigen die Kleinen, sich gegenseitig zu massieren. Dem ist die Esoterik nicht mehr anzusehen; statt dessen werden ganz neue Motive verfügbar, sich auf Erziehung nicht zuletzt deswegen einzulassen, weil es hier erst einmal schwer fällt, auf Absichten zuzurechnen.
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Und nicht zuletzt steht die Kontingenzformel der Bildung bereit, jenen alten Anspruch, dass Erziehung nicht nur Intelligenz, sondern auch Einfluss vermittelt, zumindest in der Form des „cooling out“ wach zu halten (Goffman 1952, S. 451ff.). Was könnte besser über den trotz aller Erziehung doch nicht gewonnenen Einfluss hinwegtrösten als der Blick auf die Bildung, die man immerhin erworben hat? Und was könnte, weniger negativ formuliert, in der Erwartung der vermeintlich erworbenen Einflusschancen besser zu einer gewissen Durchhaltefähigkeit stimulieren als die Generalisierung und Verdichtung der eigenen Erziehung zu einer Bildung, die gepflegt und gezeigt werden kann? Vielleicht erklärt dies, warum der Bildungsgedanke in Deutschland ungleich stärker ausgebildet ist als in England, Frankreich oder in den USA, wo es nie so sehr wie in Deutschland darauf ankam, einem Bürgertum die Selbstüberschätzung zu erhalten, obwohl sie durch keine dementsprechend elitäre Positionierung eingelöst und gedeckt wird.14 Mit all dem wird die Bildung zum Joker (Serres 1981, S. 235ff.) des Erziehungssystems der Gesellschaft. Sie tritt überall dort auf, wo eine Verzweigung attraktiv wird, und eröffnet scheinbar ganz neue Wege, ohne doch, sobald es operativ darum geht, die passenden Interaktionen und Organisationen zu finden, etwas anderes bieten zu können als Erziehung. Weniges ist daher für unsere Ausgangsfrage nach der Limitationalität des Erziehungssystems bezeichnender als die Versuchung, das Erziehungssystem in ein Bildungssystem umzutaufen, um die Orientierungskrise durch die Übernahme aller gesellschaftlichen Erwartungen an Erziehung und Bildung zu beheben. Dem Bildungssystem, einmal angenommen, es gibt so etwas, können keine Grenzen aufgezeigt werden. Es ist letztlich mit der Gesellschaft identisch, insoweit diese auf eine Sozialisation abstellt, die Individuen als ihre eigene Absicht darstellen können, ohne sie deswegen auch absichtsvoll betreiben zu müssen. Die Rede vom Bildungssystem ist so unrealistisch wie der Versuch, die Gesellschaft als Gemeinschaft zu verstehen. Das Erziehungssystem ist daher gut beraten, wenn es den Bildungsgedanken als Kontingenzformel ernst nimmt, um die eigene Ausdifferenzierung ebenso kritisch wie affirmativ reflektieren zu können, gleichzeitig jedoch Wert darauf legt, die eigene Erziehung nicht mit dem, was hier Bildung heißt, zu verwechseln. Auch darin erwiese sich, was wir hier versuchsweise Erziehung im Medium der Intelligenz genannt haben.
14 Unter diesem Gesichtspunkt mag es interessant sein, sich Übergangssemantiken wie zum Beispiel die „Verhaltenslehre der Kälte“ (Lethen 1994) anzuschauen, die es ermöglichen, die mit Blick auf Einfluss in Staat und Wirtschaft erworbenen, dort aber enttäuschten Einflussansprüche statt dessen in eine Karriere im Militär zu investieren und auch dies noch als Ergebnis von Bildung zu verstehen.
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Funktionale Differenzierung und strukturelle Folgen Funktionale Jürgen Markowitz Differenzierung und strukturelle Folgen
Die Sonderstellung Jürgen Markowitz des Erziehungssystems im „Club der funktional differenzierten Systeme“ wird deutlich, wenn man die quer zur Funktionsdifferenzierung liegende Ebenendifferenzierung auf deren Funktionen hin befragt. Die Funktion der Interaktionen wird – im Zusammenwirken mit Sozialisation – in der sehr komplizierten Erzeugung von „Einfachheit“, von Lebensweltlichkeit gesehen. Die Funktion von Organisationen besteht darin, Lebensweltlichkeit – immer nur versuchsweise – mit ihrer anderen Seite, also mit ihren systemischen Funktionsvoraussetzungen zu vermitteln. Und die Funktion der Gesellschaft ist es, die Diskontinuität der unzähligen Versuche als Evolution kontinuieren zu lassen. Bei all dem liegt die Sonderstellung des Erziehungssystems darin, Schülergenerationen so zu betreuen, dass sie mit einer solchen Lebensweltlichkeit aufwachsen, die sie für die organisationale Vermittlungsfunktion überhaupt erreichbar macht.
1 Im „Club der funktional differenzierten Systeme“ gibt es drei Etagen. Im Erdgeschoss wimmeln die Interaktionen. Das zweite Geschoss belegen die Organisationen. Und im Obergeschoss residiert die Gesellschaft (Luhmann 1975). Das Leben auf diesen drei Etagen vollzieht sich keineswegs nur friedlich. Einer der Streitpunkte, der immer wieder mal aufbrandet, könnte als SchneewittchenSyndrom bezeichnet werden; allerdings geht es im Club der funktional differenzierten Systeme nicht um Schönheit, sondern um den funktionalen Primat. Gleich mehrere Systeme nehmen ihn für sich in Anspruch; aber noch in keinem einzigen Fall ist eine überzeugende Begründung gelungen. Unser Tagungsthema vermeidet die Vokabel Primat. Stattdessen ist von einer Sonderstellung die Rede. Schon diese Umformulierung wird Aufmerksamkeit wecken. Ein besonderer Reiz aber liegt darin, dass sich nicht einer der sonst üblichen „Kombattanten“ zu Wort meldet, also nicht die Wirtschaft oder die Politik, sondern dass über eine Sonderstellung – noch dazu ein sich wandelndes – des Erziehungssystems diskutiert werden soll.
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Den Charme dieser Themenstellung kann man darin sehen, dass sie zu der Frage einlädt, ob es neben dem Funktionsbezug – aus dem sich keine Sonderstellung herleiten lässt – noch ein anderes, systematisch gleichrangiges Kriterium gibt, das womöglich nur im Erziehungssystems als solches, also gleichrangig, berücksichtigt wird und eben dadurch eine Sonderstellung des Erziehungssystems begründet. Eine Antwort auf diese Frage lässt sich vielleicht finden, wenn man sich noch einmal auf den „Club der funktional differenzierten Systeme“ mit seinen drei Etagen – Interaktion, Organisation und Gesellschaft – bezieht. Ernsthaft gesprochen: In welchem Verhältnis steht die funktionale Differenzierung zur Differenzierung nach System-Ebenen? Müssen die drei System-Ebenen nicht ebenfalls funktional gedeutet werden? Also: Welche Funktion hat Interaktion? Welche Funktion hat Organisation? Und welche Funktion hat die Systemebene Gesellschaft? Ich möchte als Diskussionsbeitrag eine Antwort in der Kurzform von Thesen versuchen.
2 Zunächst zur Interaktion: Eine ausgearbeitete Theorie der Interaktion steht bislang nicht zur Verfügung. Bei eigenen Arbeiten an diesem Projekt (Markowitz 1979, 1986, 1991, 2003) ist deutlich geworden, dass sich ein leistungsfähiges heuristisches Gefüge erst dann ergibt, wenn man von einer paradoxen Konstellation ausgeht: Interaktion ist ein Geschehen, das auf höchst komplizierte Weise „Einfachheit“ produziert. Aus Interaktion und mitlaufender Sozialisation emergiert Lebenswelt. Der von Habermas (1981, S. 171–293, 1988, S. 63ff.) konstruierte Gegensatz von System und Lebenswelt muss – jedenfalls auf der Ebene der Interaktion – als Fehlkonstruktion eingestuft werden. Das ungemein komplizierte Prozedere in den Systemen der Interaktion greift die Lebenswelt nicht an, sondern bringt sie im Zusammenwirken mit Sozialisation überhaupt erst hervor. Auch eine Theorie der Sozialisation liegt nicht vor. Dieses Faktum kann dann nicht verwundern, wenn man sich klar macht, dass Sozialisation als Effekt von Interaktion anzusehen ist, dass Sozialisation also als systematische Beschreibung ohne eine Theorie der Interaktion nicht zu haben ist. Allerdings gilt auch die Umkehrung dieses Satzes: Interaktion und Sozialisation „tragen sich“ gegenseitig; das soziale und das psychische Geschehen sind operational und strukturell aneinander gekoppelt (Luhmann 1988). Nur hier, nur auf der Systemebene der Interaktion wirken zwei Operationsmodi zusammen: Kommunikation und Wahrnehmung (Luhmann 1975a, S. 25). Das Zusammenwirken von Wahrnehmung und Kommunikation in der Interaktion hat sich im Verlauf der Evolution so eingespielt, dass Prozesse und deren Resultate gegeneinander separiert werden konnten. Das Emergieren der
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Lebenswelt in Interaktionen beruht nicht zuletzt darauf, Resultate verwenden zu können, ohne sich auf die sie tragenden Prozesse beziehen zu müssen, in vielen Fällen: ohne sie auch nur zu kennen. Lebenswelt erscheint als eine vertraute Welt, eine Welt der selbstverständlichen, der natürlichen Ordnung. In der Lebenswelt steht Evidenz anstelle von Kontingenz, Person anstelle von Kommunikation, Linearität anstelle von Zirkularität. Die Lebenswelt ist eine ontologische Welt, eine cartesische Welt der Subjekte und Objekte; sie ist akteurssemantisch codiert und final konzipiert, sie ist wahrnehmungsverbürgt und über Gewissheiten integriert. Für eine lebensweltliche Orientierung benötigt man nicht unbedingt Verständnis; zur Not reicht Gedächtnis. Fazit: Die Funktion von Interaktion besteht in der – sehr kompliziert verlaufenden – Produktion von „Einfachheit“, im Emergieren von Lebenswelt; sie besteht im Ermöglichen einer Semantik, die sich im Bezug auf „den“ Akteur entfaltet.
3 Aber: Die lebensweltliche Ordnung muss einerseits zwar als eine Selbstvereinfachung eingeschätzt werden, ohne die ein sozialer Alltag nicht vorgestellt werden kann. Vereinfachung ist funktionsnotwendig. Andererseits aber muss mit dieser Feststellung zugleich notiert werden, dass die Semantik der Lebenswelt – als funktional erforderliche Selbstvereinfachung – im Widerspruch steht zu anderen Funktionserfordernissen des sozialen Lebens. Selbstvereinfachung erweist sich als paradoxe Funktionsnotwendigkeit. Auf genau dieses Paradox ist die nächste Systemebene, die der Organisation bezogen. Organisationen haben die Funktion, das Funktionsparadox der Vereinfachung dadurch zu entparadoxieren, dass eine lebensweltliche, final codierte, also eine akteursbezogene Semantik zweckspezifisch vermittelt wird mit einer ganz anderen, nämlich einer funktionsbezogenen Begrifflichkeit. Wie sich zum Beispiel Organisationen der Wirtschaft auf diese Vermittlungsfunktion eingestellt haben, zeigt ein Blick nicht in die soziologische, sondern in die juristische und in die betriebswirtschaftliche Terminologie. In den einschlägigen Lexika findet sich eine begriffliche Trias, die die Vermittlungsfunktion genau bezeichnen könnte: Die gewerbliche Organisation muss mit einem eindeutig unterscheidbaren Namen als Firma ins Handelsregister eingetragen werden. Unter dieser Adresse finden sich zwei verschiedene Termini, die in juristischen und betriebswirtschaftlichen Texten jedoch nur sehr oberflächlich unterschieden werden. Im Alpmann Brockhaus Fachlexikon Recht findet sich (S. 505) zum Beispiel folgender Eintrag: „Die Firma ist nur der Name des Handelsgeschäfts und nicht das Unternehmen oder der Betrieb selbst.“ Beide Disziplinen unterscheiden terminologisch zwischen Unternehmen und Betrieb, wissen aber offenkundig mit dieser Unterscheidung begrifflich
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nicht viel anzufangen. Im Alpmann (S. 240) zeugt davon etwa folgender Satz: „Die arbeitsrechtlichen Gesetze enthalten keine Definition des Betriebsbegriffes, sondern setzen ihn voraus.“ Im Brockhaus multimedial 2004 findet sich unter dem Stichwort Betrieb der Eintrag: „In der Betriebswirtschaftslehre wird der Begriff Betrieb unterschiedlich definiert, v. a. variieren Begriffsumfang und -inhalt gegenüber ,Unternehmung‘: 1) Betrieb und Unternehmung werden als gleich geordnete Bestandteile einer produktionswirtschaftlichen Einheit aufgefasst, wobei der Betrieb die Produktionsseite oder die technisch-wirtschaftliche Seite und die Unternehmung die Finanzseite oder die juristisch-finanzielle Seite darstellt; 2) der Begriff Betrieb wird als der umfassendere aufgefasst, während die Unternehmung als historische Erscheinungsform des Betriebes nur in marktwirtschaftlichen Systemen gilt; 3) die Unternehmung gilt als der umfassendere Begriff, der neben dem technischen Fertigungsbereich (Betrieb) auch den Finanz- und Absatzbereich umfasst.“ Diese begriffliche Unentschiedenheit stiftet zwar keine Klarheit; sie wirkt gleichwohl anregend. Plakativ formuliert: Der Betrieb besteht aus Menschen, Geräten, Gebäuden, Maschinen etc. Der Betrieb repräsentiert die lebensweltliche Seite einer Firma. Man kann ihn bzw. seine Komponenten sehen, anfassen, riechen usw.; er ist akteurssemantisch verfasst. Das Unternehmen hingegen ist ganz anders konzipiert. Es bezieht sich auf die diversen Bedingungen der Möglichkeit des Erfolgs bzw. des Bestands einer Firma; es ist funktionssemantisch verfasst. Die als Firma eingetragene Organisation vermittelt zwischen Betrieb und Unternehmen, zwischen Akteursbezug und Funktionsbezug, und zwar dadurch, dass in beiden semantischen Hemisphären Elementarisierungen vorgenommen werden, die sich aufeinander beziehen lassen: Der Betrieb nutzt das Konstrukt des Arbeitsplatzes als seine strukturelle Einheit. Das Unternehmen entwickelt als korrespondierende Einheit das Konstrukt der Stelle. Und eine weitere Erfindung der Gesellschaft, nämlich die soziale Rolle, vermittelt zwischen Arbeitsplatz und Stelle, und zwar sowohl semantisch wie pragmatisch. Jedes Mitglied der Organisation hat eine so konzipierte Rolle zu spielen. Mit diesem subtilen Arrangement lässt sich – durch horizontale und vertikale Differenzierung – erreichen, dass das Erfordernis des Funktionsbezugs höchst unterschiedlich dosiert und entsprechend differenziell zugemutet werden kann. Solange die Anweisungen der Vorgesetzten stimmen und entsprechend verstanden werden, können Mitarbeiter die Firma ausschließlich im Modus des Betriebs, also als lebensweltliche Ordnung erfahren und trotzdem ihren Lebensunterhalt verdienen. Anders, pointiert formuliert: Organisationen im Wirtschaftssystem machen es möglich, dass eine riesige Menge von Menschen an diesem System partizipieren, obwohl sie von den Funktionserfordernissen eben dieses Systems nahezu überhaupt nichts verstehen. Vor diesem Hintergrund wurde es möglich, dass sich das Erziehungssystem wie selbstverständlich an der (Re-)Produktion einer Arbeitnehmer-Kultur beteiligte.
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Auch in den anderen Funktionssystemen stößt man auf entsprechende Sachverhalte. Im Bereich der Politik haben sich – funktional äquivalent zu den Firmen der Wirtschaft – Staaten als Großorganisationen entwickelt, in denen sich ebenfalls Vorkehrungen finden, jene beiden semantischen Hemisphären miteinander zu vermitteln, die aus dem Akteursbezug einerseits, aus dem Funktionsbezug andererseits resultieren. Das Konstrukt des Parlaments entspricht dem Betrieb. Das Parlament ist lebensweltlich verfasst. Es besteht aus Akteuren als gewählten Repräsentanten eines gleichsam mythisch konzipierten obersten Akteurs, dem Souverän, dem Volk. Das Konstrukt der ministerialen bzw. staatlichen Verwaltung entspricht dem, was in den Organisationen der Wirtschaft als Unternehmen bezeichnet wird. Die lebensweltliche Begrifflichkeit kann mit der Semantik der Ämter und Behörden, mit dem sogenannten Amts-Deutsch nicht viel anfangen; sie ist auf Vermittlungsleistungen angewiesen, die in Form unterschiedlich konzipierter Prozeduren – in vielen Fällen rechtsförmig – in Ämter und Behörden „eingebaut“ sind. Eine direkte Entsprechung zu dem subtilen strukturellen Arrangement von Arbeitsplatz und Stelle in den Organisationen der Wirtschaft ist in der als Staat firmierenden Organisation zwar nicht zu finden. Stattdessen hat sich – unter anderem – das Rechtsinstitut des Antrags entwickelt, der eine Vermittlung von Akteursbezug und Funktionsbezug auslöst. Diese wenigen Andeutungen reichen hoffentlich aus, um die These zu illustrieren, dass die Funktion von Organisationen darin besteht, die in Interaktionen emergierenden Vereinfachungen mit voraussetzungsvollen Funktionsanforderungen zu vermitteln und so das paradoxe Funktionserfordernis der Vereinfachung zu entparadoxieren.
4 Das paradoxe Erfordernis der Einfachheit, der lebensweltlich verfassten Ordnung, konfrontiert nicht nur mit dem Problem der Entparadoxierung, sondern auch und zugleich mit der Frage, wie weitere Funktionserfordernisse überhaupt ermittelt werden können. Nicht nur die Vermittlung von Funktionserfordernissen ist problematisch, sondern auch die Ermittlung. Es sind genau diese beiden Problemperspektiven, mit Blick auf die die Funktion der Gesellschaft bestimmt werden kann. Gesellschaft ist der soziale Ausdruck dafür, dass sich Probleme nicht lösen lassen, sondern nach dem Schema von Versuch und Irrtum immer wieder neu bewältigt werden müssen. Gesellschaft ist jener Rahmen, der soziokulturelle Evolution ermöglicht. Weil es die Systemebene der Gesellschaft gibt, können Interaktionen die Form der Episode ausbilden. Ihr Anfang ist – jedenfalls bei institutionalisierten Anlässen – von der Erwartung des Endes konstitutiv mitbestimmt. Nur in sehr seltenen Fällen muss das Ende einer Interaktion als ein Scheitern der Interaktion angesehen werden. Interaktionen können sich eben deswegen in einer un-
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vorstellbaren Häufigkeit ereignen. Sie bieten mit dieser Häufigkeit der soziokulturellen Evolution ein unerschöpfliches Probierfeld. Nur vor diesem Hintergrund wird nachvollziehbar, dass sich ein derart kompliziertes Geschehen wie das der Interaktion überhaupt einspielen konnte; aber das eben immer nur unter der Voraussetzung, dass es „hinter“ den einzelnen Interaktionen mit der Gesellschaft eine Systemebene gibt, die das Ende jeder Interaktion überdauert und so die Erwartung weiterer Interaktionen ermöglicht (Luhmann 1997, S. 813ff.). Im Gegensatz zu Interaktionen haben Organisationen nicht die Form der Episode. Hier fungiert das erwartbare Ende nicht als Bedingung der Möglichkeit des Anfangs. Organisationen entstehen nicht wie Interaktionen gleichsam von selbst. Sie setzen eine Entscheidung über ihrer Gründung bzw. über Einoder Austritt voraus. Sie verfügen damit über ein ganz anderes ZeitbindungsPotenzial als Interaktionen. Dennoch aber unterliegen auch sie dem Entstehen und Vergehen. Im Jahre 2002 wurden zum Beispiel in Deutschland 723.333 neue Gewerbe angemeldet. Als Faustregel der Statistik gilt: Von 100 Neugründungen schließen 90 innerhalb der ersten zwei bis drei Jahre die Pforten wieder. Auch für diese – im Vergleich zur Interaktion sehr viel andere – Art des trial and error ist die Systemebene der Gesellschaft die Voraussetzung (Luhmann 1997, S. 826ff.).
5 Zwar emergieren Vereinfachungen in Interaktionen. Zu Lebenswelten werden diese Vereinfachungen aber erst dadurch, dass ihre semantischen Komponenten nicht auf Interaktionen begrenzt, sondern ohne jede Begrenzung verwendet werden, dadurch also, dass mit ihrer Hilfe projektiv auch die Gesellschaft, ja das All insgesamt – als kosmische Ordnung – gedeutet wird. Dynamik kommt in diesen Deutungszusammenhang dadurch hinein, dass Interaktion sich davon unabhängig machen kann, für jeden und alle offen zu sein: Die Zulassung lässt sich nach den unterschiedlichsten Kriterien begrenzen, so etwa nach Alter, Geschlecht, Meriten, Herkunft usw. Das führt zur Ausdifferenzierung von Schichten und zu entsprechend differierenden Semantiken. Neben diesen Möglichkeiten ist eine andere Art der Entwicklung zu beachten. Durch sie wird der Operationsmodus Interaktion nicht differenziert, sondern transzendiert: Mithilfe von Schrift entwickelt sich interaktionsfreie Kommunikation. Dieser Operationsmodus kann sich einerseits von jener Eigendynamik weitreichend freizeichnen, die aus der wechselwirkenden Wahrnehmung resultiert. Er ermöglicht andererseits eine noch weiter reichende Unabhängigkeit in der Sozialdimension und in der Zeitdimension. So entsteht eine Art der Behandlung von Themen, die lebensweltliche Kriterien der Plausibilität nach und nach abstreift und damit die Voraussetzungen dafür gewinnt, die gesamte kosmische Ordnung und mit ihr auch das gesellschaftliche Zusammenleben gegen den Strich tradierter bzw. allgemeinverständlicher Sichten zu bürsten.
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Die in Interaktionen emergierenden lebensweltlichen Vereinfachungen werden in der sich entwickelnden interaktionsfreien Kommunikation nach und nach überwunden. Dieses Überwinden bezieht sich weniger auf die Interaktion selbst als vielmehr auf die größeren Zusammenhänge von Gesellschaft und Natur. Bei all dem rückt der Bezug auf „den“ Akteur nach und nach in den Hintergrund. Das animistische Interesse an Intentionen wird – plakativ formuliert – durch ein zunehmendes Interesse an Funktionen relativiert. Wenn das so entstehende Wissen die Mauern der Klausen und Klöster zu überwinden beginnt, reicht die alltägliche Interaktion zur Vermittlung der notwendigen Sozialisation nicht mehr aus. Und so fiel im antiken Griechenland der Auf- und Ausbau der Schulen mit dem tief greifenden sozialen Wandel zusammen, der von einer feudal geprägten, regional orientierten Agrargesellschaft zu einer an überregionalen Handelsbeziehungen orientierten demokratischen Gesellschaft führte (Meier 1995). Im 12. und 13. Jahrhundert korrespondierte die Gründung stadteigener und privater Schulen dem aufblühenden Leben der Städte. Und als sich mit dem 18. Jahrhundert der Funktionsbezug derart zu etablieren begann, dass sich aus ihm nach und nach das dominierende Prinzip der gesellschaftlichen Differenzierung entwickelte (Luhmann 1997, S. 743ff.), erschien der Bezug auf Akteur und Lebenswelt als derart problematisch, dass sich auf der Basis der Küsterschulen und Volksschulen unter kirchlicher Aufsicht im 18. Jahrhundert die allgemeine Schulpflicht durchsetzen konnte (Tenorth 1988).
6 Die Sonderstellung des Erziehungssystems im „Club der funktional differenzierten Systeme“ resultiert nicht daraus, dass zur Begründung dieser Sonderstellung der Primat einer Funktion behauptet werden muss. Sie resultiert vielmehr daraus, dass neben dem Funktionsbezug der Akteursbezug von gleichrangiger Bedeutung ist. Nur beide Referenzen gemeinsam ergeben die soziale Zentralperspektive. Die Sonderstellung des Erziehungssystems ist darin zu sehen, dass in diesem System die Vermittlung zwischen Akteursbezug und Funktionsbezug reflektiert und praktiziert wird. Die Systemebene der Interaktion operiert genau genommen in zweifacher Weise paradox: Erstens emergiert auf ungemein komplizierte Weise jene „Einfachheit“, die man als Lebenswelt bezeichnen kann. Zweitens ist diese „Einfachheit“ einerseits funktional erforderlich, andererseits glatt dysfunktional, jedenfalls in solch einer Gesellschaftsordnung, die durch funktionale Differenzierung und entsprechende Anforderungen an ihr Personal gekennzeichnet ist. Und es scheint, als ob diese Sonderstellung des Erziehungssystems im „Club der funktional differenzierten Systeme“ mit Beginn des neuen Jahrhunderts auf
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besondere Weise belastet wird. Zwei sich abzeichnende Trends seien kurz erwähnt: Erstens: Im Gefolge der funktionalen Differenzierung zeichnet sich eine Entwicklung ab, die man als Definalisierung bezeichnen kann. Jene lebensweltbezogenen Projektionen, mit deren Hilfe die Gesellschaft und ihre verschiedenen Teilbereiche zu deuten versucht werden, sind human finalisiert konzipiert: Die Wirtschaft befördert den Wohlstand, die Wissenschaft den Fortschritt, die Politik die Demokratisierung, das Recht die Gerechtigkeit usw. Im Gegensatz zu diesen Sichten wird seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts deutlich, dass diese Finalprojektionen nicht zu halten sind. Die Wirtschaft befördert zwar Reichtum, sogar obszönen Reichtum, aber keinen Wohlstand, die Wissenschaft befördert vor allem Risiken, die demokratische Politik irritiert mit ihrer Bindung an das Kriterium der Opportunität, und das Recht kommt nicht damit zurecht zu entscheiden, wer an all dem die Schuld hat. Zweitens: Weiter oben ist angesprochen worden, dass die Funktion von Organisationen in einer je zweckspezifischen Vermittlung zwischen Akteursbezug und Funktionsbezug zu sehen ist. Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang den Organisationen der Wirtschaft zu. Wenn man die gegenwärtige Entwicklung beobachtet, kommt man nicht an der Feststellung vorbei, dass die Systemebene der Organisation ihre scharfen Konturen verliert. Systemebenen lassen sich abstrahierend als Kommunikationsformate begreifen und mithilfe dieses Oberbegriffs auf funktionale Äquivalente hin befragen. Genau das geschieht zur Zeit – nicht nur – in der Wirtschaft. Immer mehr Leistungen, die bisher von Organisationen der Wirtschaft erbracht worden sind, werden jetzt von Projekten, von Projektverbünden bzw. von Netzwerken erstellt. Diese neu entstehenden Kommunikationsformate bieten keine festen Arbeitsplätze mehr, auf denen die Akteure über das Konstrukt der Stelle – also vorsichtig dosiert – mit den Funktionserfordernissen des Wirtschaftssystems oder der Technik konfrontiert werden. Stattdessen sind Marktbeobachtung, Akquisition, Kalkulation usw. erforderlich und als deren Grundvoraussetzung eine Funktionsorientierung, auf die sich ein Erziehungssystem erst noch einstellen muss, das bisher wie selbstverständlich an der (Re-)Produktion einer Arbeitnehmerkultur mitwirkt.
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Funktionale Differenzierung und strukturelle Folgen
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Erziehungssystem im Wandel. Zu den Problemen der Veränderung seiner Grenzen und des Verhältnisses von Fremdund Selbstreferenz Erziehungssystem Hans Merkens im Wandel
HansVorbemerkung Merkens 1. Aus einer theoretischen Perspektive ist es reizvoll das Erziehungssystem als ein Teilsystem zu behandeln, welches durch Systemdifferenzierung entstanden ist (Luhmann 1997a, S. 597), Schwierigkeiten stellen sich aber ein, wenn versucht wird, das Verhältnis von System und Umwelt für das Erziehungssystem sowie dessen Teilsysteme zu bestimmen. Für seine Teilsysteme tritt zusätzlich als Frage auf, ob sie durch Systemdifferenzierung des Erziehungssystems entstanden sind oder ob sich das Erziehungssystem additiv aus ihnen zusammensetzt. Vor allem aber müssen zwei Fragen im Vorfeld geklärt werden, wenn das Erziehungssystem als Gegenstand der Betrachtung gewählt wird: welches ist das Medium, ist die eine, und welche Funktionen werden dem Erziehungssystem zugerechnet, die andere. Diese beiden Fragen sollen zunächst behandelt werden. Dabei wird auch die Grenzziehung von großer Bedeutung sein. Daran anschließend wird das Verhältnis des Erziehungssystems und seiner Teilsysteme zu anderen Teilsystemen der Gesellschaft betrachtet. Damit verbunden sind die Fragen der Autonomie des Erziehungssystems sowie des Verhältnisses von Selbst- und Fremdreferenz. Abschließend werden Probleme der Struktur des Erziehungssystems und seiner Teilsysteme dargestellt, weil sich ein möglicher Wandel in diesem Bereich nachweisen lassen müsste.
2. Medium und Funktionen des Erziehungssystems „Funktionen dienen ... der Selbstbeschreibung eines komplexen Systems, der Einführung eines Ausdrucks für Identität und Differenz in das System“ (Luhmann 1984, S. 406). In diesem Sinne scheint sich die Funktion des Erziehungssystems dahingehend beschreiben zu lassen, dass ihm die Erziehung obliegt. Diese Bestimmung bedarf der Präzisierung, weil der Begriff der Erziehung in
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der Erziehungswissenschaft traditionell auf eine bestimmte Aufgabenstellung eingegrenzt ist, die Erziehung der nachwachsenden Generation (vgl. Schleiermacher 1983). Betrachtet man das Erziehungssystem und die Institutionen, die ihm zugerechnet werden genauer, dann ergibt sich gegenwärtig ein viel breiteres Spektrum von Aufgaben, die ihm übertragen sind. Diese reichen von der Beratung (z. B. in Erziehungsberatungsstellen) über Hilfe (z. B. in der Jugendhilfe) über Unterricht (z. B. in der Schule) bis hin zur Erziehung. Luhmann (2002, S. 54) hat mit Erziehung alle Kommunikationen bezeichnet, „die in der Absicht des Erziehens in Interaktionen aktualisiert werden.“ Entsprechende Bestimmungen für Lernen, Beraten und Hilfe finden sich bei ihm nicht, obwohl es Tätigkeiten sind, die im Erziehungssystem praktiziert werden. Es handelt sich aber ohne jeden Zweifel um unterschiedliche Aufgaben, die häufig primär auch in verschiedenen Institutionen wahrgenommen werden. So wird Erziehung als Unterricht mit dem Ziel Lernen von Individuen wahrscheinlicher werden zu lassen, in Schulen praktiziert. Die Beratung von Eltern, die mit der Erziehung ihrer Kinder Probleme haben, geschieht in Erziehungsberatungsstellen und Hilfe für Eltern, die um Unterstützung bei der Erziehung ihrer Kinder bitten, bietet die Jugendhilfe. Diese Aufzählung unterschiedlicher Institutionen mit jeweils speziellen Angeboten legt es nahe, die Idee der Einheitlichkeit des Erziehungssystems nicht weiter zu verfolgen, weil es eher additiv unterschiedliche Aufgaben zu geben scheint, die dann von unterschiedlichen Institutionen wahrgenommen werden. Entgegen dieser Annahme findet sich aber auch in einzelnen Institutionen eine parallele Wahrnehmung solcher Aufgaben: So wird in Schulen nicht nur erzogen, es wird auch beraten und geholfen. Der Sachverhalt kompliziert sich nochmals dadurch, dass im Erziehungssystem nicht nur der Umgang mit Kindern und Jugendlichen sondern zunehmend auch der mit Erwachsenen gepflegt wird. Das ist ein Umstand, den Luhmann und Schorr erst verhältnismäßig spät als relevant für die Behandlung des Erziehungssystems entdeckt hatten, wie Luhmann (1997b, S. 17f.) selbst schildert. Luhmann hat in vielen Veröffentlichungen seine Betrachtungen auf das Bildungssystem im engeren Sinne eingegrenzt, indem er die Erziehung der Kinder sowie deren Unterricht in den Mittelpunkt seiner Überlegungen gestellt (Luhmann 2002, S. 111ff.) und andere Teilsysteme wie die sozialpädagogischen Institutionen und den Weiterbildungsbereich nur passager berücksichtigt hat. Ohne dass es eine solche Präzisierung gibt, ist es wahrscheinlich angemessen, davon auszugehen, dass Luhmann das Erziehungssystem häufig auf diejenigen Bereiche eingegrenzt hat, in denen Fremderziehung insbesondere in der Form des Unterrichts stattfindet, wie wir sie aus der Schule kennen, d. h. er hat im Wesentlichen das allgemeinbildende Schulsystem beobachtet. Er hat das Verhältnis Erwachsener – Kinder als Grundmuster gewählt und in vielen Fällen das Kind als Medium der Erziehung bezeichnet (Luhmann 2002, S. 91ff.). Ich werde im Folgenden diese enge Sichtweise nicht übernehmen, weil sich der eigentliche Wandel im Erziehungssystem vor allem in den Sektoren vollzogen hat, die Luhmann zumindest expressis verbis häufig nicht mit einbezogen hat. Zu dieser
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Bilanz ist allerdings einschränkend zu bemerken, dass Luhmann (1997) trotz seiner häufig andere Teilsysteme ausgrenzenden Sicht in seinen späteren Schriften eine breitere Sicht des Erziehungssystems verfolgt hat, wenn er „Erziehung als Formung des Lebenslaufs“ betrachtet hat. In ein solches Konzept lassen sich Beratung und Hilfe unschwer integrieren. Wenn es angesichts der unterschiedlichen Funktionen auch nicht leicht fällt, eine gemeinsame Aufgabenstellung für das Erziehungssystem zu bestimmen, soll im Folgenden dennoch als Gemeinsamkeit davon ausgegangen werden, dass im Erziehungssystem Erziehen (einschließlich Unterrichten und Lehren), Beraten sowie Hilfe in Interaktionen mit dem Ziel inszeniert werden, Verhalten und Handeln bei Adressaten zu verändern oder zu stabilisieren. Entscheidend ist bei dieser Bestimmung, dass jeweils eine Absicht als handlungsleitend angesehen werden kann. Das Erziehungssystem ist dann das Teilsystem, in dem Interaktionssysteme organisiert werden, die für die Förderung solcher Absichten als dienlich angesehen werden. In Übereinstimmung mit Luhmann (2002, S. 54) wird demnach die Sozialisation aus dem Erziehungssystem ausgeschlossen.1 Für die Grenzen des Erziehungssystems ergibt diese erste Festlegung, dass sich diese mit der Präzisierung unterschiedlicher Aufgaben und der Schaffung neuer Institutionen in den letzten 200 Jahren erheblich erweitert haben. Ursprünglich hatte Luhmann (1991) das Kind als Medium der Erziehung bezeichnet. Später hat sich allerdings gezeigt, dass diese Bestimmung für das Erziehungssystem zu eng war und ist deshalb von ihm durch den Lebenslauf ersetzt worden (Luhmann 2002, S. 92ff.). Mit dem Begriff des Mediums werden nicht die konkreten Realisationen – also der Lebenslauf eines bestimmten Menschen – erfragt. Vielmehr ist es die Vorstellung, dass jedes Mitglied der Gesellschaft einen Lebenslauf zustande bringt. Die Form gewinnt der Lebenslauf durch Einzelereignisse. Diese Präzisierung des Mediums veranschaulicht die Grundfigur des Erziehungssystems: Es ist jeweils einer der Partner, auf den alle organisierten Interaktionssysteme fokussiert sind: ursprünglich war das Kind dieser Partner, nunmehr ist es der Lebenslauf dessen, in Bezug auf den absichtsvoll gehandelt wird. Dieser Partner findet wiederum eine Form in den jeweiligen Interaktionen. Mit dieser Entscheidung werden verschiedene Themen aus der Diskussion ausgeblendet, die gegenwärtig für das Erziehungssystem von großer Bedeutung sind: Qualitätsmanagement, Schulentwicklung und Organisationales Lernen können als Beispiele angeführt werden. Sie lassen sich innerhalb der Systemtheorie diskutieren, erhalten aber nicht als Teilaspekte des Erziehungssystems ihre Bedeutung. Im Erziehungssystem wird vielmehr das Individuum als Adressat aller Bemühungen betrachtet. Das stimmt mit der in der Erziehungswissenschaft vorherrschenden individualisierenden Betrachtung überein, bei der auch die Adressaten und nicht die institutionelle Organisation 1 Diese Entscheidung ist nicht unproblematisch, weil demnach die ungewollten Folgen, die aus dem Organisieren der Interaktionsprozesse mit absichtsvollen Zielen resultieren (heimlicher Lehrplan z. B. Zinnecker 1975) nicht mehr Teil des Erziehungssystems sind.
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der Interaktionssysteme im Zentrum des Interesses stehen, hat aber auch Folgen für die Grenzziehung des Erziehungssystems, weil sich nicht mehr bestimmte Institutionen angeben lassen, in denen sich das Erziehungssystem manifestiert, sondern einzelne Handlungen bzw. Kommunikationen in Interaktionssystemen zur Grundlage gewählt werden. Diese Kommunikationen setzten nicht voraus, dass sie institutionell eingebunden sind. Damit entfällt die Möglichkeit, die Grenzen des Erziehungssystems ausschließlich institutionell zu bestimmen. Trotz der bisher vorgenommenen Klärungen zum Erziehungssystem und zum Medium fällt es daher schwer präzise Aussagen dazu zu formulieren, wo genau die Grenzen des Erziehungssystems liegen. Dafür lassen sich noch weitere Gründe benennen, die auch Luhmann (2002) bereits gesehen hat:
> Es fehlt an einer Operationalisierung des Begriffs Erziehung, die erst klare Trennlinien ermöglichen würde.
> Die Absicht zu erziehen, symbolisiert zwar die Einheit des Erziehungssystems, sie kann aber weder im noch außerhalb des Systems gefunden werden.
> Das Medium der Erziehung ist nicht einheitlich (Kind – Lebenslauf). > Die Form Wissen ist dadurch gekennzeichnet, dass Wissen nur als individuelles Wissen im Erziehungssystem existiert. Deshalb wird an dieser Stelle – in einer traditionellen Sichtweise zunächst – eine kurze und knappe Aufzählung von Institutionen bzw. Organisationen erfolgen, von denen angenommen wird, dass sie zumindest mit einem Teil ihrer Funktionen zum Erziehungssystem gerechnet werden müssen. Damit wird ein weiteres Problem sichtbar, dem aber im Folgenden keine besondere Beachtung geschenkt wird: Es gibt in der Alltagswelt Überschneidungen zwischen verschiedenen Teilsystemen, die auf der theoretischen Ebene als funktional ausdifferenziert gelten. Es ist insbesondere ein Spezifikum des Erziehungssystems, dass es in vielen seiner Teile nicht exklusiv als System existiert, sondern in andere Systeme inkludiert ist bzw. parallel zu anderen Systemen prozessiert. Das ist beispielsweise im Handwerksbetrieb der Fall, wenn auch noch ausgebildet wird. Aus wirtschaftlicher Perspektive diktiert das Medium Geld in diesem Beispiel das Handeln – aus pädagogischer das Medium Lebenslauf. Beide Teilsysteme unterliegen dabei einer starken strukturellen Kopplung. Das soll aber in der Sicht von Luhmann (1997a, S. 66) nicht zur Aufhebung der Autopoiesis in einem oder beiden Systemen führen. Das ist eine Annahme, die nicht zutreffen muss, wenn beispielsweise Betriebe aus wirtschaftlichen Gründen ihre Teilnahme als Ausbildungsbetrieb aufgeben: Das Medium Geld im Wirtschaftsbereich bewirkt in letzter Konsequenz eine Veränderung im Erziehungssystem. Unzweifelhaft gehören nach Luhmann/Schorr das Bildungssystem sowie das Ausbildungssystem zum Erziehungssystem. Dazu gerechnet werden neben der Familie, die aber in meinen Überlegungen keine zentrale Rolle spielen wird, der Weiterbildungsbereich und der Betrieb, soweit in ihm Bildung im weitesten Sinne stattfindet: Learning on the Job oder Learning by Doing sind Aktivitä-
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ten, die ich dem Erziehungssystem zuordne. Bei genauer Betrachtung muss hierzu ebenfalls ein großer Teil der Beratungen, von der Personalberatung bis zur Drogenberatung gerechnet werden. Weiterhin zähle ich Institutionen hinzu, die Hilfen als Unterstützung für andere Aufgaben des Erziehungssystems gewähren. Diese Aufzählung lässt bereits erkennen, dass man, wenn man die Untersuchung von der Seite der beteiligten Institutionen bzw. Organisationen angeht (vgl. Esser 2000), nicht nur auf Bereiche trifft, deren Aufgabe auf Erziehung eingegrenzt ist. Vielmehr ist es für viele Institutionen bzw. Organisationen geradezu kennzeichnend, dass sie nicht exklusiv für Zwecke des Erziehens und Unterrichtes agieren, sondern dass in vielen primär andere Aufgaben bzw. Funktionen zu erfüllen versucht werden und Erziehen oder Bilden nur nebenher eine Rolle spielt. Das ist ein Umstand, auf den bereits Wittpoth (1997) verwiesen hat. Daraus folgt aber auch, dass Erziehung, Beratung und Hilfe, wie sie hier als Aufgaben des Erziehungssystems bestimmt worden sind, in vielen Teilsystemen mit auftreten. Sie lassen sich nicht mehr eingrenzen, die Grenzen des Erziehungssystems diffundieren vielmehr. Um dennoch eine Grenzziehung zu ermöglichen, wird es verständlich, dass Kade (1997, S. 35ff.) vorgeschlagen hat, als bestimmendes Merkmal des Erziehungssystems die Aufgabe der Vermittlung von Wissen und Werten anzunehmen und daraus das Dual vermittelbar/nicht vermittelbar konstruiert hat, dem Luhmann (2002, S. 59) zugestimmt hat. Diese Aufgabe muss dann allerdings nochmals um Beraten und Helfen ergänzt werden. Demnach werden zum Erziehungssystem Bereiche gerechnet, in denen diese entsprechenden Aufgaben erfüllt werden. Das System inkludiert nicht bestimmte Institutionen bzw. Organisationen in ihrer Gänze, sondern nur die Teile, in denen aktuell oder systematisch Aufgaben der beschriebenen Art organisiert werden: Allen genannten Aufgaben ist gemeinsam, dass Veränderungen oder Stabilisierungen im Lebenslauf von Individuen wahrscheinlicher werden sollen. Daraus resultiert als Konsequenz, dass sich eine Zuordnung des Erziehungssystems bzw. seiner Teilsysteme zu einzelnen pädagogischen Institutionen nicht durchführen lässt. Vielmehr zeichnet sich das Erziehungssystem dadurch aus, dass es nicht an bestimmte Institutionen und die darüber definierbaren Grenzen gebunden ist, es konstituiert sich vielmehr über die beschriebenen Interaktionssysteme. Das mag im Ergebnis nach einem zirkulären Vorgehen aussehen – die auf den Lebenslauf fokussierte Bestimmung des Mediums lässt aber keine andere Sichtweise zu. Vielleicht wird damit die in postmodernen Gesellschaften zu beobachtende Entinstitutionalisierung pädagogischen Handelns beschreibbar, die gerade nicht innerhalb der traditionellen institutionellen Grenzen auftritt.
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3. Zur Relation des Erziehungssystems zu anderen sozialen Systemen Schimank (2002, S. 14) hat für die modernen Gesellschaften die Polykontextualität als wichtiges Merkmal benannt. Diese Polykontextualität wiederholt sich innerhalb des Erziehungssystems mit seinen unterschiedlichen Teilsystemen nochmals. Die Polykontextualität ist nicht folgenlos für das Erziehungssystem und die Dynamik seiner Entwicklung. Änderungen in Teilsystemen der Gesellschaft – Wirtschaft, Politik z. B. – haben Wirkungen auf andere Teilsysteme, zu deren Umwelt sie gehören, z. B. das Erziehungssystem (Luhmann 1997a, S. 599). So hat das Erziehungssystem immer wieder in seiner Umwelt reagiert. Wenn man das Erziehungssystem auf seinem heutigen Stand betrachtet, fällt auf, dass seine Veränderungen im Wesentlichen als Reaktion auf neue Herausforderungen in der Umwelt entstanden sind. Dabei hat es auch Entwicklungen gegeben, denen kein längerfristiger Erfolg beschieden gewesen ist wie z. B. die Industrieschulen aus dem 18. und 19. Jahrhundert (Aumüller 1974). Im heutigen Verständnis würde die Industriepädagogik zwischen beruflicher Bildung, sozialpädagogischem Teilsystem, mit dem Anspruch sozial Marginalisierte zu integrieren, und Bildungssystem angesiedelt (Tenorth 1988, S. 87ff.). Sie ist gescheitert und andere Teilsysteme sind entstanden, die erfolgreicher waren und sind, weil sie länger überlebt haben. Festzuhalten bleibt aber, dass das Erziehungssystem aus verschiedenen Teilsystemen besteht und so unterschiedliche Institutionen wie Kinderkrippe, Schule, Betrieb – vor allem, wenn ausgebildet wird – und die Jugendhilfe umfasst. Dabei ist diese Aufzählung keineswegs abschließend. Diese Teilsysteme sind keineswegs alle durch Ausdifferenzierung im Erziehungssystem entstanden, sondern haben sich in historischer Betrachtung jeweils durch Ausdifferenzierungen im Gesellschaftssystem entwickelt und firmieren heute unter dem Erziehungssystem. Luhmann (1997a, S. 757) hat unter dem Aspekt der Beobachtung die Dimensionen Funktion im Verhältnis zum Gesamtsystem und Leistung im Verhältnis zu anderen Teilsystemen unterschieden. Die Selbstbeobachtung hat er als Reflexion gekennzeichnet. Andere Teilsysteme erwarten vom Erziehungssystem bestimmte Leistungen, wie die PISA-Debatten in Deutschland anschaulich demonstrieren. Gleichzeitig hat das Erziehungssystem bestimmte Funktionen in der Gesellschaft übernommen. Diese Funktionen ergänzen sich teilweise wie z. B. die Hausaufgabenhilfe die Schule, teilweise sind sie parallel ohne wechselseitige Bezüge wie z. B. die Berufsausbildung in der Industrie und die Betreuung im Kindergarten. Insoweit ist es nicht erstaunlich, dass das Erziehungssystem keine einheitliche Gestalt aufweist. In der Praxis resultieren aus dem Nebeneinander der unterschiedlichen Teilsysteme des Erziehungssystems vielmehr Schwierigkeiten bei der Erfüllung eines möglichen gemeinsamen pädagogischen Auftrags. Kennzeichnend sind neben Leistungs- auch Störungsverflechtungen der Teilsysteme des Erziehungssystems.
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Luhmann (2002, S. 14) hat den Zustand, dass das Erziehungssystem nur eines der funktional ausdifferenzierten Subsysteme des Gesellschaftssystems ist, als günstig angesehen, indem er positiv formuliert hat, das Erziehungssystem werde entlastet, weil von anderen Funktionssystemen andere Funktionen wahrgenommen werden. So müsse es sich weder um eigenes Einkommen noch um politischen Einfluss noch um eigene Forschungsergebnisse kümmern. In dieser Beschreibung wird bereits eine Einengung des Erziehungssystems sichtbar, die es zu hinterfragen gilt. So gehören die Hochschulen sicherlich zum Bildungssystem, wie auch ein internationaler Vergleich lehrt, wenn das Bildungssystem und seine Erfolge bzw. Misserfolge bilanziert werden (OECD 2001). D.h. das Erziehungssystem produziert in Teilen auch Forschungsergebnisse über sich selbst. Die funktionale Ausdifferenzierung weist für das Erziehungssystem nicht nur entlastende Momente auf, sie bringt eine Abhängigkeit des Erziehungssystems mit sich, soweit es sich beispielweise um das Bildungssystem handelt, an welches Forderungen und Erwartungen von anderen Teilsystemen adressiert werden, ohne dass die materielle Ausstattung in dem erforderlichen Umfang zur Verfügung gestellt wird, d. h. es gibt Störungsverflechtungen in erheblichem Umfang (Schimank 2002, S. 16). Dabei lässt sich als Muster beobachten, dass andere Teilsysteme ständig ihre Leistungserwartungen an das Erziehungssystem bzw. Teile von ihm formulieren. Hiervon sind insbesondere das Schul- und das Hochschulsystem betroffen: Die Teilsysteme Wirtschaft und Politik beklagen auf der Basis ihrer Beobachtungen des Bildungssystems dessen ungenügende Leistungen. Speziell das Bildungssystem steht unter der kritischen Beobachtung anderer Teilsysteme, um deren Leistungserwartungen zu genügen. Von dieser Ebene ist eine zweite zu unterscheiden, wenn man die Teilsysteme des Erziehungssystems in die Betrachtung einbezieht, bei denen sich auch vielfache Leistungsverflechtungen (Schimank 2002, S. 16) nachweisen lassen. Schule und Kinderhort, Schule und schulpsychologischer Dienst sind nur zwei Beispiele hierzu. Kennzeichnend für diese Leistungsverflechtungen ist, dass jeweils einzelne Individuen den Bezugspunkt bilden, über den die Leistungsverflechtung erfolgt. Das ist ein Spezifikum im Vergleich zu Leistungsverflechtungen des Erziehungssystems und seiner Teilsysteme zu Teilsystemen außerhalb des Erziehungssystems. Für das Erziehungssystem ist beispielsweise typisch, dass es in Bezug auf die Protagonisten – Erzieher und Zu-Erziehende – keine gegenüber anderen Teilsystemen exklusiven Inklusionsverhältnisse hat, das gilt zumindest für alle Institutionen mit Ausnahme der totalen Institution (Goffman 1973). Die Familie, die mit einigen ihrer Funktionen Teil des Erziehungssystems ist, und der Betrieb mit dem Nebeneinander von unternehmerischer und Ausbildungsfunktion sind Beispiele hierfür. Die gegenwärtige Diskussion über die Ausbildungsplatzabgabe belegt, wie komplex gerade im letzteren Fall das Bedingungsgefüge ist, wenn Funktionen des Erziehungssystems und des Wirtschaftssystems in Konkurrenz zueinander treten. Die Leistungs- sowie Störungsverflechtungen zu
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anderen Teilsystemen müssen als hoch komplex angesehen werden. Das beginnt bei den politischen Vorgaben, – das Erziehungssystem ist in aller Regel nicht frei bei der Bestimmung seiner obersten Programmziele – es setzt sich fort bei der finanziellen Ausstattung – das Erziehungssystem ist in Deutschland fast schon chronisch unterfinanziert, – und es steht heute in Konkurrenz zu den Erziehungssystemen anderer Länder, das gilt zumindest für das Segment des Bildungssystems und hier insbesondere des Hochschulsystems (Dierkes/Merkens 2002). Mit Luhmann kann die Beziehung zu anderen Teilsystemen zusätzlich dahin gehend beschrieben werden, dass die Gefahr des Scheiterns für das Erziehungssystem oder Teile von ihm groß ist, weil es Erwartungen anderer Funktionssysteme nicht erfüllt und es deshalb seiner Ressourcen beraubt werden kann. Die Ursache dafür kann darin liegen, dass es als Subsystem eine Entwicklung nimmt, die nicht mehr hinreichend mit der Entwicklung anderer funktional ausdifferenzierter Systeme oder der des Gesellschaftssystems konvergiert. Erscheinungen dieser Art werden gegenwärtig beim System der dualen Berufsausbildung sichtbar, das in eine ernsthafte Krise geraten ist, weil Teilsysteme des Wirtschaftssystems nicht mehr die erforderlichen Ausbildungsleistungen erbringen. Aus der Perspektive der Systemtheorie handelt es sich in diesem Fall um ein Risiko, das des möglichen Scheiterns, welches das Erziehungssystem mit anderen Systemen teilt. Das ist die eine Seite des Verhältnisses zu anderen Teilsystemen. Die andere besteht darin, dass es auch zu systematischen Erweiterungen kommen kann, wie beispielsweise die Einrichtung von Kinderkrippen im Laufe des letzten Jahrhundert belegt, weil ursprünglich nur auf diese Weise Potenziale über den Arbeitsmarkt für das Wirtschaftssystem erschlossen werden konnten: die Frauen. Ebenso ist der zu beobachtende Ausbau der Weiterbildung eine Erscheinung, die diese Annahme unterstützt. Das Erziehungssystem hat daraus die Dynamik seiner Entwicklung gewonnen: In rascher Folge sind im letzten Jahrhundert neue Aufgaben hinzugekommen, die von außen vorgegeben wurden. Aus anderen Teilsystemen ist ein Bedarf formuliert worden, den dann Teilsysteme decken mussten, die anschließend dem Erziehungssystem zugeordnet worden sind. Dabei hat die Bedarfsdeckung in gewisser Weise dem Ökonomiegebot unterlegen: Es mussten Lösungen gefunden werden, die kostengünstiger waren als die individuelle Beiordnung von Erziehern. Das Vorbild ist nicht Rousseau (1971) gewesen, sondern es sind Formen der Organisation gewählt worden, die von einer gewissen Gleichförmigkeit der Angebote geprägt waren (vgl. Luhmann 1984, S. 281ff.). Alle diese Überlegungen zeigen, dass der Fremdreferenz im Erziehungssystem eine große Bedeutung zukommt.
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4. Zum Verhältnis von Fremd- und Selbstreferenz im Erziehungssystem Luhmann (2002, S. 14) hat bereits formuliert, dass die Operationen im Erziehungssystem – wie bei den anderen funktional ausdifferenzierten Subsystemen – durch Selbst- und Fremdreferenz bestimmt seien. Auch oszilliere es zwischen Fremd- und Selbstreferenz. Gerade in Bezug auf den Aspekt der Fremdreferenz lässt sich beobachten, dass das Erziehungssystem einerseits unterschiedlichen Konjunkturen ausgesetzt ist, was die Intensität der Fremdreferenz angeht. Reformen, die von außen angeschoben werden und neue Aufgaben, die bestimmt werden, stehen für diesen Teil. Konjunkturen entstehen daraus, dass in den anderen Funktionssystemen das Interesse nicht kontinuierlich weiterbesteht, sondern sich schnell auf Programme in anderen Teilsystemen richten kann. Andererseits finden sich aber auch Hinweise dafür, dass sich in den unterschiedlichen Teilsystemen des Erziehungssystems verschiedene Einflüsse in der Form der Fremdreferenz unterscheiden lassen: Im Bereich der Weiterbildung gibt es Initiativen aus dem Wirtschaftssystem und im Bereich der Schule übt die Politik einen Einfluss zur Verbesserung der Situation von Kindern mit Migrationshintergrund aus, um nur zwei Beispiele zu nennen. Damit wird das Erziehungssystem zumindest in einigen seiner Teilsysteme von anderen Funktionssystemen mitbestimmt, wenn nicht sogar gestaltet. Das geschieht in der Regel in der Form von Rahmengesetzen des Bundes und Ländergesetzen: Reformen des Schulsystems und der Hochschulen erfolgen bis hin zu strukturellen Vorgaben nicht immer aus dem Erziehungssystem bzw. seinen Teilsystemen heraus, sondern werden von außen z. B. aus dem politischen System vorgeschrieben, d.h. fremdbestimmt. Finanzielle Ressourcen, die auch strukturbildend wirken können, z.B. Gruppengrößen in Kindergärten oder Schulen, werden ebenfalls von außen und nicht aus den im Erziehungssystem gesehenen Notwendigkeiten heraus gewährt oder verweigert, also vorgeschrieben. Das lässt erkennen, dass das Erziehungssystem in weiten Teilen fremdbestimmt ist. Neben Gesetzen für die Hochschulen und die Schulen werden auch gesetzliche Regelungen für die Kinder- und Jugendhilfe wirksam, die im politischen System entschieden werden. Diese Fremdbestimmung wirkt in vielen Fällen strukturbildend und hat großen Einfluss auf Programme des Erziehungssystems. Programme zeichnen sich dadurch aus, dass sie veränderlich sind und hohe Komplexität aufweisen (Luhmann 1997a, S. 362). Über die Programme kann die Umwelt und können andere Teilsysteme Einfluss gewinnen (ebd., S. 584f.). Während über Programme positiv Erziehung mit einer Richtung ausgestattet werden kann, wird im Erziehungssystem Selektion praktiziert. Diese wird nach dem binären Code des besser/schlechter vollzogen (Luhmann 2002, S. 72ff.). Innerhalb des Erziehungssystems entwickelt sich immer wiederkehrend eine Semantik, die die Störungsverflechtungen be- und Autonomie einklagt. Benner (2001, S. 208) hat das im Anschluss an Weniger mit dem „Umschlag von der
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,Kritik an der Erziehung‘ zur ,erzieherischen Kritik an der Welt‘“ gekennzeichnet. Aus dieser Sicht resultiert die Autonomie daraus, dass Forderungen an andere Funktionssysteme bzw. das Gesellschaftssystem zu richten seien, die aus der Perspektive von jenen eingelöst oder beachtet werden müssten. Hier zeigt sich etwas von der Sicht der Pädagogik, die sich selbst als eine Voraussetzung für die Versittlichung der Welt betrachtet (Schleiermacher 1983). Die heutige Forderung, dass der Schule Autonomie gewährt werde und sie in eigener Verantwortung stehen solle, fällt dahinter weit zurück, weil sie in Relation zum traditionellen Anspruch nur Selbständigkeit einklagt. Luhmanns (2002, S. 130) Zweifel, ob das Erziehungssystem überhaupt Autonomie gegenüber anderen Teilsystemen gewinnen könne, kommt der Sache schon näher als wie sie in der Erziehungswissenschaft behandelt wird. Vor dem Hintergrund dieser Verflechtungen erscheint der Versuch, bestimmte Konfigurationen von Teilsystemen vorzunehmen, wie er sich bei Schimank (2002, S. 44) findet, problematisch, weil in ihnen das Netz der Beziehungen, z.B. zwischen Wirtschaft und Politik mit Bildung deutlich unterschätzt wird. Die Studien der OECD (2001) vermitteln ein deutlich anderes Bild. In ihnen wird eine Relation zwischen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit eines Landes, dem Erfolg in der Bildung und den Investitionen in das Bildungssystem auf verschiedene Weise immer wieder thematisiert. Dabei wird deutlich, dass Deutschland beispielsweise seine relative Position im Vergleich zu anderen Industrienationen in den letzten Jahren ständig verschlechtert hat. Das kann mit Luhmann (2002) dadurch erklärt werden, dass es dem Bildungssystem nicht gelungen ist, pädagogische Kommunikationen im Netzwerk anderer Funktionssysteme so operieren zu lassen, dass sie durch deren Rekursionen eingeschlossen werden, sich also in den anderen Systemen auf eine andere Vergangenheit und Zukunft beziehen. Damit bleiben sie, wenn sie thematisch werden sollten, fremd. Wenn die pädagogische Kommunikation doch einmal in die Rekursionen des politischen Systems einbezogen werden, wie das bei PISA (Deutsches PISA-Konsortium 2001) und TIMSS (Baumert/Bos/Lehmann 2000) der Fall gewesen ist, dann baut sich für das Erziehungssystem oder Teilsysteme von ihm eine von außen angestoßene und gesteuerte Reformsemantik auf, die wiederum fremdreferenziell wirkt. Das Programm der Bundesregierung mit dem Ziel, mehr Ganztagsschulen, vor allem im Grundschulbereich einzurichten, kann als Beleg für solche Impulse dienen. Ebenso können die gegenwärtigen Bemühungen in den Hochschulen die empirische Bildungsforschung zu stärken hierzu gerechnet werden, weil damit eine Umgewichtung der Disziplin Erziehungswissenschaft verbunden ist, die von außen aus anderen gesellschaftlichen Teilsystemen betrieben wird. Programmatisch werden auch Interessenvertreter aus anderen Bereichen gegenüber dem Bildungssystem aktiv. So beklagen sich die Kammern bereits seit mehr als zwanzig Jahren, dass die Qualifikation vieler Jugendlicher, die sich um einen Ausbildungsplatz bewerben, nicht hinreichend sei. In Richtung Ausbildungssystem wird im Gegenzug aus dem politischen Teilsystem der Vorwurf
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erhoben, es stelle nicht genügend Plätze für die Nachfrage zur Verfügung. Einerseits werden also innerhalb des Bildungssystems Mängelrügen erteilt, andererseits werden Mängelrügen von außen vorgetragen. Fragt man vor diesem Hintergrund, ob sich auf der Programmebene in den letzten zwanzig Jahren Veränderungen gezeigt haben, dann kann man das einerseits eindeutig mit „Ja“ beantworten. Dennoch fällt dieses Ja zögerlich aus, weil es eher einen inkrementalen Wandel als einen programmgesteuerten Wandel gegeben hat. Der inkrementale Wandel zeigt sich beispielsweise darin, dass Kinder mit Migrationshintergrund zwar in zunehmendem Maße einen Schulabschluss erreichen, dass sie aber ihre relative Position innerhalb des Schulsystems nicht wesentlich verbessert haben, weil die deutschen Kinder zunehmend höherqualifizierende Abschlüsse erreichen (Herwartz-Emden 2003). Die Erwartungen an das Bildungssystem, das oft als Motor der Modernisierung betrachtet wird, sind insbesondere in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts groß gewesen (Schimank 2002, S. 40). Es hat auch beträchtliche Erfolge gegeben: Die Steigerung des Anteils eines Altersjahrgangs, der die Hochschulreife erlangt (OECD 2001), die zunehmende Inklusion der Frauen in die höhere Bildung (Beck 1986), sie haben inzwischen die Männer überholt, sowie die postmoderne Erlebnisgesellschaft (Schulze 1992), sind Indikatoren dafür, dass in diesen Jahren das Bildungssystem in wesentlichen Bereichen Anteil an der gesellschaftlichen Modernisierung gehabt hat. Dennoch wird heute im Vergleich zu anderen Industrienationen über einen Modernisierungsrückstand im Bildungssystem geklagt (OECD 2001). Die Erwartungen aus den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts haben sich im internationalen Vergleich nicht erfüllt. Fragwürdig ist gegenwärtig vor allem die Reduktion der Debatten über das Bildungssystem auf den Aspekt der kognitiven Leistungen. Erziehung wird kaum noch thematisch. Das ist eine interessante Entwicklung auf der Ebene des Programms, die dem Erziehungssystem immer wieder von außen vorgegeben wird, wenn man den Verlauf über die letzten Jahre beobachtet. Nacheinander sind die Themen Gewalt, Ausländerfeindlichkeit und Rechtsextremismus bzw. Antisemitismus sowie nunmehr kognitive Leistungsfähigkeit dominant gewesen. Heute dominiert der letztere Aspekt (Deutsches PISA-Konsortium 2001, 2002). Auf der programmatischen Ebene kann man innerhalb des Bildungssystems sogar von einem Verdrängungswettbewerb sprechen. Es beginnen allerdings nun wieder neue Klagen, wenn die Zunahme der Jugendgewalt öffentlich debattiert wird. Die Anstöße für die Programmdiskussionen kamen sehr oft aus anderen Funktionssystemen und keine dieser Diskussionen ist konsequent zu Ende geführt worden, d.h. es hat in aller Regel weder intern noch extern eine Überprüfung gegeben, ob das Programm, das praktiziert wird, geändert worden ist oder welche Effekte das neue Programm, das von außen angestoßen worden ist, gehabt hat. Im Kern ist die Programmdiskussion weitgehend äußerlich geblieben und hat oft nur zu Schuldzuweisungen wegen schlechter Ergebnisse in Rich-
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tung Bildungssystem geführt, mit denen sie in aller Regel eingeleitet worden ist. Das ändert sich gegenwärtig, wenn über die Einführung nationaler Vergleichsarbeiten versucht wird, Mindeststandards zu definieren. Von Interesse ist dabei, dass sich der Code, der durch Selektion bestimmt ist, nicht verändert hat. Damit zeichnet sich ein Bereich ab, in dem es innerhalb des Bildungssystems dramatische Veränderungen gegeben hat: Das sind die Programme. Lange Zeit ist es beispielsweise üblich gewesen darüber zu klagen, das deutsche Bildungssystem produziere zu viele Hochschulabsolventen und es gebe einen Mangel an qualifiziertem Nachwuchs für die Berufsausbildung. Als Folge von PISA und der Veröffentlichungen der OECD (2001, 2003) hat sich diese Diskussion völlig gedreht: Nunmehr besteht die Hauptsorge darin, dass es im internationalen Vergleich keinen hinreichenden Anteil von Hochschulzugangsberechtigten in den einzelnen Alterskohorten gebe. Veränderungen der Programmdiskussion lassen sich auch im sozialpädagogischen Bereich beobachten. Sie stehen in den letzten Jahren unter dem Diktat knapper werdender finanzieller Ressourcen. Dabei vollzieht sich schleichend ein Paradigmenwechsel: Galt bisher, dass sich im Jugendhilfebereich die Dauer der Hilfen am individuellen Bedarf orientierte, so wird nunmehr vermehrt dahin optiert, Höchstdauern festzulegen. Ähnliche Veränderungen werden im Sozialhilfebereich sichtbar, in dem die Hilfe in besonderen Lebenslagen drastisch gekürzt und auch die Sozialhilfe abgesenkt wird. Das Programm wird dadurch verändert, dass die Attraktivität für Klienten deutlich verringert wird. Die Hilfekomponente wird um eine Druckkomponente ergänzt. Im Ergebnis führt das dazu, dass Veränderungen im Klientenverhalten nicht über unterstützende Maßnahmen, wie das früher bei Randgruppen versucht worden ist (vgl. Haag/ Schwärzel/Wildt/Krüger 1972), sondern durch Entzug von Hilfen veranlasst werden sollen. Das ist auf der Programmebene eine deutliche Veränderung, die auch im Teilsystem umgesetzt wird. Parallel dazu kann man eine Veränderung des Codes beobachten. Dieser war ursprünglich durch Integration bestimmt, wenn man die entsprechenden Gesetze, JWG und KJHG, heranzieht. Dieser Aspekt wurde in dem letzteren Gesetz noch stärker betont. Er ändert sich nun aber auch in Richtung Selektion, weil Ausgrenzung stärker thematisch wird. Das zeigt sich besonders dramatisch darin, dass auch die Sozialhilfe verweigert werden können soll, wenn die Hilfeempfänger eine als zu niedrig bewertete Bereitschaft zur Integration erkennen lassen. Eine weitere Veränderung betrifft den Wert von Bildungstiteln. Gegenwärtig nimmt die Erkenntnis zu, dass die traditionelle Annahme, Bildung und Ausbildung ließen sich zu einem Abschluss bringen, der tragfähig für eine lebenslange Ausübung eines Berufes ist, nicht mehr zielführend ist. Vielmehr kommt es hier mehr und mehr zu der Notwendigkeit, in der Form von Modulen immer wieder neue Bildungsgänge zu besuchen, weil einerseits die Zeit, in der Wissen veraltet, immer kürzer wird (Stehr 2001). Andererseits erweisen sich bestimmte Berufe zunehmend als überflüssig, obwohl es eine hinreichende Anzahl von Menschen gibt, die über eine entsprechende Ausbildung verfügen. Das ist eine
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Entwicklung, von der das Bildungssystem überrascht worden ist, auf die es aber in der beruflichen Weiterbildung schon seit langer Zeit Reaktionen gibt, ohne dass das von anderen Teilen des Bildungssystems so registriert worden ist. Das Arbeitsförderungsgesetz stellt beispielsweise eines der Instrumente dar, welches hier relevant ist. Generell lässt sich eine Tendenz beobachten, dass der Weiterbildung im Verhältnis zur Erstausbildung eine immer größer werdende Bedeutung zukommt (Luhmann 1997b, S. 5). Das kann man als eine fundamentale Veränderung im Erziehungssystem ansehen, die auch immer neue Grenzverschiebungen nach sich ziehen wird. Dabei bleibt zu beachten, dass sich dann zumindest teilweise der Code verändert, weil nicht mehr die Selektion alleine bestimmend ist (Wittpoth 1997, S. 80). Vielmehr spielt zunehmend der Erhalt der Inklusion eine entscheidende Rolle, die aber nicht mehr selektiv wirkt, sondern sich eher als Möglichkeit der Partizipation darstellen lässt. Auch in diesem Fall ändert sich der Code in Richtung Integration hin. Luhmann (2002, S. 70) scheint die Wirkung der Integration in Relation zur Selektion eher unterschätzt zu haben. Die zunehmende Bedeutung von Integration hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass Weiterbildung sowohl von Unternehmen veranstaltet werden kann, das kann noch selektiv wirken, wenn nur Teile der Beschäftigten mit dem Ziel beteiligt werden, sie zu privilegieren, als auch privat nachgefragt werden kann. Diese private Nachfrage beginnt bereits bei der Lektüre von Fachliteratur. Gerade die Veränderungen im Weiterbildungsbereich sind gegenwärtig stark fremdreferenziell bestimmt. Sie werden ausgelöst vom Wirtschaftssystem.
5. Ebenen des Erziehungssystems Wenn man die Ebenen des Erziehungssystems betrachtet, so haben in der Vergangenheit vor allem Entwicklungen in dem Bereich im Zentrum des Interesses gestanden, die auf den von mir als Erstausbildung gekennzeichneten Sektor, also das Bildungssystem, eingegrenzt worden sind. Andere Aufgaben, die vor allem in sozialpädagogischen Institutionen erbracht werden, sind demgegenüber übersehen worden. Das hat zwar entsprechende Bilanzierungen erleichtert, muss aber bei einer Betrachtung von Veränderungen mit berücksichtigt werden. Im Sinne der traditionellen Eingrenzung auf das Bildungssystem unterscheiden Brüsemeister/Eubel (2003, S. 17) im Anschluss an Schimank drei Ebenen: Das Schulsystem, die einzelne Schule und den Unterricht, den sie allerdings über das Rollenhandeln der verschiedenen Akteure abbilden. Diese Differenzierung ermöglicht Bilanzierungen unterschiedlicher Reichweite, lässt aber auch Dynamik, Teildynamiken und Konflikte innerhalb des Bildungssystems beschreiben. Betrachtet man die gegenwärtige Diskussion nach PISA, so lässt sich feststellen, dass insbesondere auf der ersten und der dritten Ebene Bemühungen um Forschung und Veränderung sichtbar werden. Das DFG-Schwerpunktpro-
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gramm BIQUA weist z.B. fast ausschließlich Projekte auf, die sich der dritten Ebene zuordnen lassen, wenn Unterrichtsskripts auf die verschiedenste Weise untersucht oder das Rollenhandeln von Lehrern, Schülern und Eltern zum Thema gemacht wird (Prenzel/Doll 2002). Bei der bildungspolitischen Diskussion wird wiederum vor allem auf der Systemebene diskutiert, wenn Ganztagsschulen oder die Einrichtung von Gesamtschulen anstelle des dreigliedrigen Schulsystems gefordert werden. Hierher zählt auch die Entwicklung, dass den einzelnen Schulen mehr Autonomie gewährt werden soll und gleichzeitig versucht wird, über Vergleichsarbeiten oder andere Mittel Zielvorgaben zu formulieren, die die Schulen erreichen sollen, sowie die Einführung neuer Management-Anforderungen und Wettbewerbsstrukturen (Brüsemeister/Eubel 2003, S. 18). Eine ähnliche Entwicklung, die ebenfalls zahlreiche Konflikte auslöst, lässt sich im sozialpädagogischen Bereich beobachten und findet hier vor allem unter den Stichworten Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement statt. Dabei ist alleine schon bemerkenswert, mit welcher Geschwindigkeit die Qualitätsdiskussion, die ursprünglich eher in Unternehmen eine Rolle gespielt hat, in das Erziehungssystem übernommen worden ist. Das ist der Notwendigkeit geschuldet, in einem Bereich Rechenschaft über Kosten und Leistungen sowie die Relation zwischen entstandenen Kosten und erbrachten Leistungen abzulegen, der traditionell von solchen Diskussionen abgekoppelt gewesen ist. So sind Maßnahmen der Jugendhilfe von einzelnen Trägern in der Vergangenheit so lange erbracht worden, wie sie notwendig zu sein schienen. Nun werden sie nur noch auf begrenzte Zeiten gewährt und ihre Verlängerung bedarf jeweils spezifischer Anträge. Der Bedarf muss jeweils aufs Neue belegt werden. Gerade aus dieser veränderten Haltung entsteht ein hohes Konfliktpotenzial. Noch anders stellt sich die Situation im Bereich der Weiterbildung dar, bei der man zwar auch von einem Weiterbildungssystem ausgehen kann. Dieses weist aber keineswegs die Geschlossenheit auf, welche für die beiden anderen Systeme angenommen werden kann. Das wird deutlich, wenn man die institutionelle Steuerung betrachtet, die von entsprechenden Gesetzen über bestimmte Träger (z.B. Handwerkskammer) bis hin zu Maßnahmen der Arbeitsförderung auf der einen Seite reicht und auf der anderen Seite private Träger und Weiterbildungseinrichtungen von Unternehmen umfasst, die beispielsweise Angebote in den Bereichen Personalentwicklung und Organisationsentwicklung unterbreiten (Harney 1997). Im Unterschied zur ersten Ebene bleibt interessanterweise die zweite bisher auch im Bildungssystem fast unbeachtet. Es gibt bisher allenfalls Ansätze in die Richtung, durch Teamorientierung die Qualität der einzelnen Schule zu sichern bzw. zu steigern. Die Arbeiten des Dortmunder Instituts für Schulentwicklungsforschung deuten erst an, in welche Richtung sich hier eine Dynamik entfalten kann (vgl. z.B. Rolff 1995). Unter dem Aspekt der Qualitätssicherung kommt der zunehmenden Bereitschaft der einzelnen Schule, sich extern evaluieren zu lassen, sicherlich eine besondere Bedeutung zu. Die Bildungskommis-
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sion der Bundesländer Berlin und Brandenburg (2003, S. 66f.) hat die Folgerungen so formuliert: „Das Zugeständnis höherer Selbständigkeit an die Einzelschule verbindet sich mit schulformübergreifenden Formen der Formulierung und Durchsetzung von Bildungsstandards und der Qualitätssicherung.“ „Evaluation und die Orientierung an überlokalen Standards bilden erst das Fundament, auf dem sich die Autonomie der einzelnen Schule entwickeln kann“ (ebd., S. 71). Hier zeichnet sich in dem sozialpädagogischen Bereich eine andere Orientierung ab, in dem Fragen der Organisationsentwicklung schon längere Zeit bearbeitet werden. Das hängt in diesem Teilsystem vor allem damit zusammen, dass der Druck, der aus anderen funktional ausdifferenzierten Teilsystemen des Gesellschaftssystems resultiert, im Teilsystem des Erziehungssystems, das sich den sozialpädagogischen Institutionen zurechnen lässt, schon längere Zeit währt. In der Weiterbildung ist auf dieser Ebene eine der Stärken zu verorten, weil Organisationsentwicklung, aber auch Organisationslernen schon lange im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen (Dierkes/Berthoin/Antal/Child/Nonaka 2001). Daran wird sichtbar, dass sich entscheidende Veränderungen auf Dauer auf der zweiten Ebene abspielen werden. Das lehrt auch ein Blick in die Niederlande, wo school effectiveness and school improvement große Aufmerksamkeit genießen. Es wird besonders deutlich im Weiterbildungssystem, das bisher am ehesten nach einem Marktmodell prozessiert, das intransparent ist, weil einer Vielzahl von Nachfragern eine große Anzahl von Anbietern gegenübersteht und es schwer fällt, zu einem fit zwischen Angebot und Nachfrage zu kommen, der jeweils eine optimale Lösung darstellt. In einem Markt unter vollständiger Konkurrenz fällt es immer wieder schwer, zu einer optimalen Entscheidung zu kommen, wie ein Blick in das Wirtschaftssystem lehrt.
6. Zusammenfassung und Ausblick Formal ist das Erziehungssystem nach Luhmann (1997a, S. 597, 2002, S. 13f.) ein Teilsystem der Gesellschaft und durch Systemdifferenzierung entstanden Luhmann (1997a, S. 597). Dass Teilsysteme wiederum einem Wandel unterliegen, ist, unter der Voraussetzung, dass sie autopoietisch prozessieren, eine Erwartung, die keiner näheren Begründung bedarf. Deshalb ist allerdings auch zu konstatieren, dass sich die mögliche Richtung eines Wandels nicht vorhersagen lässt, weil das eines Beobachters bedürfte, der in der Lage wäre, kausale Verkettungen in einem Bereich vorherzusagen, in dem das Prinzip der Selbstreferenz unter der Bedingung der Kontingenz herrscht. Luhmann (2002, S. 194) spricht von einer „Adaptierung der Kontingenzformel des Erziehungssystems an den Verlust fundierender ,kanonischer‘ Sicherheiten“. So verliere das Generationenverhältnis seine strukturgebende Bedeutung und die Auswahl des Lehrangebots werde zur Suche von Entscheidungen. Letzteres impliziert dann, dass Entscheidungen revidierbar würden, ersteres, dass Lernen sich in der Formel des Ler-
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nens von Stoffen verselbstständige. Ein Verlust kanonischer Sicherheiten muss mit Notwendigkeit alle Vorhersagen über mögliche Richtungen einer Veränderung noch über das Maß hinaus erschweren, dass Systeme in einer Umwelt agieren, deren Komplexität sie nicht beherrschen können (Luhmann 1984, S. 47). Erschwert wird eine einfache Bilanzierung der Richtung möglicher Veränderungen zusätzlich dadurch, dass innerhalb des Gesellschaftssystems Subsysteme existieren, auf die von anderen Subsystemen bzw. vom Gesellschaftssystem Druck ausgeübt wird, eine Entwicklung in eine gewünschte Richtung zu nehmen. Das kann man im Erziehungssystem und seinen Teilsystemen beobachten, wenn z.B. von der Politik oder der Wirtschaft versucht wird, Veränderungen der Institutionen in eine bestimmte Richtung zu befördern. Allerdings ist die Geschichte des Scheiterns solcher Bemühungen bereits lang, wie ein Blick auf die versuchten Bildungsreformen und die Resistenz des Bildungssystems gegen die Reformbestrebungen belegt, die ihm in der Regel von außen diktiert zu werden versuchten. Ebenso sind Versuche einer Reform von Innen nicht besonders erfolgreich verlaufen, wie sich eindrucksvoll an den gescheiterten Bemühungen des Bildungsrates nachweisen lässt (Deutscher Bildungsrat 1970). Wenn man meine Beschreibung des Erziehungssystems bilanziert, wird deutlich, dass sich das System einerseits zunehmend ausdifferenziert und dabei auch neue Systemebenen entstehen, und sich andererseits eine Tendenz zur institutionellen Entstrukturierung abzeichnet. Letztere kann man durchaus im Sinne eines roll back interpretieren: das Erziehungssystem ist durch Ausdifferenzierung entstanden, indem bestimmte Aufgaben der Familie an außerfamiliäre Institutionen übertragen worden sind. Heute wird national wie international von Protagonisten des Schulsystems aber auch Bildungspolitikern wieder die Forderung erhoben, die Eltern mehr an der Arbeit der Schule zu beteiligen. Damit zeichnet sich eine interessante Wende des Denkens ab: Das öffentliche Schulsystem ist seinerzeit geschaffen worden, weil bestimmte Bildungsaufgaben in der Familie nicht mehr erledigt werden konnten. Nunmehr sollen die Familien wieder zur Leistungsfähigkeit des Schulsystems beitragen. Das ist aber nur ein Aspekt des Diffundierens und Entstrukturierens traditioneller institutioneller Begrenzungen. Ein anderer nimmt ständig an Bedeutung zu: Es erweist sich immer mehr, dass Menschen in ihrer Biographie nicht nur für eine bestimmte Zeit, sondern im gesamten Lebensverlauf der Unterstützung durch Bildungsinstitutionen bedürfen, weil sie sich an immer neue Herausforderungen im beruflichen aber auch im öffentlichen Bereich anpassen müssen. Trotz dieser Tendenz lassen sich die Grenzen des Erziehungssystems bestimmen, indem nach der Erfüllung von Aufgaben, wie ich sie benannt habe, gefragt wird. Über die Kopplung der Aufgaben bzw. aus deren Erfüllung entstehen dann wiederum neue Strukturen im Erziehungssystem. Diese Entwicklung hat zur Entstehung von Institutionen im Sektor Erwachsenenbildung aber auch insbesondere der beruflichen Weiterbildung geführt. Gerade in dem letzteren Sektor lässt sich dann aber die Weiterbildung kaum noch von der eigentlichen
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Tätigkeit im Arbeitsprozess trennen, wie das training on the job als spezielle Form belegt. Es werden additiv neue Teilsysteme hinzugefügt, die sich dann auch auf der Programmebene mit unterschiedlichen Forderungen von Teilsystemen außerhalb des Erziehungssystems konfrontiert sehen, die innerhalb des Erziehungssystems dann wiederum in dessen Rekursionen aufgenommen werden müssen. Dieser Prozess ist gegenwärtig keineswegs abgeschlossen, er beginnt vielmehr erst jetzt, wie auch viele Betrachtungen des Erziehungssystems demonstrieren, die es vereinfachen und es auf das Bildungssystem eingrenzen. Von den drei Ebenen: System, einzelne Institution und Interaktionssysteme ist die dritte Ebene, die mit Unterricht bezeichnet wird, bisher nur im Bildungssystem ausgeprägt. Geht man aber vom Prinzip der Vermittlungsform aus, die sich an ökonomischen Kriterien ausrichtet: man versucht Lehr-Lernprozesse zu organisieren, bei denen für möglichst viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer Lerngelegenheiten geschaffen werden, dann lässt sich schnell zeigen, dass es Formen des Unterrichts auch im sozialpädagogischen und im Weiterbildungsbereich gibt. Nur fehlt es noch an einer entsprechenden theoretischen Neubestimmung der Form des Unterrichts in diesen Bereichen (Wittpoth 1997). Hinzu kommt die Notwendigkeit andere Formen – z.B. Beratung und Hilfe mit in die Überlegungen einzubeziehen. So handelt es sich auch beim Coaching um eine Tätigkeit, die dieser Ebene zuzurechnen ist (König/Vollmer 2002). Wahrscheinlich ist bisher dem Oszillieren von Fremd- und Selbstreferenz innerhalb des Erziehungssystems zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden. Es zeichnet sich jedenfalls ab, dass beim Erziehungssystem Strukturen fremdreferenziell implantiert werden, auf denen dann wiederum selbstreferenzielle Prozesse aufbauen können. Die vorangehende Argumentation belegt, dass mit Luhmanns Konzept des Erziehungssystems bestimmte Entwicklungen gut erfasst und abgebildet werden können. Vor allem die Tradition Erziehung, Beratung, Hilfe und Unterricht in unterscheidbaren Institutionen anzusiedeln und daraus auch differente Formen zu entwickeln, kann dann vermieden werden. Wenn die verschiedenen Aufgaben des Erziehungssystems nicht mehr auf eine bestimmte Phase des Lebenslaufs eingegrenzt bleiben, sondern im Zuge der gesellschaftlichen Veränderungen lange währen, dann führt das im Ergebnis dazu, dass Erziehung, Beratung und Hilfe mit der Absicht individuelles Verhalten und Handeln zu verändern oder zu stabilisieren in unterschiedlichen Teilsystemen auftreten können. Das Erziehungssystem wird aus dieser Perspektive in vielen Teilsystemen angesiedelt, es inkludiert zwar Handlungen eines bestimmten Typs, reduziert sich aber nicht auf bestimmte Institutionen. Insofern unterliegt es ständigen, nicht vorhersehbaren Veränderungen, es kommen außerdem häufig in der Form der Addition neue Formen hinzu. Das hat dann Veränderungen der Grenze zur Folge.
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Die Unwahrscheinlichkeit der pädagogischen Kommunikation* Die Vanderstraeten Raf Unwahrscheinlichkeit der pädagogischen Kommunikation
Raf Vanderstraeten 1 Aufbauend auf den Beiträgen Niklas Luhmanns und Karl Eberhard Schorrs zur soziologischen Theorie der Erziehung möchte ich in diesem Beitrag bestimmte Aspekte der Ausdifferenzierung eines funktional spezialisierten Systems der Erziehung analysieren. Ich werde versuchen zu zeigen, dass diese Ausdifferenzierung von systeminternen Möglichkeiten und Beschränkungen abhängig ist, die sich auf den Systemebenen Interaktion und Organisation manifestieren. Viele morphologische Besonderheiten dieses Funktionssystems ergeben sich aus seiner Angewiesenheit auf Face-to-face-Interaktion und damit aus den Beschränkungen, die hieraus für die Organisationsebene des Systems entstehen. Zugleich prägen diese Besonderheiten die Sozialisations- und Erziehungsprozesse, die in der Schulerziehung stattfinden und die die personale Basis der Gesellschaft „reproduzieren“. Im Folgenden werde ich mich zunächst der Funktion und der Ausdifferenzierung des modernen Erziehungssystems (2), dann den Merkmalen der Systemebenen Interaktion (3) und Organisation (4) zuwenden. Im Schlusskapitel (5) werden einige abrundende Bemerkungen folgen, die die Unwahrscheinlichkeit der pädagogischen Kommunikation noch einmal hervorheben. Die hier präsentierten Analysen beschränken sich auf die Charakteristika der Schulerziehung und des modernen Interaktionssystems Unterricht, da die Ausdifferenzierung des Erziehungssystems in starkem Maße abhängig ist von der Einrichtung und dem Betrieb von Schulen.
2 Im Vergleich zur langen Tradition des Nachdenkens und Philosophierens über Erziehung sind Reflexionen zum Themenbereich „Sozialisation“ eher neuerer Natur. Der Begriff „Sozialisation“ taucht erst am Ende des vorletzten Jahrhunderts auf, als die Soziologie sich als eigenständige akademische Disziplin auszu* Ich möchte mich bei Christian Mersch herzlich bedanken.
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differenzieren beginnt (vgl. Giddings 1897; Durkheim 1993). Für unsere Zwecke ist es nichtsdestotrotz sinnvoll, das Thema Sozialisation als Ausgangspunkt für die Analyse von Erziehung und deren gesellschaftlicher Funktion zu wählen. Mit „Sozialisation“ ist der Erwerb derjenigen Fertigkeiten und Einstellungen gemeint, die eine Person dazu befähigen, den Erwartungen zu entsprechen, die im sozialen Leben an sie gerichtet werden. Das bedeutet aber keineswegs, dass Sozialisation auf die Erzeugung erwartungskonformer Verhaltensweisen hinausläuft; das Sozialisationsgeschehen beinhaltet vielmehr immer auch die Möglichkeit, dass bestimmte Erwartungen nicht erfüllt werden. Sozialisation kann nicht nur konformes Verhalten erzeugen; immer wird auch die Möglichkeit abweichenden Verhaltens miterzeugt. Sozialisation folgt aus der Konfrontation mit spezifischen Erwartungen, auf die man sich einlassen oder nicht einlassen kann, und geht somit Entscheidungen über konformes oder deviantes Handeln voraus. Dieses Geschehen ereignet sich normalerweise routinemäßig in den unterschiedlichsten Situationen. Eine Person – z. B. ein Kind, Immigrant, oder etwa ein Rekrut – wird mit den in einem sozialen System üblichen Erwartungen konfrontiert, bis sie sich auf diese einstellen kann. Wenn die Sozialisation doch misslingt, wird die Person typischerweise als krank oder absonderlich diagnostiziert und stigmatisiert (Goffman 1963). Sozialisation ist Bestandteil unseres alltäglichen Lebens und umfasst unser alltägliches Bemühen, einander begreiflich zu machen, was wir voneinander erwarten. Das Konzept setzt also die Überschneidung mehrerer sozialer Kontexte voraus: diejenigen, in denen man sozialisiert wird mit denjenigen Kontexten, für die man sozialisiert wird. Wenn diese Kontexte sich nahezu decken, ist gewährleistet, dass das Ergebnis der Sozialisationsprozesse sich nicht allzuweit von ihren Ausgangspunkten entfernt. Man kann in diesem Sinne sagen, dass Sozialisation verantwortlich ist für die Reproduktion der personalen Basis für konformes und deviantes Verhalten, für Konsens und Konflikt, für kooperative und unkooperative Manöver etc. Sozialisation setzt zudem eine zu überwindende Diskrepanz, die die laufende Interaktion stören oder blockieren kann, voraus. Sozialisationsprozesse laufen nur an, wenn erwartungsbezogene Einstellungen und Fähigkeiten noch nicht gesichert sind (vgl. Bauer 2002). Ist die Diskrepanz erheblich, werden sich die (oder eine der) Beteiligten dessen in der Regel bewusst. Sie lässt sich darüber hinaus in standardisierten Kontexten durch Statuszuschreibungen sozial markieren – etwa die schon genannten Zuschreibungen Kind, Immigrant, Rekrut, oder auch neues Mitglied in einer Organisation etc. Eine solche soziale Definition der Situation erleichtert und legitimiert Interventionen, die auf die Minimierung dieser Diskrepanzen spezialisiert sind. Aus Sozialisation wird dann Erziehung. „Erziehung“ kann zunächst als beabsichtigte Sozialisation definiert werden. Erziehung entsteht aus Anlass und auf Grund von Sozialisationsprozessen. Allerdings kann nur ein geringer Anteil der Sozialisationsprozesse absichtlich geplant oder organisiert werden. Aufgrund der unübersehbaren Komplexität laufender Interaktionen ist nur ein Bruchteil der Sozialisationsprozesse intentional
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kontrollierbar. Erziehung kann diese Selektivität nicht umgehen, sondern lediglich versuchen, die eigene Selektivität zu kontrollieren – d. h. auf diese Komplexität durch die Selektion ihrer Selektionsweise zu reagieren (also: bestimmte Lehrthemen, bestimmte Interaktionsformen, bestimmte Prüfungen etc.). Die Differenz zwischen intentionaler und routinemäßiger („normaler“) Sozialisation ist nicht ohne Bedeutung; das Thema Sozialisation wird nicht irrelevant für Analysen der Erziehung. Auch im Bereich der für Erziehung ausdifferenzierten Sozialsysteme (Schulen, Universitäten) finden Sozialisationsprozesse statt. Diese sekundäre Sozialisation kann pädagogische Intentionen unterstützen und/oder behindern. Man kann auch sagen, dass Erziehung Sozialisation nicht substituieren kann und auch keine bessere Alternative ist. Die Erziehung bleibt immer in diffuse Sozialisationsprozesse eingebettet. Somit ist es nicht verwunderlich, dass Überschneidungen Probleme für Erziehung erzeugen können. Für schulische Kontexte wird dann etwa zwischen dem „formalem“ und dem „heimlichen“ Curriculum unterschieden (Dreeben 1968; 2000). Für das Sozialsystem Gesellschaft übernimmt Sozialisation die Funktion die laufende Reproduktion sozialer Beziehungen zu sichern. Sie sichert die Interaktionsfähigkeit der zu sozialen Systemen beitragenden Personen. Erziehung erfüllt dieselbe Funktion unter anspruchsvolleren Bedingungen, die eine systematische, lehr- und lernmäßige Intentionalisierung der Sozialisationsprozesse erfordern. Erziehung ist – ungeachtet ihrer nichtintendierten Nebeneffekte – unerlässlich, sobald das Sozialsystem Gesellschaft komplexer und diversifizierter wird und die soziale Integration von Individuen nicht mehr „automatisch“ stattfinden kann (Luhmann 1987, S. 173–181; 2002, S. 48–81; Gilgenmann 1986). Damit ist zugleich angedeutet, dass es (entgegen pädagogischer Selbstverständlichkeiten) sinnvoll ist, die Funktion von Erziehung nicht subjektbezogen, sondern über die Ermöglichung und Erleichterung sozialer Interaktion zu definieren; darüber also, Prämissen für ansonsten unwahrscheinliche soziale Kontakte zu schaffen und für soziale Kontakte verfügbar zu machen, die normalerweise außerhalb des Erziehungskontexts selbst stattfinden (Vanderstraeten 2004b). Die bisher präsentierten Ausführungen basieren auf einer Analyse der Grundbedingungen sozialer Interaktion und der Differenz zwischen sozialem und individuellem Handeln – wie sie zuerst von George Herbert Mead und Talcott Parsons herausgearbeitet worden sind. Parsons u. a. schreiben diesbezüglich: „it is the fact that expectations operate on both sides of the relation between a given actor and the object of his orientation which distinguishes social interaction from orientation to nonsocial objects“ (1951, S. 15). In einem Beitrag zu sozialer Interaktion für die „International Encyclopedia of the Social Sciences“ wird die folgende Formulierung gewählt: „The crucial reference points for analyzing interaction are two: (1) that each actor is both acting agent and object of orientation both to himself and to the others; and (2) that, as acting agent, he orients to himself and to others and, as object, has meaning to himself and to others“ (Parsons 1968, S. 436). Etwas anders formuliert: Soziale Interaktion ist
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dann und nur dann möglich, wenn die Erwartungen und Handlungen jedes Teilnehmers sich an den Erwartungen und Handlungen des/der anderen orientieren. Interaktion ist nur möglich, wenn sich komplementäre Erwartungen herausbilden und jeder Teilnehmer über scripts der Eignungen, Fähigkeiten, und commitments des/der anderen verfügt. Interaktion basiert auf einem Sachverhalt, der als „taking the role of the other“ (Mead ) oder als Artikulation „doppelter Kontingenz“ (Parsons, Luhmann) gekennzeichnet werden kann (Vanderstraeten 2003). Bei individuellen Handlungen sind die Orientierungen und Erwartungen einer einzelnen Person im Spiel. Die Objekte, auf die sich die Erwartungen dieser Person richten (z. B. Nahrungsobjekte) reagieren nicht auf diese Erwartungen und bilden selbst keine Erwartungen hinsichtlich Handlungen dieser Person aus. Bei sozialer Interaktion aber ist die Integration der Erwartungen und Handlungen von zwei oder mehr interagierender Personen zu berücksichtigen. Analysen dieser condicio socialis führen zu fundamentalen Fragen bezüglich der Möglichkeit sozialer Ordnung. Wie entsteht und entwickelt sich die Fremdorientierung bei den an einer sozialen Beziehung teilhabenden Personen? Wie ist Interaktion unter zirkulären Voraussetzungen möglich – wenn dein Verhalten abhängig ist von meinem und mein Verhalten gleichzeitig abhängig ist von deinem? Oder: Wie machen Personen aus verfügbaren Handlungsalternativen ihre Auswahl? Prozesse der Sozialisation und der Erziehung reagieren auf diese grundlegenden Probleme menschlicher Sozialität. Sie haben die Funktion, eine Umwelt zu schaffen, die günstige Bedingungen für die Erhaltung, Regenerierung und Entwicklung von Interaktion und Kommunikation – besonders unter Bedingungen zunehmender sozialer Komplexität – bereithält. Sie müssen die Wahrscheinlichkeit gelingender Interaktion steigern, indem sie Individuen auf den Umgang mit Situationen doppelter Kontingenz vorbereiten (Luhmann 2002, S. 81–84). In einem späten Artikel über den Zusammenhang zwischen Schulexpansion und sozialem Wandel hat Talcott Parsons argumentiert, dass Menschen in der modernen Gesellschaft nicht nur „the educational mill“ durchlaufen sondern auch zu „consumers of educational outputs“ werden (1970, S. 212). Sie erfahren die Folgen von Erziehung in doppelter Hinsicht: fast jeder wird in Schulen erzogen und fast jeder kann in seinen Beziehungen zu jedwedem anderen voraussetzen, dass dieser ebenfalls in Schulen erzogen worden ist. Das bedeutet, dass Personen heute in der Lage sind, sich soziale Kontakte nach Massgabe typisierter Verhaltensprämissen auszusuchen, die sie für sich selbst und andere voraussetzen können. Die outputs des Erziehungssystems erschöpfen sich somit nicht nur in der Vermittlung spezifischer Fähigkeiten und commitments; es müssen auch sozial verwertbare Zeugnisse, Zertifikate etc. geliefert werden. All dies wird umso bedeutender, wenn die Gesellschaft sich kaum noch an schichtspezifischen Quellen für Erwartungen und Reputationen orientieren kann (Gambetta 1996).
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Sozialisationsprozesse sind nicht ausdifferenzierbar. Sie finden in jeder Situation statt; sie laufen an, sobald sich Erwartungsdiskrepanzen herauskristallisieren, welche Eignungen und Fähigkeiten von Personen betreffen. Erziehungsprozesse dagegen tendieren viel eher dazu, sich gegen ihre Umwelt zu differenzieren und als spezifische Kommunikationsform sichtbar zu werden. Aber Erziehungsprozesse gerinnen nicht automatisch zu einer systemischen Einheit. Ein zentrales historisches Merkmal von Erziehung ist schließlich, dass sie sehr häufig in Kontexten stattfindet, die nicht Erziehung als primäre funktionale Referenz aufweisen – z. B. in Familien, Klöstern, wirtschaftlichen und militärischen Institutionen. Die Ausdifferenzierung der Erziehung basiert auf der Institutionalisierung sozialer Strukturen, die in erster Linie auf Erziehung selbst spezialisiert sind und sich insofern aus familialen, religiösen, ökonomischen, militärischen und anderen Kontexten herauslösen. Das Interaktionssystem Unterricht, das in Schulorganisationen eingebettet ist, hat deswegen zentrale Bedeutung für die Ausdifferenzierung des Erziehungssystems.1 Hieraus folgt aber auch, dass besondere Merkmale dieses Sozialsystems die Eigenlogik und -dynamik des ausdifferenzierten Erziehungssystems prägen werden. Im Folgenden sollen diese Besonderheiten der funktionalen Autonomie des Erziehungssystems genauer betrachtet werden.
3 Ein interessanter Ausgangspunkt für unsere Analyse ist die Idee, dass Interaktion ein emergentes, sich selbst organisierendes soziales System darstellt. Interaktion, so formuliert Erving Goffman, „has a life of its own and makes demands on its own behalf. It is a little social system with its own boundary-maintaining tendencies“ (1966, S. 113). Die „interaction order“ ermöglicht eine Darstellung des „self“, aber sie wirkt sich auch einschränkend auf die für die Beteiligten verfügbaren Verhaltensmöglichkeiten aus. Von besonderem Interesse ist hier die disziplinierende Wirkung, die von der reflexiven Wahrnehmung (d. h. der Wahrnehmung des Wahrgenommenwerdens) in Interaktionssituationen ausgeht. Interaktion bedarf reflexiver Sensibilität, obwohl sie auch Verstöße gegen die eigene „Ordnung“ hervorrufen kann; so kann man zum Beispiel, gerade wenn Höflichkeit erwartet wird, sich bewusst unhöflich verhalten (Tyrell 1976; Messmer 2003). 1 Funktionssysteme schlagen im Zuge ihrer Ausdifferenzierung verschiedene Pfade ein. Das Wissenschaftssystem stellt in viele Hinsichten ein instruktives Gegenbeispiel dar. Dieses System war in seiner frühmodernen Entwicklungsphase sicher auch stark von Interaktion abhängig. Es stimulierte persönliche Kontakte zwischen Wissenschaftlern, Besuche, Konferenzen und Akademien als institutionalisierten Orten für die Produktion und Distribution neuen Wissens. Aber wissenschaftliche Arbeit wird andererseits immer mehr von der Zugänglichkeit publizierter Bücher und wissenschaftlicher Journale abhängig, also von nichtinteraktiven Formen von Kommunikation. In der modernen Gesellschaft werden Publikationen in Fachzeitschriften die basalen Elemente des Wissenschaftssystems (Stichweh 1994, S. 52–98).
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Niklas Luhmann hat überzeugend argumentiert, dass sich die Möglichkeiten einer Entfaltung der Interaktionskomplexität in der Moderne ändern und verbessern. Zunächst ist zwar deutlich, dass sich mit der Erfindung von Schrift und Druckerpresse Kommunikationsmöglichkeiten entwickeln können, die nicht auf Interaktion angewiesen sind. Dank dieser Kommunikationstechniken kann die Gesellschaft über die räumlichen und zeitlichen Limitationen der Face-to-face-Interaktion hinweg expandieren. Es ist dabei aber bemerkenswert, dass die „literarische“ Revolution die Bedeutung oraler Kommunikation modifiziert. Orale Kommunikation unter Anwesenden wird durch neue Möglichkeiten und Limitationen transformiert, da sie fortan als Präferenz gewählt werden und sich auf einen rasch wachsenden Korpus geschriebenen und gedruckten Wissens beziehen kann (Luhmann 1984, S. 551–592; Eisenstein 1991). Diese Beobachtung untermauert auch unser Interesse an einer Analyse der Bedingungen und Konsequenzen verschiedener Interaktionsordnungen. Die historisch unterschiedlich entstandenen Interaktionsmuster sorgen für verschiedene frames, die Verhalten jeweils auf andere Art und Weise ermöglichen und einschränken. Um erneut mit Goffman zu sprechen: „The workings of the interaction order can easily be viewed as the consequences of systems of enabling conventions, in the sense of the ground rules of a game, the provisions for a traffic code or the rules of syntax of a language“ (1983, S. 5). Eine wichtige Quelle, die diese emergente Ordnung von Interaktionssystemen deutlich hervorbringt, ist die Literatur zur „Kunst der Konversation“, die seit dem 16. Jahrhundert publiziert wird (Burke 1993; Hellegouarc’h/Fumaroli 2001). Ich möchte mein Argument mit einigen kurzen Beispielen aus verschiedenen europäischen Kontexten illustrieren. So heißt es in Claude Buffiers Traité de la Société Civile, dass es sehr unhöflich wäre, mitzuteilen, dass man sich in Gesellschaft eines anderen langweilt; und eben deshalb gehört zu den Anforderungen an Höflichkeit, an dem anderen zu kontrollieren, ob er oder sie sich langweilt. Höflichkeit wird reflexiv, indem sie vermeidet, die Höflichkeit anderer auszunutzen (1726, S. 123ff.; vgl. Luhmann 1984, S. 560). Ein weiteres Thema ist das Umgehen expliziten Widerspruchs. Das schließt das Vermeiden des Sichtbarmachens zu starken Engagements (das anderen die Möglichkeit einer anderen Meinung nimmt) ein und das Unterlassen von Äußerungen oder Meinungen, die andere unter Umständen verletzen könnten. Auch mit Lob soll sparsam umgegangen werden, anderenfalls könnte es von der gelobten Person oder anderen Beobachtern als übertriebene Schmeichelei ausgelegt werden (Bessel 1763, S. 55ff.). Ebenso gilt es als unhöflich, den Sprechenden zu unterbrechen; zu langes Schweigen dagegen wird als peinlich empfunden. Bei John Locke findet sich in den Some Thoughts Concerning Education (die mehrere Bemerkungen zur Konversation enthalten) der folgende Ratschlag: „Junge Leute sollte man lehren, ihre Meinung nicht voreilig dazwischenzuwerfen, bevor man sie gefragt hat“. Aber: „Wenn eine allgemeine Pause der ganzen Gesellschaft dazu Gelegenheit bietet, dann mögen sie als Lernende ihre Frage bescheiden einwerfen“ (1693/1970, S. 182f.). Mit anderen Worten: die anderen müssen
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stets sorgfältig beobachtet und das eigene Verhalten soll in der Interaktion unter Einbeziehung der Perspektive der anderen gewählt werden. Weiterhin muss eine thematische Spezialisierung von Interaktion vermieden werden. Die frühmodernen Handbücher über Konversation sind voll mit Ermahnungen, bestimmte Themen, etwa Politik, Krieg, Religion, Wirtschaft oder Wissenschaft zu vermeiden. Der Chevalier de Méré (1661/1930, S. 102ff.) erstellt zum Beispiel eine Liste mit Konversationsthemen, die instrumentelle oder funktionale Intentionen ausdrücklich ausschließen („quand on s’assemble pour délibérer ou pour traiter d’affaires, cela s’appelle Conseil et Conférence, où d’ordinaire il ne faut n’y rire n’y badiner“). Im gleichen Anflug rät Madeleine de Scudéry (1680, S. 38 f.) dazu, sich in der Konversation mit alltäglichen und „leichten“ Themen („de choses ordinaires et galantes“) anstatt mit „großen“ oder ernsten Themen („de grandes choses“) zu beschäftigen. Auf einer Linie mit vielen Autoren ihrer Zeit betont sie ebenfalls die Notwendigkeit, symmetrische Verhältnisse herzustellen. Interaktion soll reibungslos und angenehm verlaufen, und daher auch selbstreproduktiv sein. In der frühmodernen Kunst der Konversation dreht es sich typischerweise um Ziele wie Freundschaft, Geselligkeit, Schicklichkeit, divertissement etc. (Burke 1993, S. 89–122; Kieserling 1999, S. 418–436). Dieses Insistieren auf einen Typ sozialer Rationalität, der (ausschließlich) für Kommunikation unter Anwesenden charakteristisch ist, kann als konservative oder kompensatorische Reaktion auf gesellschaftliche Differenzierungs- und Spezialisierungstendenzen interpretiert werden.2 Aber damit ist noch nicht geklärt, welche Strukturen eine funktionale Orientierung des Interaktionssystems ermöglichen und welche Folge es hat, wenn dies geschieht – für die Interaktionsordnung selbst und für die Sozialisation der Beteiligten. Allgemein kann behauptet werden, dass Interaktion sich an spezifische Regeln anpassen muss, um für ein bestimmtes Funktionssystem nutzbar zu sein. Mit Blick auf Erziehung sprechen Historiker heute von der „grammar of schooling“, d. h. relativ stabilen Regeln, die das Interaktionssystems Unterricht kennzeichnen (Tyack/Cuban 1995; vgl. Luhmann 2002, S. 102–110). Zur „grammar of schooling“ gehört zuallererst die asymmetrische Form der Systembildung. Die Rollenverteilung ist irreversibel: der Lehrer erzieht die Schüler, aber nicht (oder jedenfalls nicht im gleich offensichtlichen Sinne) umgekehrt der Schüler den Lehrer. Das Interaktionssystem sieht normalerweise vor, dass viele Schüler auf jeweils einen Lehrer entfallen. Lehrer und Schüler können sich dabei nicht gegenseitig aussuchen. Zum Zeitpunkt ihres Kennenlernens sind sich Schüler und Lehrer typischerweise fremd; sie kommen lediglich aus „geschäftlichen Gründen“ zusammen. Die verfügbare Kommunikationszeit ist zu2 Die „great transformation“ macht die Gesellschaft aber auch zunehmend unabhängig von der Interaktionsebene. Dank der ökonomischen und politischen Transformationen des 18. und 19. Jahrhunderts kann Gesellschaft nicht mehr als ein Netzwerk von Interaktionen begriffen werden. Vor diesem Hintergrund mag man die langen Listen von Verhaltensregeln in den Konversationsmanualen als konservative Reaktion auf diesen Evolutionsprozess, als Involution statt Evolution bewerten (Goldenweiser 1968).
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dem ungleich verteilt; der Lehrer redet mehr als ein Schüler, meistens mehr als alle Schüler zusammen. Weiterhin ist die Kommunikation auf curricular vorgeschriebene Themen konzentriert. Den Themen wird intrinsischer und pädagogischer Wert zugeschrieben; sie werden nicht aufgrund ihrer potenziellen, „leichten“ Unterhaltungsqualität gewählt. Diese Themen erlauben es, unabhängig von Situationen zu erziehen und zwingen eine didaktisch und pädagogisch bedeutsame Struktur auf. Man kann das am Gegenfall kontrollieren. Eine nichtausdifferenzierte, am Leben entlanggeführte Erziehung kann voll okkasionalistisch erfolgen, kann sich den Situationen und Motiven des alltäglichen Lebens anschmiegen und alle „natürlichen“ Ressourcen dank ihrer Zeitelastizität ausschöpfen. Diese situationsabhängige Form des Erziehens bleibt für lange Zeit eine grundlegende Prämisse der einflussreichen Literatur zur Prinzenerziehung (Flandrois 1992). Jean de Silhon (1661, S. 157) behauptet zum Beispiel, dass die Erziehung immer nur an das anknüpfen darf, womit der hohe Herr sich gerade beschäftigt („qu’elle se fasse en tout temps et à toute heure: qu’elle naisse de toute sorte de suiets et de toute sorte de rencontre. Par ce moyen elle ne sera importun au Prince“). Christoph Georg Bessel meint in einem ähnlichen Sinne, dass die Erziehung der Prinzen mit ihren sonstigen Beschäftigungen verbunden werden soll; er schlägt zum Beispiel vor, ihre Spielkarten mit Sinnsprüchen und Aphorismen zu versehen (1673, S. 144). In der Schule muss der Erziehungsgang dagegen sequenziert werden; Entscheidungen hinsichtlich der zeitlichen Organisation müssen hier sorgfältig geplant werden. Der Erziehungsgang muss sich seine Wirkungsgrundlagen, Motive und Themen zur jeweils vorgesehenen Zeit selbst beschaffen. Dieses System bildet also eigenständige Zeitstrukturen aus. Man könnte in gewisser Weise sagen, dass die Lehrpläne die Instabilität asymmetrischer Beziehungen im Erziehungssystem auffangen. Eine triadische Konfiguration von Lehrer, Schülern und Lehrplänen ermöglicht viel stabilere Beziehungsmuster als eine dyadische Asymmetrie (Weick 1979, S. 237–238). Die Konzentration auf Unterrichtsthemen, die sowohl gelehrt als auch gelernt werden müssen, entlastet den Lehrer. Somit kann die Fortsetzung von „unangenehmen“ und anspruchsvollen Interaktionen zwischen Lehrern und Schülern gesichert werden. Oder anders ausgedrückt: wenn das Interaktionssystem Unterricht den Zufälligkeiten und den Launen der Beteiligten überlassen bliebe, wenn ihre Fortsetzung ausschließlich von den gerade prävalenten Interessen und Motivationen abhinge, würde es unberechenbaren Fluktuationen unterworfen sein und aller Wahrscheinlichkeit nach zu einem reibungslosen und auf Geselligkeit ausgerichteten encounter „degenerieren“. Wie die Ausdifferenzierungsprozesse des 18. und 19. Jahrhunderts illustrieren, sind diese hier nur kurz hervorgehobenen interdependenten Strukturmerkmale wichtige Voraussetzungen für die funktionale Spezialisierung von Interaktion. Die Ausdifferenzierung des Erziehungssystems umfaßt alle genannten Aspekte: die Forcierung öffentlicher Erziehung, die Änderung und Erweiterung der Lehrpläne, die Professiona-
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lisierung des Lehrberufs und die Entdeckung oder Verkindlichung des Kinds (Luhmann/Schorr 1981, 1982; vgl. Lenzen 1997). Interaktionen, die in Funktionssysteme eingebettet werden, müssen sich eher unwahrscheinlichen Regeln unterwerfen. Unter dem Primat einer spezifischen Funktion können in der Interaktion die Strukturen des Interaktionssystems nicht mehr frei gewählt und gewechselt werden. Sie können nicht allein durch die Geschichte der je konkreten Abfolge von Kommunikationen bestimmt sein, oder allein davon abhängen wie Personenmerkmale der Beteiligten sich auswirken (ob z. B. wechselseitiges Vertrauen entsteht oder nicht, ob Enttäuschungen bestimmte Initiativen blockieren oder nicht etc.). Erziehung und Unterricht sind abhängig von einer vorgegebenen und institutionalisierten „grammar of schooling“, über die die Beteiligten nicht verfügen können. Damit ist natürlich nicht gemeint, dass die jeweilige Vorgeschichte der Interaktion und/oder die persönlichen Eigenschaften der Beteiligten keine Bedeutung haben. Ganz im Gegenteil: Gerade weil persönliche Merkmale und die konkrete Abfolgegeschichte von Kommunikationen das System nicht konstituieren, können sie sich in ihm entwickeln; gerade weil es nicht die strukturtragenden Faktoren sind, gewinnen sie eine Bedeutung, die weit über das hinausgeht, was sich in weniger eingegrenzter und „funktionsloser“ Interaktion entwickeln könnte. Die oben angeführten frühmodernen Konversationsregeln lassen in verschiedenen Hinsichten genau das Gegenteil erkennen (Elias 1983, S. 320–393). Gerade weil Konversation frühmoderner Provenienz stark von Persönlichkeitsmerkmalen abhängt, muss sie unpersönlich bleiben; die Beteiligten dürfen nicht so viel Individualität beisteuern, dass sie die Fortsetzbarkeit der Beziehung damit stören oder gefährden würden. Pierre de Villiers (1697, S. 210) hat es prägnant auf den Punkt gebracht: Man kann nur dann konversieren, wenn man die eigene Persönlichkeit verbergen kann („un homme ne doit passer pour sçavoir converser, que quand il sçait cacher ce qu’il est“). Lord Chesterfield formulierte es ähnlich: „Above all things, and upon all occasions, avoid speaking of yourself, if it be possible“ (1748/1929, S. 75). Die Interaktion in den Salons und Clubs bedarf daher einer Personalisierung und Internalisierung der Imperative für angemessenes Sozialverhalten. Soziale Ordnung ist hier völlig von individueller Selbstdisziplinierung abhängig. In edukativer Interaktion erlaubt die gesellschaftlich bestimmte Struktur den Beteiligten dagegen ein weitaus höheres Maß an Freiheit. Aber auch das Erziehungssystem sieht sich mit den Effekten seiner eigenen Strukturmerkmale konfrontiert, d. h. mit den Effekten der Bedingungen seiner eigenen Möglichkeit. Jeder pädagogische Prozess reagiert auf eine selbstgeschaffene Realität, und das ist eine Konsequenz seiner Ausdifferenzierung in der Gesellschaft. Gerade deswegen darf man voraussetzen, dass Theorien der Erziehung, insbesondere wenn sie eine Verbesserung von Schule und Unterricht anstreben, genauer die Folgen von verschiedenen interaktionalen Arrangements beachten müssen (Vanderstraeten 2006).
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4 Wie in den vorherigen Abschnitten angedeutet wurde, erfordert Erziehung regelmäßige Face-to-face-Interaktion zwischen Eltern und Kindern, Lehrern und Schülern. Dieses Charakteristikum limitiert die Möglichkeiten der Organisationsebene. Organisationen im Erziehungssystem können Interaktion ermöglichen (Zeitpläne, Räume, Ausstattung etc.), aber sie müssen auch ständig die „Eigendynamik“ dieser Interaktion verkraften. Organisationen können gesellschaftliche Anforderungen im Hinblick auf Erziehung respezifizieren (Zielsetzungen, Prüfungen, Curricula etc.), aber sie rufen auch Nebeneffekte hervor, die Einfluss auf den Ablauf von Unterricht und Erziehung nehmen. Die Profession des Lehrers wird erst ermöglicht durch Organisation, und bleibt auch weitestgehend davon abhängig, aber die organisationalen Arrangements in Schulen und Universitäten limitieren auch, was in Interaktionen im Prinzip möglich sein könnte – sie begrenzen zum Beispiel die Chancen eines intensiven persönlichen und individualisierten Kontaktes zwischen Lehrern und Schülern. Vor diesem Hintergrund fokussiert dieser Abschnitt die Organisationsebene im Funktionssystem der Erziehung – im Vergleich mit anderen Funktionssystemen. Schulen und Universitäten können im Vergleich zu anderen Organisationen als „client-serving“ oder „people-changing“ Organisationen beschrieben werden (Bidwell/Vreeland 1963; Hasenfeld 1972, 2000).3 Ihr „Material“ sind Personen und insofern unterscheiden sie sich von Organisationen, die in erster Linie mit Dingen oder Symbolen arbeiten. Die Organisationen, die sich mit der Veränderung von Personen befassen (Krankenhäuser, Schulen, Rechtsanwaltsbüros etc.), sehen typischerweise zwei verschiedenartige Rollen vor: die Rolle für Klienten und die Rollen für das beruflich mit ihnen befasste Personal. Im Erziehungssystem werden die Klienten selbst ebenfalls als Mitglieder in die Organisation aufgenommen. Damit ist indes noch nichts über die ,Tiefe‘ und Intimität des auf sie ausgeübten Einflusses gesagt, wohl aber etwas über den Umfang der Beeinflussbarkeit durch organisierte Operationen. Psychotherapie, Seelsorge, oder medizinische Behandlung mögen tiefer greifen und die Person in inti3 Luhmann verwandte für die Bezeichnung von Erziehungsorganisationen häufig den Ausdruck „people-processing“ Organisationen. In der Forschungsliteratur, auf die sich Luhmann bezieht, wird jedoch in den meisten Fällen zwischen „people-changing“ und „people-processing“ Organisationen unterschieden. Zum Beispiel: „People-processing organizations can be defined by the nature of their ,product‘ and of their processing technology. Their major ,product‘ is people with changed statuses and locations in various community systems ... The core technology of people-processing organizations is the classification and disposition of clients. Again, this organization does not try directly to alter the behavior of people who enter its jurisdiction, as is the case with people-changing organizations. Rather, it produces changes by identifying and defining the person’s attributes, social situation, and public identity“ (Hasenfeld 1972, S. 257). Unter Einbeziehung dieser Unterscheidung bevorzuge ich es, Erziehungsorganisationen als „people-changing organizations“ zu begreifen; sie legen es darauf an, die personale Umwelt sozialer Systeme zu ändern.
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meren, individuelleren Sorgen und Nöten betreffen, aber kaum ein Verhältnis von Organisation und Klient erfasst einen so hohen Anteil an Lebensvollzügen wie die Schule in Bezug auf den Schüler. Der Grund dafür, dass Klienten der Mitgliedschaftsstatus gewährt wird, liegt anscheinend in dem Bedürfnis bei sehr heterogenen personalen Voraussetzungen ein Mindestmaß an Motivation und an Kooperationsbereitschaft sicherzustellen. Die Unterscheidung von Mitglied und Nichtmitglied wird auf die Klienten ausgedehnt, da die Organisation gegenüber Mitgliedern zur Sanktionierung von nichtkonformen Verhaltensweisen berechtigt ist – und das heißt im Extremfall: Exklusion. Organisationen im Erziehungssystem können auch aufgrund ihrer „technologischen“ Merkmale gekennzeichnet werden. Der Begriff der „Technologie“ bezieht sich auf die operative Ebene eines Systems, also auf die Ebene, auf der die Arbeit geleistet wird, auf der das „Material“ durch geordnete Arbeitsprozesse in Richtung auf determinierte Ziele verändert wird. Die Technologie eines Systems ist die Gesamtheit der Regeln, nach denen sich dieser Veränderungsprozess vollzieht – zum Beispiel Schüler das lernen, was ihnen vermittelt wird. Anhand dieses Begriffs lassen sich Organisationen auf verschiedene Weise vergleichen: im Hinblick auf das Ausmaß an Routinisierbarkeit der Arbeit, an Vorhersehbarkeit der Ereignisse, an Regelbestimmtheit, oder umgekehrt, das Ausmaß an Unsicherheit, Instabilität und Variabilität der Umstände, die den Ablauf des Arbeitsprozesses bestimmen (vgl. Perrow 1967; Scott 1992, S. 226–256). Diese Sichtweise macht deutlich, dass Schulorganisationen nicht über eine robuste Technologie verfügen, die es ihnen erlaubt, zuverlässig bestimmte Fernwirkungen planen zu können. Im Handbook of the Sociology of Education liest man diesbezüglich: „Teaching is an uncertain technology: cause-effect relations are not well understood, and there is no consensus on the best teaching methods“ (Gamoran/Secada/Marrett 2000, S. 43). Wie bekannt, haben auch Luhmann und Schorr (1982, 1988) auf diese Technologieprobleme hingewiesen. In unserem Kontext ist es wichtig, die Folgen dieses „Technologiedefizits“, insbesondere bezüglich der Selbstorganisation des Erziehungssystems, genauer zu beobachten. Erziehung baut auf selbsterzeugten Prämissen auf und ist dadurch ein sehr langwieriger und zeitaufwendiger Prozess. Damit ist impliziert, dass sich Persönlichkeitsmerkmale auf Unterschiede des Entwicklungstempos auswirken; und dies nicht nur in dem Sinne, dass es schnelle und langsame Schüler gibt, sondern auch so, dass derselbe Schüler in unterschiedlichen Phasen seines Werdeganges sich schneller bzw. langsamer entwickelt. Organisationen sind kaum in der Lage, sich den unterschiedlichen Phasen der „natürlichen“ Entwicklung ihrer Mitglieder anzupassen; sie müssen eigene zeitliche Zäsuren (Schuljahre, Semester, Schulstunden etc.) setzen. Eine Unterrichtsstunde ist so auch erst dann beendet, sobald es geschellt hat und nicht, sobald die Aufmerksamkeit der Schüler nachlässt, oder die Anstrengungen des Lehrers erfolgreich waren. Im „artifiziellen“ schulischen Kontext muss sich jede Technologie in der Anwendung selbst kontrollieren. Erziehung ist nur als situationsabhängiger Prozess
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möglich; die Interaktionsebene, auf der Unterricht und Erziehung realisiert werden müssen, dominiert. Es ist insbesondere dieses Charakteristikum von Erziehung, welches die Rationalität von Schulorganisationen strukturell einschränkt, indem es eine organisatorisch geplante Steuerung des Erziehungsprozesses verhindert (Weick 1976; March/Simon 1993; Luhmann 2002, S. 153– 165).4 Diese Probleme mit der Technologie ziehen vor allem dann Aufmerksamkeit auf sich, sobald das Erziehungssystem Autonomie für sich beansprucht und sich die Notwendigkeit ergibt, den Rhythmus des alltäglichen Lebens zu durchbrechen und Erziehung nach eigenen Kriterien zu planen, also sobald Koordinations- und Kontrollprobleme in den Vordergrund rücken. Es ist andererseits verständlich, dass sich die Organisationen des Erziehungssystems dieser Art von Unsicherheit anpassen, dass sie lernen mit ihr zu leben und entsprechende „Mythen“ zur Selbstlegitimierung entwickeln. Es ist in dieser Hinsicht schon mehrfach argumentiert worden, dass Schulen die Ebene der laufenden Aktivitäten von der Verwaltungsebene trennen oder abkoppeln (vgl. Parsons 1960, S. 15–96). Sie kaschieren Unsicherheiten und Probleme auf der Aktivitätsebene; sie verhindern zum Beispiel eine minutiöse Kontrolle und Koordination des Unterrichtsgeschehens. Stattdessen werden die erzieherischen Aktivitäten mittels standardisierter Kategorien (offiziell registrierte Schüler, staatlich berufene Lehrer, standardisierte Curricula, zertifizierte Schulen etc.) sozial definiert und legitimiert. Dabei kommt es zu einer intensiven Nutzung von „zeremoniellen“ Strategien. Diese Entkopplung (oder „loose coupling“) von Aktivitätsebene und formaler Ebene macht Schulen dann auch „more responsive to even inconsistent environmental pressures than organizations in other institutional settings“ (Meyer/Rowan 1978, S. 105). Ein verwandtes Reaktionsmuster ist die ständige Erneuerung der Suche nach technischen Verbesserungen (oder, ständig den Anschein der Erneuerung zu wahren). Die Geschichte der Schulerziehung kann tatsächlich gelesen werden als eine Geschichte des „reforming again, again, and again“ (Cuban 1990). Die Technologieprobleme werden in den Bereich organisatorischer Reformen verschoben. Da Fehler nicht einer unabhängigen Technologie der Erziehung zugerechnet werden können, kann man immer wieder mit
4 Ich füge hinzu, dass es Erziehung grundsätzlich immer mit einer doppelten Systemreferenz zu tun hat. Sie bezieht sich immer auf personale Systeme und auf ein soziales System zugleich. Lehrer sind mit den Diskrepanzen, die aus dieser doppelten Referenz entstehen, durchaus vertraut. So können sich im Unterricht Widersprüche ergeben zwischen der Orientierung an einzelnen Schülern und der Orientierung an der gesamten Schulklasse. Der Unterricht muss weitergehen, selbst wenn einzelne Schüler zurückbleiben, und er kann oft denen nicht folgen, die mehr lernen könnten. Die Dauer der Beschäftigung mit einzelnen Schülern muss begrenzt bleiben, sollen nicht anderen unerträgliche Wartezeiten zugemutet werden und Ablenkung und Langeweile um sich greifen etc. Ob solche Diskrepanzen manifest werden, hängt von der Art ab, wie sich die Beteiligten im unmittelbaren situationsgeschichtlichen Ablauf am Interaktionssystem Unterricht orientieren. Es ist deshalb kaum möglich, an Hand einer Vorausplanung oder gar nach lernbaren Rezepten darauf zu reagieren.
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den vorherrschenden Organisationsstrukturen experimentieren und neue Formen und Modelle erfinden. Organisationen tun sich schwer damit, organisatorische Programme für Erziehung zu entwerfen. Sie sind allerdings imstande, ihre eigenen Entscheidungsmechanismen der Erziehung aufzuzwingen und können damit den Erziehungsprozess an grundlegenden Organisationsmerkmalen ausrichten. Selektion und Evaluation spielen dabei eine wichtige Rolle. In der Schule gibt es zahlreiche Situationen, die selektiv wirkende Bewertungen provozieren. Schüler sehen sich ständig mit Fragen, Anmerkungen, Tests, Prüfungen und anderen Formen kommunizierter Leistungserwartungen konfrontiert. Noten werden verteilt, Zeugnisse und Zertifikate ausgegeben – und diese Entscheidungen werden benutzt, um Erziehungsprozesse zu strukturieren. Selektive Bewertungen ermöglichen eine Verkettung von Karrierephasen; sie übernehmen Vermittlungsfunktionen in weit auseinandergezogenen Kommunikationsprozessen, die mit der Funktion von Kommunikationsmedien, zum Beispiel mit der von Geld in der Ökonomie, verglichen werden kann (Collins 1979). Es ist evident, dass diese Bewertungen wichtige motivationale Konsequenzen mit sich bringen. Dies gilt vor allem für Schüler, aber selbst für Lehrer ist es nicht ohne Bedeutung, wie viele ihrer Schüler und wie gut sie sie „durch’s Abitur bringen“. Viele zentrale Merkmale des heimlichen oder latenten Curriculum der Schule werden in Zusammenhang gebracht mit diesen besonderen Eigenschaften der Organisationen im Erziehungssystem. Auch die aktuellen Diskussionen über die Funktion von Erziehung beziehen sich ausdrücklich auf diese Entscheidungsmechanismen (Bourdieu/Passeron 1970; Margolis 2001). Im Erziehungssystem sind die Interaktions- und Organisationsebene eng miteinander verzahnt. Interaktion ist nicht nur eine infolge von Arbeitsteilung notwendige Form der Koordination innerhalb der Organisation; sie ist gewissermaßen die Technologie des Erziehungssystems selbst. Zugleich lässt die Expansion des Erziehungssystems sich als ein zellulärer Wachstumsprozess, also als ein Prozess der Multiplikation von Interaktionssystemen beschreiben (Lortie 1977; Vanderstraeten 2004a). Auch das weist auf die zentrale Stelle des Interaktionssystems Unterricht im Erziehungssystem hin. Was in der Erziehung möglich ist, hängt davon ab, was in Interaktion möglich ist – zum Beispiel in relativ großen Schulklassen mit thematisch konzentrierter Interaktion. Die strukturellen Beschränkungen der Interaktionssysteme limitieren daher zugleich die Möglichkeiten der Variation gesellschaftlicher Funktionserfüllung. Diese Beschränkungen können auf der Organisationsebene nicht aufgehoben werden. Die Organisation kann lediglich sicherstellen, dass Interaktionen häufig und regelmäßig stattfinden. Im Erziehungssystem geht es nicht ohne Organisation. Es geht hier aber auch nicht mit Organisation. Die Ressentiments gegen Organisation und Bürokratie, die unter solchen Bedingungen immer wieder neuen Nährboden finden, reagieren vor allem auf dieses grundlegende Problem. Im Allgemeinen lässt sich dabei fragen, inwiefern die Pädagogik als Reflexionstheorie des ausdifferenzierten Erziehungssystems die Bedingungen und
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Folgeprobleme der Systemautonomie reflektiert und bearbeitet. Niklas Luhmann und Karl Eberhard Schorr haben wiederholt betont, dass die pädagogische Tradition es versäumt (hat), auf die gesellschaftliche Funktion und die Technologieprobleme der Erziehung und des Unterrichts zu reflektieren. Besonders in der subjektphilosophischen Tradition der Pädagogik wurde und wird die technologische Erzeugung von Effekten als unangemessen für die Arbeit an Menschen bewertet. Luhmann und Schorr (1982, 1988) zufolge, löst die pädagogische Tradition die Probleme nur insofern, als sie ein Nichtkönnen in ein Nichtwollenkönnen transformiert. Aus den vorangegangenen Analysen kann man schließen, dass die Reflexionsprobleme im Erziehungssystem wahrscheinlich vor allem auf Organisationsprobleme im Erziehungssystem zurückzuführen sind.
5 Die vorangegangenen Analysen illustrieren vor diesem Hintergrund wie die Ausdifferenzierung des Erziehungssystems von bestimmten Möglichkeiten und Beschränkungen abhängig ist, die mit den Charakteristika des Sozialsystems Unterricht verbunden sind und sich auf den Systemebenen Interaktion und Organisation manifestieren. Abschließend möchte ich kurz zwei Themenbereiche skizzieren, deren Bearbeitung zur soziologischen Aufklärung der Charakteristika der pädagogischen Kommunikation beitragen könnte. Zuerst ist deutlich, dass die Strukturen schulischer Interaktionen ganz eigene Züge aufweisen. Das Interaktionssystem Unterricht ist gekennzeichnet durch eine besondere, in anderen Bereichen nicht vorkommende Struktur. Die organisierte Beziehung des Lehrers zu seinen Klienten hat ungewöhnliche Merkmale. In Schulen sieht sich eine relativ große Gruppe von Schülern nur einem Lehrer gegenüber, aber gleichzeitig finden die Kontakte sehr regelmäßig statt und sie sind auf einen langen Zeitraum hin angelegt. Dabei kann jedem einzelnen Schüler die ungeteilte Aufmerksamkeit des Lehrers nur in Ausnahmefällen gewährt werden, obwohl jedem Schüler kontinuierlich eine allgemeine Aufmerksamkeit zuteil wird und Zeit und Gelegenheit hat, dem Lehrer bei der Beschäftigung mit der Schulklasse oder anderen Schülern zuzusehen. Der Unterschied mit anderen Formen professioneller Arbeit ist auffällig. So kann, beispielsweise, der Patient im Krankensaal zwar beobachten wie der Arzt oder Chirurg sich um andere Patienten kümmert, aber dies geht nicht zu Lasten der Aufmerksamkeit für die eigene Person und die eigenen Probleme. Ebenso wenig werden die Gespräche mit dem Arzt von den anderen Patienten abgehört. Lediglich für den Schulunterricht ist die professionelle Zuwendung zu den Klienten so beschränkt und zugleich so öffentlich. Die architektonische Struktur der Klassenzimmer und die relativ lange Dauer der Kontakte zwischen Lehrer und Schülern setzten Lehrer außerdem fast unvermeidlich eine intensive Beobachtung von Seiten ihrer Schüler aus. So sehr Lehrer auch versuchen auf
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Distanz zu gehen, sie können es nicht vermeiden, dem prüfenden Blick ihrer Klienten ausgesetzt zu bleiben. Sie werden schonungslos als normale, als all-zunormale Personen beobachtet; ihre Schwächen und Einzigartigkeiten werden beobachtet und ausgenutzt, und bieten der Kommunikation unter den Schülern ein dankbares Gesprächsthema. Pädagogen sollten sich noch einmal fragen: Wie ist Erziehung unter solchen Bedingungen möglich? Ein zweiter Themenbereich hat ihren Ausgangspunkt in der Komplexität von Entscheidungsprozessen, die die Personalrekrutierung und -planung in Schulen betreffen. Wenn Informationen, die diese Entscheidungsprozesse (mit-)steuern können, teils leicht, teils schwierig erhältlich sind, erhalten diese Prozesse allein dadurch schon eine selektive Tendenz. Es entsteht dann schnell ein Gefälle zum Leichten und Entscheidbaren hin, das nicht in den Bedingungen der professionellen Arbeit begründet ist. So ist es fraglich, wie der mit Fachdidaktik bezeichnete Bereich in leistbare und kontrollierbare Anforderungen, an denen Prozesse der Personalselektion und der professionellen Entwicklung sich orientieren können, übersetzbar ist. So ist es auch fraglich, wie die laufende Zuweisung von Lehrern und Schülern an Schulklassen nach professionellen Kriterien erfolgen kann: Dafür scheinen nämlich jegliche über konkrete Situationseinschätzungen hinausgehende rationale Methoden der Datenbeschaffung und Kriterien für mehr oder weniger günstige Kombinationen von individuellen und schulklassenmäßigen Merkmalen zu fehlen.5 Typischerweise hat die Schulorganisation also Probleme damit, nicht unmittelbar ergreifbare Fähigkeiten von Lehrern zu beurteilen. Die Organisation orientiert sich stattdessen vorherrschend an Zertifikaten oder Qualifikationen, an „credentials“, die leicht zu kontrollieren und zu vergleichen sind. Wenn es darum geht, Mathematikunterricht zu erteilen, stellt man einen Lehrer ein, der speziell dafür ausgebildet ist; notfalls ist, wenn solche Kräfte nicht zur Verfügung stehen, geeigneter Ersatz zu finden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach den Möglichkeiten eines professionellen „bias“ in den Entscheidungsprozessen in Schulen. Zurzeit wird Professionalisierung vor allem als Möglichkeit der Statusaufwertung gesehen (Verringerung von beruflicher Belastung und Arbeitszeit, höhere Besoldung, mehr Ausbildung etc.). Fragt man dagegen präziser nach den Bedingungen und Effekten professioneller Arbeit, kommen andere Aspekte in Sichtweite. Die vorangehenden Überlegungen stärken die Sensibilität für solche Aspekte des pädagogischen Bezugsproblems. Sie rücken erneut die organisatorisch gerahmte Interaktion mit den Schülern in den Mittelpunkt.
5 Im Universitätsbereich klassischer Prägung war das Problem der konkreten Zuordnung von Lehrenden und Lernenden durch die Vermutung gelöst worden, dass über freigestellte individuelle Wahl ein Höchstmass an Rationalität zu erreichen sei. Durch Kolleggeldeinnahmen wurde der Hochschullehrer motiviert, für Studenten attraktive Veranstaltungen anzubieten, und umgekehrt waren die Studenten in erheblichem Umfange frei, sich Lehrer zu wählen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob und wie moderne Erziehungsorganisationen Ersatzlösungen für das Zuordnungsproblem einplanen können.
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Erziehung, Kommunikation, Person. Zur Stellung des Erziehungssystems in einem besonderen Quartett gesellschaftlicher Funktionen Erziehung, Thomas Kurtz Kommunikation, Person
Thomas Kurtz 1 In einem strengen Sinne systemtheoretisch betrachtet besteht die moderne Gesellschaft nicht aus Menschen, Staaten oder Dingen, sondern ausschließlich aus Kommunikation. Nur was kommunikativ erreichbar ist, geschieht in den Grenzen der Gesellschaft, alles andere findet sich in der Umwelt der Gesellschaft. Wenn man im Weiteren die funktionale Differenzierung und dazu korrespondierende Formen struktureller Kopplung als Bauprinzip der Moderne bestimmt1, dann setzen sich auch die operativ geschlossen operierenden Funktionssysteme nur aus Kommunikation zusammen. So gesehen bilden pädagogische Kommunikationen das Erziehungssystem der Gesellschaft, die freilich auf der Programmebene des Systems konkretisiert werden können. In einer solchen Perspektive muss die Frage nach der besonderen Rolle des Erziehungssystems im Club der Funktionssysteme der modernen Gesellschaft zuerst einmal überraschen. Im Zuge des gesellschaftlichen Umbaus des Differenzierungsprimates von Stratifikation auf funktionale Differenzierung hat sich im Laufe des 18. Jahrhunderts in der Gesellschaft ein Sondersystem für Erziehung herausgebildet – nur in diesem System wird primär erzogen und ausgebildet. Wenn man die Strenge der Argumentation für einen kurzen Augenblick beiseite schiebt, kann man natürlich fragen, ob wir solche Prozesse nicht auch in anderen Systemkontexten finden? Man muss diese Frage zuerst einmal bejahen, denn es wird ja nicht nur in Schulen ausgebildet, sondern auch in Wirtschaftsbetrieben, aber gleichwohl – jetzt wieder streng gefasst – diese Antwort auch relativieren, weil diese Prozesse auch in Organisationen, die nicht dem Primat des Erziehungssystems folgen, pädagogische Kommunikationen sind. So ist die Vermittlung von Wissen und Werten auf der Interaktionsebene immer ein pädagogischer Prozess, dies gilt nicht nur für die organisatorisch gerahmte 1 Siehe dazu ausführlicher Kurtz 2005.
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Interaktion in der Schule, sondern auch für die Wissensvermittlung in Wirtschaftsbetrieben, Gewerkschaften, Museen etc. Alle Kommunikationen also, die sich an der Leitunterscheidung des Erziehungssystems ausrichten, vollziehen damit dessen teilsystemische Autopoiesis mit oder anders: Alle die vielfältigen in der Welt vorfindbaren Bildungs- und Weiterbildungsmaßnahmen operieren – und zwar ganz gleich, wo sie dort räumlich zu verorten sind – als pädagogische Vermittlungsprozesse im gesellschaftlichen Kontext des Erziehungssystems und haben darin ihren gemeinsamen Systemkontext. Sie sind kommunikativer Bestandteil des Erziehungssystems. Aber gleichwohl gehören damit nicht alle diese Vermittlungen auch zum Kern des Erziehungssystems. Man könnte von einem Kernbereich des Erziehungssystems sprechen, wenn alle drei Ebenen Interaktion, Organisation und Gesellschaft dem pädagogischen Primat folgen, oder anders: wenn die Absicht etwas für den Lebenslauf Brauchbares zu vermitteln in Organisationen geschieht, die dem Primat des Erziehungssystems folgen (also Schule, Kindergarten und Volkshochschule). Die im Weiteren auch anderswo beobachtbaren pädagogischen Vermittlungsprozesse gehören im weitesten Sinne zum Bereich des Pädagogischen, aber nicht zugleich auch zu seinem Kernbereich. Deutlich wird das etwa an der Familienerziehung, die eine Form der Erziehung ist, die ihre Kinder wohl nur sehr selten nach ihren Leistungsunterschieden bewertet und die darüber hinaus ganz ohne die Form Organisation auszukommen scheint. Aber man kann hier natürlich auch an andere Vermittlungsprozesse denken, die die Aneignung des vermittelten Wissens nicht bewerten – so etwa die in den Massenmedien –, oder aber auch an pädagogische Kommunikationen, die in Organisationen zu beobachten sind, in denen es weniger um eine ,Formung von Lebensläufen‘ (siehe Luhmann 1997a) als Förderung von Personen geht, sondern wie bei der betrieblichen Weiterbildung mehr um die Förderung der (Wirtschafts-)Organisationen selbst (siehe Kurtz 2002). Bei der Beantwortung der Frage nach der besonderen Rolle des Erziehungssystems müssen zwei Aspekte herausgestellt werden: zum einen die Arbeit an Personen und zum anderen die damit zusammenhängende besondere Form der Kommunikation im System. Wenn man sich die Geschichte der Ausdifferenzierung dieses Funktionssystems ansieht, dann scheint die Differenzierung zwischen intentionaler und nichtintentionaler Erziehung den Ausgangspunkt für alle weiteren Differenzierungen der Erziehung zu markieren. Diese Unterscheidung korrespondiert in gewisser Weise mit der von Erziehung und Sozialisation: Während es sich nämlich bei der sowieso laufenden und unvermeidlichen nicht-intentionalisierbaren Sozialisation2 um eine Selbstsozialisation psychischer Systeme in sozialen Umwelten handelt, ist erst die (intentionale) Erziehung eine absichtsvolle Kommunikation in sozialen Systemen, deren Ziel die Veränderung von Personen darstellt (vgl. Luhmann 1987b, S. 77). Erziehung ist in den Worten von Niklas Luhmann „eine evolutionär unwahrscheinliche (von 2 „Der Sozialisand kann immer auch anders“; so Luhmann 1987a, S. 60.
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der Ausgangslage der Sozialisation eigentlich gar nicht mögliche, im Gelingen zufallsabhängige) Errungenschaft“ (Luhmann 1987a, S. 61). Natürlich gab es auch schon vor der Ausdifferenzierung eines funktionalen Erziehungssystems in gewissem Umfange intentionale Erziehung, so etwa in den Klosterschulen des Mittelalters oder aber in den frühmodernen Universitäten. Und natürlich gibt es auch im System der Familie intentionale Erziehung, aber die wesentliche Differenz liegt hier darin, dass in der Familie die intentionale Erziehung nur situationsweise gehandhabt wird und demnach keinen Systemcharakter hat. Erziehung in der Familie baut nicht wie die schulischen Jahrgangsklassen aufeinander auf, sondern geschieht quasi nebenher im Mitvollzug des Familienalltages. Der einmal geborene Mensch wird zur Person erst durch Sozialisation und intentionale wie aber auch nichtintentionale Erziehung, und dabei kommt sowohl der Familie wie auch dem Individuum selbst eine besondere Funktion zu, aber diese Formung von Lebensläufen von Kindern, Jugendlichen und zum Teil auch Erwachsenen bekommt nur im Bildungsbereich einen organisierten Systemcharakter. Erziehung im Kernbereich des Erziehungssystems ist also in jedem Fall eine absichtsvolle Kommunikation (siehe Luhmann 1992; Kurtz 2004a), wobei die Absicht im Zuge der pädagogischen Kommunikation – und das heißt, der Arbeit an Personen – in den Hintergrund gedrängt wird. Das Erziehungssystem unterscheidet sich im Weiteren von den anderen Funktionssystemen der Gesellschaft, da bei Erziehungsprozessen nicht nur Kommunikation, sondern auch Selektion codiert wird. Es ist ja bekannt, dass Luhmann in seinen Analysen zusammen mit Karl Eberhard Schorr das Vorhandensein eines Kommunikationscodes des Erziehungssystems im engeren Sinne bestritten hat und von einem quasi in der personalen Umwelt des Systems ansetzenden Code der Selektion ausgegangen ist. Wenn man seine Überlegungen in der nicht mehr abgeschlossenen Monographie Das Erziehungssystem der Gesellschaft betrachtet, dann hat er sich anscheinend von Jochen Kades Vorschlag, von einem vermittelbar und nicht-vermittelbar unterscheidenden Kommunikationscode (vgl. Kade 1997) auszugehen, überzeugen lassen, ohne gleichwohl seinen alten Code aufzugeben. Im Gegenteil, der Kommunikationscode vermittelbar/nicht-vermittelbar wird als Primärcodierung des Systems bestimmt, die abgestützt wird durch die immer unter der Hand mitlaufende und für die Teilnehmer als Selektionscode fungierende Zweitcodierung besser/schlechter. Im Erziehungssystem geht es so gesehen darum, Wissen und Werte zu vermitteln (Codierung) und deren Aneignung zu bewerten (Zweitcodierung).3 Aber wie 3 Wenn man diese Doppelcodierung des Erziehungssystems mit der oben eingeführten Unterscheidung von Zentrum und Peripherie verbindet, dann scheint es so zu sein, dass nur die pädagogischen Kommunikationen im Kernbereich des Systems doppelt codiert sind – also Vermittlung und Selektion –, dass aber in der Peripherie des Systems zumeist nur der Vermittlungscode eine Rolle spielt. Weder in den Medien noch in der Familie wird anhand der Aneignung des Vermittelten selegiert. Und auch in der betrieblichen Weiterbildung etwa werden die Vermittlungsmaßnahmen nicht oder nur selten mit Zertifikaten bescheinigt, hier geht es we-
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gesagt, es geht in diesem System nicht nur um gelingende Kommunikation im Sinne kommunikativer Anschlussfähigkeit, sondern darüber hinaus immer auch um Eingriffe in die Umwelt des Gesellschaftssystems. Bei Erziehung „handelt es sich um ein Einwirken auf einzelne Menschen. Es geht nicht nur um glattflüssige Kommunikation, sondern die Erziehung selbst muss als gescheitert betrachtet werden, wenn der Zögling sich nicht ändert, sondern ungerührt bleibt, wie er war“ (Luhmann 2002, S. 42). Ausgehend vom geborenen Menschen als „die andere, unmarkierte Seite der Form ,Person‘“ (Luhmann 2002, S. 28), geht es im Erziehungssystem um „das Personwerden von Menschen“ (Luhmann 2002, S. 38), oder anders: „um die Vorbereitung des Einzelmenschen auf sein späteres Leben, um seinen ,Lebenslauf‘“ (Luhmann 2002, S. 47). In diesem System geht es anders als z. B. in der Wirtschaft oder der Politik nicht um die Masse der kommunikativen Anschlüsse, sondern um kommunikative Betreuung in Interaktionssystemen. Die Interaktion unter körperlich und geistig Anwesenden ist das konstitutive Merkmal des ausdifferenzierten Erziehungssystems der modernen Gesellschaft.4 Das Erziehungssystem ist in der modernen Gesellschaft das Funktionssystem, welches sich im Zuge seiner Aus- und Innendifferenzierung auf die Vermittlung von Wissen und Werten und die Bewertung der Form der Aneignung des Vermittelten spezialisiert hat. In diesem gesellschaftlichen Teilsystem geht es nicht um das Produzieren von neuen Erkenntnissen wie in der Wissenschaft, sondern im Wesentlichen um Bewahrung, um Vermittlung des Bewahrenswerten. Das Erziehungssystem hat die Funktion der kulturellen Erinnerung, oder in den Worten von Aleida Assmann: Bildung ist „eine spezifische Form, die das kulturelle Gedächtnis in der sich modernisierenden Gesellschaft annimmt.“5 Das Erziehungssystem fungiert sozusagen als Verwalter des kulturellen Gedächtnisses der Gesellschaft und operiert dabei relativ direkt an den für Personen relevanten Sachthematiken der modernen Gesellschaft. Im Kontext des Erziehungssystems geht es also um Veränderungen von Personen; Erziehung ist eine absichtsvolle Kommunikation unter Anwesenden, bei der in Form einer Vermittlung von bewahrenswertem Wissen und Werten über die anderen Bereiche der Gesellschaft Individuen auf das Leben in der Gesellschaft und seiner Subsysteme vorbereitet werden. Mit diesen hier angedeuteten Besonderheiten wie dem Ziel des people-processing und der Bedeutung der Interaktionsebene grenzt sich das Erziehungssystem gegen andere Systeme wie etwa dem der Politik oder dem der Wissenschaft ab. Zugleich fällt aber auf, dass die Erziehung diese Besonderheiten mit drei anderen Funktionssystemen teilt, und zwar mit den Systemen Religion, Recht niger um die Unterscheidung von Personen als vielmehr um den Gewinn für die Organisation. 4 Siehe zur Systemebene Interaktion in Abgrenzung zu Organisation und Gesellschaft Luhmann 1972; 1979; 1984, S. 560ff., sowie generell Kieserling 1999. 5 A. Assmann 1993, S. 8. Siehe zur Form des kulturellen Gedächtnisses ausführlicher J. Assmann 1997.
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und Krankenbehandlung, also den Systemen, in denen es auch nicht nur um systeminterne Anschlussfähigkeit von Kommunikation geht, sondern um Eingriffe (Veränderungen) in die personale Umwelt der Gesellschaft bzw. der einzelnen Funktionssysteme. Das Erziehungssystem spielt hier sozusagen in einem Quartett mit drei anderen Systemen, und die Frage wird sein, ob die Erziehung, wenn schon nicht in der Gesellschaft, so doch innerhalb dieser Gruppe von Systemen eine besondere Rolle einnimmt. Bevor wir diese Frage weiter diskutieren, sei im Hauptteil des Beitrages zuerst einmal dieses besondere Quartett gesellschaftlicher Funktionen vorgestellt und die aktuellen Wandlungsprozesse in den einzelnen Systemen nachgezeichnet.6
2 Die moderne Gesellschaft als das alle Kommunikationen einschließende Sozialsystem ist sozusagen eine Ansammlung evolutionär eigentlich höchst unwahrscheinlicher Kommunikationen. Soziale Systeme auf den Ebenen von Interaktion, Organisation und Gesellschaft operieren entlang dieser Unwahrscheinlichkeiten und müssen versuchen, diese in Wahrscheinlichkeiten zu überführen. Ganz allgemein in alltäglichen Kommunikationen, besonders auf der Interaktionsebene, können Erwartungsstrukturen Unsicherheiten der Kommunikation reduzieren und damit dem Kommunikationsgeschehen eine je eigene Form geben. Während sich die Kommunikation unter Anwesenden in der Interaktion aber nie nur entlang von einzig möglichen Unterscheidungen strukturieren lässt, haben gesamtgesellschaftlich ausdifferenzierte Teilsysteme zur Spezifikation ihrer Funktion, mit der sie sich in der Gesellschaft etablieren und von anderen Systemen abgrenzen, eine besondere binäre Codierung zur Fortsetzung ihrer teilsystemspezifischen Autopoiesis ausformuliert. Die binären Codes wie wahr/unwahr, Recht/Unrecht, zahlen/nichtzahlen sorgen dafür, dass es im System in jedem Fall immer weitergeht. Aus der präferierten Seite der jeweiligen Unterscheidung des Codes hat sich in einigen Teilsystemen der Gesellschaft ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium herausgebildet, das für Kommunikationsannahme auch dort sorgt, wo diese eher unwahrscheinlich ist. Diese Medien wie Wahrheit, Geld, Macht, Kunst und Liebe wirken als Motivationsverstärker der Kommunikation und garantieren bzw. ermöglichen damit kommunikative Anschlussfähigkeit.7 Die Bedeutung solcher Kommunikationsmedien für Prozesse der Systembildung und der Fortführung systemischer Kommunikation muss dabei vor allem in der Technisierung des Mediencodes gesehen werden, der die Übergänge von 6 Siehe dazu auch schon Kurtz 2000. 7 Vgl. Luhmann 1982, S. 21. Dabei sind Erfolgsmedien natürlich nicht die einzigen Medien, die zum Wahrscheinlichwerden der Kommunikation beitragen: So trägt etwa das Medium Sprache zum Verstehen der Kommunikation bei und Verbreitungsmedien sorgen dafür, dass die Mitteilung die Adressaten erreicht.
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Wert zu Gegenwert erleichtert.8 In diesem Sinne kann man sagen, dass die Medien die Ebene der Codierung der Funktionssysteme betreuen. Die Kommunikationsmedien ermöglichen sozusagen auf der einen Seite die Anschlussfähigkeit von Kommunikation, für die die Organisationen der Systeme Entscheidungsregeln formulieren9, aber zugleich sind diese Medien auf der anderen Seite auch erst die Voraussetzung für die Schaffung von generalisierbaren und erwartbaren Formen wie sie etwa Organisationen darstellen. Diese Erfolgsmedien lassen sich allerdings nicht in solchen Funktionssystemen beobachten, die Inklusionsprobleme bearbeiten und deren Funktionserfüllung in einer Änderung ihrer personalen Umwelt liegt – also Personen, ihren Körpern und Bewusstseinsstrukturen.10 Und genau das sind die Systeme unseres Quartetts. Weder gibt es ein Kommunikationsmedium für Krankenbehandlung noch ist der Glaube bereits ein symbolisch generalisiertes Medium.11 Auch im Rechtssystem ist kein eigenes Kommunikationsmedium aufzufinden, sondern das Recht ist letztlich auf politisch zentrierte Macht angewiesen und schließlich fehlt auch dem Erziehungssystem ein eigenes Medium, welches Erziehung und Ausbildung erleichtern würde. In diesen Systemen haben sich demgegenüber Professionen herausgebildet, die die Funktion des Systems auf der Handlungsebene auszufüllen versuchen. Während Kommunikationsmedien die präferierte Seite der binären Codes besetzen und für deren Annahme über einfache ja/nein-Entscheidungen votieren, scheinen im Erziehungs-, Rechtsund Religionssystem sowie im System der Krankenbehandlung die positiven Seiten der systeminternen Unterscheidungen die Aufgabe professioneller Arbeit zu sein, für die Überzeugungsarbeit geleistet werden muss. D. h. in Systemen mit Kommunikationsmedium wie dem Wirtschaftssystem entscheidet man sich für die eine Seite der Unterscheidung (hier: Zahlungen) und wenn massenhaft gezahlt wird, läuft die systeminterne Autopoiesis weiter. In den Systemen des Quartetts aber muss die positive Seite der Unterscheidung professionell erarbeitet werden, indem Personen in Bezug auf diesen Wert hin verändert werden sollen. Im Gegensatz zu Organisationen ergänzen Professionen nicht die sym8 Gleichwohl existieren in Form von Liebe und Kunst zwei nicht technisierbare Kommunikationsmedien, die jeweils das Allgemeine am Besonderen (Subjekt bzw. Objekt) hervorheben und damit „auf gesicherte Systembildungsfähigkeit“ verzichten müssen (Luhmann 1997b, S. 368). Während es im System Familie gegenüber jedem anderen Sozialsystem um die ganze Person geht bzw. gehen kann, ist das Problem im Kunstsystem, dass kommunikative Anschlussfähigkeit und Medienbildung an beiden Seiten der binären Leitunterscheidung ansetzen können. 9 Mit Ausnahme des Systems Familie: Dieses ist das einzige Funktionssystem, das ohne Organisation auskommt, und vielleicht ist das einer der Gründe, warum hier der ganze Mensch als Thema kommuniziert werden kann. 10 Vgl. dazu bereits Luhmann 1981, S. 97; 1988, S. 304; 1997b, S. 407. 11 Dazu Luhmann 1977; 2000. Vgl. dazu mit Gegenargumenten aus theologischer Sicht Dinkel 2000, S. 89ff. Allerdings wird hier der Glaube als Medium explizit auf die christliche Religion protestantischer Prägung zugespitzt, so dass es dann nicht das Medium des weltweit ausdifferenzierten Religionssystems sein kann, sondern – wenn überhaupt – das eines seiner Segmente.
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bolisch generalisierten Medien, sondern fungieren zumindest in den Systemen des Quartetts als deren Ersatz.
3 Wie in den medienbasierten Systemen Familie und Kunst ist auch in den Funktionsbereichen Erziehung, Krankenbehandlung, Religion und zumeist auch im System des Rechts aufgrund deren funktionaler Ausrichtung auf Inklusionsprobleme die Technisierbarkeit der jeweiligen binären Leitunterscheidung nicht gewährleistet. In den Systemen des Quartetts fungieren professionelle Praktiker als Vermittler zwischen den beiden Seiten der Unterscheidungen. Darauf hatte bereits Niklas Luhmann in seinen frühen rechts- und religionssoziologischen Studien sowie in einem unveröffentlicht gebliebenen Manuskript zur professionellen Arbeit im Erziehungssystem hingewiesen (siehe etwa Luhmann o. J.). Aufgrund der Nicht-Technisierbarkeit der Codierung in den Funktionsbereichen Religion, Erziehung und Krankenbehandlung müssen hier professionelle Praktiker zwischen den beiden Seiten der Unterscheidung wie z. B. krank/ gesund oder gebildet/ungebildet vermitteln und für die Annahme der einen Seite der Unterscheidung Überzeugungsarbeit leisten.12 Der Professionelle bietet in diesem Sinne für das Differenzproblem Lösungswege an, kann aber das Erreichen des positiven Wertes nicht mit Sicherheit garantieren. Denn die professionelle Praxis, in der es ja immer um Personen geht, in die man nicht hineinschauen kann und die immer auch anders reagieren können, als sich das der professionelle Praktiker vorgestellt hat, ist weitgehend durch ein Technologiedefizit (vgl. Luhmann/Schorr 1982), und damit mit Ungewissheitshorizonten belastet. In diesem Sinne hatte Luhmann bereits in diesen frühen Schriften angedeutet, dass Professionen nicht in allen gesellschaftlichen Teilbereichen ausdifferenziert werden können, sondern nur in solchen, in denen die Arbeit an individuellen Personen den Kernbestand des Funktionssystemgeschehens ausmacht. Neben dem Fehlen eines symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums und dem funktionalen Äquivalent einer Profession sind die Systeme des Quartetts und ihre Professionen aber noch durch einige weitere Besonderheiten gekennzeichnet: So wird etwa der besondere Wissenskorpus dieser Funktionssysteme auf der Handlungsebene jeweils durch eine Leitprofession verwaltet, die gegenüber den anderen im Kontext des Systems arbeitenden Berufen eine Kontroll- und Delegationsfunktion einnimmt (vgl. Stichweh 1996). Während es etwa in der Frühen Neuzeit noch kein exklusives Heilungsmonopol gab, son12 Die Intensität der Überzeugung kann nun aber in den Fällen professioneller Intervention reduziert werden, bei denen es um Formen lebensgeschichtlicher „Krisenbewältigung“ (Oevermann 1996) geht, da hier das Interesse des Klienten an der Hilfeleistung vorausgesetzt werden kann.
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dern eine Vielfältigkeit an Angeboten auf dem Gesundheitsmarkt vorherrschte, die im Wesentlichen gleichgewichtig von den drei Berufsgruppen der gelehrten Ärzte, der handwerklichen Barbierchirurgen und der Scharfrichter erbracht wurden13, hat dann im 19. Jahrhundert die deutsche Ärzteschaft das Definitionsmonopol in der Frage, wer in der Gesellschaft als gesund und wer als krank zu gelten habe, erlangt.14 Rudolf Stichweh spricht in diesem Zusammenhang von den sogenannten „mono-professional function systems“ (vgl. Stichweh 1997), in denen die Einheit des Systems durch nur eine Berufsgruppe symbolisiert wird.15 Professionen übernehmen so die Binnenperspektive der jeweiligen Funktionssysteme und thematisieren auf der Handlungsebene deren Inklusionsproblematiken.16 Die vier Professionen verwalten dabei eine Form von Wissen, „which is an essential component of the European tradition of science and which furthermore, as an action oriented knowledge system on scientific foundations (i. e. as dogmatics), is fundamental for professional action in the respective function system“ (Stichweh 1997, S. 97). Das Wissen, auf das sich die Professionen in ihrer Arbeit beziehen ist im Wesentlichen das Wissen der Systeme in deren Kontext die Professionen operieren17, Pädagogik, Medizin, Jurisprudenz und Theologie sind Selbstbeschreibungen der Systeme Erziehung, Krankenbehandlung, Recht und Religion. In Bezug auf die Ausdifferenzierung der Funktionssysteme Erziehung, Krankenbehandlung, Recht und Religion und der kommunikativen Anschlussfähigkeit in diesen Systemen kann zuerst einmal in Anlehnung an Luhmanns Überlegungen zum Erziehungssystem Interaktion als der grundlegende Mechanismus bestimmt werden.18 Da die monoberuflich operierenden Funktionssysteme sich 13 Vgl. etwa zur Funktion des Heilens der letzteren Gruppe – der Henker – die aufschlussreichen Ausführungen von Wilbertz 1999. 14 Siehe Huerkamp 1980. Abgeschlossen wurde dieser Prozess zum Beispiel in Deutschland/Preußen letztendlich per Gesetz vom 8. Oktober 1852, mit dem die dominante Stellung der wissenschaftlich ausgebildeten akademischen Ärzte und die Subordination von anderen Berufen im Gesundheitswesen gefestigt worden ist; siehe dazu Wehler 1995, S. 736ff. 15 Eine solche „Autorfunktion“ zur Ausdifferenzierung und Garantie des Erhalts eines Funktionssystems ist im Übrigen – wie Corti (1999) gezeigt hat – auch ein wesentliches Merkmal der Systeme Kunst und Wissenschaft gewesen. Corti führt im Weiteren aus, dass diese beiden Systeme zu ihrem Fortbestehen immer weniger der Autorfunktion bedürfen. Weiter unten werden wir analog dazu auch die abnehmende Bedeutung von Professionen für die Funktionssysteme des Quartetts skizzieren. 16 Inklusion bedeutet dabei im Gegensatz zu anderen Systemen nicht nur Teilhabe von Personen an sozialer Kommunikation, sondern zugleich auch eine Veränderung der Person des Klienten über pädagogische, medizinische, religiöse und – reduziert auf die konflikttherapeutischen Aspekte – auch juristische professionelle Betreuung. 17 Im Entstehungsprozess der modernen wissenschaftlichen Universität in Europa wird die disziplinäre Rangordnung umgedreht: Im Verlauf dieses Prozesses werden die ehemals die Struktur der vormodernen europäischen Universität dominierenden oberen Fakultäten (Theologie, Recht und Medizin) zu anwendungsbezogenen Disziplinen der neuen Wissenschaften (vgl. Stichweh 1987). 18 Vgl. Luhmann 2002, S. 122. Im Erziehungssystem, so formuliert Luhmann (1991a, S. 20), gibt es z. B. „keine Technologie, die es ermöglichen könnte, Kommunikation gegen die Strukturen des Interaktionssystems zu differenzieren und weitgehend unabhängig von ihnen laufen zu lassen“.
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nicht über ein symbolisch generalisiertes Erfolgsmedium die Anschlussfähigkeit ihrer Kommunikation sichern können, sind sie auf das funktionale Äquivalent der Interaktion unter Anwesenden angewiesen. Die Form der Inklusion aller vier Systeme muss darauf reagieren, dass aufgrund der Interaktionsabhängigkeit der zu bearbeitenden Probleme nicht nur über die Person, sondern auch über die anwesenden und von beiden Seiten wahrgenommenen Körper disponiert werden muss. Aber dadurch, dass in diesen Systemen die Interaktion zwischen Professionellem und Klienten eine besonders wichtige Rolle für die Annahme der positiven Seite des Codes spielt, wird zugleich ein Faktor von Unsicherheit zum konstitutiven Bestandteil des Funktionssystemgeschehens. Die professionell organisierte Arbeit in Interaktionssituationen ist geradezu darauf angewiesen, die Türen gegenüber anderen Werten geschlossen zu halten.19 Aufgrund der Interaktionsabhängigkeit der professionellen Arbeit wird diese besonders komplex und kann nicht einfach in der Art von Technologien gelöst werden. Und da die professionelle Interaktion dabei auf kein eigenes symbolisch generalisiertes Medium zurückgreifen kann, welches die Annahmebereitschaft der Kommunikation erleichtern würde, zeichnet sich hier die Kommunikation unter Anwesenden auch eher aus durch Komplexitätssteigerung in Form von eindeutigem vs. mehrdeutigem Vokabular (Kieserling 1999, S. 147), taktvoller bzw. paradoxer Kommunikation, bei der nicht alles mitkommuniziert wird (Luhmann 1996) und vagabundierender Kommunikation (Fuchs 1992, S. 125f.).
4 Wenn man die aktuelle Situation betrachtet, dann zeigt das hier skizzierte Idealbild gleichwohl einige Risse: Wenn die Beobachtungen nicht täuschen, dann scheint es so zu sein, dass sich die besondere Form Profession in den Systemen unseres Quartetts aufzulösen beginnt und wir dort – ähnlich wie in den Systemen, deren Wissensbasierung nie durch eine einzelne Berufsgruppe verwaltet werden konnte – eine heterogene und pluralisierte Berufsstruktur vorfinden. Gleichwohl gewinnt damit nicht eine andere Berufsgruppe eine dominierende Position in den Systemen, eher lässt sich beobachten, dass sich das Handlungswissen der Systeme immer mehr als Form organisierten Wissensmanagements in den Organisationen ablagert, in die die unterschiedlichen Leistungsrollen einsozialisiert werden. Aber es lassen sich in den Systemen unseres Quartetts auch noch weitere gewichtige interne Veränderungen feststellen, die ich im Folgenden noch kurz anreißen möchte, ohne dabei allerdings auf Vollständigkeit zu achten. 19 Vgl. dazu Kieserling (1999, S. 82), der die Beschränkung der Kommunikation in Interaktionssystemen auf zwei Werte unter Ausschluss weiterer Werte als „Zumutung“ für die Anwesenden beschreibt.
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So wird heute in den Systemen Erziehung, Krankenbehandlung, Recht und Religion etwa die professionelle Arbeit immer mehr durch Verbreitungsmedien wie Fernseher und Computer beeinflusst, mit der Folge, dass die Professionen langsam ihre ehemals herausgehobene Bedeutung für das Kommunikationsgeschehen dieser Funktionssysteme verlieren. Man kann dann nach dem Bildungswert des Internet oder aber nach dem Sinn einer Beichte mit Beichtprogrammen und einer Selbstmedikamentation mit medizinischen Ratgebern fragen. Im Kontext des Rechtssystems kann man z. B. seit einiger Zeit Rechtsberatung rund um die Uhr per Telefon von Teleanwälten erhalten. Medizinische Call-Center haben sich nicht nur in Großbritannien, Schweden und den USA etabliert, sondern auch in der Schweiz sind seit kurzem die virtuellen Arztpraxen im Kommen.20 Und in den USA lernen schon mehr als eine Million Kinder zu Hause vor dem Bildschirm und verzichten ganz auf die professionalisierte Leistungsrolle des Lehrers und die Organisation Schule. Computer-Lernprogramme in Verbindung mit der Betreuung der Kinder durch einen Elternteil sind eine Alternative zu den teuren Privatschulen, wobei der steigende Zulauf zum Home-schooling wie auch zu den Privatschulen eine Reaktion auf die großen Probleme der öffentlichen Schulen in den USA ist – wie etwa dem Gewaltproblem. Das deutsche Segment des Erziehungssystems zeigt sich im Augenblick noch resistent gegenüber diesen Tendenzen, denn hier gibt es nicht nur eine Unterrichtspflicht wie in anderen europäischen Staaten, sondern die Schulpflicht.21 Allgemein kann man etwa im Bildungsbereich feststellen, dass mit dem Aufkommen der neuen Medien das selbstorganisierte Lernen immer mehr an Einfluss gewinnt.22 Und im System der Krankenbehandlung zeigt sich zudem in Zusammenhang mit der Entwicklung der bildgebenden Diagnostik von der Erfindung der Röntgenstrahlung 1895 bis zur computergestützten Visualisierungstechnik des „Magnetic resonance imaging“ auch ein dahingehender Wandel, dass das ärztliche Körperverständnis sich immer weiter von der realen Physis zu entfernen scheint (vgl. Gugerli 1999). Tendenziell lässt sich an diesen Beispielen ablesen, dass in den Funktionsbereichen unseres Quartetts die Interaktionsabhängigkeit der kommunikativen Operationen des Systems in Bezug auf die Problembearbeitung von Personen teilweise aufgeweicht wird. Obwohl 20 Siehe dazu etwa den Artikel „Arztbesuch per Anruf oder per Mausklick? Chancen und Risiken von virtuellen Arztpraxen“ in der Neuen Zürcher Zeitung (2001, S. 15). „Durch die neuen Technologien verändert sich der Umgang mit der Gesundheit, und damit verändern sich auch die Berufsfelder.“ 21 Wie man nun aber die Ausweitung des Home-schooling bewertet ist eine offene Frage, schließlich kann diese für viele Frauen in Sachen Gleichberechtigung ein Schritt zurück sein, denn die zu Hause am Computer lernenden Kinder müssen beaufsichtigt werden, und das geschieht in der Regel immer noch durch die Mütter. 22 Vgl. dazu Kade/Lüders 1996. Man sollte hier aber darauf verweisen, dass die Wissensvermittlung ohne eine pädagogische Leistungsrolle keine Erfindung der modernen Wissensgesellschaft ist. Siehe etwa zur Frühgeschichte der pädagogischen Wissensvermittlung am Beispiel des sogenannten Volkskalenders bei der Popularisierung des Wissens Giess 1999.
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wechselseitige Wahrnehmung zwischen Experten und Klienten bisher noch weitgehend die Situation der professionellen Arbeit beschreiben, scheint sich hier doch eine dies umkehrende Tendenz anzudeuten. Aber es lassen sich auch noch andere interne Veränderungen benennen, wie etwa der tendenzielle Wandel in der besonderen asymmetrischen Beziehung zwischen der professionellen Leistungsrolle und der komplementären Klientenrolle. Noch bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts dominierten aufgrund von Herkunft die Patienten die Beziehung zum Arzt (vgl. dazu etwa Waddington 1978). Und heute kann man Beispiele finden, wo sich das asymmetrische Verhältnis zwischen Arzt und Patient teilweise aufgrund der Variable Wissen wieder zugunsten des Publikums umdreht, man spricht dann nicht mehr von den eingebildeten Kranken, sondern von den gebildeten Kranken (und Gesunden). So hat sich das Arzt/Patient-Verhältnis schon aus dem Grunde verändert, weil immer mehr Patienten das Netz für Gesundheitsinformationen konsultieren, nach in ihrem Land nicht erhältlichen Therapien verlangen und sich noch nicht zugelassene Arzneien in der Internet-Apotheke besorgen. Aber darüber hinaus existieren bereits Patientenorganisationen in Form von medizinischen Selbsthilfegruppen, die in den USA schon als neue Macht im Gesundheitswesen angesehen werden, die bei außergewöhnlichen und wenig erforschten Krankheiten Patienten mit den neuesten wissenschaftlichen Forschungsergebnissen versorgen und Mediziner vermitteln, die sich auf diese Krankheiten spezialisiert haben bzw. als Berater der anderen Ärzte auftreten. Das kann so aussehen, dass die Patientenorganisationen medizinische Forschungsprojekte finanzieren, oder aber auch, dass sie gleich selbst forschen. Erste Reaktionen der Politik zu diesen Tendenzen kann man jetzt aktuell in Großbritannien beobachten, wo das Gesundheitsministerium plant, das Wissen und die Erfahrungen der Patienten mit chronischen Erkrankungen systematisch in das System der Krankenversorgung einzubeziehen. Aber auch in den anderen Funktionsbereichen lassen sich gravierende Veränderungen markieren: Im Religionssystem existieren neue religiöse Bewegungen, die ohne eine professionalisierte Leistungsrolle auskommen, bzw. wo sich wie etwa in der Christian Science die Leistungsrolle auf Zeit aus dem Publikum rekrutiert. In der wissenschaftlichen Weiterbildung wie auch in anderen Formen der Weiterbildung stehen den Experten erfahrene Praktiker gegenüber. Und Schüler sind im Umgang mit Computern oftmals sehr viel kompetenter als ihre sie unterrichtenden Lehrer. Im Rechtssystem schließlich beobachten wir die privaten Schiedsgerichte, deren Leistungsrollen nicht ausschließlich aus ausgebildeten Juristen bestehen müssen.23 Diese Beispiele zusammengenommen können wir gleichwohl nicht davon ausgehen, dass sich die jeweiligen Struktur23 Deren Entscheidungen sind zwar bereits seit 1958 in der Folge eines Abkommens der Vereinten Nationen in rund 130 Staaten der Welt anerkannt und auch vollstreckbar, aber seit noch nicht allzu langer Zeit nimmt auch ihre Bedeutung rapide zu. Der Grund dafür ist relativ einfach, private Zivilgerichte sind schneller, billiger und die entschiedenen Fälle können nicht wie im Instanzenzug der klassischen Justiz wieder aufgerollt werden.
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unterschiede des Wissens zwischen den sozialen Typen des Experten und des Laien (dazu Sprondel 1979) aneinander angleichen werden, sondern eher davon, dass sich hier neue Experten bilden, dass also aus einigen Laien Experten werden. Darüber hinaus lässt sich ganz generell in der Wissensgesellschaft eine Erosion der exklusiven Kontrollierbarkeit von Wissensbeständen beobachten. Die beinahe grenzenlose Mobilisierbarkeit von Wissen durch technische Verbreitungsmedien verhindert ein Abschließen professionellen Wissens vor dem Zugriff durch Laien. Die mediale Mobilisierbarkeit professionellen Wissens entzaubert es gleichsam, macht es in unkontrollierbarer Weise kritikanfällig und lässt damit das gesellschaftliche Vertrauen in die Professionen schwinden (siehe Vollmer 2003). Zusammenfassend ist es zuerst einmal unbestritten, dass Professionen aufgrund der Interaktionsabhängigkeit der gesellschaftlichen Funktionsbereiche unseres Quartetts bei deren Ausdifferenzierung eine unterstützende Rolle eingenommen haben. Genauso unbestritten muss aber heute mit der Ausdifferenzierung weiterer, sich nicht den Leitprofessionen unterordnenden Berufsgruppen im Kontext dieser Systeme, der Veränderungen der Beziehungen von Experten und Klienten sowie auch der Ausdifferenzierung von die Kommunikation leitenden Medien ein Schwinden der ehemals herausgehobenen Stellung der Professionen in diesen Funktionssystemen verzeichnet werden. Natürlich haben Ärzte, auch wenn ihnen von außen das Budget gekürzt wird, immer noch das Definitionsmonopol für die Frage wer gesund und wer krank ist und Recht wird immer noch von Richtern gesprochen. Gleichwohl fällt aber auf, dass die Form der multiprofessionellen und multidimensionalen Problembearbeitung von und für Personen, wie wir sie etwa im System der Sozialen Hilfe vorfinden, eine Tendenz andeutet, auf die sich auch die Funktionssysteme Erziehung, Krankenbehandlung, Recht und Religion hinzu bewegen (siehe Kurtz 2004b). Wie die Berufsgruppen im Kontext der Sozialen Arbeit operieren auch Juristen, Mediziner, Pädagogen und Theologen mehr und mehr in Organisationen, die nicht dem Funktionsprimat des eigenen Systems folgen und handeln damit im Kontext unterschiedlicher gesellschaftlicher Leitunterscheidungen. Und genau dabei handelt es sich um das Zeichen einer Auflösung der gesellschaftlichen Form Profession, die sich von der Zweiwertigkeit der Funktionssysteme entfernt. Obgleich auf einer handlungstheoretischen Ebene immer noch eine hohe Relevanz von Professionalität für die Problembearbeitung von und mit Klienten zu verzeichnen ist, können einzelne Professionen auf einer kommunikations- und gesellschaftstheoretischen Ebene nicht mehr das entlang von binären Unterscheidungen ausgerichtete Kommunikationsgeschehen von Funktionssystemen dominieren und die Einheit eines solchen Systems symbolisieren.24 24 Und genau das konnte überhaupt nur für eine gewisse Zeit in den vier hier bezeichneten Systemen geschehen, weswegen ich von einem Quartett spreche und nicht von einem Quintett, Sextett usw. Weder kann man hier das System der Sozialen Hilfe dazurechnen noch die Berufsgruppe der Werbefachleute. Der Grund, warum das Funktionssystem der Sozialen Hilfe
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An dieser Stelle müssten jetzt Untersuchungen ansetzen, die danach fragen, was denn das Aufbrechen der Form Profession, die als Äquivalent zu einem Kommunikationsmedium gedient hat, für die Zukunft der vier Systeme bedeutet. Entstehen jetzt also als Ersatz für den Bedeutungsverlust der Professionen in den Systemen neue symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien? Das kann man mit guten Argumenten bezweifeln, denn die Medien können dabei in diesen Systemen nicht nur die positive Seite der systembestimmenden Leitunterscheidung markieren, sondern müssten auf der Programmebene der Systeme operieren, wo es um einen Einbezug der Umwelt, um die Offenheit der geschlossen operierenden Systeme geht.
5 Mit den vorhergehenden Ausführungen sind die sich wandelnden Besonderheiten der Systeme Erziehung, Krankenbehandlung, Recht und Religion gegenüber den anderen Funktionssystemen der Gesellschaft bezeichnet, aber die Frage bleibt offen, ob denn das Erziehungssystem innerhalb dieses Quartetts gesellschaftlicher Funktionen eine besondere Rolle einnimmt, mit der es sich von den anderen drei Systemen abgrenzt. Um dieser Frage nachzugehen, kommen wir noch einmal auf das Fehlen eines besonderen symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums zurück. Dirk Baecker hat an dieser Stelle Intelligenz als ein solches Medium des Erziehungssystems beschrieben.25 Ich selbst jedenfalls bin dabei noch am Zweifeln, ob Intelligenz wirklich als ein symbolisch generalisiertes Medium für alle Prozesse der Erziehung ausformuliert werden kann und vor allem: ob dieses Medium wie die anderen bekannten Kommunikationsmedien an der positiven Seite der das System bestimmenden Leitunterscheidung ansetzt, oder ob es sich nicht eher – da eng an Personen gebunden – als eines unter mehreren Medien in der Programmebene des Erziehungssystems findet.26 Wie dem auch sei, wenn man Intelligenz als symbolisch generalisiertes nicht in die Gruppe der Systeme Erziehung, Krankenbehandlung, Recht und Religion aufgenommen wird ist der, dass hier zum einen auf ein klares symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium zurückgegriffen werden kann und sich dabei zum anderen keine Leitprofession des Systems etablieren konnte (siehe dazu ausführlicher Kurtz 2004b). Und bei der Werbung handelt es sich zum einen nicht um ein Funktionssystem der Gesellschaft, sondern um eine Form der strukturellen Kopplung zwischen dem System der Massenmedien und dem Wirtschaftssystem. Und zum anderen geht es bei der personenverändernden Tätigkeit von Werbefachleuten um alles andere als dazu diesen Personen zu helfen, sondern die angestrebte Veränderung ist hier eher das Mittel zum Zweck des Verkaufens. 25 Siehe Dirk Baecker, Erziehung im Medium der Intelligenz, in diesem Band. 26 Für Baecker ist dabei Wissen/Nichtwissen der binäre Code des Kommunikationsmediums Intelligenz, die interessante Frage ist nun aber, ob dies auch der Code des Erziehungssystems sein kann. Ich vermute eher nicht, denn in diesem System geht es nicht nur um die Vermittlung und Aneignung von Wissen, sondern zudem immer auch die von Werten. Und so lässt die Reduzierung auf Wissen denn auch eher an ein System der Ausbildung und Qualifizierung denken, als an eines der Bildung und Erziehung. In eine ähnliche – auf den Wissensaspekt zielende – Richtung wie Baecker argumentiert auch Jochen Kade (siehe seinen Beitrag in diesem
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Medium des Erziehungssystems akzeptiert, könnte man sich auf die Suche begeben nach solchen möglichen Medien in den Systemen Krankenbehandlung, Recht und Religion und hätte bei fehlgeschlagener Suche eine Besonderheit des Erziehungssystems gegenüber diesen drei Systemen gefunden, was dann aber einen der wesentlichen Unterschiede zu den übrigen Funktionssystemen der Gesellschaft aufheben würde. Ich werde mich jetzt nicht auf eine solche Suche begeben, sondern weiter unten ansetzen. Die Aussage, dass es in den Systemen des Quartetts keine symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien für systeminterne Anschlussoperationen gebe, schließt das Vorhandensein anderer Medien natürlich nicht aus. Auch in den Systemen, die ohne ein solches Kommunikationsmedium auskommen müssen, muss es Medien geben, die sich zur Formbildung eignen. Zu denken wäre dabei etwa an Vertrauen als Interaktionsmedium im Sinne Talcott Parsons (1978). Allerdings lässt dieses Medium nicht das jeweilige Funktionssystem binär unterscheiden, sondern trägt nur zur Anschlussfähigkeit in der professionellen Interaktion bei, indem das Interaktionssystem durch den vom Klienten gewährten Vertrauensvorschuss am Leben gehalten wird. Aber auch diese Bestimmung von Expertisevertrauen als Medium der professionellen Interaktion wird heute zunehmend problematischer, wenn man sich die vermehrt zu Tage tretenden Anzeichen einer Erosion dieses Vertrauens vor Augen führt. Offensichtlich wird heute den Professionen immer weniger Vertrauen entgegengebracht, und das umso mehr, als etwa die Massenmedien über deren Fehler – wie das Auslösen von iatrogenen Erkrankungen durch medizinische Interventionen – berichten. Einem Vorschlag der neueren Systemtheorie folgend könnte man aber auch Personen27 oder die Konstruktion von Klienten28 als Medium der Funktionssysteme annehmen. Bei dieser Konstruktion des Publikums werden keine ganzen Menschen involviert, sondern von den Systemdynamiken des jeweiligen Einzelmenschen abstrahierende Personen (vgl. Luhmann 1991b), was insbesondere in professionellen Kontexten deutlich wird, in denen weniger der ganze Mensch als vielmehr sein spezifisches Problem interessiert.29 Dieser systemhafte ProBand), wenn er in Anlehnung an Luhmann den Lebenslauf als Medium für Formbildungen im Erziehungssystem interpretiert und diesen abstützt durch zwei Kommunikationsmedien: Wissen und Zertifikate. Luhmann selbst hatte an dieser Stelle – wie oben ausgeführt – nicht von Kommunikationsmedien gesprochen, sondern von einer doppelten Codierung im Erziehungssystem: von Kommunikation und Selektion. Aber auch hier (bei Kade) kann man sich fragen, ob wir es dabei mit symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien zu tun haben, die die Anschlussfähigkeit der Kommunikation erleichtern oder nicht doch eher mit sogenannten Heider-Medien – also lose gekoppelten Elementen, die sich zu festen Kopplungen (Formbildungen) fügen können. Denn das Wissen wird ja nicht einfach über ja/nein-Entscheidungen angeeignet/nichtangeeignet, sondern dies erfordert professionelle Überzeugungsarbeit. Und die Zertifikate – bei denen man schon eher von einem Kommunikationsmedium ausgehen kann – machen die Aneignung beziehungsweise Nichtaneignung von Wissen zur Voraussetzung. 27 Vgl. Luhmann (1991a) am Beispiel des Erziehungssystems. 28 Vgl. Fuchs/Schneider (1995) am Beispiel der Sozialen Arbeit. 29 Vgl. dazu etwa Olk (1986, S. 155). Zur Frage, wie der Experte diese Probleme erkennt und richtig deutet lassen sich etwa am Beispiel der ärztlichen Tätigkeit im Übergang zum 20. Jahr-
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blemausschnitt des Menschen verweist auf die zu verändernden Personen, die hier codiert werden: kranke Personen, die geheilt werden sollen; noch nicht oder wenig gebildete Personen, denen über Wissensvermittlung Bildung oder Lernfähigkeit nahegebracht werden soll. Ähnlich sieht das im Rechts- oder im Religionssystem aus, wobei dort zudem auch noch die Kommunikation selbst codiert werden zu können scheint. In dieser Perspektive setzt professionelle Arbeit am Medium des Klienten (also dem jeweiligen Problemausschnitt Person) an und versucht diesen bei der Bewältigung kritischer Lebensereignisse retrospektiv (Recht, Religion, Gesundheit), aber auch prospektiv auf das Leben vorbereitend (Erziehung) zu unterstützen, womit wir hier eine erste Besonderheit der Erziehung gegenüber den anderen drei Funktionen vor uns haben. Während man gewöhnlich erst zum Arzt geht, wenn man Schmerzen oder andere ungewöhnliche Symptome bei sich bemerkt, wird das einzuschulende Kind nur selten als Mangelwesen interpretiert, dem durch Schulbildung abzuhelfen sei, ja zumeist entstehen die Probleme erst im Laufe der Schulkarriere. In einer seiner letzten Arbeiten hat Niklas Luhmann nun aber noch einen weiteren Vorschlag unterbreitet, welcher Art solch ein Medium sein könnte. Für das ausdifferenzierte Erziehungssystem begründet er den „Lebenslauf als das allgemeinste Medium (...) mit sehr unterschiedlichen Ausprägungen (oder Untermedien) je nach dem, ob es sich um Kinder oder um Erwachsene handelt“ (Luhmann 1997a, S. 18). Gegenüber der Biographie umfasst der Lebenslauf Vergangenheit und Zukunft, wobei letztere als noch unbeschriebene Seite Veränderbarkeit ermöglicht (vgl. Luhmann 1997a, S. 17f.). Dieter Lenzen hat diesen Luhmannschen Vorschlag aufgenommen und ihn insofern erweitert, als er die Humanontogenese und den Lebenslauf als die zwei Seiten eines Systemcodes gegenüber stellt (vgl. Lenzen 1997). Die Humanontogenese fungiert dabei als der positive, sich über lose Kopplung einmalig selbst organisierende Wert. Der Lebenslauf auf der anderen Seite symbolisiert den aufgrund seiner sozialen Normierung fest gekoppelten negativen Wert, der, so können wir hinzufügen, in Form von professioneller Intervention unterstützend begleitet werden muss. Luhmann selbst beschreibt dabei, wie aus dem über die Massenmedien transportierten gesellschaftlich allgemein verwendbaren „Medium der Personwahrnehmung ein besonderes Medium des Erziehungssystems werden kann“ (Luhmann 1997a, S. 25), ein Medium der Personwahrnehmung, das sich im Übrigen auch für die anderen Systeme, in denen es um die Problembearbeitung von Personen geht, zu eignen scheint. Die unterschiedlichen Berufsgruppen in den Systemen unseres Quartetts arbeiten alle am Medium der Person beziehungshundert interessante Veränderungen beobachten. Bis ins 19. Jahrhundert hinein wurden ärztliche Diagnosen und Prognosen fast ausschließlich auf der Basis von Erzählungen der Patienten gestellt (vgl. Stollberg 1997), mit der Folge, dass polysemische Krankheitsdefinitionen geradezu an der Tagesordnung waren. Mit der Einführung von messenden Verfahren aber wie Fiebermessung und Blutdruckmessung setzte, wie Hess (1997) anschaulich ausführt, ein fundamentaler Wandel ein: Statt wie ehedem der Kranke, redet nun das medizinische Instrument zum Arzt über die Krankheit. Der Arzt ist nun in der Lage unabhängig vom subjektiven Empfinden des Patienten eine Diagnose über dessen Gesundheitszustand zu stellen.
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weise seinem Lebenslauf, aber für jedes dieser Systeme erscheint die Person mit einem anderen Ausschnitt, so dass das Medium eine andere Formung erfordert. Und genau an dieser Stelle könnte man auf den ersten Blick einen bedeutenden Unterschied zwischen dem System der Erziehung und den anderen drei Systemen markieren: Während es in den Systemen Krankenbehandlung, Recht und Religion zumeist darum geht, die Fehler der schon beschriebenen Seite des Lebenslaufs durch professionelle Intervention zu beheben, geht es im Erziehungssystem um eine Intervention in die noch unbeschriebene Seite. Aber dieser Unterschied besteht nur vordergründig, bei genauerer Betrachtung kann man – jedenfalls in der heutigen Gesellschaft – deutliche Überschneidungen sehen. Dass Erziehung an der unbeschriebenen Seite des Lebenslaufs ansetzt ist entweder eine historische Beobachtung der Zeiten, in denen man noch von einem Abschluss von Erziehung und Ausbildung sprechen konnte oder eine Beobachtung des frühkindlichen Anfangs. Aber sobald Kinder erzogen werden, müssen weitere Erziehungsmaßnahmen an den bereits beschriebenen Lebensläufen ansetzen und zum Beispiel in der Schule versuchen, familiär bedingte Unterschiede in Bezug auf das kulturelle Kapital zu minimieren.30 Wenn man dann noch davon ausgeht, dass die zu erziehenden erst einmal geboren werden müssen, dann setzen natürlich auch noch andere Systeme am Unbeschriebenen des Lebenslaufs an, man mag dabei an das Gesundheitssystem denken31 oder aber – wenn es um Schichtungsfragen geht – an das Sozialsystem Familie. Die Antwort auf die Frage nach der sich wandelnden Sonderstellung des Erziehungssystems im Club der Funktionssysteme der Gesellschaft hat zwei Seiten: Das Ziel der kommunikativen Anschlussfähigkeit ist die Formung personaler Lebensläufe, wobei der professionellen Arbeit in Interaktionssystemen eine besondere Rolle beigemessen werden muss. Damit grenzt sich das Erziehungssystem gegenüber anderen gesellschaftlich ausdifferenzierten Funktionen ab, es teilt aber zugleich diese Besonderheit mit drei anderen Funktionssystemen der Gesellschaft und kann somit als Teil eines Quartetts gesellschaftlicher Funktionen interpretiert werden. Gegenüber den anderen drei Systemen des Quartetts grenzt sich das Erziehungssystem allerdings nur in Nuancen ab. Wenngleich heute etwa auch Gesundheits- und Rechtsvorsorge immer bedeutender werden, scheint der wesentliche Unterschied zwischen der Erziehung und den anderen drei Funktionen der zu sein, dass Erziehung nicht nur sukzessive ansetzt, sondern eigentlich zu einer permanenten Formung von Lebensläufen beiträgt. Man könnte hier natürlich die Besonderheit bestreiten, denn auch die Religion fungiert in gewisser Weise wie die Erziehung als ständiger lebenslanger Begleiter, dies allerdings nur für einen – zur Zeit immer weiter sinkenden – Teil der Bevölkerung: für diejenigen, die glauben. Das Erziehungssystem unterscheidet sich also von den anderen Systemen, aber es nimmt dabei keine herausragende 30 Siehe dazu kritisch etwa Bourdieu/Passeron 1964; 1970. 31 Wobei man dabei natürlich fragen kann, was denn der normale Vorgang der Geburt mit Krankheit zu tun haben soll; siehe dazu und zu anderen Beispielen im Gesundheitssystem die Studie Krankheit als Erfindung von Lenzen 1991.
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Erziehung in der Umwelt des Erziehungssystems. Funktionale Äquivalenzen zwischen Erziehung und Werbung ErziehungHellmann Kai-Uwe in der Umwelt des Erziehungssystems
In „Reflexionsprobleme Kai-Uwe Hellmann im Erziehungssystem“ beschäftigten sich Niklas Luhmann und Karl Eberhard Schorr mit einer Reihe von Problemen, die das Funktionssystem „Erziehung“ mit der Reflexion einer Reihe von Systemproblemen hat, die das Erziehungssystem schon seit Beginn seiner Entstehung beschäftigen.1 Bezogen auf die drei Sinndimensionen, von denen die Systemtheorie durchweg ausgeht, sind dies in sachlicher Hinsicht Probleme bei der Reflexion des Problems der Autonomie des Erziehungssystems, in zeitlicher Hinsicht Probleme bei der Reflexion des Problems der Funktionserfüllung, das sogenannte Technologiedefizit des Erziehungssystems, und in sozialer Hinsicht Probleme bei der Reflexion des Problems der Vereinbarkeit von Gleichheitsanspruch und Selektionsbedarf, dem sich das Erziehungssystem unausweichlich ausgesetzt sieht. (1) Bei der Autonomieproblematik geht es um die gesellschaftsweite Eigenständigkeit des Erziehungssystems: Wie lautet die zentrale Problemstellung, die das Erziehungssystem exklusiv für sich in Anspruch nehmen kann? Sofern es bei Erziehung darauf ankommt, im Unterschied zur Sozialisation eine Veränderung von Personen zu bewirken, die mit Absicht verfolgt wird, stellt sich nämlich die Frage, ob und inwieweit sich eine solche Absicht tatsächlich nur dem Erziehungssystem zurechnen lässt. (2) Bei der Technologieproblematik geht es um die kommunikative Erreichbarkeit dieser Zielstellung: Wie kann allein durch Kommunikation erreicht werden, dass Personen sich ändern, wenn doch das, was sich dabei ändern soll, kommunikativ gar nicht erreichbar ist? Immerhin ist der eigentliche Bezugspunkt jeder Form von Erziehung das Bewusstsein der Personen, die erzogen werden sollen. Doch gerade das Bewusstsein bleibt für die pädagogische Kom1 Siehe Immanuel Kant in „Über Pädagogik“: „Das größte Problem der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang (Verhaltenssteuerung!) mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen kann. Denn Zwang ist nötig. Wie kultiviere ich aber die Freiheit bei dem Zwang?“ (zit. n. Blankertz 1974, S. 88).
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munikation als solches grundsätzlich unzugänglich, weil operational geschlossen, wodurch die ihr zugrunde liegende Teleologie in schwerwiegende Selbstrechtfertigungsprobleme gerät. (3) Bei der Kompatibilitätsproblematik geht es schließlich um das Dilemma von Gleichheit und Auslese: Wie kann der selbstgesetzte Anspruch, alle Personen, und sei es nur phasenweise, gleichermaßen und in gleichem Maße zu erziehen, aufrechterhalten werden, wenn es gleichzeitig gewisser Maßstäbe bedarf, um den konkreten Erziehungserfolg zu messen, was eine differenzierende und damit gerade ungleichheitserzeugende Wirkung für die betroffenen Personen bedeutet? Denn Gleichheit ist zwar erwünscht, Ungleichheit aber unvermeidlich – ein Dilemma, das partout nicht auflösbar erscheint. Sämtliche Reflexionsprobleme des Erziehungssystems, die Luhmann/Schorr in dieser Untersuchung ansprechen, resultieren aus solchen Dilemmata, die für sich gesehen wohl kaum zu lösen sind, weshalb sich das Erziehungssystem vor sehr ernstzunehmende praktische Probleme gestellt sieht. Vor allem jedoch erzeugt dieser Zustand einen erheblichen Reflexionsbedarf, dem das Erziehungssystem aber nur unzureichend nachkommt, so Luhmann/Schorr (1979). Fragt man vor diesem Hintergrund nach der behaupteten Sonderstellung des Erziehungssystems, wird diese weniger darin gesehen, dass im Rahmen der Systemtheorie Luhmanns nur dem Erziehungssystem derartige Reflexionsprobleme zugerechnet werden. Denn dieser Umstand kann eine Sonderstellung des Erziehungssystems nicht rechtfertigen, da kaum ein Funktionssystem dieser Aufgabenstellung auch nur halbwegs gerecht wird. Vielmehr dürfte es mit der besonderen Problemstellung des Erziehungssystems zu tun haben, das Bewusstsein von Personen mit Absicht ändern zu wollen, obgleich dies kommunikativ – im doppelten Sinne – kaum erreichbar ist, wenn dem Erziehungssystem eine solche Sonderstellung eingeräumt wird. Genau an diesem Punkt setzt der vorliegende Beitrag an, indem die von Luhmann und Schorr angesprochenen Probleme, denen sich das Erziehungssystem in sachlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht ausgesetzt sieht, darauf hin befragt werden, ob und inwiefern diese eine Sonderstellung des Erziehungssystems rechtfertigen. Dies geschieht zum einen im Vergleich mit anderen Funktionssystemen, zum anderen, weil Erziehung ja auch in der Umwelt des Erziehungssystems vorkommt, im Vergleich mit entsprechenden Entwicklungen in der sozialen Umwelt des Erziehungssystems. Exemplarisch wird hierfür Werbung herangezogen, wobei Werbung nur als Symptom für eine rasante, obgleich vernachlässigte Zunahme des Erziehungsbedarfs fungiert, dem sich die moderne Gesellschaft insgesamt aussetzt.2 Konkret wird dazu die Autonomieproblematik des Erziehungssystems diskutiert, da auch der Werbung eine erzie2 Ausschlaggebend hierfür dürfte vor allen Dingen „ein deutliches Vorherrschen kognitiver, adaptiver, lernbereiter Erwartungen“ in der sich ausbreitenden Weltgesellschaft sein, vgl. Luhmann 1975, S. 55. Alternativ könnte man auch von den Konsequenzen der Wissensgesellschaft sprechen, vgl. Luhmann 1997, S. 17.
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herische Funktion nachgesagt wird. Anschließend geht es um das Technologiedefizit des Erziehungssystems, mit dem die Werbung ebenfalls kämpft. Schließlich wird der Anspruch auf (phasenweise) Inklusion der Gesamtbevölkerung, den das Erziehungssystem für sich erhebt, kritisch hinterfragt. Denn es stellt sich die Frage, ob und inwieweit das Erziehungssystem überhaupt in der Lage ist, den kompletten, alle Personen einbeziehenden Erziehungsbedarf der modernen Gesellschaft vollständig abzudecken.
1. Die Zurechnung der Absicht, Personen zu ändern Spätestens seit „Soziale Systeme“ muss für jedes soziale System und damit auch für jedes Funktionssystem gezeigt werden können, dass es autopoietisch ist, sich also von sich aus rein kommunikativ zu (re-)produzieren vermag, damit es als ein „System“ gelten kann, das nicht bloß so bezeichnet wird, sondern auch wirklich da ist, unabhängig von einem externen Beobachter. Nur unter dieser Voraussetzung hat es Sinn zu sagen, dass es soziale Systeme gibt. Technisch gesprochen handelt es sich hierbei um die Annahme, dass soziale Systeme operational geschlossen sind, weil sie (nur) eigene, systemspezifische Operationen benutzen. Der Prototyp eines solchen operational geschlossenen Systems ist Wirtschaft, und die elementare Operation, der sich dieses System ausschließlich bedient, ist die Zahlung. „Die Wirtschaft besteht aus unaufhörlich neuen Zahlungen. Würden keine Zahlungen mehr erfolgen, würde die Wirtschaft schlicht aufhören, als ausdifferenziertes System zu existieren“ (Luhmann 1988, S. 52f.). Dementsprechend muss für jedes soziale System – mit besonderer Berücksichtigung der Funktionssysteme – eine solche elementare Operation nachgewiesen werden können, wie es die Zahlung für das Wirtschaftssystem ist, damit von einem real existierenden sozialen System gesprochen werden kann.3 Mit Bezug auf die Funktionssysteme hat diese Überlegung dahin geführt, dass jedes Funktionssystem eine binäre Codierung besitzt, mit der das System seine Umwelt auf systemspezifische Ereignisse absucht. Im Falle des Wirtschaftssystems handelt es sich etwa um den Code Zahlen/Nicht-Zahlen, denn auch Zahlungen, die zwar geplant sind, aber nicht getätigt werden, tragen zur Autopoiesis des Wirtschaftssystems bei. „Zu fordern ist allerdings – und die Abgrenzung bereitet Schwierigkeiten, wie man aus einer weitläufigen Diskussion über Unterlassungen weiß –, dass die Zahlung als Wunsch, als Erwartung, als Verpflichtung irgendwie nahegelegen hatte und trotzdem unterbleibt“ (Luhmann 1988, S. 53).
3 Bemerkenswerterweise besitzt der „unit act“ des Wirtschaftssystems damit eine vergleichbare Vorbildfunktion für die Frage der Konstitution sozialer Systeme innerhalb der Systemtheorie Luhmanns, wie sie dem Medium „Geld“ für die symbolisch generalisierten Interaktionsmedien innerhalb der Systemtheorie von Talcott Parsons zukam, vgl. Parsons 1980.
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Wendet man sich vor diesem Hintergrund dem Funktionssystem „Erziehung“ zu, wird man mit Überraschung feststellen, dass das Erziehungssystem, obgleich Funktionssystem, über keinerlei derartige Codierung verfügt (was schon anzeigt, weshalb ihm eine Sonderstellung eingeräumt wird).4 Stattdessen kann, so Luhmann, von der Existenz des Erziehungssystems (schon) dann gesprochen werden, wenn einer Handlung die Absicht zu erziehen, d. h. die Absicht, Personen zu ändern, zugerechnet wird. „Die Absicht zu erziehen dient dem Erziehungssystem anstelle eines eigenen Code als dasjenige Symbol, das Operation mit Operation verknüpft und dadurch die Einheit des Systems symbolisiert“ (Luhmann 1992, S. 112). Angesichts dieser Feststellung erscheint zunächst jede Zurechnung der Absicht, Personen zu ändern, grundsätzlich geeignet, die Zuständigkeit und Gegebenheit des Erziehungssystems zu behaupten, eine Absicht mithin, der man universale Geltung, wie sie für Funktionssysteme typisch ist, nur schwerlich wird absprechen können. Gerade die Universalität der Möglichkeit, diese Absicht allem und jedem zurechnen zu können, wirft jedoch die Frage auf, ob die Zurechnung dieser Absicht allein ausreicht, um die Einheit des Erziehungssystems gegenüber seiner Umwelt zu gewährleisten. Immerhin ist jedes soziale System, insbesondere jedes Funktionssystem, darauf angewiesen, dass Personen sich soweit ändern, wie es für den Normalablauf eines sozialen Systems erforderlich erscheint. Kein System funktioniert ordnungsgemäß, wenn seine Regeln grundsätzlich ignoriert werden, und dies gilt mehr noch für Funktionssysteme, die ja gerade darauf angewiesen sind, dass es ihnen mittels ihrer symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien gelingt, den Erfolg ihrer Kommunikation sicherzustellen. Denn wie gelingt die Sicherstellung des Kommunikationserfolgs? Indem die Ablehnungswahrscheinlichkeit, die für jede Kommunikation der modernen Gesellschaft virulent geworden ist, in ihr Gegenteil verkehrt, mithin in eine Annahmewahrscheinlichkeit umgewandelt wird (vgl. Luhmann 1981) – und was ist dies anderes, als die Absicht zu verfolgen, Personen in diese Richtung zu beeinflussen und zu ändern? In der Regel wird dies zwar nicht gesondert herausgestellt, in der Sache dreht es sich aber genau darum. – Und natürlich sieht Luhmann das Problem der Beliebigkeit, das mit dieser Form der Selbstkonstitution des Erziehungssystems unweigerlich verbunden ist. „Das Zentralsymbol, an dem die Erziehung sich selbst erkennt, nämlich die Absicht, etwas für den Lebenslauf Brauchbares zu vermitteln, ist so allgemein gefasst, dass ihm keine Information entnommen werden kann“ (Luhmann 2002, S. 143). Hier hilft auch die Sonderbedingung, die Absicht zu erziehen sollte eine gute sein, nicht viel weiter, wie auch die Bedingung der Gebundenheit von Erziehung an Interaktion nicht davor schützt, dass die
4 Dies gilt freilich nur für den Erziehungs- und nicht den Selektionsaspekt des Erziehungssystems. Vgl. dagegen die Differenz vermittelbar/nicht vermittelbar bei Kade 1997, 2004. Zugleich werden Zweifel daran geäußert, ob die binäre Codierung anderer Funktionssysteme jene „Vorbildlichkeit“ tatsächlich besitzen, wie sie im Vergleich mit dem Erziehungssystem idealtypisch immer behauptet wird, vgl. Lenzen 1997, S. 234.
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Absicht zur Erziehung allem und jedem zugerechnet werden kann.5 Denn wie sollte einer solchen Zurechnung widersprochen werden, wenn sie vorkommt? Wer schwingt sich zum Richter über das Sein oder Nichtsein eines Systems auf, wenn doch alles nur eine Frage der Zurechnung ist? Wer traut sich die Zurechnung einer partiellen oder totalen Unzurechnungsfähigkeit eines solcherart irrtümlich Zurechnenden zu, wenn dazu offengelegt werden muss, aufgrund welcher allgemein zustimmungs- oder auch bloß anschlussfähiger Kriterien man sich dies zutraut? Dies gilt für alle Funktionssysteme, und mehr noch für soziale Systeme im Allgemeinen. Im Falle des Erziehungssystems kommt erschwerend hinzu, dass nicht nur die Funktionssysteme darauf angewiesen sind, dass sich die Personen, die an ihnen teilnehmen wollen, sich auf sie einstellen und ggf. auch ändern müssen (und sei es nur ein bisschen, viel mehr kann die Schule als Erfolg oftmals selbst nicht beanspruchen), sondern dass es auch in der Umwelt des Erziehungssystems eine Vielzahl von Bemühungen gibt, die die Absicht zu erziehen für sich selbst reklamieren. Luhmann hat dies mit dem Begriff des Überschneidungsbereichs, also wenn es in der Umwelt des Erziehungssystems zu funktionssystemspezifischen Fortbildungsmaßnahmen kommt, schon berücksichtigt. Doch ist es damit nicht getan, weil es darüber hinaus Bereiche gibt, die mit Fortbildung zwar nichts zu tun haben, aber so beschrieben werden, als ob sie sich mit der Absicht zu erziehen tragen. Ein solcher Fall stellt Werbung dar. Weshalb? Zunächst gilt: Werbung ist beeinflussende Kommunikation, die es nicht bloß auf die Gewinnung von Aufmerksamkeit, sondern auf folgenreiche Aufmerksamkeit anlegt. „Werbung produziert durch die Herstellung und Verbreitung von Medienangeboten (vom Plakat bis zum TV-Spot) ein von vielen Konkurrenten umworbenes und daher knappes Gut: Aufmerksamkeit. Diese Aufmerksamkeit auf das jeweils Beworbene aber soll folgenreich sein, nämlich Bedürfnisse wecken bzw. wachhalten, um Zahlungen zu motivieren und damit den für das Wirtschaftssystem entscheidenden Kreislauf von Zahlungsfähigkeit in Gang zu halten“ (Schmidt/Spieß 1996, S. 37). Dabei bedeutet folgenreiche Aufmerksamkeit konkret, dass das beworbene Gut gekauft wird, genau daran macht sich der Erfolg von Werbung nämlich fest. „Der Empfänger soll sich mit der [Werbe-] Botschaft auseinandersetzen, er soll sich über ihren Inhalt ein Bild machen, eine Meinung bilden, den angebotenen Nutzen abwägen, Präferenzen bilden, Entscheidungen treffen, handeln, kaufen“ (Rehorn 1988, S. 1). So gesehen, legt es Werbung also gezielt darauf an, Personen zu ändern, und zwar nicht bloß einmal, sondern möglichst dauerhaft, und in dieser Hinsicht, was die Absicht zu 5 Vgl. zum Beispiel die Aussage von Hellmut Becker 1963 hinsichtlich der Ausstattung von Haushalten in primitiven Regionen zivilisierter Staaten, hier das Umland von Paris, mit Fernsehapparaten: „Es hat sich herausgestellt, dass von hierher sozusagen eine überfällige Urbanisierung bestimmter Milieus durchgeführt werden konnte, die zwar vielleicht nicht Bildung im klassischen Sinne darstellt, aber natürlich doch eine für die Anteilnahme an dem Leben der heutigen Zeit entscheidende Bildungsfunktion bei diesen Menschen ausgeübt hat“ (Adorno 1975, S. 57).
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erziehen betrifft, stellt Werbung offenbar ein funktionales Äquivalent zu Erziehung dar.6 Dies wird besonders deutlich, wenn man sich die Geschichte der Werbung anschaut. Denn zu Anfang der modernen Gesellschaft, vor allem seit dem 19. Jahrhundert, galt es, einer Bevölkerung, die durch einen ausgeprägten „Traditionalismus“ (Max Weber) in allen Bereichen gekennzeichnet war, u. a. eine völlig neue Art des Konsums beizubringen.7 Von daher gilt auch für diesen Zusammenhang die Beobachtung Luhmanns: „Erziehung wird denen zugemutet, die es nötig haben“ (Luhmann 1997, S. 12). Denn die Menschen mussten erst noch zu „Verbrauchern“ regelrecht (um-)erzogen werden, damit das Wechselspiel von Angebot und Nachfrage, von Marktwirtschaft und Geldverkehr, von Warenproduktion und Massenkonsum möglichst reibungslos funktionieren konnte.8 Belegen lässt sich dieser Zusammenhang von sozialem Wandel und der damit verbundenen Erziehungsfunktion von Werbung durch eine Vielzahl von Selbst- wie Fremdbeschreibungen der Werbung, die sie seit ihren Anfängen fortlaufend als eine Art von Erziehungsmaßnahme identifizieren.9 Um hier nur eine Stimme – stellvertretend für viele – zu Wort kommen zu lassen, die höchst anschaulich und quellengesättigt zum Ausdruck bringt, in welchem Maße nicht nur die Werbung als Erziehung der Massen gesehen wird, sondern auch die Werber sich selbst als Erzieher verstanden, sei auf Roland Marchand verwiesen, der in „Advertising the American Dream“ die Entwicklung der US-amerikanischen Werbung von 1920 bis 1940 nachgezeichnet hat. So heißt es bei Marchand (1985, S. 349) hinsichtlich der selbstgestellten Aufgabe der Werber: „Advertisers liked to describe their function as one of education.“ Ausgehend von dem Selbstverständnis, die zivilisatorische Avantgarde einer neuen Zeit darzustellen, empfanden die Werber damals eine geradezu his6 Vgl. die Stellungnahme von Stephan Kozial, Inhaber der gleichnamigen Geschenkartikelfirma, auf der Frankfurter Messe „Ambiente“ 2005: „Der Konsument muss sein Verhalten ändern. Wir müssen zum Beispiel aus einem Kaffeetrinker einen Teetrinker machen und umgekehrt. Dann hat er wieder neuen Bedarf nach Artikeln, die er auch wirklich braucht“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. Februar 2005, S. 6). Oder siehe den folgenden Anzeigentext: „Das Abendbrot wird neu definiert. Seit dem 1. Januar 2004 hat ein neues Abendbrot-Zeitalter begonnen. Vier ,Dr. Oetker Picanterie‘ Ofen-Mahlzeiten definieren das Abendbrot für Familien und Kinder neu und eröffnen zugleich ein neues Segment im Markt der Trockenfertiggerichte“ (Lebensmittelzeitung vom 6. Februar 2004, S. 6). 7 Siehe nur, um ein Schlaglicht zu werfen, einen Kommentar anlässlich der Einstellung des Quelle-Katalogs im Herbst 2004 zur Obsoleszenz dieser „Enzyklopädie der modernen Warenwelt“ (tagesschau online vom 2.10.2004) nach fast achtzig Jahren: „Und auch für die Konsumenten ist der ,Katalog‘ unnötig geworden. Der Erziehungsauftrag, den sich ,Quelle‘ immer noch zu eigen macht, ist ja längst erfüllt“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. September 2004, S. 33). 8 Vgl. Hunziker 1972; Cleve 1997; Baudrillard 1998. 9 Vgl. Mataja 1910; Sichler 1935; Pechmann 1935; Kropff 1954; Riesman 1958; Haese 1960; Clausen 1964; McLuhan 1964; Streißler 1965; Lears 1983; Leiss/Kline/Jhally 1985; Brose 1986; Haas 1995; Kellner 1995; Jugenheimer 1996; Hansen/Bode 1999; Underhill 1999; Supper 2000; Kloss 2000; Postman 2000; Kaminsky 2001; Smythe 2001; Ewen 2001; Bowlby 2001; Zukin 2004; Norris 2004.
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torische Verpflichtung gegenüber ihren Verbrauchern. „As missionaries of modernity, advertising men bore the major responsibility for nurturing the consumption ethic to maturity by educating the audience in the satisfaction to be derived from style and beauty“ (Marchand 1985, S. 148). Dabei könnte man vereinfacht auch sagen: Werbung betreibt seit jeher Geschmackserziehung,10 die unumgänglich erscheint, wenn das oberste Gesetz der Angebotspolitik auf modernen Märkten lautet: ständige Innovation der Produkte bei günstigem Preis, was regelrechte Produktenmoden erzeugt. Auf die Radiowerbung der 1920er Jahre in den USA bezogen: „The cumulative experiences of a decade in radio had crushed the vision of advertising as a broad educative force that would lift consumers to higher esthetic tastes and intellectual pursuits. First the tabloids and confession magazines, and then radio itself, had exposed an audience with such persistently low taste in all media as to appear impervious to such education“ (Marchand 1985, S. 115f.). Dabei sind viele Werber der Auffassung, ihre Tätigkeit diene einem guten Zweck, ob als Benachrichtigung, Unterhaltung oder Sinnstiftung, und nicht wenige tragen sich mit der Absicht, etwas für die Lebensführung des je einzelnen durchaus Brauchbares zu vermitteln.11 Insofern sind sogar gute Absichten im Spiel, wenn es um Werbung geht. Ohne dies hier weiter ausführen zu können, ist festzuhalten, dass der Werbung seit jeher erzieherische Absichten unterstellt werden, was die Bestimmung der Einheit des Erziehungssystems problematisch macht, sofern man diese lediglich an die Absicht zu erziehen bindet. Luhmann (2002) hat deswegen weitere Besonderheiten des Erziehungssystems ins Gespräch gebracht. So werden die Personenänderungsabsicht und die Interaktionsgebundenheit (qua Unterricht) des Erziehungssystems um die beiden Kriterien Organisation und Profession ergänzt.12 Zum einen greift das Erziehungssystem durchgängig auf staatlich beaufsichtigte Organisationen zurück, die Schulen und Hochschulen, innerhalb derer erzogen wird, mit den bekannten Organisationseffekten wie formale Mitgliedschaft, Rollenasymmetrie, Diskrepanz zwischen Organisationszweck und Mitgliedsmotiv, zum anderen bildet das Erziehungssystem dafür eine eigene, staatlich anerkannte Profession aus, die Lehrer und Hochschullehrer, die als Erzieher zum Einsatz kommen, mit den bekannten Professionalisierungseffekten wie Fachwissen, eigene Rekrutierungs- und Karrierestrukturen, berufsbedingte Befindlichkeiten und Blindheiten. Bezogen auf die Werbung wird dadurch eine deutlich bessere Abgrenzbarkeit erreicht, insbesondere durch den Organisationsaspekt.13 Zwar verfügt die Werbebranche inzwischen ebenfalls über eigene 10 Vgl. Pechmann 1935; Kropff 1954; Brose 1986; Bolz/Bosshart 1995; Luhmann 1996; Hollein/Grunenberg 2002. 11 Vgl. Lears 1983; Hölscher 1998; Koppetsch/Burkart 2003; Koppetsch 2004. 12 Vgl. hierzu auch Tenorth 1986, S. 283f. 13 In gewisser Weise scheint damit die Zugehörigkeit der Professionellen zu Organisationen des Erziehungssystems die Einheit des Systems zu bestimmen, ähnlich wie beim politischen System das politische Amt die pauschale Autorisation mit sich zu bringen scheint, vor allen anderen darüber entscheiden zu können, was dem politischen System zugehört und was nicht, ob-
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Ausbildungsstätten (Werbeakademien, Fachhochschulen etc.) und verfolgt dementsprechende Professionalisierungsabsichten,14 doch betrifft diese Entwicklung ausschließlich die Rekrutierung geeigneten Personals für die Werbeagenturen und stellt demnach lediglich einen weiteren Überschneidungsbereich dar, wie Luhmann dies genannt hat. Die Verbraucher bleiben davon gänzlich unberührt, soweit es den Organisationsaspekt betrifft – selbst wenn es bei Norbert Bolz und David Bosshart (1995, S. 170) heißt, die Werbung sei die Schule des Geschmacks, denn eine organisierte unterrichtsförmige Schulung der Verbraucher gibt es nirgends, und die Rede von Verbraucherbildung ist bloße politische Rhetorik. Anders sieht es dagegen aus, wenn man den Professionalisierungsaspekt in Rechnung stellt, weil die bessere Schulung des Personals der Werbeagenturen ohne Zweifel dazu beitragen dürfte, das Ziel der Werbung, folgenreiche Aufmerksamkeit zu erregen, mit ungleich höherer Effizienz und Effektivität zu erreichen.15 Schaut man sich daraufhin die Werbepraxis an, wird man freilich feststellen müssen, dass die Erfolgsquote der meisten Werbekampagnen miserabel ist16 – und dies dürfte sich wiederum mit der Lernquote der meisten Lehrpläne decken. Insofern hat offenbar auch die Werbung und nicht bloß die Erziehung mit einem ernstzunehmenden Technologiedefizit zu kämpfen. Wie geht die Werbung mit diesem Problem um?
2. Die Trivialmaschine als unverzichtbare Arbeitshypothese Ausgangspunkt des Technologiedefizits von Erziehung und Werbung ist die Schwierigkeit, Personen zu ändern, wenn dafür nur Kommunikation zur Verfügung steht, weil das Bewusstsein der Personen, die sich ändern sollen, kommunikativ nicht erreichbar ist. Kurzum: „Das, was der Erzieher sich vornimmt, ist unmöglich“ (Luhmann 1991, S. 21). Kommunikation und Bewusstsein sind gleich dies unter dem Gesichtspunkt, dass sich Funktionssysteme gerade nicht als Organisationen verstehen lassen, höchst fragwürdig ist. 14 Vgl. die ältere Studie von Jaspert (1972) sowie die neueren, über die Homepage des Gesamtverbandes der deutschen Kommunikationsagenturen (GWA) beziehbaren Beratungsbroschüren, u.a. „Für Studentinnen und Studenten: Einstieg in Kommunikation und Werbung“. 15 Dabei dürfte der Professionalisierungsgrad der Werbeberufe ähnlich problematisch sein wie bei den Lehrern, schaut man sich die verschiedenen Varianten an, die im Laufe der Lehrerausbildung thematisiert wurden, um das Technologiedefizit in den Griff zu bekommen: Erziehen als Kunst, als Mission oder als Talent, die Kinder richtig zu verstehen, weil eine zuverlässige Methode fehlt, um gerade auch der Heterogenität der Kinder innerhalb einer Klasse gerecht zu werden, so dass nichts anderes bleibt, als sich eklektisch durchzuwurschteln; die Betonung von Erfahrung; die Empfehlung, die Kinder unauffällig beim Spielen zu beobachten und zu behorchen, um herauszufinden, wie sie wirklich sind; die Aufforderung, sich bei jeder Interaktion mit den Kindern selbst zu beobachten, um das wechselhafte Kausalverhältnis im Blick zu behalten; sowie die Idee der herausragenden Persönlichkeit als letzter Ankerpunkt erfolgreichen Lehrens, vgl. die Studie von Tenorth 1986. Und möglicherweise würde man bei einer vergleichbaren Analyse der Ausbildung von Werbefachleuten – in Anlehnung an Peter Zillig – ebenfalls vom „Dilettantismus im Werbeberuf“ sprechen können. 16 Vgl. Werler 1994; Hellmann 2003, S. 152ff.
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nämlich füreinander unzugänglich, weil operational geschlossen: Während im Bewusstsein nur Gedanken vorkommen, über die man zwar als Gedanken, die man aber nicht als Gedanken kommunizieren kann, kann man über Kommunikation zwar nachdenken, aber gedanklich nicht direkt mit Kommunikation in Kontakt treten (vgl. Luhmann 1985, 1988a). Von daher operieren Kommunikation und Bewusstsein völlig unabhängig und selbstbezüglich, wenn auch die Inhalte austauschbar erscheinen, ohne dass sich je überprüfen ließe, ob diese dann identisch sind. Die operationale Geschlossenheit von Kommunikation und Bewusstsein macht beide Systemformen füreinander unberechenbar, sie sind füreinander intransparent und verhalten sich zueinander wie zwei „black boxes“, die sich allenfalls wechselseitig auf bestimmte wiederkehrende Input/ Output-Korrelationen hin beobachten können, um einander konstante Muster, stabile Systemmerkmale zuzurechnen, während das tatsächliche Innenleben völlig im Verborgenen bleibt. Angesichts dieser Situation, die einen direkten Durchgriff auf das Bewusstsein der Personen, die geändert werden sollen, unmöglich macht, stellt sich die Frage, wie das Erziehungssystem versucht, seiner Absicht zu erziehen trotzdem nachzukommen. Die Antwort Luhmanns lautet daraufhin: mithilfe einer Simplifikation. Diese Simplifikation besteht darin, das primäre „Objekt“ der Erziehung, das „Kind“, als eine triviale Maschine im Sinne Heinz von Foersters zu begreifen, die auf vorgegebene Inputs mit vorhersehbaren Outputs reagiert bzw. reagieren sollte (vgl. Foerster 1985; Luhmann 1986, 1991, 2002). Die Erziehung legt seiner Absicht zu erziehen demnach die Annahme zugrunde, dass sie es beim Kind mit etwas zu tun hat, dessen vollständige Steuerung seines Verhaltens von außen möglich ist, weil es dessen innere Aktivität bei der Einflussnahme nicht ernsthaft in Rechnung stellen muss (und gar nicht stellen kann), zumal einem Kind im Unterschied zum Erwachsenen eine hinreichende Selbständigkeit und Verantwortung für sich selbst ohnedies abgesprochen wird: die klassische tabula rasa-Idee.17 Dementsprechend nimmt Erziehung das Kind primär im Modus des Erlebens wahr, mithin rein passiv/rezeptiv, und sucht es handlungsanleitend zu beeinflussen (vgl. Luhmann 1991). Freilich ist diese Sichtweise auf das Kind als Trivialmaschine lediglich ein Kunstgriff der Erziehung, um ihren Anspruch auf Erziehbarkeit des Kindes nicht aufgeben zu müssen.18 Dies hat grundsätzlich mit der operationalen Ge17 Insbesondere zu Anfang der Entstehung von Werbung empfanden Werber eine derart deutliche Asymmetrie zwischen sich und ihrem Publikum, wie sie typisch ist zwischen Eltern und Kindern. So wurde davon gesprochen, dass die meisten Verbraucher „the mind of a child of ten“ hätten, dass „the average citizen has the mentality of a child of twelve“ oder dass „the average intelligence of the American people is that of a thirteen-year-old child“, vgl. Marchand 1985, S. 67. 18 Vgl. Luhmann 1987: „All diese Modifikationen zugestanden, kommt die Erziehung ohne die Grundvorstellung einer Trivialmaschine nicht aus, wenn sie nicht darauf verzichten will, die Ergebnisse unter Kontrolle zu halten; und sie kann darauf nicht verzichten, wenn sie sich als Kommunikation zum Zwecke der Erziehung zu erkennen gibt. Sie kann, auch wenn sie Erziehung zur Freiheit sein möchte, nicht die Wahl des Verhaltens von der Selbstreferenz des psy-
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schlossenheit von Kommunikation und Bewusstsein zu tun. Daraus folgt wiederum, dass sich die Erziehung mit der Aporie von Technologie und Selbstreferenz konfrontiert sieht: Einerseits soll das Kind genau das tun (wollen), was von ihm erwartet wird, andererseits soll und kann es dies nur freiwillig tun (wollen), weil ein direkter Durchgriff ins Bewusstsein eines Kindes ja ausgeschlossen ist. Damit aber wird Freiheit zur unverzichtbaren Voraussetzung von Erziehung. Was allenfalls noch denkbar erscheint, ist eine Art von „Auslösekausalität“ in dem Sinne, dass dem Kind die Übernahme von Informationen, Anreizen, Anleitungen und Aufforderungen welcher Art auch immer lediglich angeboten, nahegelegt, schmackhaft gemacht werden kann, ohne deren Übernahme, Umsetzung und richtige Befolgung durch das Kind tatsächlich auch determinieren zu können, da andernfalls die Freiheit des Kindes suspendiert würde und damit der Erziehung die Voraussetzung zur Erziehung, nämlich Freiheit, entzogen wäre. „In der Sache geht es um den Versuch, Einfluss zu nehmen, ohne die freie Selbstbestimmung des anderen offensichtlich in Frage zu stellen“ (Luhmann 1996a, S. 280). Kehrt man vor diesem Hintergrund zu der Überlegung zurück, Werbung wäre ein funktionales Äquivalent zu Erziehung, dürfte eine weitere Parallele zwischen Erziehung und Werbung sichtbar werden. Denn beide, Erziehung und Werbung, verfolgen nicht nur das erklärte Ziel, Personen und ihr Verhalten zu ändern, was im Falle von Werbung für Kinder dann so klingt: „Sieh mich, kauf mich, iss mich“ (Precht 2001). Vielmehr ist in der Werbung – mutatis mutandis – eine Semantik in Gebrauch, die sich auf das „Zielobjekt“ der Werbung, den „Verbraucher“, ebenso bezieht, wie die Erziehung auf das Kind, und die die Chance der Beeinflussbarkeit immer schon mit einschließt und sie auch notwendig mit einschließen muss, wenn Werbung ihrem Zweck der Beeinflussung und Änderung von Verbrauchern prinzipiell nachkommen können soll. Reduziert Werbung ihren Anspruch auf Erfolg nämlich auf das Argument der Aufmerksamkeitserzeugung, verkommt Werbung zur Beliebigkeit. Schließlich findet sich sogar die Neigung, den Verbraucher als eine triviale Maschine zu begreifen, die primär im Modus des Erlebens operiert und von außen konkrete Informationen, Anreize, Anregungen und Aufforderungen aufnimmt, um diese dann möglichst erwartungsgetreu umzusetzen: also nachfragt und kauft, was angeboten wird – das klassische Ablaufschema einer Trivialmaschine, die lediglich durch einen linearen Input/Output-Nexus charakterisiert ist (vgl. Luhmann 1986; Bode 2000). Stuart Ewen (2001, S. 84) hat dieses Maschinenverständnis, mit dem Werber die Verbraucher – vornehmlich in den ersten Jahrzehnten der Werbung – wiederholt gesehen haben, sehr schön auf den Punkt gebracht: „The control of the masses required that people, like the world they chischen Systems abhängig machen; sie kann nicht zugestehen, dass die Verhaltensweisen verschieden ausfallen je nachdem, in welchem Zustand das System sich als Resultat eigener vorheriger Reaktionen gerade befindet. Sie kann nur eine möglichst komplexe Trivialmaschine anstreben, in die so viel Welt wie möglich (Humboldt) eingeht, nicht aber eine Selbstreferenzmaschine“ (179f.).
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inhabited, assume the character of machinery – predictable and without any aspiration toward self-determination. As the machinery produced standardized goods, so did the psychology of consumerization attempt to forge a notion of the ,mass‘ as ,practically identical‘ in all mental and social characteristics.“ Im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte hat die Werbung jedoch immer häufiger erfahren müssen, dass die Grundvorstellung vom Verbraucher als einer Trivialmaschine zu kurz greift, da nur wenigen Werbekampagnen der durchschlagende Erfolg beschieden ist, den allesamt für sich in Anspruch nehmen. Plakativ formuliert: „Die Werbung möchte uns als Kinder haben“,19 die schön brav und folgsam sind, doch wir verhalten uns zunehmend unberechenbarer (vgl. Hellmann 2003, S. 119). Offenbar entspricht die Komplexität des Verbrauchers nicht (mehr) der Metapher einer trivialen Maschine. „Babies and young children may be socialised into becoming desiring consumers in capitalism, but that does not make them into machines, neither desiring machines nor any other kind of machine“ (Bocock 1993, S. 84). Zu Beginn seiner Entwicklung mag der Verbraucher zwar noch als „Kind des Konsums“ gesehen worden sein, das mit Waren-Wissen gefüttert und daraufhin dressiert wurde, jeder Eingebung der Werbung blindlings zu folgen, und dies dürfte gegenüber Kindern noch immer die vorherrschende Erwartungshaltung der Werbung sein (vgl. Mayer 1998; Schlosser 1999; Lange 2002). Inzwischen hat sich der Verbraucher für die Werbung aber mehr und mehr in eine „black box“ verwandelt, da kaum mehr berechenbar und sich einem direkten Zu- und Durchgriff ohnehin entziehend.20 Aus Sicht der Werber befindet sich der Verbraucher damit längst „Jenseits der Infantilität“, die ihm so lange unterstellt wurde (vgl. Schulze 2002, S. 990f.; Hellmann 2003).21 In der Konsequenz sieht sich dadurch (auch) die Werbung dem Dilemma zwischen Kausalität und Freiheit gegenüber, was erneut die Frage aufwirft, wie es um die Sonderstellung des Erziehungssystems bestellt ist. 19 Zu finden in dem Artikel „Die Marke Ich. Hat die Ware ohne Werbung keinen Sinn? Über Markeninszenierung und Konsumbiografie“ der Berliner Zeitung (URL: www.berlinonline. de/aktuelles/berliner_zeitung/feuilleton/html/3535 2.html vom 22.11.01). 20 In Anbetracht der Aussichtslosigkeit, mit den herkömmlichen Methoden einen wesentlich besseren Einblick in das psychische Innenleben der Verbraucher zu erlangen, geht die aktuelle Debatte um die Erfolgschancen der Neuroökonomik mit besonders großen Hoffnungen schwanger, wie die folgende Äußerung eines Marken-Managers aus der Konsumgüterbranche deutlich macht: „Wir geben Millionen Euro für Marktforschung aus – und trotzdem bleibt der Konsum und Kunde ein Rätsel. Wie schön wäre es doch, wenn man mit Röntgen-Strahlen oder so in den Kopf des Kunden schauen könnte, um seine wahren Bedürfnisse zu erkennen“ (zit. n. Häusel 2004, S. 8). Whitening der black box durch Gehirntomographie sozusagen, wobei sich Häusel (2004, S. 12) selbst zu den Erfolgsaussichten seines Unternehmens auch nicht gerade bescheiden äußert: „Kaum einer weiß, was im Kopf des Kunden wirklich vorgeht und deshalb wird sein Verhalten als hybrid und unberechenbar empfunden. Brain Script deckt auf, welches Programm hinter dem scheinbar unberechenbaren Kundenverhalten steht und wie Sie Ihre Kunden binden können.“ 21 Eine Folge dieser Veränderung ist auch, dass die Asymmetrie in der Beziehung zwischen Unternehmen und Verbraucher aufbricht, sofern man sieht, dass es nicht mehr bloß „consumer education“ seitens der Unternehmen gibt, sondern auch umgekehrt „corporation education“ seitens der Verbraucher, vgl. Krafft 2001.
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3. Der Verbraucher als Medium der Werbung Aufgrund der Absicht zu erziehen verfügt das Erziehungssystem über kein eigenes symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium, weil sich, so Luhmann, der Erfolg der Erziehung nicht in der Kommunikation und durch Kommunikation allein erzielen lässt, sondern auf das Bewusstsein derer, die erzogen werden sollen, bezogen ist und bis dorthin durchzugreifen sucht, was kommunikativ unmöglich ist. Dennoch besitzt das Erziehungssystem, wie es Luhmann 1991 vorschlug, ein eigenes Medium: das Kind. Dabei rührt dieser Begriff des Mediums von Fritz Heider her, der damit die Fähigkeit physikalischer Medien wie Luft, Wasser oder Sand beschrieben hat, in sich Formen aufzunehmen, die ihnen von außen eingeprägt werden, wie Geräusche, Eisbildung oder Fußabdrücke (vgl. Heider 1927; Luhmann 1988, S. 306). Das Medium selbst, in seiner Qualität als ein System von Elementen, die lose gekoppelt vorliegen und damit einen Reichtum an beinahe beliebig formbaren Möglichkeiten darbieten, bleibt dabei unsichtbar; nur über die Formen, deren Formhaftigkeit durch die feste, von außen bewirkte Kopplung bestimmter Elemente dieses Mediums zustande kommt, wird das Medium erkennbar. Auf das Medium selbst kann daher allenfalls über seine Formen geschlossen werden. Eben diese Eigenschaft eines Heider-Mediums, dessen eigene Form sich prinzipiell aus der Differenz von Medium und Form zusammensetzt, rechnet Luhmann nun auch dem Kind zu, als dem Medium der Erziehung. Rekonstruiert man das „Kind“ in dieser Weise als Semantik, deren Erfindung sich bis in das 18. Jahrhundert zurückverfolgen lässt, erschließt es sich als eine „offene, noch unbestimmte (oder unterbestimmte) Komplexität“ (Luhmann 1991, S. 35), die ihre beabsichtigte Bestimmung in Form einer Reduktion dieser Komplexität erst durch Erziehung erfährt. „Aus jedem Kind kann nun alles Mögliche werden, und die Frage wird akut, wie in diesem Bereich offener Möglichkeiten Ordnung wiederzugewinnen sei“ (Luhmann 1991, S. 20). Das Erziehungssystem verschafft sich dadurch gleichsam die Legitimation für den selbstformulierten Erziehungsauftrag, für die gezielte und auf bestimmte Effekte hin kontrollierte Einprägung bestimmter gutartiger Formen in das Kind als Medium zuständig und verantwortlich zu sein, ohne dass damit irgendeine Erfolgsgarantie verbunden wäre (vgl. Tenorth 1986, S. 292). Denn die Freiheit des Kindes wird auch mit dieser Medium/Form-Unterscheidung nicht geleugnet, jedoch als primär negativ, unbestimmt und der Bestimmung bedürftig behandelt, weil das Kind als (noch) nicht festgelegt, also als beeinflussbar und damit lernfähig und veränderbar verstanden wird. Angesichts der Tatsache, dass das Erziehungssystem inzwischen eine enorme Ausweitung über die Schulen und Hochschulen hinaus erfahren hat, stellt sich jedoch die Frage, ob für alle Personen, die erzogen werden sollen oder wollen, die Bezeichnung „Kind“ sinnvoll erscheint. Zumindest stellt Luhmann diese Möglichkeit 1997 ernsthaft in Frage und schlägt sogar vor, das Medium „Kind“ durch das Medium „Lebenslauf“ zu ersetzen. Das Kind-Medium wird dadurch
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gewissermaßen im Lebenslauf-Medium aufgehoben, als eine besondere Form, das unter gewissen Umständen (klassisch: das dreigliedrige Schulsystem) selbst zum Medium wird. Damit aber trägt Luhmann einer Entwicklung Rechnung, die schon im Zusammenhang mit der Autonomieproblematik zur Sprache kam, dass nämlich der Erziehungsbedarf der modernen Gesellschaft enorm gestiegen ist und es vermehrt auch in der Umwelt des Erziehungssystems zur Erziehung von Personen kommt. Exemplarisch wurde hierfür Werbung angeführt. Sollte dies soweit zutreffen, stellt sich indes die Frage, ob im Rahmen des Mediums „Lebenslauf“, das das Medium „Kind“ als Sonderform mit Mediumsqualität in sich birgt, nicht auch andere Spezialmedien vorkommen, die auf spezielle Erziehungsmaßnahmen außerhalb des Erziehungssystem bezogen sind. Werbung wäre dann wiederum ein Beispiel dafür, und weil sich Werbung zentral auf den Verbraucher bezieht, lautet die These auch, dass der Verbraucher das Medium der Werbung ist. Ausgangspunkt ist, dass die Werbung den Verbraucher – wie die Erziehung das Kind – von Beginn an als eine Trivialmaschine wahrgenommen hat und teilweise noch immer wahrnimmt. Dabei wurde diese Trivialmaschine seit jeher mit einer offenen, unbestimmten oder unterbestimmten Komplexität ausgestattet, die für die Angebotspolitik der Werbung zur Nachfrageerzeugung unmittelbar empfänglich und bereit ist. Denn wie die Erziehung geht auch die Werbung von der Bedürftigkeit der Bestimmung des Bewusstseins des Verbrauchers durch Informationen, Reize, Anregungen und Aufforderungen aus, die vor allem durch die Werbung von außen herangetragen und vom Verbraucher auf eine der Teleologie der Werbung möglichst konforme Weise verarbeitet werden, frei nach dem Motto: „Glaube mir, vertraue mir, liebe mich und kaufe mich“ (Wondrascheck 1996). Insofern erscheint der Verbraucher als das Medium der Werbung, Medium hier verstanden als Virtualität, als eine abstrakte Bedürftigkeit nach Bestimmung, die Werbung voraussetzt, um darin bestimmte Formen des Verhaltens auszubilden, die schließlich zum Kauf bestimmter Leistungen führen (sollen) – eingedenk des Umstandes, dass dieser Kausalnexus nur eine Konstruktion ist und Werbung allenfalls die Chance zur Auslöse-, aber nicht zur Durchgriffskausalität besitzt.22 Wendet man sich nun der Bestimmung des Verbrauchers als Medium der Werbung etwas eingehender zu, so kann hierfür ein Text als Vorlage dienen, in dem Luhmann (1990) schon einmal die öffentliche Meinung anhand der Un22 Und diese Einstellung gilt auch für andere Erziehungsmaßnahmen, vgl. etwa die „Consumer Education“-Programme seitens der US-Regierung, aber auch von einzelnen NGOs und Unternehmen, bei denen der Kind-Status mancher Verbraucherkreise unverdeckt zum Ausdruck kommt, wie beim „Indian Pueblo Council“ in New Mexiko, das gestartet wurde „to help the Pueblo Indians cope with problems caused by their unfamiliarity with a money economy, their high rate of illiteracy, and their remoteness from commercial centers“. Das Ergebnis gleicht einer ökonomischen Aufklärung, ja Missionierung: „Now Pueblo consumers are beginning to understand and enjoy their rights in the market-place, to understand and use credit wisely, to manage their money well, to understand the workings of the economy, and to help other Pueblo Indians when their rights are denied or violated“ (Bloom/Silver 1976, S. 36).
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terscheidung von Medium und Form beschrieben hat. Als Medium begreift Luhmann dabei die „Innenzustände der Bewusstseinssysteme“, die lose gekoppelt vorliegen und für sich selbst keine feste Struktur aufweisen. Fragt man nach der Art und Gleichartigkeit der Elemente, die dieses Medium ausmachen, handelt es sich um die Möglichkeit, Fähigkeit und Bereitschaft des Bewusstseins, seine Aufmerksamkeit auf unterschiedliche Ereignisse zu lenken und sie daran auszurichten, und dies betrifft gleichermaßen Ereignisse im Bereich der Kommunikation wie der Wahrnehmung. Betrachtet man die öffentliche Meinung dagegen als Form, geht es um bestimmte Themen in der öffentlichen Meinung, auf die sich die Aufmerksamkeit des Bewusstseins beziehen kann – was im Falle der Bezugnahme bedeutet, dass das Bewusstsein für sich selbst eine mehr oder weniger feste Struktur gewinnt: Ihm ist etwas bewusst. Das Ziel der öffentlichen Meinung liegt gewissermaßen im Erzeugen von „Bindungseffekten“, also im Einfangen der Aufmerksamkeit von Lesern, Hörern oder Zuschauern für ein bestimmtes Thema, ohne dass damit vorentschieden ist, wie man sich zu diesem Thema zu verhalten hat – die Beitragswahl bleibt kontingent. Eine Form im Medium der öffentlichen Meinung bezeichnet demnach die Aufmerksamkeitsbindung eines Bewusstseins. Freilich zeigt sich dies nur in den Formen der öffentlichen Meinung, also in der Kommunikation, weil das Medium der öffentlichen Meinung, nämlich das jeweilige Bewusstseinssystem, uneinsehbar bleibt. Doch ist das Bewusstsein als Substrat der Kommunikation immerhin soweit von Bedeutung, als die Nichtbeliebigkeit des Themenrepertoires der öffentlichen Meinung als Kommunikation auch im Bewusstsein ihren Niederschlag findet, wenn die Formung der öffentlichen Meinung auch allein der Kommunikation obliegt. Was Luhmann hier für die öffentliche Meinung entwickelt hat, lässt sich umgehend auf die Werbung übertragen, die ja ebenfalls per Massenmedien verbreitet wird. Nur geht es beim Verbraucher als Medium der Werbung nicht um das Bewusstsein im Allgemeinen, sondern um die Bedürftigkeit der Bestimmung des Bewusstseins des Verbrauchers im Besonderen, und als Form der Werbung gilt die Bindung an bestimmte Produktangebote, vor allem an Marken (vgl. Hellmann 2005). Die Elemente, die das Medium „Verbraucher“ ausmachen, sind dabei in dem zu sehen, was der Begriff des Bedürfnisses bedeutet: die Möglichkeit, Fähigkeit und Bereitschaft des Bewusstseins, seine Aufmerksamkeit auf bestimmte Zustände und Erlebnisse organischer, psychischer und sozialer Natur zu richten, deren Erreichung für die individuelle Lebensführung als wesentlich betrachtet werden. In diesem Sinne lässt sich der Möglichkeitsraum der Bedürfnisse als ein außergesellschaftliches Medium denken, das eine innergesellschaftliche Formgebung erfährt, gewissermaßen ein amorphes Ausgangsmaterial, das als Zurechnungs- und Zurichtungsbasis für wirtschaftliche Motive in Form von Bedürfnissen aller Art dient. Günter Wiswede (1972, S. 59) hat dies die „Bildung und Formierung der Bedürfnisse“ genannt, und Erich Streißler (1965, S. 260) sprach sogar ganz offen von der „Bedürfnisformung durch Werbung“ (vgl. hierzu auch Scherhorn 1959). „Die Plastizität der menschlichen An-
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triebsstruktur lässt zahlreiche Varianten des Verhaltens und des Bedürfens zu, die seiner ,Natur‘ nicht mehr abzulesen sind. Die kulturelle Überformung vermag vielmehr auch hier ständig neue Verhaltensformen und -motive freizusetzen und immer vielgestaltigere Handlungskomplexe herauszusublimieren, die um ihrer selbst willen verfolgt werden und insofern funktionell autonom zu werden beginnen“ (Wiswede 1972, S. 16). Und ist dann von „Natur“ die Rede, wie hier geschehen, so handelt es sich genau um dieses formlose Ausgangsmaterial mit der Fähigkeit zur „Plastizität“, über das wir selbst wenig wissen, weil es uns als solches nicht zugänglich ist. Demgegenüber sind „Bedürfnisse“ nichts anderes als soziale Konstruktionen, an die persönlich geglaubt und nach denen erlebt und gehandelt wird. Freilich darf die Rede von Konstruktion nicht den Eindruck erwecken, als ob alles nur Einbildung sei, ohne jede Relevanz für die soziale Realität. Denn der Glaube an die eigenen „Bedürfnisse“ besitzt zweifelsohne Realitätsgehalt (Thomas-Theorem). „Solche Motive sind Tatsachen, die wirtschaftliche Entscheidungen beeinflussen“ (Katona 1960, S. 88). In gewisser Hinsicht „sind“ wir diese „Bedürfnisse“ sogar: Wir definieren uns über sie und vertrauen uns ihnen an, sehen die eigenen Wahrnehmungs- und Kommunikationsroutinen durch sie abgestützt, wenn nicht gesteuert, und zitieren sie im Zweifelsfall als Motive des eigenen Erlebens und Handelns.23 Es gibt nur keinen Nullpunkt der Bedürfnisformierung, an dem wir selbst zur bewussten Mitgestaltung aktiv aufgerufen sind, sondern dieser Formierungsprozess erfolgt immer schon im Verborgenen, ohne rechte Chance zur bewussten Einflussnahme auf das basale Betriebsprogramm. Bedeutsam ist deshalb auch, dass Bedürfnisse als Zweckprogramme die Vorprägung und Vermittlung von Teilnahmemöglichkeiten am Wirtschaftssystem mit einschließen. So spricht Luhmann (1988, S. 60) mit Blick auf Bedürfnisse vom „Aspekt der Inklusion der Gesamtbevölkerung in die Wirtschaft.“ Bedürfnisse, ob primärer oder sekundärer Art, repräsentieren gewissermaßen ein Repertoire an legitimen, d. h. erwartbaren und anerkannten Erlebnis- und Handlungschancen, deren Realisation gesellschaftlich mehr oder weniger fest vorgeben ist24 – wie Kanäle, die den natürlichen Wasserdruck in künstliche Bahnen lenken, um ihn für unterschiedliche Zwecke nutzbar zu machen. Kurzum: „Bedürfnisse“ wirken gleichsam als in sich abgeschlossene, sehr kompakt gebaute Handlungsprogramme im Miniformat, die die Koordination von Kommunikation und Bewusstsein mit Bezug auf wirtschaftliche Belange kurzschließen. „Organized scales of values direct our activities as consumers and manifest themselves in concrete ways of feeding, clothing, housing and amusing ourselves“ (Kyrk 1923, S. 22). Zweifelsohne übergreift der Einfluss der Werbung die Bindung der Aufmerksamkeit des Bewusstseins der Verbraucher an bestimmte Produkte bei weitem. Denn oftmals beeinflusst Werbung auch die öffentliche wie private Lebensführung sehr tiefgehend, vielleicht sogar bis auf die Wahrnehmungs-, Denk- und 23 Vgl. Mills 1940; Scherhorn 1959; Bourdieu 1987. 24 Vgl. Scherhorn 1959; Hondrich 1979; Fine/Leopold 1993; Baudrillard 1998.
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Handlungsschemata herunter, jedoch ohne dass den Verbrauchern deswegen gleich Hörigkeit gegenüber der Werbung unterstellt werden kann (vgl. Schulze 1999; Griese/Rota 2002). Alles in allem geht es darum, auf Seiten der Verbraucher eine Disposition aufzudecken, die es als gerechtfertigt erscheinen lässt, Werbung erzieherische Absichten zuzuschreiben, und sei es bloß zur Sensibilisierung. Unterstellt wird gewissermaßen ein paradoxes Erwartungs- und Verbrauchsmuster, das sich von sich aus – frei- und bereitwillig – auf derartige Informationen, Anregungen, Anreizen und Aufforderungen einlässt, ja sich ihnen ausliefert, wie sie von der Werbung zum Zwecke der Vermittlung von Zahlungsmotiven angeboten und verbreitet werden – im Sinne einer Selbstbedienung im Supermarkt der Konsumsemantik. Oder um eine etwas ältere Semantik zu bemühen: Werbung hat die „Aufgaben der Märchenerzähler primitiver Perioden übernommen: Sie trägt zum sozialen Lernprozess, zum Erproben verschiedener Lebensumstände in der Phantasie bei. Je komplexer die Konsumwelt wird, desto wichtiger werden solche geistigen Konsumexperimente: Vor allem durch Werbung kann man in beschränktem Maße Erfahrungen über zahlreiche Konsumgüter sammeln, auch ohne daß man diese kaufen muß“ (Streißler 1965, S. 271). Im Rückblick ist festzustellen, dass die These von der Sonderstellung des Erziehungssystems nicht ohne weiteres überzeugt. Zunächst ist die Absicht zu erziehen zu unspezifisch, um eine eindeutige Grenzziehung zwischen Funktionssystem und innergesellschaftlicher Umwelt zu leisten, zumal auch andere Funktionssysteme nicht gänzlich darauf verzichten können, dass sich Personen auf sie einstellen und sich ihrem Operationsmodus entsprechend ändern. Dies gilt noch mehr für Erziehungsbemühungen in der Umwelt des Erziehungssystems, wie am Beispiel von Werbung darzulegen versucht wurde. Denn auch Werbung trägt sich mit Erziehungsabsichten, weswegen auch Werbung mit einem vergleichbaren Technologiedefizit kämpft, wie es das Erziehungssystem beklagt, und in beiden Fällen gibt es gravierende Reflexionsprobleme hinsichtlich dieses Defizits. Schließlich hat das Lernen eine solche Verbreitung in der Welt- und Wissensgesellschaft gefunden, dass eigentlich überall und ständig ein akuter Erziehungsbedarf sich aufdrängt, dem das Erziehungssystem für sich gesehen aber immer weniger nachzukommen vermag. Von daher stellte sich u. a. die Frage, ob es neben dem Kind als Medium der Erziehung nicht auch andere Spezialmedien gibt, die eine vergleichbare Rolle spielen, sofern es um Fragen der Erziehung geht. Als eine solche Möglichkeit wurde hier der Verbraucher als Medium der Werbung angedacht. Ob dieser Weg gangbar ist, muss gesondert geklärt werden. Zumindest dürfte klar geworden sein, dass die vermutete Sonderstellung des Erziehungssystems noch eine Reihe von Fragen aufwirft, die weiterer soziologischer Aufklärung harren.
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Pädagogische und ökonomische Lernwelten zwischen Differenzierung und Entdifferenzierung Lernwelten Johannes Bellmann zwischen / Birger Differenzierung P. Priddat und Entdifferenzierung
Die Frage,Bellmann Johannes ob das Erziehungssystem / Birger P. Priddat im Club der ausdifferenzierten Systeme eine Sonderstellung einnimmt, bezieht sich, sofern sie nicht ontologisch missverstanden wird, zunächst auf das zugrunde gelegte systemtheoretische Beschreibungsmuster. Dieses ist zwar mittlerweile im Sinne einer Heuristik am Beispiel diverser Systeme der Gesellschaft getestet worden, aber nicht gleichermaßen plausibel und erfolgreich. Aufschlussreich ist da ein Vergleich der Beschreibung von Erziehungs- und Wirtschaftssystem. In beiden Beschreibungen spielt die Semantik des Lernens eine prominente Rolle. Der folgende Beitrag ist die redigierte Fassung eines schriftlichen interdisziplinären Dialogs über die unterschiedliche Modellierung von Lernwelten im Kontext des Erziehungs- und Wirtschaftssystems.
1. Sorgenkind und Musterknabe – Funktionssysteme in Sonderstellung Bellmann: Für seine systemtheoretischen Beobachter ist das Erziehungssystem immer auch ein interessantes ,Sorgenkind‘ gewesen. Gegenüber ihren Beschreibungsversuchen verhält es sich ganz offensichtlich sperriger als manch anderes funktional ausdifferenzierte System. Luhmann meinte einmal, beim Erziehungssystem sei beispielsweise die charakteristische Trennung von Code und Programm „noch schwieriger zu erkennen als im Falle der Religion“ (1986, S. 194). Zuletzt nahm er an, dass es – anders als bei ,normalen‘ Funktionssystemen – beim Erziehungssystem gar keine klare Unterscheidung von Programmierung und Codierung gebe (vgl. Luhmann 2002, S. 74). Insbesondere die Frage, was überhaupt als Medium und Code des Erziehungssystems verstanden werden kann, ist immer wieder kontrovers diskutiert worden. Die hierauf gegebenen Antworten haben über die Jahre deutliche Revisionen erfahren. Ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium findet sich nicht, aber vielleicht könne man das Kind als Medium des Erziehungssystems betrachten, das entsprechende pädagogische Formgebungen ermöglicht. Angesichts der Expan-
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sion des Systems erschien dies jedoch zu eng; der Lebenslauf kam als Kandidat für das Medium des Erziehungssystems ins Gespräch. Auch was den Code angeht, gab es Umstellungen: Der Code „besser/schlechter“ schien zu einseitig auf die Selektionsfunktion und damit auf den Außenbezug des Systems zugeschnitten; Jochen Kades Vorschlag „vermittelbar/nicht-vermittelbar“ schien dagegen der Breite der Tätigkeiten im System selbst eher angemessen. Wie auch immer man diese Debatten und die in ihnen gefundenen vorläufigen Lösungen beurteilen mag: Insgesamt entstand doch der Eindruck, dass die systemtheoretische Beschreibung des Erziehungssystems nicht von Anfang an ,saß‘, sondern erst über viele Jahre und in einem langen und intensiven Austausch mit der Erziehungswissenschaft Konturen gewann. Im Fall des Wirtschaftssystems war das anders. Von Anfang an stellte dieses so etwas wie einen ,Musterknaben‘ eines funktional ausdifferenzierten Systems dar. Hier findet man ein leicht identifizierbares, vollständig systemeigenes, symbolisch generalisiertes Medium (Geld) und einen Code (Zahlen/Nichtzahlen), der alle Ansprüche an rekursive Geschlossenheit von Operationen erfüllt. Die autopoietische Wende der Systemtheorie war für das Wirtschaftssystem also keine wirkliche Überraschung. Und schon die Klassiker der Soziologie hatten für die Erläuterung der differenzierungstheoretischen Perspektive ein bevorzugtes Beispiel: die ,freigesetzte Wirtschaft‘. Das systemtheoretische Beschreibungsmuster scheint also auf das Wirtschaftssystem in besonderer Weise zugeschnitten; dass das im Fall des Erziehungssystems nicht ohne weiteres der Fall ist, kann als erster Hinweis auf eine Art ,Sonderstellung‘ angesehen werden. Interessant ist nun der Vergleich der gesellschaftstheoretischen Perspektive der Systemtheorie mit der fachwissenschaftlichen Referenzdisziplin des jeweiligen Systems. Denn die Tatsache, dass das systemtheoretische Beschreibungsmuster Luhmannscher Provenienz auf das Wirtschaftssystem in besonderer Weise zugeschnitten scheint, bedeutet keinesfalls, dass es in den Wirtschaftswissenschaften eine besonders freundliche Aufnahme gefunden hätte. So weit ich sehe, hat es dort keinen jahrzehntelangen intensiven Austausch gegeben. Auf den Kolloquien und in den Tagungsbänden von Luhmann und Schorr fand dagegen wohl eine der fruchtbarsten Grundlagendiskussionen statt, die die Erziehungswissenschaft seit den 1980er Jahren erlebt hat. Wie kann man diesen Unterschied erklären? Ein Grund könnte sein, dass in der Auseinandersetzung der Systemtheorie mit der Erziehungswissenschaft die jeweiligen Beschreibungsmuster auf beiden Seiten in Bewegung geraten sind. Das ist keineswegs selbstverständlich, wenn man sich die Hermeneutik anschaut, mit der die Systemtheorie in der Regel ihr Material bearbeitet. Im Hinblick auf das Erziehungssystem hat sie sich jedoch mehr und mehr auf eine andere Hermeneutik eingestellt (vgl. Luhmann 2002, S. 202f.). Die notorischen „Fragen an die Pädagogik“ waren keineswegs Fragen, auf die es bereits eine systemtheoretische Antwort gab. So kam es, dass die Beobachtung mit Leitunterscheidungen, ihre Kombination mit oder Ersetzung
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durch andere Unterscheidungen, mitunter etwas Experimentelles bekam, mit erhellenden Effekten sowohl für Systemtheorie als auch Erziehungswissenschaft. Die Frage nach der Sonderstellung des Erziehungssystems ist freilich zunächst eine gesellschaftstheoretische Frage; sie unterstellt eine systemvergleichende Beobachtungsperspektive, die in der Erziehungswissenschaft nicht oder höchst selten kultiviert wird. Die Vergleichende Erziehungswissenschaft hat zumindest andere komparative Interessen ausgebildet und die Allgemeine Pädagogik ist, trotz mitunter ehrgeiziger Ansprüche, nach wie vor Pädagogik und nicht Allgemeine Soziologie. So scheint es, als ob die Erziehungswissenschaft erst im Gespräch mit der Soziologie über die Sonderstellung ihres Referenzsystems aufgeklärt werden müsste. Diese aus einer systemvergleichenden Beobachtungsperspektive sichtbar werdende Sonderstellung ist möglicherweise eine andere als diejenige, die sich das Erziehungssystem selbst zuschreibt. Tatsächlich stellt es sich aus systemtheoretischer Sicht so dar, als habe das Erziehungssystem (neben dem Medizinsystem) eine Sonderstellung. In allen anderen Systemen, so heißt es, gehe es allein um die Anschlussfähigkeit von Kommunikationen. „Dies scheint in mindestens zwei Fällen von ebenfalls hoher sozialer Relevanz anders zu sein: bei der medizinischen Versorgung von Kranken und bei der Erziehung. Wir haben noch keinen klaren Begriff von Erziehung, aber jedenfalls handelt es sich um ein Einwirken auf andere Menschen. Es geht nicht nur um glattflüssige Kommunikation, sondern die Erziehung selbst muss als gescheitert betrachtet werden, wenn der Zögling sich nicht ändert, sondern ungerührt bleibt, wie er war“ (Luhmann 2002, S. 42). Wenn die Funktion des Erziehungssystems also die Änderung von Menschen ist, fallen seine Wirkungen in der Umwelt der Gesellschaft an. Dieser Aspekt der Sonderstellung hat möglicherweise interessante Konsequenzen, was die Frage der Evaluation des Systems angeht. Eine solche Evaluation muss im Fall des Erziehungssystems anders ansetzen als etwa im Fall des Wirtschaftssystems. Die Frage, ob es so etwas geben könnte wie eine PISA-Studie für Wirtschaftssysteme, ließe sich hier anschließen. Priddat: Der Diagnose lässt sich zustimmen: Luhmanns Beschreibung des Wirtschaftssystems ist von Ökonomen fast nicht rezipiert worden. Michael Hutter ist hier eine rühmliche Ausnahme; Dirk Baecker als ökonomisch fundierter Soziologe ohnehin. Hier liegen alte Asymmetrien zwischen Ökonomik und Soziologie zugrunde. Auch ist die Erarbeitung einer Systemtheorie für Ökonomen Investition: In welchen Diskurs? In welche Reputationsarena? Was lohnt sich? Ökonomen tun sich schwer, die Ubiquität von Kommunikation zuzulassen. Hier mangelt es ihnen an Klärung (zur Ausnahme vgl. die evolutionsökonomischen Versuche bei Herrmann-Pillath 2002). Übergangstheorien könnte Harrison C. White bieten (2003, S. 299–316). Luhmanns Systembeschreibung ist der Modellökonomik im Grunde nicht fremd, aber zu komplex. Man investiert nicht in andere linguistic communities, zumal der Ertrag ungewiss ist. Ökono-
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men betrachten Theorien, die sie verwenden, unter dem Gesichtspunkt ihrer Anschließbarkeit. Das Hauptproblem der Kommunikation zwischen Ökonomik und Systemtheorie ist die Kontingenz der Systemergebnisse (unter Einschluss des Phänomens der Beobachtung zweiter Ordnung). Man will Prognostizierbarkeit, was kausalistische Theorien voraussetzt. Die autoreferenziellen Theorietypen sind interessant, aber prognostisch offen. Diese Systemoffenheit stört: für ,handfeste‘ Ergebnisschließungen (Öffnungen bei Smith 2003). Zu Ihrer letzten Frage möchte ich anmerken, dass es bereits eine ständig laufende ,PISA-Studie für Märkte‘ gibt: die Aktienindizes. Nun gilt das nur für den kleinen Teil der Unternehmen, die als AGs firmieren; für die meisten Unternehmen haben wir keine anderen Evaluationsmöglichkeiten als ihre Marktperformance. Für den Konsumenten bedeutet das eine Erschwernis: Als ,König Kunde‘ muss er alleine entscheiden, was ihm gut vorkommt und was nicht. Hier zeigt sich eine erste Brücke zur Frage nach der Erziehung. Wie lernt ein Mensch, Konsument zu sein, und darin auch noch König? Wie steuert er sich durch die Warenwelt? Ist die normative Unterstellung der Ökonomik, jeder Mensch sei ein rational actor, nicht eine Kompetenzzumutung, die 1. de facto selten zutrifft und 2. wenn, dann gelernt sein muss? (vgl. Bianchi 1998). Der Code ,Zahlen/Nichtzahlen‘, den Luhmann für das Wirtschaftssystem vorschlägt, ist für die Konsumenten – die Erziehungsziele im Wirtschaftssystem – erst einmal eine Art Selbstlernprogramm. Wer sich in der Wirtschaft vertut, zahlt. Die Kosten dieser Zahlung, so wird es ökonomisch interpretiert, erhöhen den Anreiz zu lernen, es das nächste Mal richtig zu tun. Manche Ökonomen beginnen, die normative Unterstellung des rational actor umzustellen auf Lernprogramme: Die Aktoren sind nicht vollständig informiert (bounded rationality) über den Alternativenraum, noch haben sie ausreichendes Wissen über die Qualitäten der Güter (asymmetric information). Die theoretische Unterstellung des voll informierten rational actors ließ empirisch natürlich Fehler zu, weil man zusätzlich (aber unexpliziert) annahm, dass die actors aus Fehlern lernen, d. h. in der nächsten Sequenz des Marktspiels mit mehr Wissen operieren. In diesem Sinne ist die Einführung von ,Lernen‘ in die mainstream-Beschreibung des Wirtschaftssystems nur eine notwendige Konsequenz der Restriktionen von Information und Wissen. Man führt Phasen der bounded rationality ein, um danach: nach erfolgtem Lernen, zu unterstellen, dass das Lernen zugleich erfolgreich war, d. h. dass so etwas wie vollständiges Wissen auf dem erlangten Level erreicht wurde. Das sind Modellprobleme, denn man thematisiert nur Lernen (mit der Konnotation ,erfolgreich‘), nicht aber Nichtlernen (mit der Konnotation ,erfolglos‘). Viele wirtschaftliche Handlungen operieren mit ,Nichtlernen‘. Sie folgen irgendwelchen Regeln, die entweder Konventionen sind, Habitus oder kognitive oder semantische frames, d. h. sie interpretieren die Situation nicht als Beobachtung neuer und anderer Alternativen, sondern im Kanal ihrer individuellen frames, d. h. aufgrund von früherem Lernen. Das reicht ihnen aus, um aktuell nicht zu lernen, d. h. sie interpretieren die Situationsgegenwart nach Schemata
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ihrer eigenen Vergangenheit. ,Lernen‘ wird in den ökonomischen Kontexten an Erfahrungen gekoppelt, ohne dass man über Theorien darüber verfügt, wie Erfahrungen gemacht werden, d. h. wie man unmittelbar mit Neuem umgeht, ohne es über alte Codierungen zu präfigurieren. In diesem Sinne haben das Erziehungs- und das Wirtschaftssystem Ähnlichkeiten, nur dass die ökonomischen Beschreibungen des Wirtschaftssystems häufig ,over-epistemologized‘ sind. Ökonomie beschreibt den Marktnexus über Entscheidungen. Dafür wird epistemologische Klarheit unterstellt; Ökonomen reinterpretieren jede Situation auf ein Rationalitätsmuster (was vorher erheblich schwerer fällt, meistens fällt es aus). Doch sind die meisten Entscheidungen unklar bzw. es gibt nur vage Ontologien, Interferenzen und Ausblendungen höherer Ordnungen. Wenn das der Fall ist, wird in der Ökonomik ebenso zu fragen sein, wie bei der Erziehung: Wie bekommen Akteure Einfluss? Wie gewinnen sie rationale oder Entscheidungskompetenz? Gibt es hierbei überhaupt individuelle Akteure?
2. Schwierigkeiten mit dem Lernen: rational choice und/oder Evolution Bellmann: Die These, Aktienindizes seien so etwas wie eine ständig laufende PISA-Studie für Märkte, leuchtet mir noch nicht ein. Das Ungewöhnliche an PISA ist, dass hier erstmals eine Studie die konkreten Effekte eines Funktionssystems bei Akteuren anhand einheitlicher Erwartungswerte (Standards) misst und international vergleicht. Das ist so, als würde man zur Beurteilung des Medizinsystems Items für Gesundheit bzw. Krankheit einer bestimmten Altersgruppe festlegen und diese Erwartungswerte dann mit dem Ist-Stand der vom Medizinsystem betreuten Altersgruppe in Reihenuntersuchungen vergleichen. Auf diese Weise könnte man dann ein internationales Ranking von Medizinsystemen erstellen. Was aber sollte bei einer PISA-Studie für Wirtschaftssysteme gemessen werden und welche Standards könnte man zugrunde legen? DowJones und Dax operieren nicht mit fixen Standards, sondern mit relativen Zuwächsen. Nur im Vergleich der relativen Zuwächse nationaler Aktienindizes wird dann ein internationales Ranking möglich. Darüber hinaus sind Aktienindizes nur lose mit den tatsächlichen Leistungen des entsprechenden Wirtschaftssystems gekoppelt. Ohnehin spiegeln sie nur den in AGs organisierten kapitalistischen Zweig der Ökonomie, also einen Ausschnitt des Wirtschaftssystems. Ein beträchtliches Maß an Arbeitslosigkeit ist beispielsweise durchaus hinnehmbar, ohne dass dies die Entwicklung von Aktienindizes unmittelbar beeinflussen müsste. Aus systemtheoretischer Sicht ist das auch verständlich, weil die Funktion des Wirtschaftssystems nicht in der Befriedigung von Bedürfnissen besteht, sondern in der Regulierung des Zugriffs auf knappe Güter und Leistungen. Dies geschieht durch die Knappheit des Geldes; solange diese sekundäre Knappheit gewährleistet ist, kann das Wirtschaftssystem seine Funktion der sozialen Regulierung des Umgangs mit primärer Knappheit störungs-
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frei erfüllen. Anders als beim Erziehungssystem muss sich eine Evaluation des Wirtschaftssystems deshalb nicht nach den Effekten des Systems auf Akteure erkundigen. Die Wirkungen des Wirtschaftssystems fallen in der Gesellschaft selbst an, nicht in ihrer Umwelt, d. h. bei den Akteuren. Wie steht es nun mit der Kennzeichnung des Marktes als Selbstlernprogramm? Luhmann hat den ,kapitalistischen‘ Sektor der Ökonomie dadurch gekennzeichnet, dass hier „die Zahlung dem Zahlenden selbst zugute kommt. [...] Man zahlt, um die eigenen Möglichkeiten des Zahlens wieder aufzufrischen und nach Möglichkeit zu vermehren (statt nur um das Objekt oder die Leistung zu erhalten, für die man zahlt)“ (1988, S. 55f.). Für alle profitorientierten Marktteilnehmer ist deshalb der Markt in der Tat ein Selbstlernprogramm. Die Bilanz informiert über Erfolg oder Misserfolg der eigenen Entscheidungen. Zudem ist der wettbewerblich organisierte Markt ein sozialer Mechanismus, der die Internalisierung externer Effekte erzwingt. Wer einen externen Nutzen bei Dritten erzeugt, wird dafür entlohnt; wer externe Kosten bei Dritten erzeugt, muss diese dafür entschädigen. Das hiermit institutionell verankerte Verursacherprinzip zeigt dabei eine nicht zu übersehende Affinität zu einer pädagogischen Zielstellung wie Selbstverantwortlichkeit. Guy Kirsch hat deshalb den Markt als einen Mechanismus bezeichnet, mit dessen Hilfe es gelingt, die an einer Entscheidung Beteiligten zu den von dieser Entscheidung Betroffenen zu machen. Das ist selbstverständlich eine überaus günstige Bedingung für Lernen: Der Idee nach ist das eigene Handeln vollständig mit den Effekten des eigenen Handelns rückgekoppelt. Einschränkend muss hinzugesagt werden, dass das Selbstlernprogramm ,Markt‘ kein Lernen im Modus primärer Erfahrung impliziert. Der profitorientierte Marktteilnehmer ,erfährt‘ nicht den externen Nutzen, den er durch sein Handeln bei anderen erzeugt. Was er erfährt, sind Zahlungen, die ihm indirekt über seine externen Effekte Aufschluss geben. Diese Indirektheit ist in der philosophisch-pädagogischen Kritik des Marktes immer wieder als Indiz für ,entfremdete‘ Erfahrung gebrandmarkt worden – wobei wohl unter der Hand Erfahrung im überschaubaren Nahbereich pädagogischer Interaktion zum normativen Modell für Erfahrung in komplexen, anonymen Handlungskontexten erhoben wurde. Das Dilemma moderner Erziehung bestand deshalb von Anfang an auch in dem Problem, auf Handlungskontexte vorzubereiten, die von der pädagogischen Provinz strukturell verschieden sind. Einschränkend muss darüber hinaus gesagt werden, dass auch das Selbstlernprogramm ,Markt‘ die Akteure unter Umständen nicht hinreichend über Erfolg und Misserfolg ihrer Entscheidungen informiert. Das liegt daran, dass zwischen Investition und Rendite Zeit vergeht. Eine negative Jahresbilanz kann deshalb ebenso gut ein Indiz für Misserfolg wie für Erfolg sein. Schließlich muss daran erinnert werden, dass das Selbstlernprogramm ,Markt‘ nicht überall funktioniert. So werden etwa im nicht-kapitalistischen Sektor der Ökonomie Zahlungen geleistet, die unmittelbar dem Konsum und nicht der Wiederherstellung von Zahlungsfähigkeit dienen. Es ist deshalb die
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Frage, ob der Code ,Zahlen/Nichtzahlen‘ auch als Selbstlernprogramm im Bereich des Konsums funktioniert. In der Tat ist jede Konsumentscheidung mit Kosten verbunden, aber erhöht das den Anreiz, es das nächste Mal besser zu machen? Und was heißt es, es ,besser‘ zu machen? Der rational choice-Ansatz suggeriert die universelle Möglichkeit einer Bilanzierung von Kosten und Nutzen, obwohl von einer Abwägung von Kosten und Nutzen nur in einem metaphorischen Sinne die Rede ist. Jede getroffene Entscheidung wird als rationale Entscheidung betrachtet, weil immer schon unterstellt wird, dass aus Sicht eines rationalen Akteurs der Nutzen einer Entscheidung die mit ihr verknüpften Kosten übersteigt, sonst würde die Entscheidung eben nicht getroffen. Rationalität ist hier eine methodologische Unterstellung, der jene komparative Dimension fehlt, die für den pädagogischen Diskurs wohl unverzichtbar ist. Es gibt kein ,besser/schlechter‘ in der Theorie rationaler Wahlhandlungen, und dies ist ein Grund dafür, dass es schwer fällt, mit Mitteln dieser Theorie Lernen zu modellieren. Es wäre zu diskutieren, ob Luhmanns evolutionstheoretischer Zugang zum Problem des Lernens diese Schwierigkeit überwindet. Zunächst ist interessant, dass Luhmann den üblichen Nexus Lernen:erfolgreich, Nichtlernen:nichterfolgreich auflöst und seine Elemente frei kombinierbar macht. Lernen im Sinne einer Selbstveränderung eines Systems (Varietät) muss für das Überleben dieses Systems nicht notwendigerweise dienlich sein. Umgekehrt kann Nichtlernen (Redundanz), also das Fortfahren nach einmal erworbenen frames, dies unter Umständen sehr wohl. Welche Strategie erfolgreich ist, Varietät oder Redundanz, erweist sich erst ex post, d. h. im Prozess der Evolution dieser Systeme in sich verändernden Umwelten, und kann nicht ex ante prognostiziert werden. Anpassung im Sinne lernender Selbstveränderung ist jedenfalls nicht die dominante Strategie. Auch die selektive Abkopplung eines Systems von seinen Umweltbezügen bietet Chancen. Pädagogisch ist dies beunruhigend, weil der Nexus Lernen:erfolgreich, Nichtlernen:nichterfolgreich gewissermaßen zur Betriebsprämisse der Profession gehört. Zudem kommt auch die evolutionstheoretische Lerntheorie den komparativen Bedürfnissen der Profession nicht entgegen. Das Modell liefert keine Fixpunkte für besseres oder schlechteres Lernen, weil alle überlebenden Systeme als erfolgreich gelten müssen, auch wenn sie auf Nichtlernen gesetzt haben. Das würde dann das Eingeständnis erzwingen, dass ,besser/schlechter‘ allein ein willkürlicher Maßstab des pädagogischen Beobachters selbst ist, der bestenfalls etwas aussagt über die performance eines lernenden psychischen Systems im sozialen System Erziehung, aber nicht – wie es die ,alteuropäische‘ Bildungstheorie meinte – über die Qualität einer universellen Wechselwirkung von Mensch und Welt. Man müsste dann auch eingestehen, dass jedes soziale System spezifische Anreizsysteme für Lernen entwickelt hat. Der exklusive Anspruch, d. h. die selbstzugeschriebene Sonderstellung des Erziehungssystems, eine universelle Lernfähigkeit hervorzubringen, würde damit fraglich.
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Priddat: Dass rational choice Lernen nur schwierig modellieren kann, kann ich nicht generell behaupten. Ökonomische Gleichgewichtssystemmodellierungen gelingen, weil man den Akteuren unterstellen muss, dass sie entweder ihre Präferenzen oder ihre Nachfrage situativ unmittelbar anpassen, also lernen können. Das ,Lernen‘, wenn auch outside of any pedagogics, ist eine notwendige Bedingung für das Gelingen von rational choice. Was in situ danebengeht, wird für die nächste Handlungssequenz ,gelernt‘. D. h. die Tatsache, dass rational choice nicht funktioniert, wird so interpretiert, dass der rational actor schnell lernt, wie er sich nun tatsächlich verhalten muss, um als rational actor auftreten zu können. Diese Differenz ist ,lernen‘, in weiter Distanz zu dem, was Lerntheorien besagen. Er lernt to be a rational actor (eine Art Selbstanpassung an das Basismodell). Es ist ein Lern-Opportunismus, also nur formal äquivalent. Es ist tatsächlich ähnlich dem, was Luhmann in Bezug auf die Wirtschaft als Anschlussfähigkeit von Operationen bezeichnet. ,Lernen‘ hieße dann: anschlussfähig zu bleiben. Die Semantik der ,-fähigkeit‘ schließt an die Semantik von Kompetenz an, die Bildung/Ausbildung generieren will. Was hier so leicht diskreditierend erscheinen mag, ist eine tatsächliche Bildungsleistung für die moderne Moderne: Anschlussfähigbleiben. Das erfordert mehr Navigationskompetenz als Wissenslagerfähigkeit (vgl. für Unternehmen Sutcliffe/Weick 2001). Die Kybernetik, die Steuerungskunst, ist dann letztlich das Entscheidende. Wie lehrt man sie? Und: wer? Luhmann operierte tatsächlich am gewohnten pädagogischen Telos vorbei. Er kann Lernen nicht substanzialistisch betrachten, als ob beim Lernen etwas akkumuliert wird, was man dann hat, als Vermögen, Kompetenz, Fähigkeit z. B. In einem kommunikativ aufgestellten sozialen System kann natürlich ,gelernt‘ werden im gewöhnlichen modus paedagogicus, aber auch völlig anderes an ,Erfahrung geschehen‘, um es gleich auch anders auszudrücken. Man ,lernt‘ nichts, und hat deshalb Erfolg etc., was nichts anderes heißt: man folgt keiner Konvention, auch keiner pädagogischen, sondern bleibt kontingenzoffen, Einflüssen und Bestimmungen besonderer Art ausgesetzt, die nicht im notorischen Kausalismus des Lernens befangen sind. Denn ,Lernen‘ ist einer kausalistischen Interpretation zumindest nahe: ,wenn du lernst, dann weißt du, wie ...‘ etc. Lernen heißt erst einmal nichts anderes als: neue Erfahrungen zu machen und sich neue Schemata der Weltinterpretation anzueignen. Wenn man dann unterstellt, dass die künftigen Situationen zu den dann vergangenen Erfahrungen passen, hat man eine deterministische Interpretation der Transmission von Erfahrungsvergangenheit und Erwartungszukunft geliefert, die immer durch Erwartungsänderungen irritierbar bleibt, die dann, wenn sie eintreten, die Erfahrungen entwerten, also das Gelernte unbrauchbar machen. ,Gut gelernt‘ hat man, wenn einen das wiederum nicht irritiert. Möglicherweise lösen wir diese Paradoxie gewöhnlich einseitig danach auf, dass wir das, was wir meinen ,gelernt‘ zu haben, als frame für die Welt, die wir uns vornehmen, nehmen, und folglich Interpretationen aus dem frame generieren, die die Situation der Erfahrung anpassen, als umgekehrt die Erfahrung wählen, die zur Situation passt
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(mit der Kontingenz, keine passende zu finden, was dann zum ,Er-finden‘ überleitet). Auf der Basis dieser inadaequatio in re kann Lernen nicht nur als Lernen, sondern auch als Verfehlen interpretiert werden. Lernen ist dann, wenn es als Selbstkorrektur von Identität aufgefasst wird, gleichsam als Wachstum von Person (oder ,Persönlichkeitsentwicklung‘), für Luhmann eine psychische Sache, die die Systemlogik nicht berührt. Hier würden Ökonomen ähnlich antworten: ,Lernen‘ ist nur wichtig, wenn die Systemoperateure Fehlallokationen auflösen. Für rational choice bedeutet das: Sind sie in der Lage, die beste Alternative herauszufinden und auch iterativ zu behaupten, dass es die beste sei, ohne sich dabei irritieren zu lassen. Lernen ist dann identisch mit Irritierbarkeit und Urteilsrevision: ein bounded rationality-Thema. Aber Persönlichkeitsentwicklung ist für Ökonomen nur interessant, wenn sie die Präferenzprofile der Akteure stabilisiert, d. h. wenn im Grunde non-luhmannian-theories gelten: keine Irritation, keine Änderung, statt dessen Stabilität der Urteilslagen, in welchen Situationen auch immer, Erwartbarkeit von Unterscheidungen und Entscheidungen etc. ,Lernen‘ ist dann ein modus operandi innerhalb der Ökonomie, der die irritativen Akteure/Akteurswelten auf stabile Erwartungen und damit stabile urteilsfähige Persönlichkeiten abstellt. Daraus kann aber nichts anderes geschlossen werden, als dass die rational choice theory eine in juridischem/pädagogischem Sinne qualifizierte Person benötigt, die zum einen verantwortlich ist für ihre Handlungen, zum anderen pädagogisch ausgelernt hat, d. h. voll entwickelt ist. Alle Defekte des von der Ökonomik eingesetzten Akteurs sind potenzielle Effizienzverluste oder Allokationsversagen des Systems. Nicht-lernende Akteure würden Gleichgewichtsmodellierungen verunmöglichen. Vielleicht reicht es, Lernen als Installation von Systemoperativität zu beschreiben, was dann nicht mehr auf Persönlichkeit und deren Entwicklung hinausliefe, sondern auf multiple Installation, weil ,Personen‘ ja in mehreren Systemen präsent sind. Damit wäre ,Lernen‘ nicht mehr teletisch zu fassen, nicht mehr als ein ,Lernen auf etwas hin‘, sondern 1. multipel, d. h. mehrfachteletisch (ohne Supertelos) und 2. wegen der Kontingenz der Systemoperativität nicht abschließbar. Bildung kann dann als generative Anregung von Mehrsystemoperateuren betrachtet werden. Luhmann lehnt normatives Lernen ab. Es gibt für ihn nur so etwas wie einen systemrelativen Pluralismus von Rationalitäten, der, bildungstaktisch übersetzt, Mehrsprachigkeit bedeuten würde. Pädagogik will, in welchem System auch immer, mindestens eine Zusatzleistung verbuchen: qualitative Aufladung von Akteuren. Es geht um Identitätsextension, ob nun in der elaborierten Form der ,Persönlichkeitsentwicklung‘ oder nur in der Aufladung der Neuro-Festplatte: more knowledge. Für Systemtheorien bedeutet es aber: variante, oder, um es deutlicher zu sagen, instabile Akteure. Die ökonomische Systemtheorie (als Gleichgewichtsökonomik) definiert die Akteure über ihre Entscheidungseffizienz und kann so zulassen, dass sie lernen, damit sie Defekte von Entscheidungseffizienz ausbügeln. Luhmann hingegen
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definiert Systemeffizienz anders: als Anschlussfähigkeit, nicht als individuelle oder transaktorisch-bilaterale Effizienz. Ihm reicht es, dass die Operateure irgendwelche Gründe, Motive etc. haben, um Zahlungen einzuleiten, während die ökonomische Systemtheorie richtige Präferenzen annehmen muss, um die optimale Wahl zu definieren. Luhmann kann darauf verzichten, Lernen als notwendig für die Zahlungsanschlüsse einzuführen, während die Ökonomik Defekte der Allokation überbrücken muss, d. h. ihre Akteure müssen lernen, optimal zu werden, wenn sie suboptimal agieren. Lernen ist in economics die Strafe für eine Nicht-von-vornherein-Effizienz. Deswegen kann sich dieses Lernen nicht aussuchen, was es lernt, sondern ist defekt-programmiert. Der Vorteil der ökonomischen Konzeption liegt darin, Effizienz als Norm einzuführen, mit der Abweichungen identifiziert werden können. Lernen wäre dann die individuelle Optimierung, der Rest wird als staatliche Intervention eingeführt. Luhmann hat den Vorteil, Effizienz nicht auf die Vorstellungen der Akteure, sondern auf die Ergebnisse zu beziehen: wenn Zahlungen stattfinden, findet Ökonomie statt. Das kann man aus systemtheoretischer Perspektive sagen, unterschlägt aber den Investitionsakt, der Bildung ausmacht. Bildung ist investment in human capital, dessen return on investment erst später erfolgt (zum Humankapitalansatz vgl. Ederer/Schuller/Willms 2002). Es gibt demnach keine Zahlungsunmittelbarkeit, sondern Disposition (plus Warten) plus späteres Gelingen. Bildung will natürlich passende Investition sein, hochprofitabel sozusagen. Aber die Bildungsinvestitionen variieren. In Wissensgesellschaften z. B. ist es unklar, auf welches Wissen hin ausgebildet werden soll (wenn das Wissen selber in Halbwertzeiten diskontiert wird). Man muss zumindest wissen, wie man an Wissen gelangt. Knowledge access wird wichtiger als bloßes Wissen (das ja zudem falsch oder fehlinvestiert sein kann). Wenn wir den knowledge access mit der oben erwähnten Mehrsprachigkeit in Verbindung setzen, dann wird die eben noch geführte Redeweise von der ,passenden Bildungsinvestition‘ obsolet, denn was passt, stellt sich im künftigen Kontext dann je erst heraus. Folglich ist die Passung, die Bildung spezifisch erzeugt, jene radarartige Navigationskompetenz, die den prozessualen Modus der Anschlussfähigkeit auszeichnet. Bildung installiert Systemfähigkeit (in pluralis) (vgl. Luhmann 2000, Kap. 15). In Luhmanns Sicht ist das konsequent; ein solcher konstruktivistischer Opportunismus widerspricht allen Aufklärungs- und Emanzipationssemantiken. Die Emanzipationen vom System werden invertiert in Emanzipationen in die Systeme. Wenn das aber so ist, dann ist das, was Bildung leisten soll, nicht damit getan, dass man Wissen beibringt (oder das Beibringen gar forciert), sondern Nicht-Imitierbares beibringt. Nun kommt ein weiterer Begriff bzw. ein Begriffspaar ins Spiel: specifity/diversity. Jedes human capital muss, nach dieser Betrachtung, spezifisch ausgebildet sein. Alle spezifischen human capitals bilden zusammen ein Spektrum hoher Diversität. Es kommt in Wissensgesellschaften, die immens viel Wissen produzieren, darauf an, ein Wissen zu generieren, das
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niemand anders hat: Specific knowledge bedeutet hohe Knappheit auf WissensArbeits-Märkten. Wenn Bildung aber auf Spezifität/Diversität ausgelegt wird, dann bilden wir viele singuläre human capitals, die durchaus ihre eigenen Märkte schaffen. Die Bildung würde dann zu einer Ökonomie der Produktion von Wissens-Knappheiten, die die Arbeitsmärkte neu alloziieren würden. Das bilden die Märkte nicht selber aus, das könnte Bildung, in welcher Organisation auch immer, liefern. Durch die Art und Weise, wie Bildung das personale Inventar künftiger Systeme disponiert, installiert sie Kommunikationspotenziale und Optionenwachstum. Hier koppelt Bildung in die Wirtschaft z. B. etwas ein, was die Wirtschaft selber nicht reproduziert – außer in der Form der Ankopplung und Inklusion von Bildung in Märkte, d. h. in Bildungsmärkte. Man muss es so formulieren: Nur der Überschuss an Bildung schafft jene späteren individuellen specific knowledges, die aus Kombinationen von Ungewöhnlichem bestehen können, die deshalb einzigartig (unique) und nicht-imitierbar sind. Die Knappheit, lautet die Bildungsparadoxie, entsteht durch Überschuss an Bildungsoptionen und -kombination.
3. Ubiquität der Lernsemantik: Entgrenzungen und Respezifikationen Bellmann: Die Antwort auf die Frage, wie es die rational choice-Theorie mit dem Lernen hält, hängt wohl auch davon ab, welchen methodologischen Status man dem in dieser Theorie verwendeten Akteurskonzepts (homo oeconomicus) zumisst. Hier herrschen unterschiedliche Ansichten. Umstritten ist zunächst, ob es empirisch-deskriptiv oder methodologisch-heuristisch verstanden werden soll. Versteht man das Modell empirisch-deskriptiv, so müsste man diverse ,Verhaltensanomalien‘ feststellen und sich an den realitätsgerechteren Umbau des deskriptiven Modells machen, indem man etwa nur noch bounded rationality unterstellt. Versteht man das Modell aber als methodologisch gemeinte Akteursfiktion zur Auffindung verhaltensrelevanter Kostenfaktoren, dann kann man damit durchaus erfolgreich arbeiten, ohne zu Reparaturmaßnahmen am Modell gezwungen zu sein. Michael Hutter und Gunther Teubner verstehen den rational actor noch in einem anderen, nämlich soziologisch-systemtheoretischen Sinne: „(N)icht die Wissenschaft baut das Konstrukt des reasonable man, sondern Recht und Wirtschaft als autonome Sozialsysteme schaffen sich ihre Akteure als institutionelle Fiktionen“ (Hutter/Teubner 1994, S. 117). Das hat Folgen für die Verknüpfung von rational choice und Lernen: Gelernt würden dann vorrangig nicht einzelne rationale Wahlhandlungen, sondern die Orientierung am sozialen Konstrukt des reasonable man selbst. Die Akteursfiktion fungiert damit als kommunikativ konstruierte Handlungserwartung, die den an Tausch- und Marktbeziehungen
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Teilnehmenden Rationalität im Sinne von Verantwortlichkeit zuschreibt. Im Falle des Scheiterns ist nur der Akteur selbst haftbar. Geht man von dieser Lesart aus, so fragt sich, ob die „Selbstanpassung an das Basismodell“, von der eben bereits die Rede war, tatsächlich die universale Bedeutung hat, die der ,Imperialismus‘ der rational choice-Theorie unterstellt. Für Hutter und Teubner jedenfalls handelt es sich um eine teilbereichsspezifische Akteursfiktion, deren Erfolg selbst von bestimmten sozialen Kontexten abhängt, die, wie es an sozialen Dilemmata gezeigt wurde, systematisch jene Kosten-Nutzen-Kalkulationen abrufen, die im Modell unterstellt werden. Diese relativierende Einsicht ergibt sich freilich aus einer soziologisch-vergleichenden Perspektive, die den ,ökonomischen Imperialismus‘ fraglich werden lässt oder lediglich als einen Imperialismus unter anderen zu sehen lehrt. Scheint es doch eine generelle Tendenz teilsystemspezifischer Reflexionstheorien zu sein, ihre jeweilige Akteursfiktion als Abbild des homme naturel auszugeben und zu verallgemeinern. Auch dies kann eine Variante einer selbstzugeschriebenen Sonderstellung sein, die sich durch soziologische Aufklärung relativieren ließe. Aus soziologisch-systemtheoretischer Sicht haben Luhmann und Schorr eine Besonderheit des Erziehungssystems in der bleibend hohen Relevanz von Überschneidungsbereichen gesehen. Gemeint waren vor allem die Bereiche Familienleben, Wissenschaft und Wirtschaft, die zwar Erziehungsleistungen erbringen, sich gleichwohl der vollen Ausdifferenzierung der Erziehungsfunktion entziehen (vgl. Luhmann/Schorr 1988, S. 61). Anders als etwa das Wirtschaftssystem besitzt das Erziehungssystem kein vollständig systemeigenes symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium und folglich sind seiner Ausdifferenzierbarkeit Grenzen gesetzt. Erziehung findet auch außerhalb des Erziehungssystems statt, ohne dass sich die Eigenlogik dieser Überschneidungsbereiche der Erziehungsfunktion unterordnen ließe. Interessant ist nun, dass die Kontingenzformeln, mit denen das Erziehungssystem seine Funktion reflektiert, zugleich einen Bezug zu jenen Überschneidungsbereichen aufweisen. Dem historischen Wechsel der Kontingenzformeln von ,humaner Perfektion‘ über ,Bildung‘ hin zu ,Lernfähigkeit‘ entspricht in der Analyse von Luhmann und Schorr ein Wechsel in der vorrangigen Anlehnung an einen der Überschneidungsbereiche: „Während humane Perfektion eine Formel ist, die Familienerziehung und Schulerziehung übergreift, gewinnt die Formel Bildung ihren spezifischen Gehalt durch die Voraussetzung eines besonderen Erziehungswertes der Wissenschaft. Lernfähigkeit schließlich formuliert eine Kondition, die vor allem auf spätere Verwendung im beruflichen Leben blickt und besagt, dass die Erziehung, was immer sie sonst mitgibt, vor allem zum Lernen von Lernfähigkeit führen müsse, um für jede spätere Lebenslage zu wappnen“ (ebd., S. 62). Die gegenwärtige Konjunktur der Lernsemantik ist ein Hinweis auf die bleibende Aktualität der von Luhmann und Schorr gegebenen Situationsbeschreibung. Die Kontingenzformel ,Lernfähigkeit‘ findet heute unterschiedliche Beschreibungen. Man kann das, worauf es ankommt, im Sinne der Kybernetik
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„Navigationskompetenz“ nennen und von bloßer „Wissenslagerfähigkeit“ abgrenzen; oder man konstatiert die Bedeutung von „knowledge access“ im Unterschied zu einfachem Wissen. Stets geht es darum, das einfache Lernen und den Erwerb bloßer Kenntnisse zugunsten eines selbstreferenziellen „Lernen des Lernens“ (Humboldt) abzuwerten. Diese Umstellung wird schon im pädagogischen Diskurs um 1800 vorbereitet. Ähnlich wie die früheren Kontingenzformeln ,humane Perfektion‘ oder ,Bildung‘ verweist allerdings auch die heute verstärkt ins Spiel gebrachte Kontingenzformel ,Lernfähigkeit‘ auf eine scheinbar unbegrenzbare Aspiration: Verlangt wird die „Dauerbereitschaft, Neuem durch Änderung von bereits gelernten Erwartungsmustern zu begegnen“ (Luhmann/Schorr 1988, S. 86). Im Mythos grenzenloser Flexibilität gerät möglicherweise das aus dem Blick, was eine Kontingenzformel immer auch zu leisten hat: die Einschränkungen der mit ihr ins Blickfeld gebrachten Möglichkeiten mitzuformulieren: „Unbestimmtes muß in bestimmte oder doch bestimmbare Kontingenz übergeführt werden“ (ebd., S. 59). Die Rede von der bloßen und unbegrenzten Steigerung von Lernfähigkeit erfüllt dieses Kriterium gerade nicht. Wie kommen also Einschränkungen in den Blick? Zunächst, indem man daran erinnert, dass Lernen immer auch einen gegenständlichen Bezug hat: Man lernt nie nur und ausschließlich zu lernen. Das wäre ein Wunder nach Art der alten Vermögenspsychologie, die glaubte, man könne das Gedächtnis oder das Denkvermögen schulen, während der Bezug auf Inhalte diesem Lernen gegenüber äußerlich bliebe. Im günstigsten Fall aber geschieht beides zugleich, wie es Humboldt in seinem „Königsberger Schulplan“ über den Schüler im Unterricht sagt: „Er ist auf doppelte Weise, einmal mit dem Lernen selbst, dann mit dem Lernen des Lernens beschäftigt“ (Humboldt 1960, S. 170). Unter didaktischen Gesichtspunkten ist dann etwa die Frage diskutiert worden, welche Unterrichtsinhalte gewählt werden sollen, die in besonderer Weise für vielfältige Anschlüsse des Weiterlernens geeignet sind (vgl. Dewey 1988, S. 17ff.). Es ist aber keineswegs ausgemacht, dass Lernen und Lernfähigkeit, wie es pädagogischer Optimismus unterstellt, grundsätzlich gleichzeitig steigerbar sind. Stellt man in Rechnung, dass gerade mit erfolgreichem Lernen frames etabliert oder bekräftigt werden, die die Wahrnehmung zukünftiger Situationen mitbestimmen, dann könnte man geradezu einen trade-off zwischen Lernfähigkeit und Lernen oder Bildsamkeit und Bildung annehmen. Je mehr einer gelernt hat, desto weniger flexibel wird er, um auf neue Situationen in neuer Weise reagieren zu können. In der heute vielfach beschworenen schönen neuen Welt des Lernens wird dieser Umstand gern ausgeblendet: dass nämlich die Zumutung einer Dauerbereitschaft zur Umstellung von Erwartungsmustern an eine innere Grenze stößt, selbst dann, wenn das vorausgegangene Lernen erfolgreich war. Die Kontingenzformel ,Lernfähigkeit‘ und ihre Varianten klingen aber allesamt harmlos und optimistisch, und genau das könnte skeptisch machen. Irritierend für den Pädagogen ist nicht nur, dass ihr vorrangiger Bezug auf den
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Überschneidungsbereich Wirtschaft darin fast unkenntlich ist. Irritierend ist auch, dass die nun auch außerhalb des Erziehungssystems verbreitet erhobene Forderung nach Lernfähigkeit an eine Semantik anschließt, die in den Reflexionstheorien des Erziehungssystems selbst entwickelt wurde. Das macht es schwer, sie als unzulässige ,Ökonomisierung‘ zurückzuweisen. Überkommene Dualismen wie Bildung vs. Ausbildung taugen nicht mehr als Abwehrstrategien, wenn selbst eine „Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen“ (1997) heute vor der strikten Koppelung von Wirtschafts- und Erziehungssystem warnt. Unter der Bedingung zunehmender Unsicherheit gewinnt die Semantik von Bildung und Lernfähigkeit auch außerhalb des Erziehungssystems an Attraktivität. Angesichts dieser Situation greifen traditionelle Kritikmuster nicht mehr; besonders solche, die einen Widerspruch zwischen der Autonomie des Erziehungssystems und seiner gesellschaftlichen Funktionalität unterstellen, während doch Autonomie im Sinne autopoietischer Schließung auch im Fall des Erziehungssystems nur die Bedingung seiner Offenheit für Umweltbeziehungen ist. Gerade insofern sich das Erziehungssystem selbstreferenziell an der eigenen Kontingenzformel ,Lernfähigkeit‘ orientiert, erbringt es Leistungen auch für andere Teilsysteme der Gesellschaft. Das führt zu der Frage, wie man Navigationskompetenz lehren kann. Womöglich wird sie gar nicht als Resultat einer ausdrücklichen Lehre erlernt, sondern indirekt in spezifischen Anreizsystemen, die mindestens zweierlei zu leisten hätten: Zum einen müssten sie für hinreichende Irritationen sorgen, damit auch auf der Grundlage des schon erfolgreich Gelernten eine Offenheit für neue Erfahrungen bestehen bleibt; zum anderen hätten sie die Entwicklung von Lernfähigkeit selbst dann zu honorieren, wenn das dabei immer auch mitlaufende ,einfache‘ Lernen mit Misserfolgen verbunden ist. Das verlangt andere Zeithorizonte, in denen nicht nur kurzfristige Einzelfallkalkulationen, sondern auch riskante Strategien „globaler Maximierung“ (vgl. Elster 1987) zum Zuge kommen können, die sich auf das bloß Mögliche beziehen. Die gegenwärtige Attraktivität der Lernsemantik auch außerhalb des Erziehungssystems erklärt sich daraus, dass mit zunehmender gesellschaftlicher Komplexität auch die Nachfrage nach Navigationskompetenz steigt. Auch dort, wo der Verwertungs- und Erfolgsdruck des Lernens besonders groß ist (wie im kapitalistischen Zweig der Ökonomie), wird nun verstärkt von Lernfähigkeit geredet. Wohl wissend, dass es hier anders als im Erziehungssystem gar kein Lernen um des bloßen Lernens willen geben kann, möchte man dennoch eine ,Fehlerkultur‘ und eine ,Kreativität‘ für neue Lösungen gedeihen lassen, die sich ohne die zumindest vorübergehende Außerkraftsetzung kurzfristiger Renditeerwartungen nicht etablieren lässt. Die Schaffung von Freiräumen für experimentelles Lernen stellt also selbst eine Investition in die Auffindung und Erarbeitung neuer Handlungsalternativen dar. Da diese ex ante eben unbekannt sind, kann die Entscheidung für solche Strategien globaler Maximierung nicht als einfaches Wahlhandlungsproblem modelliert werden (vgl. Wegner 1995, S. 191f.).
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Vielleicht ist dies der zentrale Grund dafür, dass die rational choice-Theorie sich schwer tut mit Innovation und Lernen. Während die Lernsemantik in der Ökonomie Einzug hält, findet man die Semantik von Knappheit und Markt zunehmend auch im Bildungsdiskurs wieder. Die These etwa, Bildung könne so etwas wie eine „Ökonomie der Produktion von Wissensknappheiten“ sein, ist aus Sicht der pädagogischen Profession provokativ. Nach der Devise des Comenius war man doch angetreten, „alle alles gänzlich zu lehren“, also Wissensknappheiten gründlich und flächendeckend zu beseitigen. Dass es aber soziologisch gesehen im Erziehungssystem zugleich auf die Diversifizierung des Wissens ankommt, ist in pädagogischen Selbstbeschreibungen häufig unterbelichtet geblieben. Diversifizierung wurde zumeist als ethisches Postulat einer zu fördernden individuellen ,Eigentümlichkeit‘ verstanden, während der funktionale Zusammenhang dieses Postulats mit einer ausdifferenzierten Gesellschaft übersehen wurde. Besonders Durkheim hat hier soziologische Aufklärung geleistet, indem er daran erinnerte, dass es moderne Erziehung mit dem Problem von Homogenisierung und Diversifizierung zugleich zu tun hat. Man muss die Position Durkheims nicht teilen, der sich gesellschaftliche Integration qua ,organischer Solidarität‘ vorstellte, um zu sehen, dass die einseitige Orientierung an einem Wissen, „das niemand anders hat“, wohl nicht ausreicht. Ginge es im Erziehungssystem allein darum, „Nicht-Imitierbares“ zu erlernen, wäre am Ende auch das in Frage gestellt, was eine nüchterne systemtheoretisch inspirierte Beschreibung unter „Anschlussfähigkeit“ versteht. Selbst „Mehrsprachigkeit“ verweist auf Sprachspiele, die man nicht alleine spielt.
4. Navigare necesse est Priddat: Das ist wohl wahr. Es geht hierbei nicht abstrakt um ,Pluralismus‘, sondern um Kompetenz: Wie kann man in dynamisierten Welten, deren Bedingungen, Normen und Möglichkeiten zunehmen, komplexer werden, lernen, d. h. Erfahrungen praktischer und intellektueller Art machen? Die Erfahrungen, die die Fahrt des Lernens macht, sind nur teilspiel-relevant. Für manche Spiele der Welt gelten sie, für andere nicht: Wie weiß man, in welchem Spiel man spielt? Es geht um die Frage der ,elective sociality‘: Welche Sets an Lernen/ Erfahrungen werden eingespielt, um die Probanden zukünftig an welche Spiele gewöhnt bzw. in sie eingeführt zu haben? Anschlussfähigkeit ist eine Kompetenz anzukoppeln. Hier lohnen sich netzwerktheoretische Skizzen: Wie nimmt man lose Endungen auf, welcher Netzwerke, um welche Kopplungsmodalitäten vollziehen zu können: weak or strong ties? In jedem Fall geht es um Kompetenzen, die im pädagogischen glacis nur unzureichend erlernt werden. Dort wird Lernen ad hominem adressiert, wobei Diversifizierungen zu kurz kommen. Wie gehen wir beispielsweise mit dem EliteThema um, das gerade wieder aufschwingt? Unter Knappheitsattributen wird Bildung neu verteilt: wer bekommt eigentlich wie viel, mit welchem Anspruch?
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Mit welchem Erfolgsversprechen? Auch hier werden wir eine Renaissance der Leistungsgerechtigkeit erleben. Der in der Pädagogik reüssierende Knappheitsdiskurs wird neue Formen der Diversität einführen (wie gerade nach PISA die allfällige Erörterung der Förderung Hochbegabter im gewöhnlichen Schulalltag beginnt). Wir werden Lernen in dosis neu verteilt bekommen, stärker als bisher nach Leistung, Begabung und Geld differenziert – weil wir die Aufwendungen, die je spezifisch aufgebracht werden, genauer unterscheiden werden (vgl. dazu Priddat 2002). Die Einführung des Wortes ,Wissensgesellschaft‘ beinhaltet nicht – wie man wohlfahrtsdemokratisch schnell anzunehmen geneigt ist – die gleichmäßige Verteilung von Wissen über alle Bürger, sondern umgekehrt eine Selektion der Wissenskompetenten gegenüber den minder Kompetenten. Es wäre fast gelacht, glauben zu wollen, dass durch die Wissensgesellschaft alle fähig wären, daran teilzunehmen: Wissensgesellschaft ist ein Selektionsterm, kein sozialdemokratischer Pool gleicher Fähigkeit, besser lernen zu können. Die Kompetition nimmt zu. Hier beginnt die moderne soziale Metaphysik aufzuhören: neue Selektionen beginnen, auch neue Variationen, das ganze Spiel der Evolution der Wissensgesellschaft. Die pädagogische Beschwörung des Lernen/Kompetenz-Zusammenhanges ist möglicherweise eine Schutzformel aus dem auslaufenden 20. Jahrhundert, die die Gleichartigkeitszumutung aller Menschen betont, weil sie zu ahnen beginnt, dass diese Geschichte nicht ewig erzählt werden kann. Wissen ist eine Zumutung, der viele nicht standhalten, auch nicht bei besser bewaffneter Pädagogik. Für die naturwissenschaftliche Seite der Wissensgesellschaft erleben wir die allgemeine Erschlaffung bereits in den Schulen. Nicht zufällig reüssiert der Terminus ,Wissensgesellschaft‘ in Deutschland nicht: mit soviel Wissen will man nicht so sehr viel zu tun haben (man könnte ja daran persönlich bemessen werden). Möglicherweise signalisiert die Ekstase des Lernens etwas ganz anderes: dass der kognitive Teil für einige wenige reserviert bleibt, dass die anderen anderes lernen als kognitive Extension. Nur was? Es geht nicht, um gleich davon abzulenken, um mehr oder weniger Wissen, sondern um andere Wissensformen: z. B. um eine éducation sentimentale. Wissensgesellschaft verbreitert Wissen nicht einfach, sondern selegiert es – mehr als zuvor. Ich weiß, dass das eine eigensinnige Behauptung ist, die ich auch deshalb sofort um die Formel Pascals ergänze: Bildung des Herzens. Das ist gegen den Trend, aber auf eigensinnige Weise plausibel. Was kognitiv nicht eingeholt werden kann in der Komplexität der Wissenswelten, kann nicht einfach als ,weniger kognitiv‘ im Sinne von ,weniger kompetent‘ stehen bleiben. What about the rest? ,Wissensgesellschaft‘ erzeugt mehr idiotes als zuvor, weil sie die Differenz ,Wissen/Nichtwissen‘ schärfer konturiert. Wenn wir Navigationskompetenz nicht von vornherein als kognitive Kompetenz interpretieren, sondern als eine allgemeine Fähigkeit, die auch dann, wenn sie im Meer des Nichtwissens schwimmt, paddeln kann, dann geraten wir in Richtung des Pfades der anderen Eigenschaften, die Menschen brauchen: Her-
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zensbildung, Empathiefähigkeit (ohne den Verstand zu verlieren), ästhetische Urteile und praktische, die nicht Maximen folgen, sondern Einsichten und Empfindsamkeiten. Es geht natürlich nicht um Diskreditierung dessen, was am Lernen gewöhnlich geschätzt wird, sondern um eine andere Qualität der Bildung, die lernt, mit Menschen umzugehen, sie einzuschätzen. Die éducation sentimentale, die ich hier anbiete, ist nur der Umgehungsversuch für die vernutzte Formel der ,sozialen Kompetenz‘. Um in hochsegmentierten Wissenswelten Zugriffe zu erlangen, werden wir codes und kommunikative Kompetenzen benötigen, letztere in einem neuen Ausmaß, weil wir uns wieder zwischen Menschen bewegen lernen, sans manières, ohne Klassensozialisation. Es geht um folgende Genauigkeiten: Zugriffskompetenz (plus Wissensdispositionen) und kommunikative Kompetenz, d. h. um die Fähigkeit, mit Menschen zu kooperieren. Was wir bei den kognitiven Prozessen meinten nach Modi der Intelligenz behandeln zu können, wird bei den kommunikativen Kompetenzen stärker wieder auf die sozialen und familialen Ressourcen, bis hin zu Klassen- und Schichtmerkmalen, zurückgreifen. Die Ganztagsschule wird ja nicht nur wegen Betreuungsdefekten der double income families propagiert, sondern wegen einer noch erst nur vagen Idee, dass viele Kinder keine Manieren und Sitten – civil codes – mehr aufgeprägt mitbekommen, die dann en collectif neu gebildet werden müssen. Ob das angemessen ist, soll offenbleiben; aber die Frage der knappen Erziehungsressourcen greift ins Bildungssystem ein. Die Knappheit des Wissens wird als Zukunftsaufgabe eingeführt; warum aber wird die Knappheit der Manieren als sunk history begriffen? Es geht jetzt nicht mehr nur darum, in welchem Maße die Schulen, Universitäten etc. den Heranwachsenden die Welt des Wissens öffnen, sondern welche Vorwelten merklich knapp geworden sind, deren gesellschaftliche Zivilität nachgeholt werden muss unter Bedingungen sich auflösender Traditionsmuster. Das verdeckt die flottierende Rede von der Wissensgesellschaft: dass wir gar nicht genug konzentrierte, neugierige und aufmerksame junge Potenziale haben, um in der Wissensgesellschaft zu beschleunigen, weil die Ressourcen Konzentriertheit, Aufmerksamkeit und Neugierde knapp geworden sind. Wir haben womöglich zu wenig von etwas, das uns bisher noch gar nicht auffiel: zu wenig Kooperationsressourcen. Doch ist es womöglich diese Bildung von Manieren, Habitus, Haltungen etc., die erfolgreich werden würde im Geschäft der Optionalitäten moderner Welten. Erziehung wäre dann trainierte Haltung zur Reflektion von Einschätzungen und Urteilen: Disposition der Navigationskompetenz, die wir so schnell für die Bewegungsformen in den Wissensgesellschaften forderten. Navigare necesse est: aber wie? Klug und gelassen. Wie lernt man Gelassenheit? Bellmann: Was an der schönen neuen Welt des selbstgesteuerten und lebenslangen Lernens und Umlernens skeptisch macht, ist, dass ausschließlich von Gewinnen und Gewinnern die Rede ist. Über die Kostenrückseite von Flexibili-
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tätsvorteilen erfahren wir wenig, zumindest nicht in den bildungspolitischen Programmschriften von Weltbank, OECD, Zukunftskommissionen und Bildungsforen. Ist es entschlossener Realismus, wenn man diesen blumigen Versprechungen gegenüber festhält, dass nicht alle fähig seien, an der Wissensgesellschaft teilzunehmen, dass es sich vielmehr um einen „Selektionsterm“ handele, der zu verschärftem Wettbewerb um Bildungschancen führen wird? Dann wäre aber auch die Frage zu stellen, wer die Kosten von Flexibilitätsgewinnen trägt. Nicht auch diejenigen, die davon profitieren? Über diese Kostenseite wäre also noch mehr zu sagen. Luhmann und Schorr gaben hierzu einen wichtigen Hinweis: „Lernfähigkeit kombiniert Unsicherheit in bezug auf die Umwelt mit Sicherheit in bezug auf sich selbst, nämlich in bezug auf eigene Auffangstellungen. Diese Sicherheit kann nur in der Erfahrung des Lernens selbst gefestigt werden“ (1988, S. 89). Es gibt also keinen Zuwachs an Lernfähigkeit, wenn man nicht zugleich die Sicherheit erlangt, „etwas Einschlägiges zu können“ (ebd., Anm. 172). Zugleich gilt es zu gewährleisten, dass Akteure aus Fehlschlägen lernen können, ohne dass dies auf Kosten ihrer Bereitschaft zu weiteren Lernanstrengungen geht. Beides, der Zuwachs sowohl an Kompetenz als auch an Enttäuschungstoleranz, ist nicht kostenlos zu haben. Es verlangt hohe monetäre und nicht-monetäre Investitionen in soziale und institutionelle settings, die diese sensiblen und langwierigen Prozesse absichern. Es ist also unglaubwürdig, wenn in der gegenwärtigen bildungspolitischen Debatte allenthalben von Lernfähigkeit die Rede ist, ohne die sozialen und institutionellen Voraussetzungen ihrer Kultivierung zu bedenken. Die Forderung nach Lernfähigkeit bekommt dann den Charakter eines Dauerappells, dessen Normativität von Kosten nichts wissen will. Im Wirtschaftssystem selbst scheint es seit einiger Zeit eine verstärkte Aufmerksamkeit für die Kostenrückseite von Flexibilitätsgewinnen zu geben: So wird etwa in der Institutionenökonomik die Bedeutung von ,sozialem Kapital‘ hervorgehoben. Stabile soziale Beziehungen, aber auch die Bindung an informelle Regeln werden als stillschweigende Voraussetzung liberaler Ökonomie analysiert, für deren Reproduktion diese selbst nur bedingt aufkommt und aufkommen kann. So fallen beispielsweise bei der Flexibilisierung von Beschäftigungsverhältnissen Kosten an, die zu einem Gutteil externalisiert werden. Je nach Art der produzierten Güter und Dienstleistungen kann sich ein Unternehmen einen hohen Flexibilisierungsgrad sozialer Beziehungen leisten, ohne dass sich dies in der Bilanz niederschlägt. Dies scheint anders zu sein, wenn Lernfähigkeit selbst das Gut ist, das produziert werden soll. Vielleicht eröffnet dies noch einen anderen Blick auf die Sonderstellung des Erziehungssystems: Dort, wie in der Familie, gibt es Beziehungen, die nur zu einem geringen Teil frei wählbar sind. Wie kann es sein, dass man Zeit seines Lebens Eltern und zumindest über Jahre hinweg Lehrern ausgeliefert ist, die man sich nicht selbst ausgesucht hat? Hier zeigt sich eine Differenz zu anderen sozialen Funktionssystemen, in denen die Wählbarkeit von Beziehungen gera-
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dezu als Voraussetzung ihrer Legitimität erscheint. Der Vertrag ist das Instrument, mit dem freie Subjekte Tauschbeziehungen eingehen und damit von Anfang an Redistributionsansprüche ausschließen, die gestellt werden könnten, wenn es anders kommt als erwartet. Im Vertrag kommt deshalb nicht nur ein Geschäft zustande; es werden zugleich die Vertragspartner als selbstverantwortliche, mündige Subjekte konstituiert (vgl. Priddat 1998, S. 8). Das Vertragsparadigma hat deshalb eine Strahlkraft, die weit über das Wirtschaftssystem hinausgeht. Auch im Erziehungssystem experimentiert man neuerdings mit choice policies: Es werden Quasi-Bildungsmärkte etabliert, in denen Schulen mit spezifischen Profilen um Schüler konkurrieren, die ihre Schule frei wählen und ggf. wieder abwählen können. Auf der Ebene von Schulleben und Unterricht werden, besonders wenn es zu Disziplinproblemen kommt, Verträge mit Schülern geschlossen, die allgemeine Verhaltensregeln festlegen. Die Schule im ganzen gestaltet sich als just community, in der sich alle Beteiligten selbstgegebenen Gesetzen unterwerfen. Dies alles mag viel für sich haben. Die kontrafaktische Zuschreibung von Mündigkeit war auch schon früher ein Instrument moderner Pädagogik. Gleichwohl scheint die Kontraktualisierung sozialer Beziehungen gerade im Fall von Familie und Erziehung Grenzen zu haben. Im Fall des Erziehungssystems zum einen deshalb, weil soziale Beziehungen dort nicht allein Ressource, sondern Medium sind, in dem vom anderen gelernt wird. Zum anderen, weil es hier um ein Lernen geht, das zwar im Rahmen von Mündigkeitszumutungen stattfindet, aber im Fall des Scheiterns die Folgen auf das System selbst begrenzt. Die Unterscheidung von Schule und Leben ist seitdem der Makel und die Stärke moderner Erziehung zugleich. Die Besonderheit eines ausdifferenzierten Erziehungssystems liegt deshalb nicht darin, dass hier gelernt würde. Selbstverständlich wird auch andernorts gelernt. Die Rede vom Markt als Selbstlernprogramm signalisiert aber bereits, dass hier nicht notwendigerweise pädagogische Kommunikation im Sinne von Vermitteln/Aneignen vorliegen muss oder gar pädagogische Interaktion. Im Markt wird zweifellos gelernt, aber der Markt ist deshalb noch keine pädagogische Institution. Die Besonderheit eines ausdifferenzierten Erziehungssystems liegt vielmehr darin, dass hier im Medium eines sozialen Arrangements ein Lernen ermöglicht und gefordert wird, das eine eigentümliche Selbstreferenzialität aufweist. Nichts anderes wird ja mit der Formel vom ,Lernen des Lernens‘ angedeutet. Das markiert zunächst auf diachroner Ebene eine Differenz: „Dem Wilden würde es lächerlich scheinen, eine Stelle auszusondern, wo man nur lernt, um zu lernen“ (Dewey 1993, S. 23). Auf synchroner Ebene verweist dies zugleich auf die Differenz zum Lernen in anderen Funktionssystemen, das dort in dem Maße an Selbstreferenzialität verliert, in dem es einer anderen Logik untergeordnet wird. Man kann dies an der impliziten Lerntheorie der rational choice beobachten: Auffällig ist doch ihr eigentümlicher Dualismus von ,inneren‘ Präferenzen und ,äußeren‘ Restriktionen; ,internal constraints‘ (Buchanan) kommen im neoklas-
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sischen Modell nicht vor. Für die je aktuelle Entscheidung stellen folglich die vorausgegangenen Entscheidungen keine Einschränkungen des aktuellen Möglichkeitsspielraums dar. Die selbstreferenzielle Stabilisierung des Lernens im Zuge der Lerngeschichte spielt dann keine Rolle. Vorausgegangene Misserfolge werden als sunk cost behandelt, die den Rationalitätsoptimismus des Akteurs nicht tangieren können (vgl. Priddat 1998, S. 16). Dies alles zeigt: Die rational choice-Theorie ist keine Lern-, sondern eine Entscheidungstheorie, deren Plausibilität von spezifischen sozialen Arrangements abhängt. Selbstreferenzialität bedeutet im Fall des Erziehungssystems auch, dass hier Selektionen entlang der eigenen Operationen (Vermitteln/Aneignen) vorgenommen werden, denn „in einem autopoietischen System zählen nur selbstgemachte Unterschiede“ (Luhmann 2002, S. 128). Die regulative Idee der Chancengleichheit kann vor diesem Hintergrund auch als notwendige systemspezifische Fiktion des Erziehungssystems angesehen werden, das seine operative Schließung über das Ignorieren nicht-selbsterzeugter Unterschiede reflektiert. Das zwingt zur Differenzierung der Idee der Ungleichheit, wie sie etwa Schleiermacher mit der Unterscheidung von „angestammter“ und „persönlich angeborener Ungleichheit“ markiert hat: Dieser soll, wo sie sich zeigt, die Erziehung „zur Hilfe kommen“, jene aber soll „behandelt werden als das, was allmählich verschwinden soll“ (1983, S. 41). Aber wie erkennt man persönlich angeborene Ungleichheit? Strenggenommen kommt nur Leistung für ein ausdifferenziertes Erziehungssystem als Selektionskriterium in Betracht, nicht aber Begabung oder Geld. Begabung ist viel zu sehr durch die systemeigenen Operationen mitbestimmt, als dass sie als nativistisch verstandener Fixpunkt für Selektion in Frage käme. Das gleiche gilt übrigens für Bedürfnisse im Fall des Wirtschaftssystems: auch sie liegen den Operationen des Systems nicht einfach voraus und zugrunde. Geld kommt als Selektionskriterium des Erziehungssystems ebenso wenig in Betracht. Zwar kostet Bildung (öffentliches und/oder privates) Geld, aber wer im System weitere Bildungschancen bekommt und wer nicht, bemisst sich nicht an der Zahlungsfähigkeit, sondern an den Fortschritten, die nach systemeigenen Kriterien festgestellt werden. International vergleichende Bildungsforschung zeigt, dass es in Deutschland nicht eine mangelnde, sondern eher eine falsch verstandene Selektion im öffentlichen Bildungssystem gibt. Selektion wird als Separierung organisiert, und das möglichst früh. Damit wird systematisch verhindert, dass Leistungsdifferenzen in einem gemeinsamen, aber intern differenzierten Unterricht produktiv gemacht werden können. In keinem anderen Land ist zudem der Zusammenhang von Schulleistung und sozialer Herkunft enger als in Deutschland. Dies als Missstand zu begreifen, impliziert keine „Gleichartigkeitszumutung“. Problematisch ist allein die Parallelisierung von sozialer Ungleichheit und Leistungsdifferenzen, die auf eine mangelnde operative Schließung des Systems hinweisen. Gleichwohl schneidet weder die deutsche Grundschule noch die Gruppe der besonders leistungsstarken Schüler im internationalen Vergleich schlecht
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ab. Es mag bei dem in Deutschland heiklen Thema der „Elitebildung“ Nachholbedarf geben, aber das von PISA aufgezeigte Problem betrifft den Kernbereich der Grundbildung. Hier geht es darum, dass alle bestimmte Mindest-Bildungsstandards erreichen. Auch das ist keine „Gleichartigkeitszumutung“, sondern Voraussetzung für die Inklusion aller ins System und für Leistungen, die das System für andere Systeme zu erbringen hat. Partizipationsfähigkeit oder Anschlussfähigkeit an die pluralen Sprachspiele der Gesellschaft stehen hier mit auf dem Spiel. Deshalb wird man das Problem auch nicht dadurch lösen, dass man den Anspruch auf allgemeine Bildung aufgibt zugunsten einer „Bildung des Herzens“ für die Massen und einem kognitiven Teil, der „für einige wenige reserviert bleibt“. Allerdings könnte es sein, dass ein anderes Wissen für alle zunehmend relevant wird: das Wissen des Nichtwissens. Alfred Treml hat vor einigen Jahren darauf hingewiesen, dass angesichts zunehmender Dynamik und Komplexität Bildung gerade in der „Denunziation des Selbstverständlichen“ (1994, S. 534) bestehen könnte. Im aktuellen bildungspolitischen Diskurs und auch im von PISA zugrunde gelegten literacy-Konzept wird freilich Bildung mit Kompetenz gleichgesetzt: Es geht um die Vermittlung fehlender Kenntnisse und Fähigkeiten, die für Problemlösungen notwendig sind, nicht aber um die Reproblematisierung des vermeintlich sicheren Wissens. Es käme aber auf beides zugleich an: auf das Wissen und das Wissen des Nichtwissens, auf Weltaneignung ebenso wie auf Formen der Distanzierung im Modus kritischer Reflexion und ästhetisch-ironischer Brechung der eigenen Selbst- und Weltverhältnisse.
5. Ökonomik und Pädagogik: Sprachspiele mit Übersetzungsproblemen Priddat: Effizienzlösungen im Bildungsbetrieb suggerieren den Vorteil der Maßgenauigkeit, aber diese myopische Passung verfehlte die strategischen Ziele, um die man aktuell nicht weiß. Die Paradoxie der Bildung ist strategische Überforderung: Niemand kann lehren, beibringen etc., was künftig nötig sein wird zum Bestehen von Anforderungen, die noch niemand wissen kann. Deshalb ist die Wissen/Nichtwissen-Differenz keine postmoderne Attitüde, sondern ein pädagogischer Raum erster Güte, in dem remakes mäeutischer Methodik ebenso rangieren wie Methoden des Ent-Lernens, um Offenheit zu erzeugen für neue mental models. Doch sind hier Raummetaphern schwierig (weil der Teil des Nichtwissens kein Teil ist, weil man seinen Umfang nicht einschätzen kann). Es geht nicht nur um neue Bedeutungen von etwas, sondern um die Varianz von Bedeutungen von etwas, das wir bereits immer schon kennen. Diese Varianz liefert die Sprache, die auszulassen (wie Kommunikation auszulassen) der ökonomischen Theorie einige theoretische Defekte beschert (vgl. dazu aktuell Rubinstein 2000 und Männel 2002).
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Was bei Menschen herausgebildet wird, ist letztlich Sprache: in diversen Beteiligungen und diversen Intensitäten der Beteiligungen, in mannigfaltigen, aber doch wieder begrenzten Formen: für alle Bereiche, Berufe, Karrieren, Entwicklungen etc. Wie generieren wir ,Lernen‘ und ,Lernenlernen‘, wenn nicht über allgemeine und diversifizierte, spezifische Sprachspielkompetenzen? Wie generieren wir über welche Sprachen Perzeptionsoffenheiten? Das Ausmaß der Vernachlässigung von Sprache/Kommunikation in der Ökonomie (vgl. Männel 2002; Rubinstein 2000; Samuels 1990) ist ein Indikator für die hochwertige Relevanz von Kommunikationsaußerachtlassung. Von Sprache redeten wir nicht, statt dessen von Wissen. Aber Wissen wird fehlgedeutet als ,Information‘. Die Relationen von Information, Kommunikation, Signalen, Anreizen bleiben in der Ökonomik oft unklar. Die epistemologische Norm der Ökonomik nötigt zu eindeutigen Aussagen, ohne Überprüfung, ob die Akteure die Eindeutigkeit, die die Theoriesprache vorschreibt, auch tatsächlich haben oder ausüben können. Deshalb wird eigentlich nur der Terminus ,Information‘ verwendet. Im institutionenökonomischen Modellieren kommen zudem ,Anreize‘ zur Geltung, selten ,Signale‘ (die ja bereits eine deiktische oder semiotische Dimension einführen (vornehmlich in principal/ agent-Theorien)). Manchmal werden Anreize als spezifische Signale verstanden. Alle drei Begriffe zusammen liegen vor der Sprachgrenze: Weder muss mit ihnen ,Kommunikation‘ eingeführt werden noch die Existenz von Sprache. Kommunikation wiederum scheint für Ökonomen – von Ausnahmen abgesehen (Hutter 1998; Baecker 1999; Rubinstein 2000; Männel 2002) – ein Terminus für die Soziologie zu sein. Damit sind ,Informationen‘ aber keine Nachrichten über klare und eindeutige Tatbestände, sondern Differenzialaussagen über bekannte (Wissen) und unbekannte (Nichtwissen) Zustände. Die Semikontingenz, die diesen Informationen weiterhin anhaftet, ist diese: Informationen informieren über neues Wissen, aber wie die jeweiligen Empfänger es verarbeiten, bleibt offen. Die Informationen sind verschieden wert, je nachdem, wer sie empfängt und wie umsetzt. Es gibt bei Informationen keine einfache und eindeutige und klare Repräsentation: ,das sei so und nicht anders‘. Informationen informieren über Aussagen, die andere tätigen: im Markt oder ad personam über den Markt. Gerade das Maß der Information bleibt unbestimmt, weil es von der Bedeutung abhängt, die der Empfänger ihr gibt. Messen kann man Informationen in elektrischen Leitungen als Impulse, aber die Impulse in den ,Leitungen des Sozialen‘ sind Interpretativa, keine fixen Größen und festen Elementare. Denn die Information kommt erst an, wird erst im Ankommen zur Information, wenn die, die informiert wurden, die Information auch als Information auf- und annehmen. So eindeutig sie auch gesendet sein mochte, so uneindeutig kommt sie an und bedarf der interpretativen Rezeption und Repetition. ,Informationen‘ sind unvollständige Verträge, nämlich unvollständig im Hinblick auf das Ankommen der Information, auf ihre Interpretationsempfängnis.
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Deshalb gelten für alle Informationsvorgänge Voraussetzungen, die institutionale Qualität haben, weil nur sie gewährleisten, dass einigermaßen verstanden wird, was als Information abgeht und ankommt: wenn Sprecher wie Hörer die gleiche Sprache sprechen, d. h. im gleichen Sprachspiel sind, der gleichen linguistic community angehören. Erziehung lässt sich insofern auch als Produktion von linguistischer Kohärenz verstehen: Sprachenlernen für die linguistic community, in der wir die Transaktionskosten des Missverstehens senken dadurch, dass alle: round about, gleiche Sprachspiele lernen bzw. ähnliche Semantik. Ob etwas eine Information ist, zeigt sich erst in der Rezeption, d. h. erst in der Änderung des Entscheidungspotenzials, das für das vorlaufende erste Wissen galt. Ändert die Information die Einschätzung des Alternativen- und damit des Handlungsraumes, ist sie interessanter (obwohl auch die Nichtauswertung einer Information eine Auswertung sein kann: nämlich die Information legitim ignorieren zu können. Dazu muss sie erst einmal erhalten worden sein). Folglich ist die Information nur dann eine relevante Information, wenn die Akteure Rezeptionsmuster haben, die gerade diese Informationen zu Umarbeitungen und neuen Einstellungen bzw. neuen Entscheidungen führt (und selbst dann, wenn die alte Einstellung bestätigt wird, aber aufgrund neuer Informationen). Es kommt anscheinend mehr auf die Rezeption an als auf die Information. Lernen rezipiert oder regt Rezeption an. Aber wie? So zeigt sich, dass das, was wir Information nannten, immer bereits im Kontext von Kommunikation sich aufhält, wenn auch durch eine Metapher verstellt: ,Information sei eindeutig, Kommunikation mehrdeutig‘. Eben das stimmt nicht, weil Information insofern, als sie vom Rezipienten interpretiert wird, ebenso mehrdeutig ist. Da hilft es nur bedingt, wie Arrow und North, kohärente Bedeutungen einzuführen oder ,ideologies‘ als ,shared mental models‘ (vgl. Priddat 2000 und 2003); was hier an Sprachähnlichkeit das Verstehen erleichtert, ist letztlich die Sprache, die viele Metaphern enthält (auf die McCloskey für die Sprache der ökonomischen Theorie ja bereits aufmerksam gemacht hatte (vgl. Samuels 1990)). Innerhalb der Sprachspiele gibt es viele Konventionen und Bedeutungsgewohnheiten, aber die Belegung von Bedeutungen bleibt für die Begriffe offen; Bedeutungen können sich im Gebrauch verschieben oder aber Begriffe, weil Metaphern, anders gedeutet werden, in einem anderen analogon, als der Sprecher es meinte, dennoch zugehörig zum Bedeutungshof der Metapher. Sprache öffnet. Charles Handy, ein Organisationsberater, thematisiert es so: „Unsere Schulen basieren auf der stillschweigend vorausgesetzten Annahme, alle Probleme der Welt seien bereits gelöst und der Lehrer kenne die Antwort. Also sei es die Aufgabe des Lehrers, den Schülern erst das Problem und dann die Antwort mitzuteilen und sie buchstäblich so zu schulen. In meiner Sichtweise von einer zukünftigen Welt müssen wir diese erst erfinden. Das Leben scheint eine Abfolge offener Probleme zu sein, die es dennoch zu lösen gilt“ (zit. nach Horx 2003, S. 17). Wie ein Lernen in solcher Offenheit geschieht, haben Sutcliffe und Weick zumindest für Unternehmen gezeigt (2001). Wie geschieht ein Lehren in solcher Offenheit, auf welche Offenheit hin?
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,Lernen‘ ist kein Beobachten, sondern ein interner Umbau der Beobachtungskompetenz: ein Anders-als-vorher-Beobachten, aber mit dem Wissen, wann anders und wann nicht anders zu beobachten gut ist. ,Lehren‘ wäre dann eine Beobachtungsintervention: Unterscheidungsgenerierung. Aber auch diese epistemologische Differenzierung reicht nicht; es fehlte die Bewertung – als Unterscheidung der Unterscheidungen. Aber auch das reichte nicht, weil nicht das Beobachten von etwas, was geschieht, die Person macht, die das kann – zur epistemologischen Kompetenz kommt die intentionalistische hinzu: ,etwas wollen‘. Beobachten/Unterscheiden ist, as You like, Angestelltenkompetenz. Unternehmerische Kompetenz kann sich nicht damit begnügen. Alle, die etwas wollen, müssen dieses Wollen wollen (und können). Wollen können! – hier schlägt Pädagogik in coaching um: in kleinen Gruppen intensive Arbeitsbeziehungen in geschützten Arenen im Hinblick auf Lebensentscheidungen und Urteilsfähigkeiten bilden. Und in Projekten ausflugsweise die Welt kennenlernen, in der man sich so vorbereitet später bewegen soll. Die Beobachtung der Lehrenden an ihren Schülern, wie sie sich im Aneignungsgeschäft bewegen, welche Wege und Pfade sie betreten, welche sie verlassen (oder verlassen sollten), welche Unsicherheiten sie bewegen (plus sozialer Kontext: Scheidungen der Eltern, Liebesdesaster, intellektuelle Ambiguitäten etc.): das sind die pädagogischen Ressourcen, die, interventionsaufbereitet, gemeinsam überlegen lassen: What’s going on? What’s next? Who are You? What’s Your way? Diese Fragen zu stellen und bearbeiten zu können, muss sich die Organisation dessen, was Bildung ist, anpassen können. ,Ausbildung‘ wäre das schiere Gegenteil! Kinder, die aus den Bildungsarenen heraustreten, ohne zu wissen, was sie wollen oder zumindest wollen können, die also keine unternehmerische Kompetenz besitzen, sind Spielbälle, nur nicht ihrer eigenen Spiele. Spielen lernen, in diversen Spielen (mit diversen Regeln und diversen Sprachen, die nicht alle ineinander übersetzbar sind) ist eine Art und Weise, entscheiden zu können. Die Ökonomie betrachtet die Entscheidung als Wahl von alternativen Gegebenheiten im Raum des Wissens. Doch muss dazu erst erzogen werden. Wie aber kann das in mannigfaltig divergierenden Welten gelingen? Was die rational choice jedem qua Natur scheint zukommen zu lassen, ist für das Bildungsgeschäft eine mühsame Einübung in Komplexitätsreduktionen, Sprachspiele und Kontexte – no choice, but hard work. Die Fähigkeit zu entscheiden wird eine komplexe Urteilsmaterie, die in Bildungsprozessen eingeführt und vorgelebt werden muss: als Möglichkeit der Möglichkeiten. Hier stellt sich die Frage, in welchen Milieus dies geschehen kann. Sind dìe risikogeminderten Beamtenmilieus, in deren Arenen sich unsere Kinder über acht bis 13 Jahre aufhalten, mit Studium noch einmal fünf Jahre länger, die geeigneten Milieus für die Ausbildung in risikoreichere Welten? Kann Bildung denn wirklich nach anderen Mustern organisiert werden als nach den Mustern derjenigen Organisationen, die in der Welt agieren und auf die hin erzogen wird? Welche ,Anreize‘ bietet ein beamtisch besetztes personales Inventar der
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Erziehungssysteme? Sich selbst wie den Schülern? Sind Schulen nicht die falsche Umwelt für Schüler? Das klingt radikal, ist aber trivial: Ist nicht die ,Privatisierung‘ der Bildung kein aus Kostengründen betriebenes Projekt, sondern ein inklusionsmethodisch zu favorisierendes? Die Form der Bildung als öffentliches Gut orientiert sich an Gleichstellungsidealen, die schlicht kontraproduktiver werden in dynamischen Welten, nicht nur der der Märkte. Wie lernen Kinder Dynamiknavigation und -gelassenheit, wenn sie in Arenen risikoarmer und dynamikfreier Nebenwelten erzogen werden? Welchem state of mind begegnen unsere Kinder? Die übrigens belangvollen Texte für eine Pädagogik unter Bedingungen dynamischer Erwartungen finde ich bei Dirk Baecker, der Konzepte für Wirtschaftsfakultäten unter den genannten Anforderungen formuliert (vgl. Baecker 1999, S. 297ff.). Nur eine Frage, die sich aus diesen Texten herleitet (neben vielen anderen), zuletzt: Wie kann ,Schule‘ als Organisationsform weitab von den Organisationswelten, in denen später alle arbeiten, die durch ,Schulen‘ gegangen sein werden, als Bildungsarena gelten? Welche widerständig-produktive Form hat denn ,Schule‘? Oder welche neue Form von Organisation wird ,Schule‘ annehmen, wenn wir sie in diversifiziertere, nicht mehr durch öffentlicheGuts-Homogenität definierte Bildungslandschaften transformiert haben werden? Die Fragen der Bildungssysteme sind nicht planerisch-politische, sondern wettbewerblich-organisatorische: in hoher Diversität. Wer hat Furcht davor? Auf Komplexität gibt es nicht eine, sondern viele Antworten. Wer schützt wen vor paralysierender Homogenität? Bellmann: Viele Fragen müssen offen bleiben. Deutlich ist jedoch, dass die Semantik von Bildung und Lernfähigkeit ebenso wie die Semantik von Markt und Knappheit sich nicht eindeutig teilsystemspezifisch zuordnen lassen. Es handelt sich um entdifferenzierte Ganzheitssemantiken mit geradezu verführerischer Anschlussfähigkeit. Gleichwohl gilt es, Differenzierungen nicht aus dem Auge zu verlieren: ,Bildung‘ im Kernbereich des Erziehungssystems meint etwas anderes als Bildung in den Überschneidungsbereichen Wirtschaft und Wissenschaft. Die allgegenwärtige bildungspolitische Reform-Rhetorik scheint wiederum ein eigenes Sprachspiel zu sein. Alle reden über Bildung. Das ist aus erziehungswissenschaftlicher Sicht mitunter verwirrend, aber vielleicht ist gerade das ein Indiz dafür, dass es sich bei Bildung in weiten Teilen um eine öffentliche Angelegenheit handelt. Aber die diversen Lernwelten sind nicht deckungsgleich und die diversen Sprachen über Bildung nicht vollständig ineinander übersetzbar. Davon zeugt auch dieses Gespräch selbst. Disziplinübergreifende Diskurse müssen zwangsläufig Momente eines Widerstreits festhalten, der nicht ohne weiteres zu schlichten ist.*
* Für die Korrektur und Redaktion des Textes danken wir Thomas Müller, M. A.
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Eröffnen sich aus dem Erziehungssystem Alternativen zur funktionalen Differenzierung pädagogischer Kommunikation? Alternativen Harm Kuper zur funktionalen Differenzierung pädagogischer Kommunikation
Harm Kuper 1. Einleitung Auf die Frage, ob das Erziehungssystem im Kanon der funktional ausdifferenzierten Systeme eine besondere Rolle einnimmt, gibt es den Überlegungen Luhmanns zur funktionalen Differenzierung folgend zwei gegensätzliche Antworten. Der Gegensatz ist in der Theorie zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft angelegt, denn ihr zufolge betont funktionale Differenzierung „die Ungleichheit der Funktionssysteme. Aber in dieser Ungleichheit sind sie gleich“ (Luhmann 1997a, S. 746). Die Feststellung der Ungleichheit von Funktionssystemen berechtigt zu einer zustimmenden Antwort, die allerdings in gleicher Weise auch auf die Frage nach der besonderen Rolle jedes anderen Funktionssystems gegeben werden könnte. Ungleichheit entsteht durch die Monopolisierung eines funktionalen Bezugs und die darüber begründete Identitätsstiftung innerhalb der Funktionssysteme. Die Annahme der Gleichheit berechtigt zu einer ablehnenden Antwort. Gleich sind die Funktionssysteme den Darstellungen Luhmanns zufolge aus zwei Gründen. Erstens kommt keinem von ihnen eine bevorzugte Position innerhalb der Gesellschaft zu; im Verhältnis der Funktionssysteme zueinander gibt es keine hierarchischen Relationen und es gibt keine gesamtgesellschaftlichen Vorgaben an denen einzelne Funktionssysteme oder die Beziehungen zwischen ihnen reguliert werden. Damit sind sie hinsichtlich ihrer Integration in die Gesellschaft gleich. Zweitens geht die Theorie der funktionalen Differenzierung von einem strukturell analogen Aufbau der Funktionssysteme aus. Jedes System ist durch seinen funktionalen Bezug und seine autopoietische Konstitution einem Zustand selbsterzeugter Unbestimmtheit ausgesetzt, den es durch die Verwendung eines je spezifischen Kommunikationsmediums, durch Programmierung und binäre Codierung bearbeitet. Dabei baut jedes System selbst- und fremdreferenzielle Beziehungen auf und bildet eine interne Struktur durch Interaktion und Organisation aus.
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Die Mittel der Theorie funktionaler Differenzierung werden in diesem Beitrag genutzt, um einige Hinweise auf Besonderheiten des Erziehungssystems zu entwickeln. Ihm liegt die Vermutung zugrunde, dass sich im Erziehungssystem besondere Reaktionsformen auf die funktionale Differenzierung etabliert haben. Die Aufmerksamkeit wird besonders auf den Bereich der Weiterbildung und aktuelle Diskussionen um die Regionalisierung der Weiterbildung gelenkt, mit denen der Raum als eine Sinndimension eingeführt wird. Aus systemtheoretischen Analysen bleiben räumliche Grenzen, weil sie nicht kompatibel mit Sinngrenzen sind, bislang ausgeschlossen (vgl. Stichweh 1998). Hier wird der Frage nachgegangen, ob Besonderheiten der funktionalen Differenzierung des Erziehungssystems die Entwicklung von Strukturen begünstigen, in denen räumliche Grenzen von Bedeutung sind. Im Folgenden wende ich mich zunächst den Theoriegrundlagen zu und stelle einige Überlegungen zur funktionalen Differenzierung dar (2); anschließend werden die Merkmale der funktionalen Differenzierung des Erziehungssystems betrachtet (3) und es wird erörtert, wie im Erziehungssystem mit der Semantik der Regionalisierung auf Folgeprobleme der funktionalen Differenzierung reagiert wird (4).
2. Funktionale Differenzierung und Folgedifferenzierungen In der Theorie der funktionalen Differenzierung wird die moderne Gesellschaft als ein Arrangement von Teilsystemen beschrieben, die in einer doppelten Bewegung der Steigerung interner Handlungslogiken einerseits und der Einrichtung von Interdependenzbeziehungen zwischen den Systemen andererseits die Entwicklungsdynamik der Gesellschaft antreiben. Die Teilsysteme leisten der Theorie zufolge einen je spezifischen Beitrag zur Reproduktion der Gesellschaft, der nicht von anderen Teilsystemen übernommen werden kann. Auf diese Weise entsteht ein polykontexturales Bild der Gesellschaft; ihre Beschreibung kann nur noch unter Hinweis auf die Differenz ihrer Funktionssysteme erfolgen und innerhalb der Gesellschaft entstehen unterschiedliche Muster ihrer Beobachtung. Mit der funktionalen Differenzierung löst sich die Gesellschaft in ein Spiel unterschiedlicher Perspektiven auf. In der Gesellschaftstheorie Luhmanns wird die funktionale Differenzierung als ein Ergebnis der Evolution von Gesellschaft dargestellt. Sie wird begünstigt durch die Zunahme der Optionen für Kommunikation. Mit ihr nimmt die Komplexität in der Gesellschaft in einem Maße zu, das keine zentrale Koordination oder Repräsentanz mehr zulässt. Die Differenzierung autonomer Funktionssysteme lässt eine erhebliche Spezifikation – und damit Leistungssteigerung – der Kommunikation unter verschiedenen funktionalen Gesichtspunkten zu. Gleichzeitig entsteht mit der Differenzierung das Erfordernis der Integration, also einer Verkopplung der Systeme, die allerdings nicht mehr im Hinblick auf die Gesellschaft als Ganzes erfolgen kann, sondern in einer hochselek-
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tiven, an der jeweiligen Eigenlogik der Systeme orientierten Weise geschieht. Diese Kombination von Leistungssteigerung und zunehmendem Koordinationsaufwand trägt nun nicht nur zur Bewältigung der Komplexität in der Gesellschaft bei, sondern wird selbst zum Anlass für einen weiteren Anstieg gesellschaftsinterner Komplexität. Die Bearbeitung des Bezugsproblems der Komplexität durch funktionale Differenzierung produziert Folgeprobleme. An diesem Punkt setzt eine Kritik der Theorien funktionaler Differenzierung an, die auf eine mangelnde Auseinandersetzung mit den problematischen Folgen der von ihr behandelten Entwicklung der Gesellschaft hinweist (Knorr-Cetina 1992). So sei die Theorie zu sehr auf die interne Logik und die Selbstbeschreibung (Semantik) der Teilsysteme bezogen und habe zu wenig Potenzial dafür, die „unerwartete Lokalität und ,Situiertheit‘“ (ebd., S. 411) des „realzeitlichen Funktionierens“ (ebd., S. 407) der Kommunikation in den Systemen zu analysieren. Die Theorie bleibe letztlich unterkomplex, weil sie Überlagerungen, Entdifferenzierungen und andere Mechanismen der Strukturbildung, die dem „Master-Trend“ der funktionalen Differenzierung entgegenlaufen, nicht in den Blick nehmen könne. In einer ähnlichen Weise argumentiert Nassehi (2001), wenn er das Verhältnis von Verselbständigung und Abhängigkeit der Systeme in der funktional differenzierten Gesellschaft unter dem Begriff Reembedding analysiert. Auch dabei steht die auf realzeitliches Geschehen bezogene Analyse von Kommunikationsstrukturen im Mittelpunkt. Eine Relevanz der räumlichen Dimension, die unabhängig von den Funktionslogiken der Teilsysteme die Herstellung struktureller Kopplungen zwischen ihnen moderiert, ist in diesen kritischen Einwänden angelegt. In der Systemtheorie gilt die funktionale Differenzierung als der dominante Modus der gesellschaftlichen Entwicklung; allerdings wird davon ausgegangen, dass die Differenzierung innerhalb der Funktionssysteme auch andere Formen – beispielsweise Hierarchiebildung oder Segmentierung – annehmen kann (Luhmann 1997a, S. 760). Daran schließt die empirisch zu behandelnde Frage an, ob in den einzelnen Funktionssystemen durch die jeweils in ihnen verwendeten Kommunikationsmedien, Codes und Programme besondere Formen der internen Differenzierung begünstigt werden. Die Systemtheorie bleibt nicht bei der Beschreibung von Differenzierungsprozessen auf der Ebene des Gesellschaftssystems stehen, sondern liefert auch die begrifflichen Grundlagen, um die Bildung sozialer Systeme auf der Mesoebene (Organisation) und Mikroebene (Interaktion) auf die funktionale Differenzierung zu beziehen. Hier fügen sich in die Idee eines analogen Aufbaus der Funktionssysteme Möglichkeiten einer auf Unterschiede abzielenden Analyse ein, die dem Desiderat einer empirischen Erforschung von Differenzierungsformen unter dem Primat funktionaler Bezüge entgegenkommen, ohne die Sensibilität für andere Muster der Systembildung zu verlieren. Die für die Systembildung erforderlichen Komponenten – Kommunikationsmedium, Code, Programm, Organisation, Interaktion – können dabei als Variablen betrachtete werden, deren Ausprägung u. a. mit historischen Gegebenheiten, Akteurskonstellationen, dem
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„Reifegrad“ der Systembildung und der kulturellen Färbung in der Nutzung von Kommunikationsmedien variiert. In den Variationen dieser Komponenten liegen die Spielräume, in denen sich die Systembildung im Modus der funktionalen Differenzierung, aber auch in anderen Modi der Systemdifferenzierung, bewegt.
3. Die funktionale Differenzierung des Erziehungssystems Die Frage, ob das Erziehungssystem überhaupt dem „Club der funktional ausdifferenzierten Systeme“ zuzurechnen ist, führt in schwieriges Gelände. So lässt eine systemtheoretische Betrachtung des Erziehungssystems Schwierigkeiten der Zuordnung bzw. Grenzziehung erkennen, wenn es etwa um Weiterbildung, berufliche Bildung oder akademische Bildung geht. Luhmann/Schorr (1988, S. 53ff.) haben diesbezüglich von „Überschneidungsbereichen“ gesprochen, die an mehreren funktionalen Bezügen ausgerichtet sind. Wenn Differenzierung „Kohäsion unter der Bedingung von Wachstum“ (Luhmann 1997a, S. 596) bedeutet, so kann bei dem Spektrum dessen, was unter Erziehung subsumiert wird, nicht immer als gesichert gelten, ob das erforderliche Maß an Einheit gegeben ist, um von einem System zu sprechen, oder ob nicht viel mehr Prozesse beobachtbar sind, in denen das „System durch Inkorporation von mehr und mehr Umwelt seine Eigenarten als System aufgeben“ (Luhmann 2002, S. 114) muss. Freilich ist die Evidenz des Beschreibungsmusters der funktionalen Differenzierung insbesondere für die institutionell weit entwickelten Bereiche des Erziehungssystems nicht zu bestreiten. Es gilt sicher für die Ausdifferenzierung der Schule als Reaktion auf das Ungenügen häuslicher, also in segmentäre Formen der Differenzierung eingelassener, Erziehung. Die Ausdifferenzierung der Schule wird organisatorisch etwa durch die allgemeine Schulpflicht und den Ausbau eines Schulwesens für die ganze Bevölkerung stabilisiert. Die Konsolidierung des Schulsystems führt zur Autonomie und Verstetigung einer auf Erziehung spezifizierten Kommunikation. Auf einige Besonderheiten der Schule, die sich innerhalb der Typik funktionaler Differenzierung einstellen, sei im Folgenden hingewiesen: Das Bezugsproblem, an das Funktion und Identitätsbeschreibungen des Schulsystems anknüpfen, ist die Kopplung der Gesellschaft an seine psychische Umwelt. Eine Besonderheit dieses Bezugsproblems besteht darin, dass es sich nicht eindeutig auf Kommunikation und noch weniger auf besondere Anlässe der Kommunikation begrenzen lässt, wie das etwa für Knappheit als Bezugsproblem des Wirtschaftssystems oder kollektiv bindende Entscheidung als Bezugsproblem des Politiksystems der Fall ist. Das Bezugsproblem der Erziehung liegt auf der Grenze zwischen gesellschaftlicher Kommunikation und Bewusstseinssystemen. Es geht um die Form der Person, über die in der Kommunikation Anschlüsse an die psychische Umwelt konstruiert werden, und um die psychi-
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schen Voraussetzungen der Beteiligung an Kommunikation. Da sich das Bezugsproblem des gelingenden Anschlusses zwischen sozialen und psychischen Systemen in jeder Kommunikation, unabhängig von ihrer funktionalen Ausrichtung, stellt, kann Luhmann formulieren, dass es bei der Erziehung um die Substanz der Gesellschaft ginge (Luhmann 2002, S. 15). Nicht jedes kommunikative Ereignis trägt das Potenzial in sich, etwa auf das Bezugsproblem der Knappheit oder der kollektiv bindenden Entscheidung hin zugespitzt zu werden, wohl aber ist jede Kommunikation mit dem Bezugsproblem der strukturellen Kopplung zu seiner psychischen Umwelt konfrontiert. Zwar bedarf es nicht in jeder Kommunikation einer gesonderten Wahrnehmung oder Reflexion seiner in den psychischen Systemen mitlaufenden Bedingungen; das Schulsystem aber richtet seinen Fokus stellvertretend für die gesamte Gesellschaft genau auf dieses Problem. Dabei wird der funktionale Anspruch, aber auch das Risiko der funktionalen Differenzierung von Erziehung deutlich: Mit dem Schulsystem entsteht ein System, in dem Leistungen für die individuelle Beteiligung an gesellschaftlicher Kommunikation erbracht werden. Spezifische Erwartungen und Beteiligungsvoraussetzungen bedürfen dann zwar immer noch situativer Abstimmung, es bleibt aber der Anspruch, dass in einem funktional gesonderten System für andere Systeme erzogen wird. Gesellschaftstheoretisch kann dieser Vorgang als eine Reaktion auf die bereits erfolgte funktionale Differenzierung anderer Systeme betrachtet werden. Die hochgradige Spezifizierung der Kommunikation in den funktional differenzierten Systemen steigert die Anforderungen an die Beteiligung und bindet Ressourcen, die nicht mehr für Erziehung verwendet werden können. Gleichzeitig verändern sich die Inklusionsverhältnisse. Keines der funktional differenzierten Systeme ist auf Totalinklusion angewiesen; aber jedes System ermöglicht die (Teil-)Inklusion aller Individuen einer Gesellschaft in verschiedenen Rollen. Die Kombination der Voraussetzung für die Kommunikation in den verschiedenen Funktionssystemen kann nicht von diesen selbst gesteuert werden, sondern verweist auf Integrationserfordernisse, die von den Individuen zu erbringen sind. Von dieser Betrachtung des Bezugsproblems aus lassen sich Risiken skizzieren, mit denen das Schulsystem konfrontiert ist. Es produziert in seiner Reaktion auf die Folgeprobleme der funktionalen Differenzierung wiederum Folgeprobleme, für deren Bearbeitung innerhalb des Schulsystems Grenzen gesetzt sind. Das erste Risiko ergibt sich daraus, dass innerhalb des Schulsystems keine Kopie der Gesellschaft angefertigt werden kann und die Schule ihre eigenen Anpassungserfordernisse entwickelt, deren Kompatibilität mit den Anpassungserfordernissen ihrer gesellschaftlichen Umwelt fraglich ist. Seine gesellschaftliche Funktion kann das Schulsystem somit nur erfüllen, wenn es seine Leistungen für andere Systeme (etwa in Hinblick auf die Verwendbarkeit des in der Schule Gelernten) mit diesen koordiniert. Hier besteht das Risiko des Scheiterns der Koordination. Ein weiteres Risiko ergibt sich durch die Referenz auf Individualität. Das Erziehungssystem ist mit der Autonomie von Bewusstseinssystemen konfrontiert;
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deren Unverfügbarkeit lässt sowohl die Vorbereitung auf die Teilhabe an gesellschaftlicher Kommunikation als auch die Steigerung individueller Kapazitäten der Integration pluraler gesellschaftlicher Anforderungen zu einem riskanten Geschehen werden. Auf diese Risiken sind innerhalb des Schulsystems Reaktionen möglich, die kritisch oder affirmativ auf die funktionale Differenzierung Bezug nehmen. In einer kritischen, in pädagogischen Selbstdeutungen weit verbreiteten Einstellung wird Erziehung die Aufgabe zuteil, dem Menschen zu einer Integrität zu verhelfen, die aufgrund der Differenzen innerhalb der Gesellschaft nicht zu erwarten ist. Oft geht das mit dem Versuch einher, Schulen in einem gesellschaftlich exterritorialen Raum zu installieren – die räumliche Metapher der pädagogischen Provinz gewinnt in dieser Konstellation ihre Bedeutung. Ein von gesellschaftlichen Einflüssen abgeschotteter Erfahrungsraum soll die Bildung individueller Identität fördern. Gemessen an dem soziologisch bestimmten Bezugsproblem des Schulsystems stellt diese Konstruktion eine Problemverschiebung dar, in der primärgruppenhafte Erfahrungen in schulischen Gemeinschaften an die Stelle der funktional spezifizierten Erfahrungsbereiche treten. In den gegenüber der funktionalen Differenzierung affirmativen Reaktionen ist dagegen die Tendenz leitend, Erziehungsleistungen in die funktional differenzierten Systeme zu integrieren bzw. Überschneidungen zwischen einem auf Erziehung spezialisierten System und seinen „Nachbarsystemen“ zuzulassen. In einer ausgeprägten Form führt die affirmative Haltung zur Realisierung funktionaler Äquivalente zur Ausdifferenzierung eines auf Erziehung spezialisierten Systems in der Übernahme dieser Funktion durch andere Systeme. Insbesondere in der Gestaltung beruflicher Bildung wird diese Überlegung wirksam, sie deutet sich allerdings auch bereits in dem Ruf nach einer Öffnung der Schule an. Ein weiterer Indikator für die funktionale Differenzierung des Schulsystems ist seine strukturelle Verstetigung über Organisation. Auch im Schulsystem ist eine parallele Entwicklung von funktionaler Differenzierung auf der Ebene der Gesellschaft und der Bildung von Organisationen im Verlaufe der Binnendifferenzierung des Systems zu beobachten. Organisation ist der Katalysator für die programmatische Gestaltung, Reform und Differenzierung von Erziehung. Im Gegensatz zu anderen Funktionssystemen erfolgt die Bildung von Organisationen im Erziehungssystems auf der Grundlage einer „eigentümlichen Symbiose von Interaktion und Organisation“ (Luhmann 2002, S. 121). Diese beiden Ebenen lassen sich im Erziehungssystem auf den ersten Blick nur schwer unterscheiden. Erziehung ist – als operatives Geschehen – nur im Modus der Interaktion realisierbar. Dem korrespondiert die Aufladung der pädagogischen Interaktion mit hochindividualisierten Erwartungen an den persönlichen Stil, den sich Professionelle (Lehrer) mit zunehmender Erfahrung aneignen, und an die außerschulischen – meist familialen – Voraussetzungen, mit denen die Klienten (Schüler) in die pädagogische Interaktion eintreten. Für die Struktur pädagogischer Interaktion ist die Referenz auf Personen und die Reziprozität ihrer Bezie-
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hungen ebenso bedeutsam, wie die Referenzen beispielsweise auf Themen und zeitliche Strukturierung. Sie entwickelt damit eine hohe Durchlässigkeit für Einflüsse aus ihrer Umwelt und eine hohe Zufallssensibilität für Möglichkeiten der Fortsetzung ihres Verlaufs. Für Erziehung ist diese Konzentration auf Interaktion nicht substituierbar; eine Ausdifferenzierung des Schulsystems erfolgt daher über die Bereitstellung von Gelegenheiten der Interaktion, die dann jeweils in ihrem Verlauf autonome aber auch sehr stark fluktuierende Mechanismen der Strukturbildung findet. Die Systembildungsebene Organisation tritt hinter der großen Bedeutung von Interaktion zunächst als ein Rahmen zurück, in dem Interaktion gewährleistet wird, ohne dass von ihm Ansprüche der Detailsteuerung von Interaktion ausgehen. Erst vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Funktion von Erziehung gewinnt Organisation ihre Bedeutung. Sie gewährleistet Regelungen der Inklusion in pädagogische Interaktion; auf der Ebene der Organisation werden Entscheidungen über thematische Ausrichtungen der Interaktion und Bewertungen von Leistungen getroffen, die aus der Interaktion selbst nicht gefällt werden können; Organisation sorgt letztlich für den Aufbau von Karrieremustern, die Übergänge im Schulsystem bzw. vom Schulsystem in die Gesellschaft regulieren. Die Organisation bildet damit ein Systemgedächtnis mit großer Distanz zu faktischem Geschehen in der Interaktion. Gleichzeitig können viele der Ereignisse, die in der Interaktion in Hinblick auf Erziehung von Bedeutung sind, nicht in das Systemgedächtnis der Organisation übernommen werden. Auch bezüglich des Mediums pädagogischer Kommunikation lässt sich eine strukturelle Besonderheit im Schulsystem feststellen. Sie wird bereits in ihrem Bezugsproblem erkennbar, das in der Bearbeitung der Grenze zwischen sozialen und psychischen Systemen liegt. Der Erfolg pädagogischer Kommunikation kann nicht nur im sozialen Kontext selbst bemessen werden – er stellt sich nicht etwa mit der abschließenden Behandlung eines Themas in einer Unterrichtsstunde ein. Vielmehr bemisst sich der Erfolg pädagogischer Kommunikation an den Effekten, die sie auf Schüler hat. Ihre Intention richtet sich auf Systeme, die für sie operativ nicht erreichbar sind. Das Medium pädagogischer Kommunikation ist daher kein reines Kommunikationsmedium, das ausschließlich der Regulation von Anschlüssen in sozialen Systemen dient. Im Schulsystem etablieren sich Medien der Kommunikation über Erziehung (und ihre Wirkungen auf Schüler), mit denen die doppelte Referenz auf psychische Systeme und den Fortgang der Kommunikation im System aufrecht erhalten wird. In den semantischen Formen von Kind, Lebenslauf und Wissen wird das deutlich. Sie dienen als Instrumente der Beobachtung der psychischen Umwelt pädagogischer Kommunikation und schaffen Gelegenheiten für Kommunikation, die im Schulsystem anschließen kann. Das Medium ist damit in einer eigentümlichen Weise doppelt eingebunden. Es ist ein Medium der Verständigung über Vorgänge der Formbildung, die außerhalb der Kommunikation liegen. Damit verliert das Medium die Eigenschaft, primär durch Kommunikation formbar zu sein. Seine Formung ist eben-
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so an die Eigendetermination von Bewusstseinssystemen gebunden. So formt das Schulsystem Lebensläufe, indem es sozial akzeptierte und anschlussfähige Karrieremuster bereitstellt. Sie werden u. a. über Curricula, Bildungsstandards, Zertifikate und Bewertungen kommuniziert. Gleichzeitig prägen sich in die Lebensläufe Individualitäten ein, die sich in Bildungsentscheidungen, Lernmotivationen und anderen Voraussetzungen für die Beteiligung an pädagogischer Kommunikation niederschlagen. Das Medium oszilliert zwischen Sinnformen der Kommunikation und des Bewusstseins. Die Unverfügbarkeit der psychischen Seite des Mediums lässt es zu einer sehr unsicheren Grundlage für Strukturbildung (Organisation) in sozialen Systemen werden. Die Kommunikation in Schulen ist entsprechend in hohem Maße durchlässig für die Individualität der an ihnen beteiligten Personen. Die voranstehenden Überlegungen zu den Eigenschaften des Schulsystems lassen einige Besonderheiten seines strukturellen Aufbaus erkennen:
> Das Bezugsproblem des Schulsystems ist überall dort identifizierbar, wo die Beteiligung von Individuen an Kommunikation fraglich wird – also potenziell in jeder Kommunikation. Es spezifiziert nur in geringem Maße die Kommunikation eines Systems. Da an das Bezugsproblem sowohl affirmative als auch kritische Deutungen gesellschaftlicher Kommunikation anschließen können, eröffnen sich sehr vielfältige Möglichkeiten, auf das Bezugsproblem mit funktional äquivalenten Bearbeitungsformen zu reagieren – nicht alle von ihnen müssen in die Differenzierung eines Erziehungssystems münden. > Pädagogische Kommunikation braucht für die operative Ausführung keine Organisation. Organisation ist allerdings erforderlich für die Verstetigung und gesellschaftliche Anschlussfähigkeit pädagogischer Kommunikation. Im strukturellen Aufbau des Schulsystems gibt es so einerseits die Tendenz, Differenzen zwischen Interaktion und Organisation einzuebnen, und andrerseits die Tendenz, eine große Distanz und Unabhängigkeit dieser beiden Ebenen zu betonen. Organisation trägt so zur Kontinuität pädagogischer Kommunikation bei – ist aber auch fortwährender Anlass der Reform, weil sie in der Interaktion als Störfaktor begriffen wird. > Das Medium des Schulsystems verweist auf dessen Grenze zur Umwelt der Bewusstseinssysteme. Es markiert mit der doppelten Verweisung auf soziale und psychische Determinationen die operative Trennung zwischen Kommunikation und Bewusstsein. Allerdings fungiert es auch als eine Membran, die durch eine hohe wechselseitige Durchlässigkeit und Sensibilität gekennzeichnet ist. Durch die Zuspitzung der Aufmerksamkeit in der Kommunikation auf sie begleitendes Bewusstsein und die Zuspitzung der Aufmerksamkeit des Bewusstseins für die Kommunikation wird in pädagogischer Kommunikation ein ungewöhnlich hohes Ausmaß wechselseitiger Irritierbarkeit erreicht. Im Schulsystem werden diese Besonderheiten, die den Aufbau und die Identifikation einer internen Struktur erschweren, durch etablierte Formen der Organisation kompensiert. Es entwickeln sich – aktuell etwa über Leistungsmessung
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in Schulen – Spielarten pädagogischer Kommunikationsmedien, die eine relativ beständige Strukturierung des Systems zulassen. In anderen Bereichen des Erziehungssystems sind diese Formen der Stabilisierung nicht zu beobachten. Zu denken ist dabei insbesondere an die Weiterbildung. Sie ist seit geraumer Zeit Gegenstand eines Entgrenzungsdiskurses (Kade/ Lüders/Hornstein 1991). In ihm wird eine besondere strukturelle Form des Erziehungssystems beschrieben. Viele Vorgänge seiner Differenzierung erfolgen nicht nach dem Schema der Binnendifferenzierung, bei dem sich aus der Einheit eines Systems Subsysteme mit spezifizierten funktionalen Bezügen und abgrenzbaren organisatorischen bzw. interaktiven Formen herauslösen. In der Weiterbildung können vielmehr Differenzierungsschemata beobachtet werden, die als Subsystembildung innerhalb anderer Funktionssysteme – häufig innerhalb des Wirtschaftssystems, aber auch innerhalb des Politik- und des Religionssystems – beschreibbar sind. Eine operative Kopplung der Weiterbildung besteht dann zu diesen Systemen, nicht zum Erziehungssystem. Entsprechend folgt Weiterbildung in vielen ihrer Realisationsformen dem funktionalen Primat der Wirtschaft oder der Politik. Harney (1997, S. 111) verortet deshalb die Weiterbildung in der Umwelt des Erziehungssystems. Sie emergiert in den verschiedenen Funktionssystemen, sobald das Bezugsproblem der Kopplung zwischen dem sozialem System und seiner psychischen Umwelt virulent wird, sobald also Lernanlässe oder -gelegenheiten identifiziert und in Hinblick auf das Bezugsproblem dieser Systeme kommuniziert werden. Das trifft für die betrieblich organisierte Weiterbildung, für die Reproduktion von Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt und die politische Bildung ebenso zu, wie für religiös motivierte Bildungsangebote. Eine Einheit dieser spontan entstehenden Weiterbildungssysteme ist auf der institutionellen Ebene nicht auszumachen, sie lässt sich allerdings über Reflexion herstellen. So können sowohl die pädagogische Parteinahme für den Menschen als verbindendes Moment unterschiedlicher Weiterbildungsangebote als auch die im Rahmen der Systemtheorie formulierten Vorschläge für die Bestimmung eines Mediums der pädagogischen Kommunikation (Kade 1997; Luhmann 1991; 1997b) als Einheit stiftende Momente gesehen werden. Dabei muss konstatiert werden, dass die Universalität des Mediums pädagogischer Kommunikation sehr hoch ist, da es eine operative Anbindung an nahezu jede Form der Kommunikation zulässt; seine Spezifität bleibt allerdings gering, da eine eindeutige Anbindung an ein funktional differenziertes Erziehungssystem nicht in jedem Fall erfolgt. Damit könnten Wege der Systembildung eröffnet werden, die den in modernen Gesellschaften dominanten Modus der funktionalen Differenzierung durchbrechen.
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4. Weiterbildung und regionale Differenzierung Die Schilderungen des vorangegangenen Kapitels lassen sich dahingehend resümieren, dass im Erziehungssystem die vom Bezugsproblem, von der Organisation und dem Medium ausgehenden Möglichkeiten relativ beständiger Strukturbildung gering sind und daher Formbildungen pädagogischer Kommunikation begünstigt werden, die nicht dem Modus der funktionalen Differenzierung entsprechen. Eine dieser Formen steht im Kontext von Prozessen der Regionalisierung. Regionalisierung wird als Leitbild für die Gestaltung sozialer Systeme insbesondere in Krisensituation bemüht. So haben Diskussionen um die Regionalisierung in den Neuen Bundesländern eine beachtliche Konjunktur erlebt, nachdem in der Nachwendezeit die Funktionsfähigkeit der gesellschaftlichen Subsysteme auf eine harte Belastungsprobe gestellt wurde und teilweise noch wird (vgl. etwa Blien u. a. 1994). Dabei werden zwei Risiken funktionaler Differenzierung deutlich, die mit der hohen Spezifikation von Leistungen in einzelnen Systemen entstehen. Erstens wird die Entwicklungsfähigkeit der Gesellschaft limitiert durch das leistungsschwächste System, wenn in jedem System Bearbeitungsmöglichkeiten für Bezugsprobleme monopolisiert werden. Zweitens wird die Entwicklungsfähigkeit nicht nur abhängig von den Leistungen der Systeme, sondern auch von der Koordination zwischen ihnen, wenn diese ihre Leistungen für die jeweils anderen Systeme mit erbringen. Der Leitbegriff Region bleibt eine zunächst diffus auf diese Risiken bezogene Metapher, die allerdings deutlich macht, dass die Folgeprobleme der funktionalen Differenzierung ihrerseits die Dimension eines gesellschaftlichen Bezugsproblems annehmen können – ohne dass im Modus der funktionalen Differenzierung eine Bearbeitungsform denkbar wäre, mit denen die Risiken nicht noch gesteigert würden. Mit der Region wird ein räumlicher Bezugsrahmen aufgespannt, der Möglichkeiten einer segmentären Differenzierung aufzeigt. Mit dem Leitbild Region geht die Hoffnung einher, es ließen sich oberhalb funktionaler Spezifikationen Koordinationsmechanismen etablieren, die eine „blinde“ Eigenlogik der Funktionssysteme zugunsten des Wohls der räumlich definierten Einheit Region und ihrer Bewohner zügeln. Eine pädagogische Semantik und die Institutionalisierung von Weiterbildung ist in zweifacher Weise mit diesem Kontext verwoben: Als Semantik der „Lernenden Region“ und über netzwerkartige, teilweise spontane Arrangements für pädagogische Kommunikation bzw. der Kommunikation über die Form „Person“. Die Semantik der „Lernenden Region“ steigert den pädagogischen Anspruch über die Veränderung von Personen hinaus auf die Veränderung eines sozialen Systems. Das ist insofern nicht neu, als in der pädagogischen Tradition über das Lernen der Individuen oft eine Dynamisierung der Gesellschaft erhofft wurde. Das Leitbild der „Lernenden Region“ meint allerdings nicht einen „bottom-up-Prozess“, in dem sich eine soziale Ordnung aus der Aktivität von Indi-
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viduen konstituiert. Mit ihm wird ein räumlich definiertes soziales System selbst als Akteur eines Lernprozesses definiert, der weitläufig formulierten Zielvorgaben wie der Sicherung von Subsistenz (vgl. Birkhölzer 2001), der Steigerung von Innovationstätigkeit (vgl. Hellmer u. a. 1999) und der Erhöhung von Leistungsfähigkeit bei der Problemlösung (vgl. Hagen/Rückert-John 2001) folgt. Die Region wird als ein kollektiver Akteur angesehen, an den Anforderungen des Lernens adressierbar sind. Lernanforderungen werden als Folge eines Konkurrenzkampfes mit anderen Regionen bzw. eines Vergleichs zwischen Regionen gesehen, in denen es in unterschiedlicher Weise gelingt, die Leistungen von Institutionen, die verschiedenen Funktionssystemen zugehören, zu koordinieren und für die Sicherung von Lebensstandards zu bündeln. Die hohe Adaptivität pädagogischer Semantiken und Kommunikationsmedien zeigt sich hier in der Übertragung auf einen sozial definierten Raum. Für ihn werden – analog zu psychologischen Lernprozessen – Ausgangslagen identifiziert, die als das Besondere einer regionalen Akteurskonstellation gelten. Diese gelten in der Diskussion als „endogene Entwicklungspotenziale“ mit denen die Kapazitäten der internen Entwicklungsmotive und -dynamiken, sowie die Unabhängigkeit von externen Unterstützungsleistungen benannt werden. Mit der Formel der „Lernenden Region“ wird mittels einer pädagogischen Semantik eine soziale Einheit konstruiert, wie sie für Prozesse der segmentären Differenzierung typisch ist. Sie basiert auf einer weitgehend fraglosen Zugehörigkeit von Personen zu dieser Einheit, einer – in Relation zur Zugehörigkeit zur Region – sekundären Bedeutsamkeit von Rollendifferenzierungen und einer von allen Zugehörigen geteilten Auffassung von sozialer Identität, die sich eben aus der Zugehörigkeit zu der Region speist. Die pädagogische Semantik ist dafür besonders geeignet, weil sie die Identität in den Mittelpunkt der Betrachtungen zieht. Sie nimmt damit eine bedeutsame Frage aus funktional differenzierten Gesellschaften auf und projiziert sie auf die Einheit Region. Entsprechend verschmilzt diese Semantik mit der Semantik von „Heimat“ und „kultureller Identität“ (vgl. Faulstich 1997; vgl. auch Klemm 1995). Diese Sinnkonstruktionen appellieren an die Integrität von Persönlichkeiten und an die Integrität einer Gemeinschaft, die durch eine funktional differenzierte Welt in Frage gestellt werden. Die geringe Indifferenz pädagogischer Semantiken gegenüber kulturellen Besonderheiten der Region erweist sich dabei als funktional, da sie der Betonung gemeinschaftlich geteilter Identitätsmuster dient. Gemeinschaft fungiert in dem Leitbild „Region“ als ein Regulativ für Lernprozesse. Sie ist Ausgangspunkt und Träger dieser Lernprozesse, insofern mit dieser Formel beabsichtigt wird, die in funktionaler Differenzierung etablierten institutionellen Formen, wie auch die Verhältnisse von Konkurrenz und Kooperation sowie die Trennlinien zwischen Sphären des Privaten und des Öffentlichen zu verflüssigen und in neue Gestaltungsmuster zu überführen. Die Differenzen markierenden Unterscheidungen werden durch den Bezug auf Region zumindest teilweise nivelliert und es werden die Aspekte der wechselseitigen Angewiesenheit funktional differenzierter Einheiten aufeinander hervorge-
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hoben. Dabei dominiert die Vorstellung der Region als Rahmen für die Gesamtkoordination der Aktivitäten unterschiedlicher Akteure. Der in diesem Rahmen möglich werdende Lerngewinn wird in der Etablierung vertrauensbildender Mechanismen gesehen, die aus der Verpflichtung der verschiedenen Akteure gegenüber der Region erwachsen. Die Region ist eine Arena für die Ausbildung von gemeinsamen Interessen und Loyalitäten, die in einem kollektiven Lernprozess erworben werden. Hier schließt sich eine pädagogische Semantik an, die auf ein Wissen abzielt, das nicht an Funktionssysteme sondern lokal gebundenen ist (vgl. Hellmer u. a. 1999, S. 88f.). Weiterbildung kann sich auf der institutionellen Ebene aufgrund ihrer hohen Adaptivität als eine Protagonistin von Regionalisierungstendenzen behaupten (vgl. Dobischat/Husemann 1997). Sie ist als institutionelle Form bereits mit vielen Akteuren regionaler Entwicklung verkoppelt – insbesondere im Wirtschaftssystem (Betriebe) – und eignet sich daher als eine intermediäre Instanz in regionalen Netzwerken. Darüber hinaus kann Weiterbildung – sofern die Frage nach den regionalen Kapazitäten der Koordination unterschiedlicher Akteure mit der Frage nach den Kompetenzen und dem Wissen der Akteure verbunden und somit als Lernanlass identifiziert wird – ein Kristallisationspunkt für die Entwicklung von Regionen werden. Sie rückt in eine Position der Verantwortung für die Förderung der Kompetenzen ein, die für eine Koordination zwischen den verschiedenen Akteuren erforderlich sind. Es ist dann der funktionale Bezug auf die systemisch nicht gebundenen Sinnwelten zwischen den Funktionssystemen, der die Weiterbildung ihre Aufgabe entnimmt, und der im gleichen Zuge die Entwicklung eines eigenständigen Funktionssystems oder von Organisation behindert. Weiterbildung schafft Kapazitäten des Austauschs zwischen Systemen in einem räumlich definierten Kontext und bedarf dazu einer Flexibilität, die durch die Bindung an ein Funktionssystem nicht gegeben ist. Erkennbar wird die Verschmelzung funktionaler Bezüge auch an dem im Weiterbildungsdiskurs verwendeten Kompetenzbegriff. Als Kompetenzen werden nicht die Effekte institutionalisierter Lernprozesse bezeichnet, sondern die in den individuellen Verläufen einer Biographie erworbenen Fähigkeiten. Der Kompetenzbegriff reflektiert die Lernprozesse, die in alltägliche Situationen wie Arbeit, private oder ehrenamtliche Tätigkeit eingelassen sind. In der Diskussion um Regionalisierung wird über den Kompetenzbegriff die Verantwortung für das Gelingen von Koordination teilweise individualisiert. Koordination wird zu einer Frage nach dem individuellen Engagement, der persönlichen Verantwortungsübernahme und der eigenständigen Entscheidungsfähigkeit, die durch die Zugehörigkeit zu einer Region motiviert sind. Weiterbildung hat in diesem Kontext die Funktion der Bilanzierung und Dokumentation von Kompetenzen, die nicht mehr in institutionalisierten Bereichen der Weiterbildung, sondern in der alltäglichen Kommunikation – oder eben: in der Region – erworben wurden.
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Diese Überlegungen weisen auf strukturelle Besonderheit des Erziehungssystems hin. Aufgrund einer hohen Adaptivität seiner Kommunikationsmedien, einer geringen Spezifität seines Bezugsproblems und seiner zumindest in einigen Bereichen deutlich werdenden Schwäche der institutionellen bzw. organisationalen Formen diffundiert es in andere gesellschaftliche Bereiche. Ein Zusammenhalt ist dann nur eingeschränkt in der Einheit eines funktional differenzierten Systems, wohl aber in anderen Strukturformen der Differenzierung – wie etwa der segmentären Differenzierung auf regionaler Ebene – zu beobachten. Dieser Unterschied öffnet aber gleichzeitig eine Perspektive auf die Gleichheit der Systeme unter der Bedingung funktionaler Differenzierung – bei allen wird die Frage einer intersystemischen Koordination, des wechselseitigen Angewiesenheit aufeinander und der Beteiligung von Personen virulent, die selbst nicht im Sinne der funktionalen Systembildung bearbeitet werden kann. Das Erziehungssystem bietet hier gerade aufgrund seiner bisweilen unbestimmten Form Optionen der Bearbeitung an.
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Das Erziehungssystem zwischen Code und regionaler Differenzierung – Vergleiche mit dem Wirtschaftssystem Das Erziehungssystem Thomas Brüsemeister zwischen Code und regionaler Differenzierung
Thomas Brüsemeister Einleitung Im Folgenden werden Elemente des Wirtschaftssystems mit Elementen des Erziehungssystems verglichen. Ziel ist es, einige Spezifika des Erziehungssystems herauszufinden. Dabei werden auch Hinweise auf einen Wandel des Erziehungssystems gegeben. Der vorliegende Beitrag korrespondiert dabei mit dem Beitrag von Harm Kuper in diesem Band. Während Kuper Merkmale der funktionalen Differenzierung des Erziehungssystems betrachtet und dabei insbesondere auf eine Regionalisierung der Weiterbildung eingeht, konzentriert sich der vorliegende Text auf ein Subsystem des Erziehungssystems, das von Elementen des Wirtschaftssystems am weitesten entfernt zu sein scheint, nämlich das allgemeinbildende Schulwesen. Die Analyse beschränkt sich weitgehend auf die Perspektive der systemischen Integration1 und hierbei wiederum auf die Frage, ob und wie basale – und das heißt auch regionale – Elemente eines Systems durch einen Code zusammengehalten werden, oder allgemeiner: wie im Schulsystem das Verhältnis zwischen Code und regionalen Einheiten zu beschreiben ist. In einem ersten Schritt wird zunächst das Wirtschaftssystem thematisiert (1); daraus eröffnen sich Vergleiche mit dem Erziehungssystem (2), die insbesondere zeigen, dass es kein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium gibt. Im letzten Schritt (3) werden Hinweise gegeben, die andeuten, inwiefern das Erziehungssystem in diesem Punkt aufholen könnte.
1. Basale Elemente des Wirtschaftssystems nach Niklas Luhmann Über weite Strecken beschäftigt sich Niklas Luhmann (1988) in der hier vornehmlich herangezogenen Schrift „Die Wirtschaft der Gesellschaft“ mit Selbstregulationsmechanismen der Wirtschaft, und zwar entlang basaler Einheiten wie Preise und dem Geld. Weitaus knapper behandelt Luhmann die Institutio1 Vgl. zur Unterscheidung von Sozial- und Systemintegration: Lockwood 1979.
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nenstruktur des Wirtschaftssystems – und sofern er die Systemstabilität wesentlich basalen Einheiten überantwortet, ist dies ein plausibler Schritt. Für Luhmann machen solche Einheiten das Wirtschaftssystem aus. Ohne dass dies von ihm gesondert hervorgehoben wird, emergieren sie in lokalen Räumen2 – und machen das System so instabil, dass im System Ereignisse angeschlossen werden können. Das Wirtschaftssystem ist mithin auf Grund seiner „Kombination von Instabilität und Reproduzierbarkeit“ (ebd., S. 21) ein äußerst „reproduktionsfreudiges“ Teilsystem. Dies sei im Folgenden mit Stichworten belegt; die Stichworte beginnen bei basalen Einheiten und widmen sich dann weiteren Strukturbeschreibungen des Systems, bis hin zu sekundären Ordnungen: Zahlungsereignisse, Preise, Geldcode Zahlungsereignisse sind in der Konzeption von Luhmann die basalen, „temporalisierte[n] Strukturen“ (1988, S. 21) der Wirtschaft. Mit diesen Basiseinheiten wird nach Luhmann das Wirtschaftssystem konditioniert. Wie im Weiteren zu zeigen sein wird, ist der Code des Wirtschaftssystems „Zahlung/Nichtzahlung“ (ebd., S. 249) abstrakt, eröffnet aber deshalb Anschlussoperationen. Es kommt nur darauf an, ob sich Zahlungsereignisse aneinander anschließen können. Zahlungsereignisse werden zudem mit einem Preis versehen. Mit Preisen schafft sich das Wirtschaftssystem eine innere Umwelt, aus der Informationen gewonnen werden können. Die Informationen orientieren sich einzig an einer Differenz einer Zahl, nämlich eines höheren oder niedrigeren Preises. Preise sind einerseits extrem eingeschränkte Informationen, da nichts über Ressourcen oder Bedürfnisse in einer Umwelt ausgesagt wird; aber sie haben gleichzeitig hohe Informationswerte, sofern mit ihnen – und nur mit ihnen – Instabilitäten (nämlich in Geld ausgedrückte Preissteigerungen) aus der Umwelt wieder in das System eingeführt werden. Dies sei die technische Leistung der Preise (ebd., S. 42). In sozialer Hinsicht haben Preise bzw. die mit ihnen einhergehenden Geldzahlungen „erwartungsbildende Bedeutung“ (ebd., S. 18). Luhmann begreift Geld als Ausdifferenzierung eines besonderen Codes für symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien (ebd., S. 51). Diese seien nicht die Folge, sondern „eher Katalysatoren für die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen“ (ebd., S. 68). Der Geldcode schreibe nicht vor, ob jemand bestimmte Leistungen erbringe, „aber er ermöglicht es, die Nachfrage mit einem Zahlungsangebot zu verbinden“ (ebd.). Dies wiederum ermögliche, „Sachund Leistungsangebote und schließlich sogar ganze Organisationen darauf einzustellen, dass eine solche Nachfrage vorkommt“ (ebd., S. 69). Bei diesem Auf2 Man findet in „Die Wirtschaft der Gesellschaft“ kein gesondertes Kapitel zum Thema räumlicher Differenzierungsprozesse oder ein Stichwort zu „Raum“. Inhaltlich ist dieses Thema jedoch durch Luhmanns Ausführungen, die oben skizziert werden, abgedeckt. Die Emergenz in Sozialräumen spielt auch in anderen Schriften Luhmanns eine zentrale Rolle, vgl. z. B. Luhmann 1997, S. 806–812; Luhmann 2000, S. 70.
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einanderbezugnehmen der Erwartungen werde auch der Geldcode selbst regeneriert (ebd.). Sicherheit/Unsicherheit Zahlungsereignissen sei eine eigentümliche „Verteilung von Sicherheit und Unsicherheit“ (ebd., S. 21) eigen: „Die Zahlung schafft sehr hohe Sicherheit der beliebigen Verwendung des erhaltenen Geldes für den Gelderwerber (Geldeigentümer) und zugleich sehr hohe Unsicherheit der bestimmten Verwendung für alle anderen“ (ebd.; Herv. i. O.). Dies bedeutet: Was ein Akteur mit seinem Geld tut, liegt allein in seiner Hand; alle anderen sind in der Rolle passiver Zuschauer. Zugleich werden diese beruhigt, weil sie beobachten können, „wie jemand auf knappe Güter zugreift, weil er dafür zahlt“ (ebd., S. 69, Herv. i. O.). Die Beruhigung – nicht im Sinne der Person, sondern des Systemerhalts formuliert – erfolgt, sofern mit der Zahlung das Geld-„Medium regeneriert“ (ebd.) wird, d. h. es bestehen für alle weiteren Zahlungsakte gleiche Bedingungen. Unsicherheit der einzelnen Geldverwendung und die Sicherheit, dass weitere Zahlungen/Nichtzahlungen folgen, sind also im Wirtschaftssystem eng miteinander gepaart. Dazu kommt – als weitere evolutionäre Errungenschaft – die Quantifikation der Zahlungsereignisse. In verschiedenen Formen des Berichtswesens werden aggregierte Daten geschaffen. Sie geben Auskunft, bei welchen Preisen wie viele Zahlungen möglich waren, über welche Zeiträume hinweg es Zahlungen gab; all dies kann für vergangene, aktuelle und prognostizierte künftige Zahlungen und Preise erstellt werden. Die Quantifikation hilft bei der Reproduktion der systemeigenen Struktur (ebd., S. 22).3 Knappheiten, Bedürfnisse Des Weiteren sieht Luhmann Knappheit als Orientierungsfaktor des Wirtschaftssystems (ebd., S. 29). Durch Knappheit wird es möglich, „dass ein instabilisiertes System in sich selbst auf die eigene Instabilität zu reagieren beginnt“ (ebd., S. 30). Diese stabilen Instabilitäten resultieren daraus, dass man sich im Wirtschaftssystem an der „Instabilität der Geldkosten und an der Instabilität politischer Entscheidungen“ orientiert, was jedoch immer von der „Unmöglichkeit rational gesicherter Voraussicht“ bestimmt sei (ebd., S. 31). Die Instabilitäten von Geldkosten und politischen Entscheidungen lösen dann im Wirt3 Ein preisorientiertes System könne hierbei „fast ohne Gedächtnis operieren“ (ebd., S. 19), d. h. es muss keine Erforschung über die Herkunft von Bedarf und Angebotsmöglichkeiten erfolgen, denn die notwendigen Informationen werden über Preise selbst mit erzeugt. „Wer nicht zahlen und was nicht bezahlt werden kann, wird vergessen“ (ebd.). Freilich bleibt die „aggregierende und generalisierende Funktion von Gedächtnis“ bedeutsam, aber sie erfolgt nicht direkt über Zahlungen, sondern mit Hilfe des betrieblichen und überbetrieblichen Rechnungswesens. „Auf dieser Grundlage kann man dann nur noch ohne Gedächtnis, also über Algorithmen entscheiden“ (ebd.).
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schaftssystem ein reaktives Verhalten aus, das auf Änderungen von Preisen zielt: „Dabei kann es sich sowohl um spekulative Ausnutzung von vermuteten Chancen handeln als auch um Absicherung, etwa um Bildung von Vorräten an Kapital oder Waren oder auch um Überproduktion für den Fall einer etwaigen Steigerung der Nachfrage, die man durch mehr Absatz (statt durch Erhöhung der Preise) ausnutzen möchte“ (ebd., S. 30). Wenn in der Selbstbeschreibung des Wirtschaftssystems wesentlich Preise genutzt werden, so bedeutet dies zugleich, dass es – so Luhmann – „keine direkte Information ... über das Verhältnis von System und Umwelt“ gibt (ebd., S. 34). Der Idee nach sollen zwar Preise Knappheiten anzeigen (etwa bezüglich Ressourcen oder Arbeitsmotive), jedoch gilt, dass „de facto ... Knappheiten im System selbst erzeugt und manipuliert“ werden (ebd., S. 35). Ähnliches gilt für Bedürfnisse. Luhmann sieht sie nicht als externe, sondern als eine interne Umwelt des Wirtschaftssystems, als eine „wirtschaftssysteminterne Form der Informationsverarbeitung“ (ebd., S. 59). Die Wirtschaft habe ihre Funktion nicht vornehmlich darin, bestimmte Bedürfnisse zu befriedigen, wie Luhmann explizit betont (ebd., S. 63). Die Funktion für die Gesellschaft bestehe vielmehr darin, einen Mechanismus bereitzustellen, „der eine zukunftsstabile Vorsorge mit je gegenwärtigen Verteilungen verknüpft“ (ebd., S. 64). Die stabile Vorsorge besteht darin, dass das System über die nicht stillzustellenden Zahlungsereignisse zukunftsoffen bleibt, was dann impliziert, Versorgungssysteme für unterschiedlichste Bedürfnisse „zu testen“ (vgl. dazu unten). Märkte als innere Umwelt des Systems Gegen die Vorstellung, der Markt sei ein eigenes System, setzt Luhmann, dass er vielmehr „innere Umwelt des Wirtschaftssystems“ sei (ebd., S. 91). Als Markt werde das Wirtschaftssystem „selbst zur Umwelt seiner eigenen Aktivitäten“ (ebd., S. 94; Herv. i. O.). Luhmann spricht in diesem Zusammenhang dem Markt eine Spiegelfunktion zu: jedes Unternehmen nehme im Spiegel des Marktes sich selbst, die Konkurrenten und mögliche Abnehmer wahr; die Produktion erscheine „sich selbst als Markt“ (ebd., S. 73). Konsumenten erscheinen begehrt oder „knapp“, da verschiedene Anbieter um sie konkurrieren, und gerade deshalb empfehle sich Überproduktion, um für jede sich bietende Absatzchance gerüstet zu sein (ebd., S. 74). Der Markt sei mithin abstrakt gesprochen „die Differenz von bestimmter und unbestimmter Komplexität“, wobei die eigene Komplexität durch Organisationen kontrollierbar sei (ebd.). Die unbestimmte Komplexität, d. h. Konkurrenten und Kunden, erscheinen im Spiegel als prinzipiell undurchsichtig. Eben deshalb verbleibt die Möglichkeit, Anschlüsse an das eigene Handeln zu berechnen (ebd.), was über eine Systemgeschichte von Preisen und die sich daran anschließenden Markterfolge und -misserfolge möglich wird. Der Vorteil von Märkten ist nach Luhmann, dass sie nicht auf Interaktionen angewiesen sind. Vielmehr gibt es die Möglichkeit, eigene Ziele „angesichts
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knapper Ressourcen einzuschätzen, ohne dass dazu Kontakt aufgenommen werden müsste“ (ebd., S. 102). Es habe weit reichende Folgen, wenn eine soziale Ordnung ohne soziale Interaktion hergestellt werden kann: „Es entfallen die Beschwerlichkeiten, Umständlichkeiten und der hohe Zeitbedarf der Interaktion, aber auch ihre Kontrollmöglichkeiten und die Sicherheiten, die sie zu gewähren vermag. Die Sensibilität des Wirtschaftssystems und sein Reaktionstempo beruhen sehr wesentlich darauf, dass Interaktion eingespart wird“ (ebd., S. 103). Die Reaktionen würden sich nicht über viele Ketten der Interaktion vermitteln, sondern es gäbe – über den Markt – eine „fast gleichzeitige Reaktion vieler auf das, was viele als Reaktion anderer unterstellen“ (ebd.). Das System reagiere „so schnell, dass es fast nur noch Ereignisse wahrnehmen kann. Es reagiert nicht auf Strukturvorgaben, sondern auf Veränderungen, und jede Intervention, zum Beispiel durch Zentralbanken oder Regierungen, ist vor allem als Ereignis wirksam“ (ebd.). Für Eingriffe innerhalb des Wirtschaftssystems ist der Markt – als innere Umwelt – zentral, sofern ein Produzent Bedürfnisse von Konsumenten annimmt und seine darauf abgestellten Produkte auf dem Markt testet. Diesbezüglich komme Preisen die Funktion zu, Bedürfnisse zu entdecken (ebd., S. 113). Es gehe dabei nicht um wirkliche Bedürfnisse, sondern um die Frage, wie viel man angesichts eines Bedürfnisses absetzen kann (ebd., S. 108). Mithilfe des Marktes entwickle, teste und korrigiere das System eigene Vorstellungen über seine Umwelt (ebd., S. 113/114). Dafür gibt es erstens eine externe Bedingung: Bedürfnisse in der Umwelt sind ungleich verteilt. Zweitens sei im System selbst das Geld ungleich verteilt. Hinsichtlich beider Bedingungen sei Gleichheit für das System eine „tödliche Entropie“ (ebd., S. 112). Programme Der Code des Wirtschaftssystems Zahlung/Nichtzahlung ist nur benutzbar, so Luhmann, „mit Hilfe von Programmen, die anzeigen, ob es angebracht und richtig ist, zu zahlen oder nicht zu zahlen“ (ebd., S. 249). Luhmann nennt hierbei die Programme von Wirtschaftsunternehmen und Haushalten. Bei Ersteren regulieren Programme die Frage, ob Dispositionsmöglichkeiten „zum Wiedergewinn der entsprechenden Zahlungsfähigkeit (nach Möglichkeit mit Profit) führt“ (ebd.); für Letztere konkretisieren Programme das Problem, wie Zahlungen angenommen und dabei gleichzeitig Zahlungsunfähigkeiten abgewälzt werden können (ebd., S. 249/250).4
4 Bei Unternehmensprogrammen seien wiederum zwei zu unterscheiden, um den Code des Systems zu konkretisieren; erstens müssen Präferenzen eines Unternehmens so geordnet werden, dass weitere Investitionsprogramme mit Blick auf (angenommene) Marktbedürfnisse möglich werden; zweitens müsse bei all dem die eigene Zahlungsfähigkeit sichergestellt bleiben. Mit dem ersten Programmtyp werde auf Fremdreferenz, mit dem zweiten auf Selbstreferenz reagiert.
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Risiken absorbierende Strukturen Institutionelle Strukturen des Wirtschaftssystems diskutiert Luhmann weitaus weniger. Nur im Zusammenhang mit dem Geldmarkt werden solche Strukturen genannt. In theoretischer Hinsicht versteht Luhmann solche Strukturen als Beobachtungen höherer Ordnung. Als einziger Markt habe der Geldmarkt eine hierarchische Struktur entwickelt (ebd., S. 117), die Beobachtungen höherer Ordnung möglich macht. Luhmann nennt diesbezüglich die Zentralbanken einzelner Länder, die Zentralbanken von Europa oder der USA sowie Banken für den internationalen Zahlungsausgleich (ebd.). Grund für diese dreistellige, absichernde Struktur sei, dass Operationen des Geldmarktes in hohem Maße selbstreferenziell seien. Nur am Medium Geld interessiert, würden Anhaltspunkte für Äquivalente in der Umwelt des Systems fehlen (Bedürfnisse oder Waren) (ebd., S. 116). Zwar könne durch die Dreistelligkeit der Struktur die Fluktuation des Geldmarktes nicht wirklich kontrolliert werden, man könne aber durch Interventionsereignisse stimulieren oder destimulieren (ebd., S. 117/ 118).
2. Wirtschafts- und Erziehungssystem im Vergleich Zusammengefasst skizziert Luhmann das Wirtschaftssystem wie folgt:
> Es gibt mit Zahlungen basale Ereignisse, die entpersonalisierte Informatio> >
> > > >
nen und entlang der Unterscheidung Zahlung/Nichtzahlung eine eigenständige Konditionierung des Systems erlauben; die Dimensionierung der basalen Ereignisse erfolgt mit Preisen; sie sind ein technisches Kommunikationsmittel, das von Personenbezügen abstrahiert; Zahlungen beinhalten für den (Geld)Eigentümer die hohe Sicherheit einer beliebigen Verwendung; alle anderen Marktteilnehmer müssen eine hohe Unsicherheit dieser Verwendung aushalten; für alle besteht jedoch hohe Erwartungssicherheit über die weitere Verwendung des Geldmediums, welches sich in Zahlungsakten reproduziert; Zahlungsereignisse lassen sich quantifiziert darstellen und stabilisieren damit die Reproduktion des Systems; es werden im System Knappheiten geschaffen, die das System anhalten, weiter zu laufen; bei Unsicherheit einer rationalen Voraussicht, über Preise auf Bedürfnisse in der Umwelt zuzugreifen, erlauben Märkte, eigene Ziele zu testen; das System verschafft sich mit Programmen Konkretisierungen des Codes, die es erlauben, zwischen Fremdreferenzen (Reaktion auf angenommene Bedürfnisse) und Selbstreferenzen (die Sicherstellung von Zahlungsfähigkeit) zu unterscheiden;
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> Märkte erlauben eine soziale Ordnungsbildung ohne Interaktion und mit hohem Reaktionstempo. Das System reagiert nicht auf Strukturvorgaben, sondern auf Ereignisse und deren Antizipation. (1) Insgesamt ist das Wirtschaftssystem ein System, das sich mit Geld und Preisen die „benötigten Instabilitäten“ (ebd., S. 39) für seine Reproduktion und die weitere Ausdifferenzierung schafft. Dabei spielen Risiken absorbierende, hierarchische Strukturen wie Zentralbanken nur in dem Bereich der größten Selbstreferenzialität eine Rolle, dem Geldmarkt. Das „Normalsystem“ der Wirtschaft funktioniert ohne solche Sekundärstrukturen. Vertraut wird der „Entropie“ basaler Zahlungsereignisse. Sie bilden eine Orientierung und ermöglichen über eine große Schwankungsbreite unterschiedlichster Wirtschaftseinheiten (Unternehmen, Haushalte) hinweg, die auf Märkten bestehen und scheitern, den Fortbestand „stabiler Instabilitäten“. Die Relation zwischen „entropischen“ Basisereignissen und sekundären Ordnungsstrukturen ist im Erziehungssystem gravierend zugunsten Letzterer verschoben; d. h. die Ordnungsbildung des Erziehungssystems hat bislang wesentlich der Staat als externe Agentur übernommen. Man vertraut nicht der Ordnungsbildung, wie sie unmittelbar aus Interaktionen zwischen Anwesenden (Lehrer-Schüler, Professor-Student) entlang der basalen Leistungselemente (dem Unterricht) erfolgt. Dies hängt offensichtlich damit zusammen, dass im Erziehungssystem nicht „benötigte Instabilitäten“ wie im Wirtschaftssystem im Vordergrund stehen, sondern Stabilitäten, d. h. aufgrund von Gleichheits- und Inklusionsgeboten (dazu unten, Anm. 8) möglichst gleichmäßige Adressierungen von Lebensläufen. Letztlich sind Unterschiede in der Ordnungsbildung zwischen dem Erziehungssystem und dem Wirtschaftssystem auf eine unterschiedliche Governance zurückzuführen.5 Das Erziehungssystem richtet sich bislang vornehmlich an der Governanceform „Hierarchie“ aus (eine staatliche Verantwortung für Bildungsprogramme), im Wirtschaftssystem dominiert die nichthierarchische Form des Marktes. (2) Im Zusammenhang mit der Governanceform „Markt“ kann gesagt werden, dass die basalen Zahlungsereignisse im Wirtschaftssystem Ungleichheit voraussetzen und sie reproduzieren. Ungleichheiten sind für die Entropie des Systems notwendig. Anders z. B. im Schulsystem. Für die „Herstellung eines rekursiven, auf vergangene und zukünftige Operationen zurück- und vorgreifenden Zusammenhangs“ (Luhmann 1992, S. 112) wird auf „die Codierung (besser/schlechter) 5 Governance-Strukturen lassen sich als „Regelungsstrukturen“ verstehen (Braun 2001, S. 247). Sie resultieren wesentlich aus dem Zusammenspiel mehrerer Akteure. In den Regelungsstrukturen sind „Verfügungsrechte zum Treffen von Entscheidungen“ je spezifisch organisiert, je nach dem, ob ein mehr bürokratisch-oligarchisches Modell, mehr ein Staatsmodell oder mehr ein Markt- oder Konkurrenzmodell vorliegt (um nur einige Beispiele von Governance-Strukturen zu nennen) (ebd., S. 248).
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und Programmierung der Selektion“ (Luhmann 1996, S. 26) zurückgegriffen. Das Schulsystem nimmt mit der Selektion eine formelle, operative Gleichbehandlung von Schülern vor. Es setzt homogenisierte Populationen voraus (ebd., S. 25), beobachtet nicht soziale Ungleichheiten, die faktisch vor und während des Schulzugangs existieren, um allein eigene Kriterien zählen zu lassen, die auf Teilnahme am Unterricht beruhen. Eine Selektionsformel, die über die Unterscheidung bessere/schlechtere Noten organisiert ist, ermöglicht eine Gleichbehandlung nach eigenen Referenzpunkten, die ab dem Zeitpunkt eines Systemeintritts wirksam sind.6 Wie erwähnt, ist dagegen das Wirtschaftssystem umgekehrt auf ungleiche Verteilungen in seiner Umwelt angewiesen, und es reproduziert diese durch die Codierung Zahlung/Nichtzahlung. Im Erziehungssystem haben wir somit an zwei zentralen Punkten – im Umweltbezug sowie in der inneren Codierung – Operationen, die auf Gleichheit zielen7; im Wirtschaftssystem zielen sie auf Ungleichheit. Im Systemvergleich sind kaum größere Gegensätze denkbar. (3) Das Wirtschaftssystem ist mit formalen Organisationen durchsetzt (vgl. Schimank/Volkmann 1999, S. 32). Organisationen sind dabei nach Luhmann diejenigen sozialen Systeme, die sich gern untereinander austauschen (Luhmann 1997, S. 834), und zwar innerhalb eines Teilsystems, als auch zwischen Teilsystemen – was wiederum möglich ist durch das Geldmedium. Man „versteht“ durch dieses auch in anderen Teilsystemen, was es heißt, über Preise zu kommunizieren. Und dies erhöht die Annahmebereitschaft wirtschaftlicher Leistungen. Bei der Form Interaktion, wie sie im Unterricht als dem Leistungsbereich des Schulsystems vorherrscht, dominiert per Definition regionale Begrenztheit; Kommunikation lässt sich nur über Anwesenheit verbreiten; und insofern gibt es im Erziehungssystem Schwierigkeiten, Leistungen – z. B. einer schulischen Einheit – innerhalb sowie außerhalb des Systems darzustellen. Ich möchte jedoch unten (Abschnitt 3) zeigen, dass sich in diesem Punkt derzeit gravierende Änderungen anbahnen, d. h. man kann vielfach beobachten, wie Schulen z. B. formative Leistungsdokumentationen entwickeln. Dabei wer6 Im Anschluss an Luhmann wurden andere Vorschläge für einen Code des Erziehungssystems gemacht, z. B. „vermittelbar/nicht vermittelbar“, mit dem Lebenslauf des Zöglings als Medium (vgl. Kade 1997). Luhmann (2002, S. 59) findet diesen Vorschlag überzeugend, stellt aber heraus, dass der Bezugspunkt gewechselt wird; statt dem „Code der Selektionsverfahren“ gehe es nun um „die Operation des Vermittelns“ (ebd., S. 60). Demnach ist der Code des Erziehungssystems immer noch am besten mit der Formel „Codierung und Programmierung von Selektion“ beschrieben. Oder kurz gefasst: „Codiert wird nur die soziale Selektion“ (Luhmann 1986, S. 160; Herv. i. O.). 7 Die Orientierung an Gleichheit bei Selektionsprozessen geht historisch auf die Vorstellung einer Inklusion Aller zurück, die sich bis zur Gegenwart durchhält. Operativ wird dabei die Inklusion nicht vom Erziehungssystem allein, sondern von dessen Kopplung an externe Programmstrukturen des Staates erreicht. Vgl. zu diesem – hier ausgeblendeten – Zusammenhang von Inklusion, als Dimension der Sozialintegration, und der staatlichen Governance: Brüsemeister 2004.
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den Leistungsdokumente nicht nur zwischen Schulen getauscht, sondern auch in der Umwelt verstanden. Dies wäre die Konstitution eines symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums, womit regionale Einheiten vergleichbarer würden. (4) Im Wirtschaftssystem „testen“ Einheiten ihre Leistungsfähigkeit auf Märkten. In weiten Teilen des Erziehungssystems (außer z. B. im Bereich Weiterbildung) gibt es dies nicht; es gibt kein eigenständiges Medium, in dem sich Einheiten selbständig vergleichen; es gibt vielmehr – so im Schulsystem – staatliche Bestandsgarantien der Einheiten. (5) Lokale Emergenz: In der Vorstellung von Luhmann wird die konzeptionelle Auffassung gesellschaftlicher Differenzierung von Dekomposition – wie noch bei Parsons – auf Emergenz umgestellt. Die Differenzierung „wird gleichsam lokal durch emergierende Einheiten ausgelöst, die für sich und ihre Umwelt Beschränkungen in den Anpassungsmöglichkeiten erzeugen“, so Luhmann (2000, S. 69–70) am Beispiel der Ausdifferenzierung des politischen Systems. Luhmann verbindet damit die Vorstellung, dass Differenzierungen „erst einmal lokal getestet werden, bevor sich die Gesellschaft auf Gedeih und Verderb auf sie einlässt“ (ebd., S. 70). Das Wirtschaftssystem ist hierbei ein ausgeprägtes „TestSystem“, wie sich unten allein am Beispiel kleiner und mittlerer Unternehmen, aber auch grundsätzlich betonen lässt: In welcher Weise Wirtschaftseinheiten ihre Leistungen auf Märkten testen, Produkte erfinden, innovativ sind oder insolvent werden, und in welcher Weise überhaupt handelnde Einheiten emergieren, ist in den Regionen eines Landes extrem unterschiedlich. Auf die Emergenz wird mit sekundärer Ordnungsbildung reagiert, für die sich Luhmann weniger interessiert, die aber in der Selbstbeschreibung der Wirtschaft und der Regionen eine wichtige Rolle spielen. Es geht dabei z. B. um absichernde Strukturen der Regional- und Wirtschaftsförderung für verschiedene Märkte, oder mit dem soziologischen Neoinstitutionalismus gesprochen, in verschiedenen „organisationalen Feldern“ (Hasse/Krücken 1999, S. 40); es geht um überformende Kultur- und Identitätsbildungen von Regionen, um Erfolge staatlicher Regulierung oder eine erfolgreiche Selbstanpassung und Behauptung einer Wirtschaftsregion im System der Weltgesellschaft.8 In solchen Selbstbeschreibungen werden deutlich weniger die negativen Aspekte von Emergenz, der regionale Niedergang von Unternehmen (und die Insolvenz privater Haushalte), festgehalten. Beide Seiten gehören aber nach Luhmann zur Emergenz dazu, jenseits der alleinigen positiven Selbstbeschreibung des Systems entlang von sekundären Ordnungsbildungen. Es geht Luhmann um die überschießen-
8 Externe Regulierung und wechselseitige Nachahmung sind zwei der Hauptaspekte institutioneller Regulierungen der Wirtschaft im Sinne des soziologischen Neoinstitutionalismus; vgl. Hasse/Krücken 1999, S. 44.
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den und irritierenden Möglichkeitsräume des Systems9, wie sie sich aus Basiseinheiten, den „entropischen“ regionalen Emergenzen, der unüberblickbaren Zahl regionaler Testversuche ergeben.10 (6) Das Wirtschaftssystem wird bei all diesen regionalen Versuchen durch seinen Code zusammengehalten. Durch Zahlungsereignisse und den Geldcode kann sich jede regionale Wirtschaftseinheit gleichsam zur Weltgesellschaft hin aufschließen, seine Leistungen mit bestimmten Preisen anbieten; werden die Produkte gezahlt oder nicht gezahlt, kann die Einheit weiter kalkulieren. Die prinzipielle Anschließbarkeit jeder regionalen Wirtschaftseinheit an größere Wirtschaftseinheiten ist durch die Existenz von Geld als symbolisch generalisiertem Kommunikationsmedium begründet. In einem bedeutenden Subsystem des Erziehungssystems, dem Schulsystem, kann dem nichts Vergleichbares entgegengesetzt werden: es gibt (bislang) kein technisiertes Kommunikationsmedium (Luhmann 2002, S. 120–122), wie es im Wirtschaftssystem das Geld ist; Leistungen werden in der Interaktion unter Anwesenden erbracht. „People processing“ und nicht die Bearbeitung von technischen Artefakten ist Basis für die Systembildung.11 (7) Das Wirtschaftssystem kann zwischen regionalen Differenzierungsereignissen und einem Code hin und her springen. Allein bei mittelständischen Unternehmen, die in verschiedenen Regionen aktiv sind, lässt sich eine enorme Variationsbreite beobachten. In zeitlicher und sozialer Hinsicht zeigt die mittelständische Wirtschaft z. B. beim Führungspersonal hohe Fluktuation bei gleichzeitiger extremer Konstanz Jahrzehnte alter Firmentraditionen; die mittelständische Wirtschaft baut Personalstrukturen teilweise nach modernsten Managementmethoden um; teilweise dominieren aber auch traditionale bzw. familiale Führungsformen (Bäcker 2004). In sachlicher Hinsicht wird der mittelständischen Wirtschaft eine enorme Innovationskraft schöpferischer Unternehmer unterstellt, die im internationalen Wettbewerb bestehen; gleichzeitig findet man traditionale Programme sowie ebensolche Sach- und Methodenmittel. Es gibt also allein in dieser Wirtschaftsform 9 Dies ist ein gravierender Unterschied zum Ansatz der Wirtschaftsgeographie, die Regionen keine primäre Kraft einer emergierenden Ordnung zuerkennt, stattdessen Regionen allenfalls beschreibend einer Hierarchie von Mikro-, Meso- und Makrostrukturen zuordnet (so stellvertretend für viele: Ritter 1998, S. 100). 10 Freilich fehlt in Luhmanns Sicht weitgehend so etwas wie die Evolution der Kooperation (Axelrod 1984), d. h. die Entwicklung von Mechanismen des handelnden Zusammenwirkens einzelner Einheiten und eine vergleichende (historische) Analyse, wie diese Entwicklung in einzelnen organisationalen Feldern ausfällt. Luhmann geht es im Prinzip – ansetzend an den Möglichkeiten lokaler Emergenz – vor allem um Basiseinheiten des Wirtschaftssystems. Und damit nimmt er unter der Hand doch wieder die – von ihm semantisch abgelehnte – Haltung eines Adam Smith ein, sich die Wirtschaft als unkoordinierte Menge einer Vielzahl voneinander unabhängiger Einheiten vorzustellen. 11 Schimank/Volkmann (1999, S. 35) führen im Anschluss an Luhmann an, dass neben dem Erziehungssystem auch die Teilsysteme Gesundheitswesen, Sport, Familie und Intimbeziehungen sowie Militär ebenfalls keine Kommunikationsmedien ausgebildet haben.
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extreme Variationen. Aber diese tangieren nicht die Stabilität des Systems, vielmehr sind sie Basis für seine permanente Entwicklung. Für die Stabilität des Systems entscheidend ist die Existenz eines Codes (Zahlung/Nichtzahlung) sowie die Existenz eines an den Code gebundenen symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums (Geld), das mit Preisen (als dem operativen Mechanismus) gleichsam dynamisiert wird. Sie ermöglichen, dass alle Varianzen des Systems in Geldwerte umgerechnet, mit Leistungen anderer Wirtschaftsbereiche verglichen, auf die Zukunft des Gesamtsystems bezogen werden können. Dies bedeutet: zwischen dem Code und den regionalen Differenzierungen ist die entscheidende Vermittlungsebene die Existenz eines Austauschmediums (symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums). Solche Austauschmedien gibt es Luhmann zufolge für das Erziehungssystem (bislang) nicht; d. h. wir beobachten zwar sehr wohl regionale Differenzierungen im Erziehungssystem, aber diese haben für die Einheit des Systems (bislang) kaum Bedeutung, d. h. es kann nicht zwischen regionalen Einheiten (deren Leistungen) und dem Code des Systems hin und her geswitcht werden. (8) Was sind Gründe für diesen Mangel? Hier lässt sich auf das Schulsystem einschwenken. In diesem Subsystem des Erziehungssystems ist die bisherige bürokratische Governance dafür verantwortlich, dass sich keine eigenen Verbreitungsmedien (geschweige denn Erfolgsmedien) entwickeln (Brüsemeister 2004, S. 169–175). Einzelschulen als pädagogische Handlungseinheiten müssen nicht, da das System durch Inputprogramme des Staates konstituiert wird, an der Basis, an welcher Leistungen erbracht werden, eigene Dokumentationssprachen entwickeln, mit der Leistungen nach innen und nach außen dargestellt werden. Aus staatlicher Sicht gibt es keine Notwendigkeit für ein solches Vermittlungsmedium, das Leistungen bzw. Outputs der Einheiten dokumentiert, da das System durch Inputs „von oben“ andauernd stabilisiert wird. Dies ändert sich heute durch Aufforderungen zur Rechenschaftslegung (Maritzen 1998). An dieser Stelle sei nun zu empirischen Beispielen übergeleitet, die andeuten, dass im Erziehungssystem, im Rahmen der Aufforderung zur Rechenschaftslegung, Dokumentationen von Leistungen hervorgebracht werden, und zwar innerhalb regionaler Bündnisse. Das Hervorbringen einer Dokumentationspraxis lässt offensichtlich ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium entstehen.
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3. Zum Heranwachsen eines symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums im Schulsystem Ein erstes Beispiel handelt von einer Schulverwaltung einer Region in Baden-Württemberg. Dort werden in Reaktion auf die örtliche Industrie und das Handwerk neue Formen schulischer Abschlussarbeiten ins Leben gerufen. Es wird ein Schulprojekt begonnen, an dem Schulen freiwillig teilnehmen können. Daraufhin melden sich zwei Schulen, die Konzepte erarbeiten, in das Abschlusszeugnis weitere Angaben über Qualifizierungen der Schulabgänger einzufügen. Neu ist in beiden Schulen die Hinwendung zur formativen Leistungsbeurteilung, die ergänzend zu der „summativen“ Note hinzugenommen wird. Im Zeugnis stehen neben den bekannten Fachnoten auch Beschreibungen, wie der Schüler an Praktika und AGs teilgenommen hat und wie sich sein Lernund Sozialverhalten über die Zeit entwickelte. Weitere Beispiele lassen sich aus dem Schweizerischen Schulsystem anführen. Im Kanton Thurgau haben ebenfalls mehrere Schulen neue Formen der Leistungsbeurteilung begonnen. Dabei sind erstens einzelne Lehrkräfte aktiv. Exemplarisch steht dafür das von einer Lehrkraft eingesetzte Konzept der „Lerntagebücher“.12 Lern- oder auch „Reisetagebücher“ werden dabei in mehreren Fächern eingesetzt, u. a. in Mathematik. Die Schüler notieren über das Schuljahr nicht nur tägliche Aufgaben und Lösungen, sondern auch Lösungswege und was sie selbst meinen, verbessern zu müssen. Wesentlich ist zudem, dass die Schüler ein peer-review machen, sie lesen sich in Klein- und Großgruppen Textfassungen vor, testen Entwürfe, lassen sich verbessern und verbessern selbst. Zudem sieht sich die Lehrkraft Aufzeichnungen kontinuierlich an und gibt Anstöße für eine selbständige Weiterentwicklung. Am Ende des Schuljahres hat jeder Schüler ein Portfolio, und es ist in den begleitenden Videoaufnahmen, die die Lehrkraft gemacht hat, aufschlussreich zu beobachten, wie intensiv und zugleich zwanglos die Schüler sich ihre Skripte vorlesen und wie jeder über das Jahr daran arbeitet, sein Tagebuch auszuschmücken. Schüler schätzen ihre Dokumente außerordentlich wert. Man kann an dem Beispiel sehen, dass hier eine Qualitätsentwicklung auf der Unterrichtsebene beginnt, sofern die Leistungsbeurteilung – neben den klassischen Noten – an Dokumente gebunden wird, die die Schüler eigenständig handhaben. Ähnliche Entwicklungen lassen sich auf der Ebene einer ganzen Schule beobachten. Zum Beispiel entwickelt eine Schule einer Thurgauer Gemeinde mit Eltern Fragebögen für die gemeinsame Beurteilung der Schüler. Diese Fragebögen werden mehrmals im Jahr an Eltern verteilt, und auch der Lehrer beurteilt mehrmals im Jahr die Beteiligung und Kompetenz seines Schülers in einzelnen Fächern. Anhand des Dokumentationsbogens wissen Eltern über das Jahr fort12 Diese Lernform geht zurück auf den von Urs Ruf und Peter Gallin (1998) in der Schweiz entwickelten „Reisetagebücherunterricht“.
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laufend, dass und wie der Lehrer den Schüler beobachtet, und der Lehrer weiß dies auch von den Eltern. Eltern können sich mit den Beurteilungsbögen auf Versetzungsgespräche vorbereiten, die es gemeinsam zwischen dem Schüler, dem Lehrer und den Eltern gibt. Der Schüler hat dabei ebenfalls Einsicht in die Beurteilungsbögen seiner Eltern und seiner Lehrer. Die Lehrer berichten, sie empfänden insbesondere die Versetzungsgespräche nun sehr viel klarer strukturiert und einfacher zu handhaben. Die verschiedenen Parteien müssen nicht mehr mühselig ad hoc rekonstruieren, was in den zurückliegenden Viertel- und Halbjahren passierte, sondern sie können sich auf Leistungsdokumente stützen. Mithilfe der Dokumente wird die Verfahrensweise der Beurteilung verobjektivierbar, man produziert kulturelle Artefakte. Dies war auch mit den oben genannten Lerntagebüchern möglich. Zudem – dies soll nur noch erwähnt werden – werden neue Formen der Leistungsbeurteilung auch von ganzen Gemeinden eingeführt; alle Schulen in der Gemeinde übernehmen bestimmte Verfahren der Leistungsbeurteilung, wie sie von Lehrkräften lokal entwickelt wurden. Insgesamt lässt sich also beobachten, dass in den Schulen in unterschiedlichen Reichweiten – d. h. bei Einzelpersonen, Schulen, oder Gemeinden – Qualitätsentwicklungen beginnen, die sich auf neue Leistungsdokumentationen stützen. Folgerungen Was ist nun aus soziologischer Sicht dazu zu bemerken? Durch die Leistungsbeurteilungen entstehen lokale Verhandlungskonstellationen. Lehrkräfte und Eltern kommunizieren intensiver untereinander und durch den Austausch von Dokumenten wird auch der Dialog mit Schülern intensiver. Wesentlicher Gesichtspunkt ist, dass nicht auf die „eine große Reform“ gewartet wird, sondern man beginnt, dringlichste Probleme zu lösen, eben z. B. bei der Leistungsbeurteilung. Auch in der Umwelt von Schule wird vielfach Kritik an der klassischen Notenbeurteilung geübt – siehe das Beispiel aus Baden-Württemberg und die Unzufriedenheit von Industrie und Handwerk an reinen Noten-Zeugnissen, oder siehe die gestiegenen Elternerwartungen, die von den Lehrkräften so wahrgenommen werden, dass immer höhere Ansprüche von außen an die Schule gerichtet sind. Einer der Lehrkräfte formuliert es so: Man habe sich auch deshalb standardisierteren Formen der Leistungsbeurteilung zugewandt, weil die Kollegen es leid waren, mit den Eltern immer wieder nur individuell und jeder für sich zu verhandeln – mit wechselnden Aussichten auf Erfolg. Die neuen Beurteilungsformen beteiligen dagegen die Eltern kontinuierlich an dem – jetzt auch formativen – Beurteilungsprozess; die verteilten Fragebögen sind einfach gehalten und können relativ schnell ausgefüllt werden, und sie erlauben über die Zeit hinweg ein Bild der Schülerleistungen zu erstellen. Die Beurteilungen der Eltern und Lehrer werden untereinander vergleichbar. Dies erhöht wechselseitig die Erwartungssicherheit. Und offensichtlich konstruieren sich die Beteiligten mit den Fragebögen auch eine einheitliche Formsprache.
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Es ist zusammengefasst unverkennbar, dass „von unten“ ein neues Austauschmedium – nämlich die von Lehrkräften zusammen mit Eltern und Schülern erstellten Leistungsdokumente – heranwächst. Es könnte sein, dass Leistungsdokumentationen zu einem neuen, eigenen Verbreitungsmedium im Schulsystem werden, was im Übrigen auch die Flut neuerer Veröffentlichungen belegt, die insbesondere nach PISA zum Thema Leistungsberichte zu verzeichnen sind.13
4. Fazit: Hat das Erziehungssystem eine Sonderstellung? Die Ausführungen zeigen auf wichtigen Ebenen Unterschiede zwischen dem System der Wirtschaft und dem der Erziehung (vgl. Tabelle 1): In beiden Systemen gibt es unterschiedliche Ausprägungen gesellschaftlicher Differenzierung, damit verbunden sind verschiedene Arten der systemischen Reproduktion: im Wirtschaftssystem eine Differenzierung „von unten“, durch die Entropie von Zahlungsereignissen und einer nachgeordneten sekundären, dreistelligen Strukturordnung (Bankensystem). Im Erziehungssystem gibt es eine Differenzierung „von oben“; durch die enge Kopplung an eine – bislang staatlich dominierte – Governance werden Strukturvorgaben gemacht, um Leistungsangebote weitgehend flächendeckend zu organisieren; es dominiert das Gleichheitsgebot, während im Wirtschaftssystem die Entropie Ungleichheit voraussetzt und permanent reproduziert. Luhmann geht – wie oben gezeigt – davon aus, dass im Wirtschaftssystem Differenzierungen lokal getestet werden, bevor sich die Gesellschaft auf sie einlässt. Dabei kann sich jede regionale Wirtschaftseinheit durch Zahlungsereignisse und den Geldcode gleichsam zur Weltgesellschaft hin aufschließen; ermöglicht wird dies durch Geld als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium. Das Erziehungssystem hat dagegen ein solches Medium bislang nicht entwickelt. Bedeutungen regional erbrachter Leistungen lassen sich (bislang) somit kaum mit einem eigenen Medium bewerten; die Reproduktion des Systems wird dafür bislang durch eine staatlich-bürokratische Governance gewahrt. Je mehr der Staat jedoch Rechenschaftslegung fordert und eine Autonomie der Schulen ermöglicht, desto eher wird die Leistungsbasis – d. h. die Schule als pädagogische Handlungseinheit – angeregt, eigene Leistungsdokumentationen zu entwickeln. Anhand der oben genannten Beispiele aus dem Schulsystem lässt sich dies so deuten, dass regionale Akteure so etwas wie versachlichte Austauschmedien entwickeln, die es erlauben, dass Kommunikationen über Leistungen des Erziehungssystems nicht mehr nur per Interaktion, sondern eben 13 Vgl. nur: Grunder/Bohl 2000, Roos 2001, Sacher 2001, Weinert 2001, Rhyn 2002, Moser/Keller/Tresch 2003, Elster/Dippl/Zimmer 2003. Diese Hinwendung zum Thema wird offensichtlich durch neue Formen der Governance wesentlich mit angeregt, vgl. Bähr 2003, Brüsemeister 2004, S. 481–490.
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Tabelle 1: Systemvergleich Wirtschaftssystem
Schulsystem
1. Das System repro1. duziert sich über
Ereignisse („Differenzierung ,von unten‘“)
Governance („Differenzierung ,von oben‘“)
1.1 Basale Elemente
Zahlungen/Nichtzahlungen
„organisierte Interaktion“ (Luhmann 1996) (Unterrichtsinteraktion in Verantwortung der Profession plus lose angekoppelter Organisation; Schule als „geographisches Isolat“; Alfred Treml)
1.2 Bezugsproblem
„Erzeugung und Regulierung von Knappheiten zur Entproblematisierung künftiger Bedürfnisbefriedigung“ (Luhmann 1988: 65)
Selektion von Lebenschancen von Schülern für die Teilhabe an gesellschaftlicher Kommunikation (selektiver Umgang mit Personen/Karrieren)
2. Sekundärordnung
nachgeordnet (z. B. Banken); stattdessen: Markt, der Ungleichheiten bei Bedürfnissen und Knappheiten voraussetzt und diese reproduziert > hohe Entropie
an erster Stelle
Geld 3. Symbolisch gene3. ralisiertes Kommuni3. kationsmedium
Hierarchie, Steuerung i. S. einer Inklusion Aller > hohes Steuerungsbedürfnis bislang keines
4. Regionale 4. Differenzierungen
kommen vor (spielen jedoch in Luhmanns Beobachtungen kaum eine Rolle)
sind störend für das Gleichheitspostulat einer Inklusion Aller
5. Neuere Entwicklung
(hier ausgeblendet)
formative Leistungsbeurteilungen als neues Medium?
über Medien erfolgen. Das wäre eine Revolution für das System, sofern Erwartungen und eine Formsprache verstetigt werden. Man wird hierbei beobachten müssen, inwieweit die lokalen Entwicklungen weiter von unten „emergieren“ und relativ unverbunden bleiben, und/oder wie eine Governance hier regulierend eingreift, indem sie Standards verbindlich macht. Nimmt man die Ergebnisse des Systemvergleichs zusammen, so lässt sich festhalten, dass das Erziehungssystem im Vergleich zum System der Wirtschaft deutliche Besonderheiten aufweist. Ob diese eine Sonderstellung im Club der funktional differenzierten Teilsysteme begründen, kann erst ein Vergleich mit weiteren Teilsystemen zeigen (denn es ist möglich, dass das Wirtschaftssystem seinerseits – mit seiner hohen Entropie – eine Sonderstellung aufweist). In der Entwicklung des Erziehungssystems lässt sich jedoch eine Annäherung an das Wirtschaftssystem in mindestens einem Punkt vermuten: Die Herausbildung eines Austauschmediums. Was dies für die Sekundärordnung (Governance) sowie für den eigentlichen Leistungsbereich, die Unterrichtsinteraktion unter Anwesenden, bedeutet, bedarf der genaueren Untersuchung.
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Unwissenheit schmerzt nicht oder: Gesundheits- und Erziehungssystem in vergleichender Perspektive GesundheitsVolker Kraft und Erziehungssystem in vergleichender Perspektive
GesundheitsVolker Kraft und Erziehungssystem haben zumindest auf den ersten Blick und zumindest derzeit eines gemeinsam: beide stehen im Mittelpunkt medial vermittelter Kritik. Das eine kostet zuviel, das andere – der Turm von PISA steht halt schief – leistet zu wenig. Bei genauerem Hinsehen stellt sich die Sache gleichwohl anders dar: Während das Gesundheitssystem gerade durch seine hoch entwickelte Leistungsfähigkeit an den damit verbundenen Kosten gleichsam zu ersticken droht (da es sozusagen zuviel für zu viele kann), wird das Erziehungssystem gerade durch rezidivierende Einsparungen an der Entfaltung seiner Leistungsfähigkeit mit der Folge gehindert, dass es sozusagen zu wenig für zu wenige zu leisten vermag. Die scheinbar naheliegende Konsequenz aus einer solchen, ebenso oberflächlichen wie gängigen Betrachtungsweise lautet daher in beiden Fällen in der Regel: Mehr Geld ins System! Da Geld als „Systemwährung“ aber nur im Wirtschaftssystem eine rationale Größe darstellt, wird auch mehr Geld, das zudem ohnehin zu wenig bleiben wird, die Probleme nicht lösen können, sondern sie vielmehr weiter verschärfen. Die Frage ist nun, ob man bei der Gegenüberstellung beider Systeme aus einer Betrachtungsweise, die sich systemtheoretischer Mittel bedient, möglicherweise noch zu anderen, vielleicht auch differenzierteren Einsichten zu gelangen vermag. Die Darstellung ist in sechs Abschnitte untergliedert: Zunächst wird die Sonderstellung beider Systeme herausgestellt (1), dann werden Codierung und Reflexion genauer betrachtet (2); für jeden Vergleich beider Systeme ist die Beziehung zwischen Körper und Bewusstsein zentral (3), denn sie hat maßgeblichen Einfluss auf die jeweils geltenden Zeithorizonte, die Interventionsformen und die zum Einsatz kommende Technologie (4). Der Umwelt beider Systeme und ihren strukturellen Kopplungen ist der dann folgende Abschnitt gewidmet (5). Zum Schluss steht die Gesundheitspädagogik im Mittelpunkt (6).
Gesundheits- und Erziehungssystem in vergleichender Perspektive
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1. Körper, Kranke und Kinder Das System der Krankenbehandlung (aus bestimmten Gründen verwende ich hierfür zunächst weiter die gängige Bezeichnung Gesundheitssystem) und das Erziehungssystem nehmen – systemtheoretisch betrachtet – im Vergleich mit anderen eine Sonderstellung ein. Denn in beiden Fällen handelt es sich um Funktionsbereiche, in denen das Problem und der angestrebte Erfolg nicht in der Kommunikation selbst liegen (was der Fall wäre, wenn die Selektion einer Kommunikation weiteren Kommunikationen als Prämisse diente), sondern in der Änderung der Umwelt. In dem einen Fall geht es um die „Änderung menschlicher Körper“, in dem anderen um die „Änderung von Bewußtseinsstrukturen“ (Luhmann 1997, S. 407). Deshalb gibt es weder für Krankenbehandlung noch für Erziehung (und auch nicht für Technologie, das wäre der dritte Fall, der ausdrücklich hervorgehoben wird) jeweils eigene symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien. Vielmehr muss dieses Defizit (abgesehen von hoher Abhängigkeit von organisierter Interaktion) kompensiert werden, und zwar durch „vorausgesetzten Kooperationswillen“ und durch „direkt interaktionsfähige Symbolik“: Texte im Falle des Schulunterrichts, „Medikamente mit unverständlichen Namen und Sorgfalt symbolisierenden Gebrauchsanweisungen“ im Fall der Krankenbehandlung (vgl. Luhmann 1983, S. 41). Körper wie Kinder sind unverzichtbare Bedingungen, ohne die Sozialsysteme nicht (bzw. nicht sehr lange) auskommen können, wobei dem Körper als „Sicherheitsbasis“ (Bette 1987, S. 603) deutlich Priorität zugeschrieben wird, denn ohne Körper keine Kinder, keine Wahrnehmung und keine Kommunikation. Anders gesagt: Geburtenraten sinken langsam, Körper können ihre Funktionen buchstäblich schlagartig einstellen. Ohne Geburtsurkunde (die ein Arzt unterzeichnen muss) gibt es keine Anschlüsse eröffnende Inklusion und ohne Totenschein (den ebenfalls der Arzt auszustellen hat) keine Ruhe vor Systemaktivitäten. Die Gesellschaft vergewissert sich, dass Körper da sind, dass sie funktionsfähig sind (man ist entweder gesund oder wird krankgeschrieben) wie auch Sicherheit darüber bestehen muss, dass Körper ihre Funktion nachweislich eingestellt haben, also tot sind oder aus guten Gründen wie auch mit gutem Gewissen für tot erklärt werden können. Diese Beispiele zeigen, dass das für Körper zuständige Gesundheitssystem eher mit scharfkantig angelegten Unterscheidungen arbeitet, während das Erziehungssystem weichere Übergänge ermöglicht: man muss zwar zur Schule, aber vielleicht noch nicht in diesem Jahr, die Leistungen geben zwar nachhaltig Anlass zur Besorgnis, die Versetzung erfolgt dennoch aus guten pädagogischen Gründen. Und Politik wie Wirtschaft folgen ihm zumindest in dieser Hinsicht: man kann zwar schon wählen, aber noch nicht gewählt werden, man darf schon sein eigenes Konto eröffnen, aber noch nicht selbständig darüber verfügen. Allerdings hat das Gesundheitssystem auch in Bezug auf das Erziehungssystem Priorität: wenn der Schularzt die Bestätigung der Schulreife verweigert, sind alle anderen, Eltern wie zuständige Pädagogen, machtlos. Die Bedeutung des Körpers lässt sich hingegen auch von der an-
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Volker Kraft
deren Seite (und damit auch für andere Zwecke) funktionalisieren: wer als krank deklariert ist, muss nicht lernen, muss nicht zur Arbeit und auch nicht vor Gericht. Vielleicht kann man es so zusammenfassen: Funktionsfähige Körper sind notwendige, durch Reifung und Lernen entwickelte Bewusstseinsstrukturen sind hinreichende Bedingungen für Kommunikation. Rousseau wusste das: „Wir werden sozusagen zweimal geboren: einmal um zu existieren, das zweite Mal, um zu leben“ (Rousseau 1978, S. 210; vgl. dazu Kraft 1973, S. 149ff.) Für die erste Geburt ist heutzutage das Gesundheitssystem, für die zweite das Erziehungssystem zuständig. Früher, denkt man an die Aufklärungspädagogik und vor allem an Kant, hätte man anders formuliert: Die erste Geburt erfolgte aus dem „Mutterschoß der Natur“ und war Sache der Frauen, die zweite hingegen gründete auf der Vorstellung einer spezifisch männlichen Ökonomie der Zeugung, sollte sie doch, gleichsam als „Produktionsmaschine der Vernunft“, durch „vernünftige Männer unter Ausschluß der Frau“ erfolgen (Böhme/Böhme 1985, S. 436ff.).
2. Codierung und Reflexion Funktionale Differenzierung und Codierung sind interdependente Größen: Erst infolge funktionaler Differenzierung des Gesellschaftssystems treten Codes („Totalkonstruktionen“) an die Stelle von Prinzipien (die, so Luhmann, „zwangsläufig punktuell sind und daher buchstäblich nicht viel Sinn haben“), und erst dadurch, dass ein binärer Schematismus „monoton oberste Werte“ ersetzt, eröffnet und steigert sich die Möglichkeit der Ausdifferenzierung von Funktionssystemen (1987, S. 182f.). Die Codierung markiert gewissermaßen die Grenze des Systems, in dem sie die jeweils geltende, systemspezifische Typik der Informationsverarbeitung festlegt „und damit auch eine eigene Realitätskonstruktion von dem unterscheidet, was sonst geschieht“ (Luhmann 1990, S. 184). Die Musterfälle dürften hinlänglich bekannt sein: wahr/unwahr im Wissenschaftssystem, Eigentum/Nichteigentum oder zahlen/nicht-zahlen in der Wirtschaft, Recht/Unrecht im Rechtssystem. In jedem dieser binären Schematismen ist eine „fundamentale Asymmetrie“ eingebaut (ebd., S. 185). Nur die eine Seite ist operativ anschlussfähig, nur mit dem positiven Wert (dem Designationswert im Sinne G. Günthers) lässt sich etwas anfangen, ergibt sich also die Möglichkeit von Anschlüssen. Die Funktion des anderen, designationsfreien Wertes hingegen besteht in der „Reflexion der Kontingenz des Einsatzes des positiven Wertes“ (ebd.). Soll zum Beispiel „Wahrheit“ überprüft werden, braucht man eine Codierung, die „Unwahrheit“ festzustellen erlaubt. Kurzum: „Anschlussfähigkeit“ und „Kontingenzreflexion“ sind die Funktionen binärer Codierung (ebd.).
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Bezieht man diese Überlegungen auf das Gesundheitssystem, lässt sich eine überraschende Einsicht gewinnen: Krankheit ist der positive, Gesundheit ist der negative Wert. Nur Krankheit entscheidet über die Anschlüsse des Systems: der Krankenschein, die Überweisung, Diagnoseprozeduren, Behandlungsvorschläge, Verschreibungen, bei Operationen, Kuren und dergleichen mehr. Nur Krankheiten sind für den Arzt instruktiv, Gesundheit hingegen gibt nichts zu tun. Sie reflektiert allenfalls das, was fehlt, um krank zu sein. Dementsprechend gibt es viele Krankheiten, aber nur eine Gesundheit (vgl. Luhmann 1990, S. 187). Das, was wir Gesundheitssystem zu nennen pflegen, ist also, mit systemtheoretischen Augen betrachtet, ein Krankheitssystem. Und als solches benötigt es zu seiner Reproduktion vor allem eines: Krankheiten und Kranke. Diese Vertauschung der Code-Werte, also Krankheit als positiven, Gesundheit hingegen als negativen Wert zu bezeichnen, erscheint Luhmann nicht nur alltagssprachlich „absonderlich“, sondern auch im Vergleich mit anderen Funktionssystemen: „Im Funktionsbereich der Medizin liegt ... das gemeinsame Ziel von Ärzten und Patienten nicht auf der Seite, die über Handlungsmöglichkeiten informiert, sondern im negativen Gegenüber. Die Praxis strebt vom positiven zum negativen Wert. Unter dem Gesichtspunkt des Gewünschten ist das Negative, die Befreiung von Krankheit, das Ziel“ (1990, S. 187). Dabei, und das ist von besonderem Interesse, besteht offensichtlich eine überaus enge Beziehung zwischen Code-Werten und der Entwicklung von Reflexionstheorien. Denn in vielen Funktionsbereichen ist es allein durch Umstellung der binären Schemata zu tiefgreifenden Veränderungen in den Reflexionsstrukturen der Moderne gekommen: arm/reich wurde durch Kapital/Arbeit und moderne Theorien des Geldflusses in der Ökonomie ersetzt, in der Politik wird mit der Unterscheidung zwischen Regierung/Opposition, nicht mit der zwischen Regierenden/Regierten operiert, und auch in der Theologie ist nicht mehr die Differenz von Himmel/Hölle, sondern die zwischen Immanenz/Transzendenz bestimmend geworden. In der Medizin hingegen liegt die Sache anders: „Hier“, so Luhmanns resümierende Feststellung, „zielt das Handeln auf den Reflexionswert Gesundheit – und deshalb ist nichts weiter zu reflektieren“ (1990, S. 187f.). Dass beide, Gesundheits- und Erziehungssystem, nicht über besondere symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien verfügen und dass gerade dieser Umstand ihre Sonderstellung ausmacht, ist bereits erläutert worden. Während das Gesundheitssystem jedoch über eine binäre Codierung verfügt, ist es ungleich schwerer auszumachen, wo im Erziehungssystem der Code liegen könnte. Die Unterscheidung „artig/unartig“ jedenfalls scheint theoretisch nicht sehr ertragreich; es ist vielmehr von einem „Codierdefizit“ des Erziehungssystems auszugehen, da es nur für Zwecke der Selektion, nicht aber für solche der Erziehung über binäre Totalkonstruktionen verfügt (Luhmann 1987, S. 185; vgl. auch 1991). Jochen Kade (1997) hat gegenüber dieser Position die Vermittlung von Wissen als die Spezifik des pädagogischen Systems zu begründen versucht und vorgeschlagen, mit der Unterscheidung von vermittelbar/nicht-vermittelbar
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zu arbeiten. Ob das allerdings das letzte Wort ist, darf bezweifelt werden. Denn große Teile des Erziehungssystems arbeiten mit dem Schematismus von zeigen/ nicht-zeigen, eine Unterscheidung, die es ermöglicht, in der Operation selbst Wissen und Moral im Sinne didaktischer Emergenz zu verschmelzen (vgl. Prange 2005). Diese Probleme sollen hier jedoch nicht weiter diskutiert werden. An dieser Stelle und mit Blick auf das Gesundheitssystem ist nur entscheidend, dass im Falle des Erziehungssystems, wie immer die Frage der Codierung beantwortet wird, eines unbestritten sein dürfte: Die Code-Werte sind nicht vertauscht, der positive Wert ist es, der operativ die Anschlüsse im System eröffnet. Und das gilt nicht nur für den eindeutigen Fall der Selektion (nur wer versetzt wird, darf in die nächste Klasse, nur ein Schulabschluss erlaubt weitere Ausbildungen, nur abgeschlossene Ausbildungen ermöglichen bestimmte Berufe), sondern auch für das diffusere Feld der Erziehung, denkt man daran, dass gerade in der Perspektive des Lebenslaufes eine gelungene Erziehung dem Individuum höhere Freiheitsgrade ermöglicht wie auch unbestritten sein dürfte, dass Bildung sicherlich nicht mit Nicht-Wissen, sondern mit Wissen verbunden ist (vgl. Loch 1979a, 1979b). Wie instruktiv es sein kann, bei der Analyse von Systemen vor allem der Verbindung von Codierung und der Entwicklung von Reflexionstheorien besondere Aufmerksamkeit zu schenken, hat der Blick auf das Gesundheitssystem und die Medizin bereits gezeigt. Das gilt gleichermaßen für das Erziehungssystem. An Reflexionsproblemen herrscht hier kein Mangel. Theorien, die diese zu bearbeiten versuchen, richten sich zum einen auf die Frage der „sachlichen Besonderheit und Autonomie des Erziehens“, zum anderen auf die Frage einer „Technologie für zeitliche Fernwirkungen“ und schließlich auf die Frage der „Verantwortung für die soziale Selektivität des Erziehungsprozesses“ (vgl. Luhmann/ Schorr 1979, S. 9). Und welche tiefgreifenden Veränderungen in den Selbstbeschreibungen des Systems in historischer Perspektive zu beobachten sind, veranschaulicht die Entwicklung der Kontingenzformeln von humaner Perfektion über Bildung bis hin zur Lernfähigkeit. Die gesamte Didaktik lässt sich im Sinne Kades als Ausarbeitung der Codierung von vermittelbar/nicht-vermittelbar verstehen. Schließlich, und das scheint ein wesentlicher Unterschied zum Gesundheitssystem und zur Medizin zu sein, richten sich die Selbstbeschreibungen des Erziehungssystems in der Form der Pädagogik nicht nur auf den Designationswert, sondern gleichermaßen auf die andere Seite, d. h. auf die Kontingenzreflexion. Während im Gesundheitssystem als Folge der Vertauschung der CodeWerte die Bearbeitung von Anschlussfähigkeit und Kontingenzreflexion disziplinär auseinanderfallen (die sich neu bildenden Gesundheitswissenschaften sind eben nicht Teile der Medizinischen Fakultäten), wird die Einheit des Erziehungssystems durch Kontingenzreflexion nicht in Frage gestellt, sondern im Gegenteil gerade verstärkt. Das sieht man nicht nur an der Heil- und Sonderpädagogik, sondern vor allem auch an der Sozialpädagogik, die gewissermaßen
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im Erziehungssystem mit Erziehung auf (misslungene oder defizitäre) Erziehung antwortet (vgl. Kraft 1999b).
3. Körper oder Bewusstsein? Die Frage, wie der Zusammenhang von Körper und Bewusstsein verstanden werden muss, ist, als Leib-Seele-Problem gefasst, ein altes Thema. Da die Lösung vermutlich in dem Bereich liegt, die die Unterscheidung im Sinne SpencerBrowns als unmarked space fortgesetzt selbst erzeugt, ist diese Frage als Betriebsprämisse für Forschung und Entwicklung hervorragend geeignet. Anders gesagt: Das Leib-Seele-Problem ist überkomplex und kann nur durch Reduktion der Komplexität erfolgreich bearbeitet werden. Allerdings gerät jeder Reduktionsversuch unverzüglich ins Fadenkreuz der Kritik mit der Folge, dass die Komplexität des Problems die Oberhand behält und eben dadurch wiederum zu weiteren Forschungen stimuliert (vgl. Fuchs 1998; Wasser 2004). Die Entwicklung der modernen Wissenschaften und ihre disziplinäre Differenzierung spiegeln diesen Umstand ebenso anschaulich wie eindrucksvoll wider. Die Erfolgsgeschichte der modernen Medizin verdankt sich wesentlich der Reduktion des Körpers in die Form des naturwissenschaftlichen Paradigmas. Von einem bestimmten Punkt der Entwicklung sind nicht mehr Patienten krank, sondern Körper, genauer gesagt zunächst Organe, dann Gewebe und schließlich die Zellen selbst. „Damit“, so Rudolf Virchow 1899 in seinem Buch „Ueber den Werth des pathologischen Experiments“, „sind wir an dem Punkt angelangt, welcher gleichsam den Grenzpfahl zwischen alter und moderner Medizin darstellt. Das Princip der modernen Medizin ist das lokalisierende. Diejenigen, welche immer wieder fragen, was denn die moderne Wissenschaft für die practische Heilkunde genutzt habe, können wir einfach darauf verweisen, daß jeder Zweig der ärztlichen Praxis sich dem Princip der Lokalisation gefügt hat, nicht nur in der Pathologie, sondern auch in der Therapie und das damit auch dem Kranken die größte Wohltat bereitet hat“ (zit. n. Bauch 1996, S. 37). Diese durch die naturwissenschaftliche Wende möglich gewordene Befreiung des Krankheitsbegriffes von archaischen Vorstellungen wird heute gemeinhin als die „erste Säkularisierung der Medizin“ bezeichnet (vgl. Bauch 1996, S. 71). Vor allem durch technische Entwicklungen und die sich in ihren Effekten wechselseitig steigernde Verbindung von Wissenschaft und Technik – die sogenannte zweite Säkularisierung der Medizin – wird die Natur des Körpers in wachsendem Maße disponibel und der Bereich dessen, was medizinisch (medizintechnisch) möglich ist, exponenziell erweitert. Das wird an den extremen Polen, an Intensiv- und Reproduktionsmedizin, besonders deutlich: Nicht nur der Tod, sondern auch Schwangerschaft und Geburt werden zu einer mehr denn je zuvor variablen Größe. Seit der Geburt des ersten Retortenbabys (25. Juli 1978) ist die Erzeugung von Leben im Reagenzglas selbstverständlich geworden. Und was bei uns noch heftige Debatten auslöst, hat bereits in den
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USA, darüber belehrt ein Anklicken der entsprechenden Internet-Adressen, zu einer florierenden Dienstleistungsindustrie geführt. Heute wird Elternschaft am Bildschirm möglich: Eizellenspende, Leihmutterschaft, Sortieren der Spermien nach Wunschgeschlecht, Samenbanken und selbst Eizellenplasma-Spenden zur Erhöhung der Fruchtbarkeit älterer Frauen und Tote als Samenspender bereichern das Angebot. Und wer ein eigenes, genetisch einwandfreies Kind virtuell zusammenstellen möchte, dem bieten die Internetseiten einschlägiger kalifornischer Firmen Einblick in das, was in naher Zukunft möglich sein könnte. Während die Medizin umso erfolgreicher arbeiten kann, je weiter sie sich vom Bewusstsein entfernt, ist es im Falle der Erziehung gerade umgekehrt, muss sie doch, will sie mit Aussicht auf Erfolg zu Werke gehen, so dicht wie möglich an das Bewusstsein heran. Dabei hilft Technik so gut wie nicht, sondern nur hohe Interaktionsfrequenz und Kommunikationsdichte. Allerdings sind Intention und Rezeption nicht linear verbunden, denn von der guten Absicht zur guten Wirkung führt nicht nur kein direkter Weg, sondern vielmehr haben gute Absichten häufig schlechte Wirkungen zur Folge. Anders als in der Medizin führt also selbst Steigerung der eingesetzten Mittel nicht zwangsläufig zum Erfolg, sondern sie scheint häufig Misserfolg geradezu zu provozieren.1 Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass die Geschichte der Erziehung sich kaum als Abfolge großer, die Praxis schlagartig und radikal verändernder Entdeckungen konstruieren lässt.2 Im Gegenteil, antike Texte sind auch gegenwärtig von hohem instruktiven Wert und finden daher mit Recht Beachtung und ziehen das Interesse immer wieder auf sich. Vielleicht kann man es so sagen: Als Phänomen ist das Lernen selbst auf eigentümliche Weise zeitlos. Daher bleibt zwar das Erziehungssystem von technologischen Entwicklungen keineswegs unberührt, scheint jedoch in seinem operativen Kern gegenüber Technik und technologischen Innovationen auf seine eigene Weise unempfindlich zu sein. Und diese Unempfindlichkeit wiederum ist für moderne Gesellschaften hoch funktional, was ebenfalls zuallererst am Lernen selbst liegen dürfte, denkt man z. B. an seine kognitiven und emotionalen Varianten, die durch Technik nicht zu ersetzen sind (vgl. Kraft 2003). Beide Systeme steigern ihre Leistungsfähigkeit, indem sie die komplexen Beziehungen zwischen Körper und Bewusstsein auf je spezifische Weise reduzieren, also immer nur mit einer Seite der Unterscheidung arbeiten: das Gesundheitssystem richtet seine Anstrengungen auf den Körper, das Erziehungssystem zielt auf Bewusstseinsstrukturen.3 Beide sehen in ihren jeweiligen Wirklich1 Und hier kann dann nur noch Dichtung trösten, erinnert man sich an Erich Kästners Prof. Bumke, der in seiner Menschenfabrik zweihundertundneunzehn Sorten von Menschen, die „ohne Abitur und die üblichen Prüfungen“, eben „fix und fertig“, zur Welt kommen, synthetisch herzustellen vermag (1969, S. 232–234). 2 Auf der disziplinären Ebene spiegelt sich dies wider: Für die Medizin ist ihre Geschichte historisch und nur als solche von Interesse, in der Pädagogik jedoch wird nach wie vor versucht, die Geschichte der Erziehung und ihrer Reflexion auch systematisch zu benutzen, Studien also historisch-systematisch anzulegen. 3 Es fällt auf, dass gerade in reformpädagogischen Projekten genau diese Unterscheidung zu un-
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keitsausschnitten mehr, und beide erkaufen diesen Zugewinn an Erkenntnis mit Verlusten auf der anderen Seite, sie sehen sozusagen mehr und weniger zugleich: Selbst extremes Übergewicht gefährdet die Versetzung im Erziehungssystem nicht, während das Gesundheitssystem die kommunikativen Anteile von Erkrankungen auszublenden sich genötigt sieht und dann Null-Diät oder, wenn gar nichts mehr hilft, mit gastric bending das Problem chirurgisch zu lösen versucht. Um mögliche Missverständnisse zu vermeiden: Natürlich sprechen auch Ärzte, und natürlich sprechen Ärzte auch mit ihren Patienten. Entscheidend aber ist, dass, so Luhmann (1983, S. 172), der Funktionsvollzug, die – im doppelten Sinne – Operation, „mehr oder weniger schweigend“ abläuft und sein „Kernproblem nicht in der Kommunikation“ hat – die Wurzelresektion wird nicht anders, wenn der Zahnarzt spricht.4 Die hier aufgewiesene harte Polarität zwischen Krankenbehandlung und Erziehung wird jedoch durch zwei Subsysteme abgepuffert, und zwar durch Psychosomatik und Psychotherapie. Insofern gibt es nicht nur zwei, sondern vier Formen der Intervention und dementsprechend auch vier Reflexionssysteme: KÖRPER: t Somatische Medizin t Psychosomatik tu Psychotherapie u Erziehung u BEWUSSTSEIN Somatisch orientierte Eingriffe versuchen direkt, d. h. apparativ-technisch oder biochemisch, mit dem jeweiligen Körpersystem zu kommunizieren, und zwar unter weitgehender Ausschaltung des Bewusstseins, das nur noch für compliance zu sorgen hat. Psychosomatische Interventionen richten sich im Vergleich dazu auf die Nahtstelle zwischen Körpersystem und Bewusstsein (vgl. Uexküll 2003). Psychotherapeutische Bemühungen hingegen arbeiten kommunikativ und versuchen auf diese Weise auf Probleme, die das Bewusstsein sozusagen mit sich selber hat, Einfluss zu nehmen. Ein wesentlicher Unterschied zu pädagogischen Handlungsformen liegt dabei in der Bedeutung, die Retrospektion und Regression zuerkannt wird. Insofern gewinnt Freuds Diktum von der Psychoanalyse als Nach-Erziehung buchstäbliche Bedeutung. Hierdurch erklärt sich auch die Sonderstellung der Psychotherapie, die gleichsam als Gesundheitssystem im Krankheitssystem operiert (vgl. Kraft 2004). Auf der Ebene der Funktionssysteme ist die Grenze allerdings eindeutig gezogen: sie verläuft zwischen Psychotherapie und Erziehung.
terlaufen oder abzuschwächen versucht wird, indem dort nicht nur der „Geist“, sondern auf besondere Weise auch der „Körper“, am besten jedoch „der ganze Mensch“ im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. 4 Genauer besehen verläuft die Grenze zwischen Kommunikationsformen, wie man z. B. an bestimmten Vorsorgeuntersuchungen im Rahmen der gynäkologischen Praxis beobachten kann: Wenn die Ärztin nicht spricht, ist die Vorsorgeuntersuchung für die Patientin kostenfrei – sobald sich aber eine „operationsspezifische“ Kommunikation entwickelt, die Patientin also etwas fragt und die Ärztin hierauf mit ihrem diagnostisch oder therapeutisch orientierten Expertenwissen antwortet, beginnt Behandlung – und die muss bezahlt werden.
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4. Zeithorizonte, Interventionsformen und Technologie Schon der alttestamentarische Satz „Ein jegliches hat seine Zeit“ (Prediger 3,1) ist unmittelbar auf den menschlichen Lebenslauf bezogen und weist darauf hin, dass sich die Zeit (als Lebensalter) als das grundlegende Spezifikationsprinzip der Erziehung erweist (vgl. Loch 1979a, S. 27). Dementsprechend rechnet die Erziehung mit langen Zeiträumen, und daher ist für sie der Zukunftsbezug maßgebend, und zwar prospektiv konstitutiv und retrospektiv kritisch: „Konstitutiv“, so Loch, „weil Erziehung nur dann Sinn hat, wenn Aussicht besteht, dass die Dispositionen und Konzepte, die sie vermittelt, sich im künftigen Lebenslauf der Edukanden bewähren. Kritisch, weil diese künftige Bewährung der Erziehung im Lebenslauf prinzipiell immer die Möglichkeit des Scheiterns impliziert“ (ebd., S. 50). Reifung, Entwicklung und Lernen verbrauchen stets eine bestimmte Lebenszeit, und aus diesem Grund lassen sich Erziehungsprozesse nicht wesentlich beschleunigen, allen Debatten um die Verkürzung von Schulzeiten zum Trotz. Es kommt also alles darauf an, die Zeit gut zu nutzen. Der Zeithorizont im Gesundheitssystem ist demgegenüber vollkommen anders zu bestimmen, geht es hier doch nicht um ein wesentlich durch Neugier motiviertes Lernbedürfnis (das sich zudem, wenn es gut läuft, im Prozess des Erwerbs von curricularen Kompetenzen fortwährend selbst verstärkt), sondern um körperliche Phänomene, die alle Zeitordnungen leicht kollabieren lassen. Im Normalfall lässt sich die Relation zwischen Körper und Bewusstsein als „temporal geordnete Komplexität“ beschreiben, denn alle Aktivitäten des Bewusstseins erfordern ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit für den eigenen Körper, wodurch sich eine Art von störungsfreier Differenzerfahrung herstellt: „Nur durch die Beobachtung des eigenen Körpers“, so Luhmann, „weiß das Bewußtsein, daß es mit etwas außer sich gleichzeitig existiert“ (1990, S. 188). Anders gesagt: In seinem Funktionsvollzug ist der Körper sozusagen gleichzeitig, er ist eben jetzt. Schmerzen nun stören diese „normal-beruhigte Indifferenz“ (ebd.), und zwar abhängig von der Intensität, die sie erreichen, mehr oder weniger unverzüglich und mehr oder weniger dauerhaft. Dadurch gerät die Zeit gleichsam aus den Fugen, denn alle Aufmerksamkeit wird an den Körper gebunden. Man könnte es auch so sagen: Durch Schmerz wird das Bewusstsein gezwungen, mit dem eigenen Körper zu kommunizieren. Luhmann begreift Schmerzen als „Kompensation für strukturell erzwungene Unaufmerksamkeit“, sie leisten eine „Komplexitätsreduktion“ und sind gewissermaßen „Kommunikation dort, wo keine Kommunikation stattfinden kann: Kommunikation des Körpers an das Bewußtsein“ (1983, S. 174). In diesen Kommunikationsprozess greift nun die Medizin auf der Seite des Körpers ein, betäubt den Schmerz, hält, wenn es Ernst ist, stellvertretend die Vitalfunktionen aufrecht, um dann die Prozeduren vorzubereiten, die notwendig folgen müssen. In dieser durch Schmerzen erzwungenen Umstellung der Zeitordnung liegt der Vorrang des Arztes begründet, der zudem auch tief eingegrabene soziale Ordnungen unverzüglich außer Kraft zu setzen vermag. Denn
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wenn es um die Unversehrtheit des Körpers oder gar um Leben oder Tod geht, wird sozialer Status irrelevant.5 Ungeachtet möglicher Ausnahmen, Modifikationen und Abstufungen ergibt sich aus einer solchen die Unterschiede zwangsläufig pointierenden idealtypischen Gegenüberstellung, dass die Operationen im Erziehungssystem eher auf Langfristigkeit, diejenigen im Gesundheitssystem demgegenüber eher kurzfristig angelegt sind. Man kann das auch farblich symbolisieren: in dem einen Fall gibt es Blaulicht, im anderen allenfalls blaue Briefe (die auch grün sein können und denen neuerdings Lernpläne vorauszugehen haben). Es wird vor diesem Hintergrund unmittelbar einsichtig sein, dass es die im jeweiligen System geltende Zeitordnung, sozusagen die Systemzeit, ist, die wiederum die Formen der Interventionen bestimmt. Im Gesundheitssystem ist es der Eingriff, der die „Urgebärde des handelnden und behandelnden Arztes“ darstellt; denn, folgt man Schipperges, „im Ursprung der Heilkunde steht der Eingriff. Das spezifische Tun des Arztes besteht darin, dass er – um Hilfe gerufen und um die Not zu wenden – einzugreifen hat. Der Arzt greift dabei immer in die Integrität eines Mitmenschen ein, nicht allein mit dem Messer, sondern auch mit der Droge“ (1970, S. 132 und S. 7). Im Erziehungssystem ist es jedoch nicht der punktuelle, zeitlich befristete Eingriff, sondern die eher auf längerfristige Dauer angelegte Beziehung oder, denkt man an die besonderen Erfordernisse frühkindlicher Erziehung, die Stabilität und Qualität einer hinreichend guten Bindung (vgl. dazu Spangler/Zimmermann 1999; Grossmann/Grossmann 2004). Allerdings reicht Beziehung allein, wie jeder weiß, nicht aus. Sie ist vielmehr als notwendige Bedingung anzusehen und dient den spezifischen Formen der Kommunikation gleichsam als personale Basis. Denn, kurz gesagt, es ist die Form (der Kommunikation), die erzieht (vgl. Prange 1999; 2003). Daher muss die pädagogische Reflexion stets beide Größen, die beide auf prospektiv gestreckte Zeitordnungen angelegt sind, berücksichtigen: die als pädagogischer Bezug Gestalt gewinnende Beziehungsdimension einerseits und die Formen der didaktischen Artikulation andererseits. Im Funktionsvollzug selbst verschmelzen beide Dimensionen emergent. Die bereits aufgewiesenen Unterschiede lassen sich weiter verschärfen, wenn das Problem der Technologie in den Blick genommen wird. Das Gesundheitssystem ist, wie bereits angedeutet, in hohem Maße von Technologie abhängig, das Erziehungssystem hingegen so gut wie gar nicht; letzteres muss eher mit einem strukturellen Technologiedefizit zurechtkommen, das andere hingegen ist eher durch einen Technologieüberschuss gekennzeichnet; in dem einen Fall be-
5 Die Macht der kollabierenden Körperordnung scheint sich, traut man Zeitungsmeldungen, in zunehmendem Maße gerade in Gesellschaften zu zeigen, die durch massive Exklusionseffekte gekennzeichnet sind: In Rio de Janeiro lassen sich viele Ärzte nicht mehr öffentlich in weißer Kleidung sehen, weil sie fürchten müssen, entführt und zur (kostenlosen) Behandlung gezwungen zu werden. Deswegen sind dort auch die Krankenhäuser unsichere Orte geworden (vgl. Frankfurter Rundschau, Nr. 15, 19.1.2004, S. 18).
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herrscht hard technology die Operationen, in dem anderen gibt es allenfalls soft technology zu beobachten (vgl. Luhmann/Schorr 1982). Der Stellenwert der Technologie lässt sich kaum überschätzen. Im Gesundheitssystem, das muss zunächst gesehen werden, hat gerade die sich wechselseitig verstärkende Verbindung von technischer Entwicklung und Sektorierung des Körpers in immer kleinere Fachgebiete eine hohe, selektive Effizienz ermöglicht. Dann sollte nicht vergessen werden, dass auch die Medizin ein geradezu perfekt funktionierendes Subsystem entwickelt hat, das sich um die speziellen Belange des Bewusstseins kümmert, und es nicht nur zu betäuben, sondern auch komplett und kontrolliert auszuschalten vermag: die Anästhesie. Sie erlaubt die paradoxe Verbindung von Bewusstlosigkeit und höchster Wachheit, ist lokal, regional und total möglich und notwendige Bedingung, ohne die Operationen und viele (Notfall-)Behandlungen gar nicht durchführbar wären (vgl. Schulte am Esch/Goerig 1977). Die durch diese beiden Umstände erst möglich werdende extreme Reduktion von Komplexität kommt auch in einer äußerst engmaschigen Codierung zum Vorschein: Auf der Grundlage des naturwissenschaftlichen Paradigmas und dem Prinzip der Lokalisation folgend stützt sich in der somatisch-orientierten Medizin die Leitdifferenz krank/gesund auf eine zweite Unterscheidung, nämlich die von sichtbar/unsichtbar. Man kann also im Falle von Krankheit etwas sehen oder zumindest sichtbar machen (zum Beispiel durch Laborwerte oder bildgebende Verfahren), und in dem Maße, wie sich die diagnostischen Möglichkeiten erweitern und verfeinern, wird das zunehmend leichter möglich.6 An diese diagnostische Codierung kann dann der Modalitätscode direkt anschließen: die Krankheit ist behandelbar oder eben nicht behandelbar. Und Nicht-Behandelbarkeit hat unverzüglich Exklusion zur Folge – der Patient muss das Krankenhaus verlassen und kann dann nur noch gepflegt werden (vgl. Bauch 2005). Im Falle von behandelbar wird schließlich noch eine weitere Codierung angeschlossen, die das professionelle Handeln machtvoll zu kontrollieren vermag, denn ein ärztlicher Eingriff kann richtig oder falsch, lege artis oder non lege artis, erfolgen. Und das hat unter Umständen weitreichende Folgen, denkt man an Kunstfehlerprozesse und nachfolgende Schadensersatzklagen, in denen die mangelhafte Körperfunktion oder das fehlende Körperteil zwar nicht faktisch wiederhergestellt oder ersetzt, immerhin aber symbolisch generalisiert vergolten wird: es gibt, wenn alle Hürden genommen sind, Geld. Im Erziehungssystem gibt es, um hier gleich anzuknüpfen, weder Kunstfehlerprozesse noch Schadenersatzklagen wegen nicht sachgerecht durchgeführter Lehre. Die pädagogische Reflexion ist ohnehin mehr an Handlungsmöglichkeiten als an Handlungsfehlern orientiert, und deswegen gibt es „Träume vom gu6 An dieser Stelle wird die Sonderrolle der Psychotherapie im Gesundheitssystem, die unmittelbar mit der Relation von Körper und Bewusstsein zu tun hat, noch einmal besonders deutlich, denn: Ein hoher Neurotizismus-Wert in einem einschlägigen Test muss vom Bewusstsein gerade nicht – wie ein erhöhter Harnsäurespiegel – als aufklärende Einsicht in die eigene Lage gebilligt werden.
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ten Lehrer“, der schlechte Lehrer hingegen ist als Gegenstand wissenschaftlicher Bearbeitung wenig beliebt (vgl. Scarbath 1992; Schwarz/Prange 1997; Memmert 1997). Das hier angesprochene Problem besteht darin, die Form (der Kommunikation), die erzieht, vor den immer möglichen Abgründen der Person, die diese situativ leibhaftig zur Geltung zu bringen versucht, in Schutz zu nehmen. Deswegen brauchen Erzieher, um mit Sünkel (1994, S. 25) zu reden, „inneren Abstand von sich selbst“ und damit im Sinne Nohls eine „eigentümliche Distanz“ zu ihrer Sache. Das zu gewährleisten, dürfte der Sinn der zahlreichen Tugendkataloge sein, die die pädagogische Semantik von Beginn an in ihrem Arsenal mitführt. Erziehungsprozesse, das wird unstrittig sein, vollziehen sich zwar gelegentlich unter ohrenbetäubendem Lärm, aber nie unter Betäubung. Die Erziehung benötigt für ihre Operationen die Edukanden nicht schlafend, sondern so wach wie möglich, ist doch ein Lernen wie im Schlaf eher die Ausnahme als die Regel. Das wache Bewusstsein ist Bedingung für Erfolg und Scheitern zugleich, und deswegen besteht die Kunst darin, dass Unterrichtsgeschehen so weit wie irgend möglich zu konzentrieren und geschlossen zu halten, denn offen ist es strukturell (und durch zahlreiche Außeneinflüsse zudem auch situativ) ohnehin. Während die Arzt-Patient-Interaktion durch engmaschige Codierung bestimmt wird, muss die Lehrer-Schüler-Interaktion organisatorisch abgestützt werden. Auch das ist eine der Funktionen, die Lehrpläne, Schulgesetze und -ordnungen, Klassenbücher und Unterrichtsprotokolle zu erfüllen haben. In der Phase der Ausbildung hält das Erziehungssystem sein Personal zwar an relativ kurzen Leinen, danach jedoch wird die Kontrolle professionellen Handelns weitgehend gelockert. Deshalb sind die Freiheitsgrade pädagogischen Handelns zumindest auf dieser Ebene weitaus größer als die der Ärzte. Im Funktionsvollzug selbst ist dies jedoch genau umgekehrt: Hier ist die Abhängigkeit der Lehrer von ihren Schülern ungleich größer als die der Ärzte von ihren Patienten. Dieser Umstand kann aufgrund des damit verbundenen Attributionsproblems für das pädagogische Selbstbewusstsein nicht ohne Folgen bleiben, verschwindet doch die Leistung des pädagogischen Personals gleichsam in der ihrer Klientel, während der ärztliche Eingriff am Körper selbst sichtbar oder in seinen Funktionsabläufen zumindest (eine Zeitlang) spürbar bleibt (vgl. Kraft 1999a). Dieser Sachverhalt kommt schließlich auch auf der Systemebene zum Tragen. „Die Reproduktion des pädagogischen Systems“, so Jochen Kade, „hängt nicht von der faktischen, der empirisch unter konkreten Bedingungen stattfindenden Vermittlung ab. Genauer: sie hängt nur von den Vermittlungsoperationen des Systems ab, nicht davon, ob diese Vermittlung auch gelingt, d. h., ob ein ihr komplementärer Aneignungsprozeß stattfindet“ (1997, S. 45). Mit anderen Worten: Das Erziehungssystem kann sich gegenüber Erfolgserwartungen unempfindlicher zeigen als das Gesundheitssystem. Dies ist gewissermaßen die Rückseite der Abhängigkeit von Technologie – ist diese hoch, steigen die Erfolgserwartungen, ist sie hingegen gering, schwächen sie sich ab oder fallen gar vollends in sich zusammen. Und nicht zuletzt ist es Technologie, die es dem
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Gesundheitssystem erlaubt, mithilfe differenzierter Codierung Exklusionsregeln festzulegen. Das ist im Erziehungssystem grundlegend anders, denn es ist einem weitreichenden Inklusionsverdikt unterworfen. Im immer denkbaren worst case der Sozialpädagogik kann das in bestimmten Fällen auch bedeuten, dass letztendlich nur mehr Betreuung als Systemfunktion übrig bleibt.
5. Strukturelle Kopplungen In der bisherigen Darstellung sind beide Systeme so betrachtet worden, als würden sie ausschließlich für sich operieren. Das stimmt so natürlich nicht, denn in der Umwelt von Erziehungs- und Gesundheitssystem finden sich auch andere Funktionssysteme. Es gibt zwar nicht die Möglichkeit des direkten Durchgriffs von außen, aber die Systeme sorgen zumindest für eine wechselseitige Irritation, die dann wiederum zu systeminternen Operationen führen kann. Folgt man Luhmann, heißt strukturelle Kopplung immer „Umformung analoger (gleichzeitiger, kontinuierlicher) Verhältnisse in digitale, die nach einem entweder/ oder-Schema behandelt werden können“, wodurch sich eine „Intensivierung bestimmter Bahnen wechselseitiger Irritation bei hoher Indifferenz gegenüber der übrigen Umwelt“ ergibt (1997, S. 45). Kopplungen können stärker oder schwächer ausgeprägt sein oder lassen sich auch als Wahl von Anlehnungssystemen beschreiben; entscheidend für die funktionale Differenzierung moderner Gesellschaften ist, dass es zu einer „Vielzahl von strukturellen Kopplungen mit verschiedenen Segmenten der Umwelt“ kommt, was zur Folge hat, „dass keiner dieser Außenbeziehungen die Führung überlassen werden kann“ (Luhmann 1997, S. 780). Da es nur System und Umwelt und nichts dazwischen gibt, sind strukturelle Kopplungen auch nicht so zu verstehen, als schwebten sie gleichsam zwischen den Systemen. Es gibt kein „Kopplungssystem“, das einen eigenen Operationstypus und damit eine eigene Autopoiesis ausbilden könnte; es sind vielmehr Einrichtungen, „die von jedem System in Anspruch genommen werden, aber von jedem in unterschiedlichem Sinne“ – und eben darin liegt die Bedingung der Möglichkeit von Irritationen (vgl. ebd., S. 787f.). Im Außenverhältnis gibt es für Kopplungen keine Operationen, im Innenverhältnis kann hingegen Kommunikation verwendet werden, so dass die strukturelle durch eine „operative Kopplung“ (ebd., S. 788) ergänzt wird (das in Krisenzeiten bemühte Bündnis für Arbeit wäre hierfür wohl ein gutes Beispiel). Das vielfältige und vielschichtige Geflecht von strukturellen Kopplungen, in das Gesundheits- und Erziehungssystem eingebunden sind, kann aufgrund seiner Komplexität hier nur ausschnittweise und mit Blick auf wesentliche Unterschiede behandelt werden: Es fällt zunächst auf, dass die bereits dargestellte Sonderstellung beider Systeme auch dadurch zur Geltung kommt, dass beide in vergleichbarer Weise mit Politik und, in der Folge davon, auch mit Recht strukturell stark verkoppelt sind: Man muss zur Schule (Schulpflicht), und man muss auch seinen Körper
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gegen immer mögliche Dysfunktionen versichern (gesetzliche Krankenversicherung). Historisch betrachtet sind beide Sachverhalte Ausdruck einer gerade durch funktionale Differenzierung erst sich ergebenden weitreichenden Inklusion, die moderne Gesellschaften auszeichnet. Der entscheidende Unterschied wird dann sichtbar, wenn man die Kopplungen beider Systeme mit dem Wirtschaftssystem genauer in den Blick nimmt. Im Falle des Erziehungssystems besteht der Mechanismus struktureller Kopplung vor allem in Zeugnissen und Zertifikaten. Gerade darin liegt aber für das Erziehungssystem, das auf Bildung (vgl. Prange 2004) ausgerichtet ist, eine vielfach beklagte Schwierigkeit. Denn Erziehung muss mehr sein als Karrieredisposition. An diesem Mehr besteht im Wirtschaftssystem aber so gut wie kein Interesse, ökonomisch betrachtet ist Bildung die reinste Zeit- und Geldverschwendung, pädagogisch gesehen ist sie das Maß der Dinge.7 Und vom Wirtschaftssystem aus gesehen ist diese Abhängigkeit eher negativ, denn Schulabgänger und Absolventen, auch das wird vielfach beklagt, sind nie so, wie die Wirtschaft sie gerne hätte. Deshalb wird dort auch in zunehmendem Maße zu eigenen Ausbildungseinrichtungen und eigener planmäßiger Personalentwicklung übergegangen. Es ist besonders aufschlussreich zu beobachten, was geschieht, wenn zum Beispiel die Politik im Sinne struktureller Kopplung versucht, mithilfe der Wirtschaft die Effektivität des Erziehungssystems im direkten Durchgriff zu steigern – etwa dadurch, dass große Beratungskonzerne mit der Entwicklung und Implementation von Schul- oder Lehrerpersonalkonzepten beauftragt werden. In der Regel ist dann, vorsichtig ausgedrückt, nachhaltige Irritation die Folge, die sich vor allem auf zwei Ebenen zeigt: Zunächst reagiert das Erziehungssystem intern mit einer für viele befremdlichen Umstellung auf der Ebene der Semantik, wodurch Schulen und Hochschulen zu Betrieben, Schulleiter zu Managern, Schüler zu Kunden, Lehrer zu Dienstleistern und Wissensbestände zu Waren werden. Als Folge davon werden sodann auf der Ebene der Organisation Veränderungen angestrebt, die fast alle darauf hinauslaufen, die pädagogische Arbeit mehr oder weniger raffiniert zu taylorisieren, was aus leicht einzusehenden Gründen nicht funktionieren kann und daher in der Regel schlechtere LehrerSchüler- oder Lehrer-Klassen-Relationen und höhere Lehrerarbeitszeit und ansteigende Lehrerarbeitsbelastungen mit sich bringt. Veränderungen auf der Ebene der Organisation als pädagogische Reformen erscheinen zu lassen, ist daher, nüchtern betrachtet, eine angesichts von Kostendruck zwar verständliche, aber letztlich doch eher Hilflosigkeit demonstrierende Strategie, wie der Blick auf gut ausgestattete private Schulen oder Internate rasch zu zeigen vermag.8 7 Umgekehrt, traut man der Aufschrift auf einem amerikanischen T-Shirt, gilt: If you think education is expensive, try ignorance; Unwissenheit kann manchmal teuer werden, Bildung ist es. 8 Das ist nicht naiv wirtschaftskritisch gemeint. In Amerika gibt es seit geraumer Zeit ganze Schulbezirke, die privaten Unternehmen übertragen werden – mit nicht nur schlechtem Erfolg. Im Übrigen ist das Argument kein Freibrief für schlechte Organisation.
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Anders gesagt: Um seine Funktionen erfüllen zu können, braucht das Erziehungssystem einen möglichst hohen Grad von Individualisierung, organisatorisch betrachtet ist hingegen ein möglichst geringer Grad von Individualisierung erstrebenswert. Daher wirken Irritationen vor allem auf der organisatorischen Ebene nachhaltig und lassen das System fiebern: Es wehrt sich gegen Außeneinflüsse, indem es ihnen Rechnung trägt (vgl. Luhmann 1992, S. 623).9 Wiewohl Irritationen demnach sehr weitreichende Folgen haben können, muss man dennoch festhalten, dass auch ein solch partiell angesetzter Versuch, das Erziehungssystem zu ökonomisieren (sonderbarerweise scheinen gerade große Teile des pädagogischen Establishments hiervon vielerorts wie verzaubert) nicht sehr weit führt und spätestens auf der Ebene des Funktionsvollzuges gestoppt wird. Denn zum einen – und darin sieht man den Sinn einer Vielzahl von Kopplungen mit verschiedenen Segmenten – stehen dem strukturelle Kopplungen mit anderen Systemen oder Systemsegmenten entgegen (z. B. das Gleichheitsprinzip des Grundgesetzes oder Regelungen des Beamtenrechts, aber wahrscheinlich wohl auch das Problem mangelnder Nachfrage). Solange das Inklusionsgebot besteht, das zudem schon seit Comenius zum Kern pädagogischer Selbstbeschreibung gehört und daher gleichsam doppelt abgesichert ist, können zumindest im Erziehungssystem zumindest Kinder keine Kunden werden. Zum anderen, und darauf kommt es hier an, ist es die Eigenart der Operationen selbst, deren Systemspezifizität sich eben daran erweist, dass sie allenfalls zu irritieren, nicht aber auszutauschen oder gar zu ersetzen sind: Das Lernen lässt sich nicht delegieren, da es schlicht unvertretbar ist. Daher ist die Möglichkeit, dass durch Lernen zu erwerbendes Wissen zur Ware werden kann, äußerst begrenzt, wenn nicht gar ausgeschlossen. Selbst noch so hohe Zahlungen ermöglichen es nicht, eine Sprache zu sprechen, einen systemtheoretischen Gedankengang nachzuvollziehen oder eine mathematische Formel zu durchschauen. Deswegen übrigens kann man sich gegen Unwissenheit auch nicht versichern, sondern allenfalls eine Ausbildungsversicherung abschließen. Die Tatsache, dass im Gesundheitssystem Geld eine so herausragende Rolle zu spielen scheint, weist bereits indirekt darauf hin, wie stark ausgeprägt die strukturellen Kopplungen mit dem Wirtschaftssystem sein müssen. Bei näherer Betrachtung ergeben sie sich in drei Hinsichten: Mit der Versicherungswirtschaft, die wiederum in sich mehrfach differenziert ist, sind Politik und Gesundheitssystem durch das Inklusionsgebot stark verkoppelt, denn jeder muss versichert sein, und jeder muss dafür zahlen.10 Die 9 Ein ähnliches Phänomen ergibt sich durch die Abhängigkeit der Schule von den Leistungen familialer Subsysteme. Damit Schule überhaupt funktionieren kann, ist ein Minimum an sozialisatorischen Leistungen erforderlich, die sie selbst nur sehr begrenzt erzeugen kann. Sind diese nun nicht in hinreichendem Maße gegeben, familiarisiert sich die Schule, und zwar in der Regel mit Folgen für ihre Kernfunktion, den Unterricht (vgl. dazu Kraft 2005). 10 Gerade dieser Umstand führt, ökonomisch betrachtet, zu einer Art von Entwicklungshemmung, da planwirtschaftliche und marktwirtschaftliche Elemente sich verschränken. Das mag ein Grund dafür sein, dass sich das Gesundheitssystem so schwer verändern lässt. Anders gesagt: Es bietet zu vielen zu viele Möglichkeiten, davon zu profitieren.
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(System-)Operationen selbst haben ebenfalls, denkt man an Krankenhäuser und Arztpraxen, privatwirtschaftliche Organisationsformen und damit Zahlungen zur Voraussetzung. Die dritte Kopplung ist über Technologie gegeben, und zwar in doppelter Weise, nämlich im Hinblick auf Medizintechnik einerseits und pharmazeutische Industrie andererseits. Diese dreifach gegebene und sich wechselseitig verstärkende strukturelle Kopplung zwischen Wirtschafts- und Gesundheitssystem begründet auch die Sonderrolle der Medizinischen Fakultäten, durch die Gesundheitssystem und Wissenschaft gekoppelt sind. Man kann zwar Lehrer ohne Schüler, nicht aber Ärzte ohne Patienten ausbilden, und die medizinische Wissenschaft braucht neben Drittmitteln vor allem Patienten, um forschen zu können, die pädagogische Wissenschaft hingegen sieht im Mangel von Kindern und Schülern innerhalb ihrer Lehr- und Forschungseinrichtungen offenbar kein gravierendes Problem (vgl. dazu Kraft 1999c). Während die Abhängigkeit von Erziehungssystem und Wirtschaftssystem funktional eher negativ bestimmt ist, ist es im anderen Fall genau umgekehrt. Forschung, technische und biochemische Produkte und Behandlung sind positiv interdependente Größen. Denn letztlich kostet bessere Behandlung zwar mehr, aber es kann (wenn auch nicht von allen) auch mehr für sie bezahlt werden. Wirtschaftliches Interesse (möglichst hoher Gewinn) ist mit medizinischem Interesse (möglichst gute Behandlung) und Patienteninteresse (möglichst gute Gesundheit) auf direkte Weise verbunden, wodurch die Anspruchsinflation aufrechterhalten und zuverlässig gesteigert wird.11 Und, auch das ist ein gravierender Unterschied, im Gesundheitssystem fallen Semantik, Organisation und Funktionsvollzug nicht so extrem auseinander wie im Erziehungssystem, da vor allem Funktion und Organisation enger verknüpft sind, was das System gegenüber Irritationen auf dieser Ebene recht robust macht. Doch auch hier liegt, wie im Erziehungssystem, letztendlich allem die Eigenart der systemspezifischen Operation zugrunde: Organe können transplantiert werden, Wissensbestände nicht, eingeschränkte oder fehlende Körperfunktionen lassen sich partiell und über teilweise sogar recht lange Zeiträume ersetzen, Funktionen des wachen Bewusstseins jedoch nicht. Es ist also, zusammenfassend gesagt, die Differenz von Körper und Bewusstsein, die dem Gesundheitssystem ganz andere strukturelle Kopplungen und damit einher gehende Mög11 Auf die Frage, ob sie die „Raffinesse der Anbieter“ unterschätzt habe, antwortete die Gesundheitsministerin in einem Interview: „Nein. Aber das System schafft sich tatsächlich immer wieder selbst neue Nachfrage“ (FR, 8.1.2004, S. 2.). Wie das geschieht, zeigt ein Beispiel: Mittlerweile gibt es sogenannte „Insulinanaloge“, die gentechnisch hergestellt werden. Auf die Frage, was diese Entwicklung angestoßen habe, antwortete ein diabetologischer Experte in einem Interview: „Der Grund ist, dass die Industrie ständig neue Produkte braucht. Zunächst hat sie die Insuline vom Schwein und vom Rind physikalisch verändert, um so ihre Wirkungsweise den therapeutischen Bedürfnissen anzupassen. Mit der Gentechnik hat sie dann Humaninsulin auf den Markt gebracht. Wir haben es in Studien mit dem alten Insulin verglichen und gesagt: Das brauchen wir nicht, es ist nicht besser als das Schweineinsulin, nur sehr viel teurer. Da haben sie den Preis für das Schweineinsulin so hoch gesetzt, bis wir kein Argument mehr hatten“ (in: Die Zeit, Nr. 48, 20.11.2003, S. 13f.).
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lichkeiten eröffnet als dem Erziehungssystem. Denn Körper, Körperteile oder Körperfunktionen können in viel direkterer Weise Warencharakter annehmen als Wissensbestände, Kompetenzen oder gar moralische Haltungen.
6. Die Grenzen der Medizin als take-off der Pädagogik: Gesundheitserziehung Die unbestrittene Erfolgsgeschichte der Medizin (auf deren Errungenschaften fast jeder, wenn es ernst wird, gerne zurückgreift) führt auf ihrer beschatteten Rückseite immer auch Misserfolg und Versagen mit sich. Das gilt nicht nur für den Einzelfall, sondern vor allem für das Gesundheitssystem insgesamt. Die großen Volkskrankheiten der westlichen Zivilisation vermag es nicht nur nicht in den Griff zu bekommen, sondern es scheint vielmehr selbst an deren Genese und Persistenz wesentlich beteiligt zu sein. Die Zahlen und Prognosen sind bekannt, und sie geben zu ernsthafter Besorgnis Anlass. Es dürfte unmittelbar einleuchten, dass es dieses offensichtliche Versagen des Gesundheitssystems ist, das jeder radikal ansetzenden Systemkritik einen festen Anhaltspunkt eröffnet. Diese Kritik ist national oder global angelegt, populär orientiert oder wissenschaftlich fundiert und im englischsprachigen Raum weiter entwickelt als in Deutschland (vgl. Blech 2003; Garrett 2001; Lachmund 1987; Göckenjan 1981). Das Gesundheitssystem, so Dörner (2002), ist in einer „Fortschrittsfalle“ gefangen, und das merken nicht nur die Patienten, sondern auch die Ärzte selbst, die sich in zunehmendem Maße den Folgen einer „Deprofessionalisierung“ (Bollinger/Hohl 1981) ausgesetzt sehen. Die Kritik, deren Berechtigung hier nicht im Einzelnen entfaltet und erörtert werden kann, ist vor allem durch einen Umstand charakterisiert, der kaum zu bestreiten sein dürfte: sie ist in ihren wesentlichen Elementen schon sehr alt, genauer gesagt, sie ist so alt wie die Medizin selbst. Mit dem Fortschritt der Medizin und der Entwicklung des Gesundheitssystems ist eine Steigerung der Möglichkeiten, eben diese punktgenau zu kritisieren, untrennbar verbunden. Es mag vielleicht überraschen, dass, zumindest aus dieser Perspektive betrachtet, Medizin und Pädagogik schon seit langem in einem Boot sitzen, finden sich doch immer wieder nicht nur Reformpädagogiken und Erziehungsreformen, sondern auch naturheilkundliche Reformkonzepte und Gesundheitsreformen (Reformhäuser eingeschlossen). Nur die Vorzeichen des Diskurses sind, wenn man sich der eingängigen Formel Tenorths (1992) bedienen will, gleichsam vertauscht: laute Klage, stiller Sieg im Falle der Pädagogik, lauter Sieg und stille Klage im Falle der Medizin (vgl. dazu auch Luhmann/Schorr 1988). In beiden Fällen läuft ein angemessenes Verständnis darauf hinaus, weder die guten Gründe der Kritik zu dementieren noch die immer neuen Ambitionen als Illusionen zu entlarven, sondern die „Kontinuität der Differenz“ als spezifische Produkte der Funktion beider Systeme in der Moderne durchschaubar zu machen (vgl. Tenorth 1992, S. 130).
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Es ist allerdings wenig überraschend, dass es wiederum die Unterscheidung von Körper und Bewusstsein ist, die Medizin und Pädagogik von Beginn an in wechselseitiger Abhängigkeit fixiert. In der antiken Diätetik, die als Vorläufer der sich im 18. Jahrhundert herausbildenden Gesundheitserziehung verstanden werden muss, wird nämlich bereits zwischen den „res naturales“ und den „res non naturales“, den innenwirkenden und den außenwirkenden Faktoren, unterschieden, und es wird auch gesehen, dass beide aufs engste miteinander zusammenhängen. Da die „res non naturales“ als außenwirkende auf die inneren Faktoren einen nachhaltigen Einfluss ausüben und zugleich als rational planbar, bewusst vermeidbar und methodisch regulierbar angesehen werden, lassen sich die inneren über eine Stärkung der äußeren Faktoren beeinflussen (vgl. Sünkel 1994).12 Diese Einsichten verlangen den Arzt eher als „Führer des Gesunden“, der „unter der Bedingung der wechselnden Einflüsse von Tages- und Jahreszeit, Klima und örtlicher Umgebung das der individuellen Konstitution seines Pfleglings angemessene Verhältnis der sechs ,res non naturales‘“ zu bestimmen versuchen muss (vgl. Sünkel 1994, S. 30f.). Und der Pflegling muss natürlich die Sinnhaftigkeit der Vorschläge einsehen, was wiederum eine gute Aufklärung erforderlich macht. Schon in der hippokratischen Diätetik ist damit die Kunst des Arztes an die Mitwirkung des Patienten gekoppelt, denn, so heißt es dort, „das Ziel der richtigen Individualbehandlung (ist) nicht erreichbar, wenn es nicht gelingt, das Individuum selbst als bewußt handelnden Faktor in größerem Maße der Aufgabe des Arztes dienstbar zu machen“ (Jaeger 1944, S. 47).13 Die Geschichte der Gesundheitserziehung kann hier nicht behandelt werden (vgl. Stroß 2000). Die Tatsache allerdings, dass über Jahrtausende hinweg von diesen Einsichten der antiken Ärzte nahtlos an jüngste Expertisen (vgl. Lauterbach 2004) angeschlossen werden kann, könnte zumindest für Nachdenklichkeit sorgen. Denn sie zeigt nicht nur die Reife des schon damals erreichten Problembewusstseins, sondern macht darauf aufmerksam, dass die wesentlichen Funktionen von Gesundheits- und Erziehungssystem einschließlich ihrer Reflexionstheorien offensichtlich in ihrer jeweiligen gegenwärtigen Existenzialität bestehen, darin also, dass es sie gibt und dass sie ihre Funktionen ausüben. Sehr viel weiterreichende Erwartungen dürften sich kaum begründen lassen. Jost Bauch hat nun in seinem Beitrag (2004) deutlich gezeigt, welche Probleme sich der Gesundheitspädagogik aus systemtheoretischer Sicht stellen. Im Mittelpunkt seiner Argumentation steht dabei eine gleichsam „doppelte Um12 Es heißt dann bei Sünkel mit Verweis auf Schipperges weiter: „Sechs nicht-natürliche Dinge sollen es sein, die zwischen einer Heilkunst und der Lebenskunde vermitteln ...: Licht und Luft, Speise und Trank, Schaffen und Ruhen, Schlafen und Wachen, Absondern und Ausscheiden und schließlich die Leidenschaften. Dieser Topos ... ist zum ersten Mal im Corpus Hippocraticum fest verankert worden; er prägt die Spätantike wie den alten Orient; über die arabische Medizin breitet er sich im Mittelalter an den europäischen Universitäten aus und hält sich über drei Jahrtausende hinweg“ (1994, S. 30). 13 Der gesamte Abschnitt über „Die griechische Medizin als Paideia“ (Jaeger 1944, S. 11–58) ist für die hier angesprochene Frage von größtem Interesse, denn er zeigt das in der Antike in dieser Frage entwickelte Reflexionsniveau auf äußerst instruktive Weise.
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weltorientierung“: Zum einen die Relation zwischen Kommunikation und Bewusstsein, zum anderen die zwischen Bewusstsein und Körper, psychischem und biologischem System. Dieser Umstand verschärft gewissermaßen das ohnehin in der Erziehung gegebene Technologiedefizit. Mittlerweile wird in der Gesundheitspädagogik zwischen „Gesundheitserziehung“, die auf „einzelne Aspekte und Ausschnitte einer Person zielt“ und „Gesundheitsförderung“, die demgegenüber „die Person insgesamt zu ihrem Interventionsobjekt“ zu machen versucht, unterschieden (Bauch 2004, S. 5).14 Wichtig ist hierbei, dass in beiden Fällen die möglichen Einstellungs- und Verhaltensänderungen auf Lernprozessen gründen, und das wiederum scheint, wie die von Bauch angeführten Untersuchungen zeigen, nicht sehr erfolgreich zu sein. Deswegen werden in der Gesundheitspädagogik neuerdings andere Ansätze favorisiert, zum Beispiel der Verhältnispräventions- oder setting-Ansatz. Hierbei geht es darum, ökologische Faktoren (Betriebe, Schulen, Gemeinden), denen Krankheitsdispositionen zugeschrieben werden, unmittelbar zu verändern. Die Gesundheitspädagogik versucht auf diese Weise, sozusagen den Unsicherheiten individueller Lernprozesse zu entkommen, denn in diesen Ansätzen lernen nicht primär Subjekte, sondern, wenn überhaupt, allenfalls Organisationen.15 Ob die doppelte Umweltorientierung ausreicht, um das zentrale operative Problem der Gesundheitspädagogik angemessen abzubilden, erscheint zumindest fragwürdig. Denn es gibt auch gute Gründe für die Behauptung, dass sich der Gesundheitspädagogik genau dieselben Probleme stellen wie jedem anderen Versuch, mithilfe von pädagogischer Kommunikation auf psychische Systeme Einfluss zu gewinnen. Da im Gesundheitssystem Patienten auch Kunden sind, werden sie dort nur nicht, wie schlechte Schüler in der Schule, schlechte Patienten genannt, sondern non-complier; der Sachverhalt ist in beiden Fällen gleich, dass nämlich Personen nicht das tun, was von ihnen vernünftigerweise erwartet werden kann.16 Und in beiden Fällen ist der Zukunftsbezug konstitutiv: Man kann nicht wissen, ob das, was man gelernt hat, je zu gebrauchen sein (oder auf dem Arbeitsmarkt nachgefragt werden) wird, und man kann auch nicht wissen, ob sich eine gesunde Lebensweise wirklich lohnt. Am Beispiel des Sportunterrichts lässt sich die Differenz hingegen gut veranschaulichen. Auch hierbei geht es um doppelte Umweltorientierung, da mithilfe 14 Diese Unterscheidung lässt sich im Übrigen leicht als „re-entry“ pädagogischer Terminologie erkennen, denn statt „Gesundheitsförderung“ könnte man, zumindest in der deutschen Sprache, ohne Schwierigkeiten von „Gesundheitsbildung“ sprechen. Auch in der Erziehungswissenschaft wird zunehmend der sie begründende Begriff „Erziehung“ zu vermeiden versucht und stattdessen lieber von „Bildung“ gesprochen. 15 Auch hier ist, wenn auch nicht der Begrifflichkeit, so doch der Sache nach, „re-entry“ zu konstatieren, und es wird nicht überraschen, dass es gerade die Sozialpädagogik ist, die ihre Probleme auf diese Weise zu lösen versucht: „Gemeinwesenarbeit“ ist der dort benutzte Begriff. 16 „Während der Langzeittherapie von Hochdruckpatienten“, so Lachmund, „beobachtete man, daß therapeutische Maßnahmen oft wirkungslos blieben. Das lag aber offenbar nicht an der Unwirksamkeit der Medikamente. Die Erklärung suchte man in der fehlenden Kooperationsbereitschaft der Patienten: Sie nahmen die Arzneien gar nicht erst ein“ (1987, S. 362).
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von Kommunikation über Bewusstsein auf Körper durchzugreifen versucht wird. Unterschiede ergeben sich in zweierlei Hinsicht: Zum einen, und damit kommt eine traditionelle pädagogische Kategorie zum tragen, kann man körperliche Fertigkeiten üben. Durch Übung werden komplizierte körperliche Abläufe besser, kondensieren zu Kompetenzen und verstärken sich dann im Funktionsvollzug selbst. Für Gesundheit erforderliche Körperaktivitäten lassen sich hingegen kaum üben (sieht man vom Zähneputzen, das so schwer nicht ist, einmal ab). Zum anderen aber, und das scheint entscheidend zu sein, ist nie sicher, ob sich gesundheitsförderliches Verhalten auch wirklich lohnt, denn man kann trotzdem erkranken oder einen Unfall erleiden. Das für erzieherische Prozesse massgebende deferred gratification pattern ist also in extremer Weise gedehnt und bleibt letztlich ohne sichere Aussicht auf Belohnung (die allenfalls durch die Angabe von Wahrscheinlichkeiten plausibilisiert werden kann). Insofern findet jede gesundheitspädagogische Bemühung ihre Grenze im Leben selbst – und auch das ist kein Sonderfall, sondern die Regel, der alle Erziehung unterworfen ist. Die Grenze zwischen Körper und Bewusstsein bestimmt die Operationen im Erziehungs- und im Gesundheitssystem und damit auch deren jeweilige Grenzen. Das heißt aber nicht, dass die Lebenspraxis dem in jedem Fall zu folgen bereit wäre. Denn man kann leicht sehen, dass durch Krankheit und im Zuge von Behandlung auch im Gesundheitssystem „erzogen“ werden kann, z. B. dann, wenn man nach einem Herzinfarkt oder durch eine chronische Erkrankung lernen muss, seine Lebensführung grundlegend zu verändern; wie auch im Erziehungssystem „geheilt“ wird, denkt man z. B. an ein verwaistes und dadurch schwer gestörtes Kind, das eine Ersatzfamilie findet und dort nun eben dadurch mit deutlich weniger (oder gar frei von) Symptomen und somit nahezu „geheilt“ aufzuwachsen vermag; oder man stelle sich ein fieberkrankes Kind vor, das in dieser Lage mitgängig auch lernen soll, sich in Geduld zu üben, Unbill zu ertragen und sich den Umständen gemäß zu verhalten. Aber: Die Krankheit wird nicht induziert, um Geduld zu lehren und der Herzinfarkt nicht, um die Lebensführung zu verändern. Vielmehr machen diese Phänomene auf die Ubiquität des Lernens aufmerksam, das, wenn man so sagen will, keine Systemgrenzen kennt. Daher, und nur darauf soll hier hingewiesen werden, macht es in manchen Fällen Schwierigkeiten, die Kommunikation eindeutig zuzurechnen, scheint sie doch gelegentlich gleichsam vom einen System in das andere umzuspringen. Das Gesundheitssystem kann zwar auf den Körper durchgreifen (und muss dafür das Bewusstsein zeitweilig ausschalten), aber es vermag das Bewusstsein als eine entscheidende Größe, die körperliche Funktionen und Zustände maßgeblich mitbestimmt, in keinem Fall direkt zu erreichen. Das Erziehungssystem hingegen kann (vom Sonderfall körperlicher Züchtigungen abgesehen) weder auf den Körper noch auf das Bewusstsein durchgreifen, sondern nur über Kommunikation auf das Bewusstsein im Modus von Irritation Einfluss zu gewinnen versuchen. Die Einheit der Differenz aber ist in beiden Fällen nur semantisch –
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als Körperbewusstsein – gegeben. Faktisch ist sie nur im psychischen System herstellbar. Früher nannte man das Freiheit.
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Biologische und soziale Evolution.* Erziehung und die Entwicklung biologischer, psychischer und sozialer Systeme Erziehung Annette Systeme Scheunpflug und die Entwicklung biologischer, psychischer und sozialer
Das Erziehungssystem Annette Scheunpflug ist wie kaum ein anderes durch Systemreferenzen in unterschiedliche soziale Systeme gekennzeichnet. Erziehung hat – grob gesprochen – den Zweck, die Entwicklung von Individuen an die Entwicklung einer Gesellschaft anschlussfähig zu machen. Dabei geht es einerseits um die Entwicklung des Individuums, andererseits aber auch um die Entwicklung von Gesellschaft qua Individuen. Schleiermacher hatte in seinen pädagogischen Vorlesungen dieses Doppelverhältnis des Erziehungssystems im Hinblick auf die Gesellschaft in der Gegenüberstellung von „Erhalten“ und „Verbessern“ beschrieben: durch Erziehung werden einerseits kulturelle Errungenschaften erhalten, indem diese an die nachfolgende Generation weitergegeben werden; gleichzeitig aber auch die Gesellschaft weiterentwickelt („Enkulturation“). Zudem entwickeln sich durch Erziehung Individuen im Sinne von „Personalisation“. Dieser dem Erziehungssystem inhärente Entwicklungsbegriff, der sich sowohl auf Individuen als auch auf die Gesellschaft bezieht, führt zu vielfältigen Systemreferenzen. Das Bildungssystem selbst zeigt vielfältige Systemreferenzen zum politischen System, zum Wirtschaftssystem und zur Gesellschaft1. Luhmann führt die Bedeutung des Wirtschaftssystems zur Beschreibung pädagogischer Zielperspektive aus2; benennt die Differenz zur familiären Sozialisation3, die Referenz zum Staat4 und zur Wissenschaft (vgl. Luhmann 1996, S. 33ff.). * Ich danke Roland Bätz, Alfred Treml und den Teilnehmenden des Symposiums für hilfreiche Kommentare zu Vorformen des Beitrags. 1 Vgl. die Beiträge in diesem Band zu den Systemreferenzen des Wirtschaftssystems, des Gesellschaftssystems und des politischen Systems. 2 „Ihre wohl wichtigsten Ziele sucht die Erziehung (was immer die Pädagogik davon halten mag) im Verhältnis zum Wirtschaftssystem“ (Luhmann 1996, S. 19; siehe dazu auch die Bedeutung von PISA; vgl. Fuchs 2003). 3 Luhmann 1996, S. 24: „Es liegt nahe, daß man neben der Zukunft der im System erzogenen Personen auch deren Vergangenheit berücksichtigen muß. Dann fragt man nach dem Verhältnis des Systems schulischer (organisierter) Erziehung zu den Familien.“ 4 Luhmann 1996, S. 28: „Seit der Etablierung eines ausdifferenzierten Erziehungssystems in der Form einer organisierten Interaktion (,erziehener Unterricht‘) ist das Erziehungssystem vom
Erziehung und die Entwicklung biologischer, psychischer und sozialer Systeme
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Mit diesen Unterscheidungen wird erkennbar, „dass es nicht der Lehrer ist, von dem erzieherische Wirkungen auf die Schüler ausgehen, sondern vielmehr das Interaktionssystem Unterricht“ (Koller 1996, S. 135; vgl. auch Luhmann/Schorr 1981, S. 46f.; 1988, S. 118ff.; Luhmann 2002, S. 102ff.). Interessanterweise bearbeiten Luhmann und Schorr so gut wie ausschließlich soziale Systeme.5 Auch in weiteren Werken Luhmanns kommen die „biologischen Systeme“, diejenigen, die lernen, nur wenig vor. Im Folgenden wird deshalb zunächst Spurensuche betrieben und das Verhältnis von biologischen zu sozialen Systemen sensu Luhmann beschrieben. Im zweiten wird auf diese Darstellung aus biowissenschaftlicher Perspektive, und zwar vor allem der Soziobiologie, von der Luhmann sich dezidiert abgrenzt, reagiert. Abschließend geht es darum, aus erziehungswissenschaftlicher Sicht die Beziehung zwischen beiden Systemen zu beleuchten.
1. Biologische und psychische Systeme aus systemtheoretischer Sicht 1.1 Entwicklung im Raum: Die Unterscheidung in soziale, psychische und biologische Systeme Zentral für die Luhmann’sche Systemtheorie ist es, Systeme als „autopoietisch“ zu verstehen. Damit werden Bestandstheorien abgelöst. Stattdessen wird auf die Beobachtung der Differenz zwischen System und Umwelt umgestellt. Die Unwahrscheinlichkeit des Wahrscheinlichen rückt so in den Blick und die Frage, „wie es trotzdem möglich ist und ob es weiterhin so bleibt, wie es ist“ (Luhmann 1987, S. 310). Die Systemtheorie als eine evolutionstheoretische Theoriebildung stellt nicht die Intentionen des Gewordenseins im Mittelpunkt (wie dies Schöpfungstheorien zu tun pflegen), sondern die Umstände trotz derer – oder in denen – sich bestimmte Entwicklungen vollzogen haben. Menschen sind in der systemtheoretischen Beobachtung nicht als Einheit zu verstehen. Soziologisches Denken verzichtet „zwangsläufig auf ein sinngebendes Subjekt“ (Luhmann 1985, S. 411). Vielmehr können sie als biologisches System, als psychisches System und als soziales System in den Blick kommen. Diese sind sich gegenseitig Umwelten und werden selbstreferentiell wahrgenommen. Als biologisches System wird von Luhmann der körperliche Zustand des Menschen beschrieben, als psychisches System das Bewusstsein und als soziales Staate abhängig – zumindest insofern, als der Staat (oder die ihm verantwortlichen Kommunen) Organisation und Personal für Erziehung bereitstellt.“ 5 So zum Beispiel auch in dem Band, der den Beziehungen zu den Umwelten des Erziehungssystems gewidmet ist (vgl. Luhmann/Schorr 1996). Einzig der Beitrag von Frieda Heyting nimmt die kindliche Entwicklung in den Blick: „Die Beschreibung des Kindes als unentbehrliches Umweltsystem der Erziehung aus der Perspektive der gegenseitigen psychischen und sozialen Entwicklungsdynamik müsste [...] eine der Aufgaben der Erziehungswissenschaft sein“ (Heyting 1996, S. 208). Gleichzeitig zeigt sie auf, dass diese Beschreibung mit erheblichen Theorieproblemen verbunden ist (siehe unten).
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System dessen Kommunikation. Alle drei Systeme arbeiten nicht voneinander unabhängig, sind aber auch nicht linear aufeinander bezogen. Mithilfe dieser Theorietechnik der Differenzierung in Unterscheidungen autopoietischer Systeme werden neue Reflexionsmöglichkeiten eröffnet. Je nach Fragestellung rückt die Differenz zu den jeweils anderen Systemen in den Blick – oder wird übersehen. Schließlich beginnt jede Form der Beobachtung mit einer Unterscheidung, die zu weiteren Unterscheidungen führt. Die Trennung in verschiedene Systeme schließt aus, dass Menschen als Trivialmaschinen, also „Systeme, die auf einen bestimmten Input nach Maßgabe einer internen Transformationsfunktion einen bestimmten Output erzeugen und dies jedes Mal wiederholen, wenn derselbe Input eingegeben wird“ (Luhmann 1985, S. 411), interpretiert werden können. Da das Bewusstsein sich Gedanken vorstellen kann und auf diese Vorstellung von Gedanken zu reagieren in der Lage ist, sind diese nicht vorhersehbar. Allerdings sind sie auch nicht beliebig; sondern aufgrund der Vielzahl an Möglichkeiten nicht vorhersehbar.6 Der überwiegende Teil der Analysen von Luhmann bezieht sich auf soziale und nicht auf psychische oder biologische Systeme. Seine „Theorie sozialer Systeme“ reflektiert die Frage, wie unterschiedliche soziale Systeme miteinander in Kontakt kommen. Da Systeme über selbstreferentielle Prozesse miteinander kommunizieren, verbieten sich einfache Ordnungsschemata wie „Hierarchien“ oder „vom Einfachem zum Komplexen“. Vielmehr tritt an diese Stelle ein Verständnis der Differenz von Komplexitäten: „Man hat die unfassbare Komplexität des Systems (bzw. seiner Umwelt), die entstünde, wenn man alles mit allem verknüpfen würde, von der bestimmt strukturierten Komplexität zu unterscheiden, die ihrerseits dann aber nur kontingent seligiert werden kann; und man hat die Umweltkomplexität (in beiden Formen) von der Systemkomplexität (in beiden Formen) zu unterscheiden, wobei die Systemkomplexität geringer ist und dies durch die Ausnutzung ihrer Kontingenz, also durch ihr Selektionsmuster wettmachen muss. In beiden Fällen ist die Differenz von zwei Komplexitäten das eigentlich Selektion erzwingende (und insofern: Form gebende) Prinzip; und wenn man nicht von Zuständen, sondern von Operationen spricht, ist beides Reduktion von Komplexität, nämlich Reduktion einer Komplexität durch eine andere“ (Luhmann 1984, S. 50, Herv. i. O.).
6 „Es läßt sich leicht zeigen, daß nichttriviale Maschinen, auch wenn sie determiniert operieren und selbst wenn sie über nur wenige Arten von Input und Output verfügen, so viele Zustände annehmen können, daß sie nicht berechnet werden können und so ihr Verhalten nicht prognostiziert werden kann. Das gilt auch für sie selbst. Bewußte Systeme können daher gar nicht anders als ihr eigenes Verhalten auf ihre eigenen Entschlüsse zurückführen. Sie hängen außerdem von ihrer Vergangenheit und von ihrem jeweiligen Zustand ab. Sie mögen dann darüber, um sich vor sich selbst plausibel zu machen, Vorstellungen entwickeln und so schließlich zu einer Art Selbst-Intendierung kommen, die es ihnen ermöglicht, sich selbst in der Form einer Fremdreferenz, also als Gegenstand einer Vorstellung zu behandeln“ (Luhmann 1985, S. 412f.); vgl. hier die Nähe zu einer Theorie des Geistes, z. B. wie bei Kim 1998.
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1.2 Entwicklung in der Zeit: Evolution sozialer Systeme Für die Erziehung (und mit ihr die Erziehungswissenschaft) ist die Veränderung – von Individuen ebenso wie von Gesellschaften – ein zentrales Problem. Veränderungen über die Zeit werden von Luhmann mithilfe des Begriffs der „Evolution“ gefasst. Wird die räumlich gedachte „Theorie sozialer Systeme“, also die Frage, wie unterschiedliche Systeme miteinander in Kontakt treten, in der zeitlichen Dimension reflektiert, geht es um Evolution (vgl. Luhmann 1991). Mit vielfältigen Bezügen auf die biologische Evolutionstheorie, vor allem auf die Werke Darwins, aber auch Bertalanffy, Spencer, Varela und Maturana, spielt der Begriff der Evolution im gesamten Werk von Luhmann – sieht man von Überlegungen zum Erziehungssystem ab – eine wichtige Rolle (vgl. Luhmann 1992, S. 549ff.; 1997, S. 413ff.; 2000, S. 250ff.; vgl. ausführlich Treml 2004). Dabei kommen ausschließlich soziale Systeme, d. h. Kommunikation, in den Blick – die Evolution des Lebendigen wird als notwendige Grundlage für die Evolution menschlicher Kommunikation gesehen, aber nicht weiter bearbeitet. Hintergrund ist das Bestreben Luhmanns zu einer Allgemeinen Evolutionstheorie beizutragen, „die biologische Spezifika [...] weglässt“ (Luhmann 1992, S. 551). Eine solche Theorie sei allerdings noch nicht hinreichend ausformuliert; seine Äußerungen lassen sich als Beiträge zu einer solchen Allgemeinen Evolutionstheorie verstehen. Luhmann geht es um die Evolution von Gesellschaft oder von gesellschaftlichen Teilsystemen. In seiner Favorisierung evolutionärer Theoriebildung ist Luhmann klar positioniert: „Wie immer unbefriedigend evolutionstheoretische Erklärungen, gemessen an logischen, wissenschaftstheoretischen und methodologischen Standards kausaler Erklärung und Prognose, ausfallen mögen: es gibt heute keine andere Theorie, die den Aufbau und die Reproduktion der Strukturen des Sozialsystems Gesellschaft erklären könnte“ (Luhmann 1997, S. 413). Im Zentrum steht für Luhmann die „Morphogenese von Komplexität“ (Luhmann 1997, S. 415). Dazu wird die „die Unwahrscheinlichkeit des Überlebens isolierter Individuen oder auch isolierter Familien [...] transformiert in die (geringere) Unwahrscheinlichkeit ihrer strukturellen Koordination, und damit beginnt die soziokulturelle Evolution“ (Luhmann 1997, S. 414, Herv. i. O.). Die Zunahme an kommunikativen Ereignissen führt zu einer Zunahme an Differenzierung nichtbeliebiger Art. In sozialen Systemen entsteht Entwicklung bzw. Evolution durch Kommunikation als Operationsmodus der Autopoiese sozialer Systeme (ähnlich wie in den Biowissenschaften der Operationsmodus des Lebendigen in der autopoietischen Reproduktion des genetischen Codes gesehen wird). Zentral ist beiden Theorien die Bedeutung der Reproduktion: Ohne Reproduktion wird Kommunikation beendet; gleichermaßen endet ohne Reproduktion von Lebewesen auch die Weitergabe des genetischen Codes. Kommunikation wird durch die Erfindung der Schrift allerdings unabhängig von distinkten Individuen – und damit die soziokulturelle Evolution durch die Schrift und dann nochmals
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durch den Buchdruck erheblich beschleunigt (vgl. Luhmann 1984, S. 127ff.). Soziokulturelle Evolution kann allerdings nicht ohne Lebewesen gedacht werden; denn Lebewesen sind an Kommunikation beteiligt. Die Kommunikation geht allerdings nicht in ihnen auf, sondern bildet Strukturen eigenen Typs. Da Luhmann Gesellschaft konsequent als Kommunikation und nicht als Summe von Lebewesen beschreibt, sind Lebewesen aus dieser Perspektive an Gesellschaft beteiligt, ohne Gesellschaft zu sein. Im Unterschied zu manchen biologischen Evolutionstheorien, aber sich gleichwohl zwingend aus der Systemtheorie ergebend, interpretiert Luhmann Evolution als eine Konstruktion des Beobachters. Für die Systemtheorie ist es konstitutiv, dass die Evolution nicht als Ontologie verstanden wird, sondern als ein Theoriekonstrukt der Beobachtung des Modus der zeitlichen Reproduktion über Mechanismen der Variation und der Selektion: „Evolution ist dann jede Strukturänderung, die durch Differenzierung und Zusammenspiel dieser Mechanismen erzeugt wird. Ob nun historische Bewegung, ob nun Prozess oder nicht – charakterisiert wird die Evolution durch die Art und Weise, wie sie sich selbst reproduziert“ (Luhmann 1975a, S. 195). Evolution ist für ihn Beobachtung zweiter Ordnung – also Beobachtung einer Beobachtung und liegt nicht in den Dingen selbst.7 Damit ist der Geltungsbereich der jeweiligen Aussagen berührt: Es geht nicht um die Frage, ob etwas so ist, wie es ist, sondern was sich mit einer Beobachtung beobachten lässt. Aussagen werden also nicht als wahr apostrophiert, sondern als mehr oder weniger anschlussfähig. Beispielsweise würde nicht argumentiert, dass sich das Auge als evolutionäre Errungenschaft durchgesetzt hätte, da es etwas in der Wirklichkeit Vorhandenes sieht, sondern da es einen Beitrag zur Selbstreproduktion der Systeme leistet (Luhmann 1992, S. 589f.). Das mag sich zunächst wie ein Sprachspiel im Elfenbeinturm anhören, ist aber für den Stellenwert empirischer Forschung von Bedeutung: Empirische Forschung stellt dann eine Bedingung der Möglichkeit von Beobachtung dar (und es wäre weit weniger anschlussfähig an komplexe Theoriebildung, diese als Aussagen über Wahrheit zu beschreiben).
1.3 Die Beziehung zwischen biologischen und sozialen Systemen Wie wird nun das Verhältnis zwischen biologischen und sozialen Systemen beschrieben? Zunächst einmal ist zu konstatieren: bei Luhmann gar nicht. Der Stellenwert biologischer Systeme ist ein epistemologischer; inhaltlich werden diese nicht näher bearbeitet. Aussagen zu biologischen Grundlagen bzw. zu biologischen Systemen kommen in Luhmanns Werk vor allem an den Stellen vor, an denen sie heuristische Funktion für das Verständnis operativ geschlossener 7 In diesem Sinne kritisiert er gleichermaßen die Geschichts- wie die Biowissenschaft, die sich in seinen Augen der Konstruktionsleistung ihrer eigenen Beobachtung zu wenig bewusst ist; vgl. für die Geschichtswissenschaft Luhmann 1975b; für die Biologie Luhmann 1983, 2001a.
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Systeme haben. Damit stehen diese Aussagen überwiegend in Abgrenzung zu seinen Überlegungen.8 Eine Ausnahme stellt sein letztes Werk zur Erziehungswissenschaft dar, das mit dem Kapitel „Mensch und Gesellschaft“ (Luhmann 2002, S. 13ff.) beginnt und „den jeweils individuellen Menschen empirisch ernst zu nehmen“ (ebd., S. 21) versucht. Über biologische Grundlagen des Menschen bestünde nach seiner Diagnose genug Wissen; allerdings würden in diesen Wissensbeständen zwei strukturelle Probleme deutlich, „nämlich (1) im Fehlen interdisziplinär tragfähiger Theorievorstellungen und (2) darin, dass all dieses Wissen nicht zur Vorhersage menschlichen Verhaltens taugt, sondern im Gegenteil: die prinzipielle Unvorhersehbarkeit zu begründen scheint“ (ebd., S. 22). Ebenso wie die sichtbare Welt auf den Erkenntnissen der Atomphysik aufbaue, beruhe das, „was wir äußerlich als einen selbstbeweglichen, ausdrucksstarken, sprechenden Menschen wahrnehmen, [...] auf einer festen Kopplung von Unwahrscheinlichkeiten“ (ebd., S. 22), die sich über selbstreferentielle Prozesse in operativ geschlossenen Systemen beschreiben ließen: „An die Stelle jener klassischen Unterscheidung von konstanten und variablen Merkmalen tritt jetzt die Unterscheidung von autopoietischer Operation und Strukturbildung.“ Und weiter: „Damit ist zugleich die weit verbreitete, empirisch aber haltlose Vorstellung einer genetischen Determination menschlicher Charaktermerkmale abgelehnt, andererseits aber nicht bestritten, dass die strukturelle Entwicklung eines Systems an den jeweils bereits realisierten historischen Zustand anschließt“ (ebd., S. 23). Biologische Systeme seien durch eine selbsterzeugte Unbestimmtheit charakterisiert. Das bedeute auch, „dass das bewusste Setzen einer Ich-Identität eine Konstruktion bleibt, die zu sozialer Bewährung angeboten und bei Schwierigkeiten korrigiert oder nicht korrigiert wird“ (ebd., S. 25). Angesichts der Freiheitsgrade des Menschen sei es vor diesem Hintergrund nicht besonders interessant, sich mit biologischen Grundlagen zu beschäftigen; sie führten aufgrund der doppelten Kontingenz der handelnden Personen zu keiner Prognose individuellen Verhaltens. Kommunikation sei zwar nicht beliebig unabhängig von den Bedingungen menschlicher Existenz, aber nicht durch sie hinreichend zu beschreiben: „Der Lehrer hat es mit einer Vielzahl von Schülern zu tun, die als empirische, für sich und für andere intransparente, eigendynamische, nicht-linear operierende Individuen vor ihm sitzen“ (ebd., S. 43). Das reicht Luhmann als grundsätzliche Aussage über lebende Systeme – schließlich lässt sich von dort aus, d. h. von einer als grundsätzlich beschriebenen doppelten Kontingenz Erziehungswissenschaft betreiben. Vermutlich aus diesen theorietechnischen Gründen interessieren Luhmann biologische, aber 8 So zum Beispiel „Die (systemübergreifende) Ausgangsannahme ist: dass Kognition begriffen werden muss als der rekursive Prozessieren von (wie immer materialisierten) Symbolen in Systemen, die durch die Bedingungen der Anschlussfähigkeit ihrer Operation geschlossen sind (seien es Maschinen im Sinne der ,artificial intelligence‘, Zellen, Gehirne, bewusst operierende Systeme, Kommunikationssysteme). Die Frage, was ein Beobachter beobachtet und mit Hilfe welcher Kausalannahmen er Zurechnungen von Wirkungen und Ursachen durchführt, ist ein ganz anderes Thema“ (Luhmann 2001b, S. 113, Herv. i. O.).
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auch psychologische Voraussetzungen des Menschseins über diese allgemeinen Überlegungen hinaus nicht.9 Mit dieser abstrakten Fassung der biologischen Grundlagen des Menschsein wird gleichzeitig „auf grundsätzliche Weise dem Forschungsprogramm der Soziobiologie widersprochen. Die genetische Determination des Lebens ist ein unbestrittener Ausgangspunkt. Aber daraus folgt gerade nicht, dass auch Sozialordnungen von da aus determiniert seien (wobei natürlich zu konzedieren ist, dass keine Sozialordnung Bestand haben kann, die verlangen würde, dass die Menschen ständig auf den Händen statt auf den Füßen laufen). Vielmehr wird die genetische Determination des Lebens kompensiert durch eine mit hohen (kann man sagen: höheren?) Freiheitsgraden ausgestattete gesellschaftliche Ordnung sozialer Systeme“ (Luhmann 1997, S. 438f.). Schließlich, so Luhmann: „Wenn es um Gesellschaft gehen soll, gehören alle lebenden Systeme in die Umwelt des Systems“ (ebd., S. 452f.). Und dies mache, so Luhmann, den Unterschied in der Beschreibung von ,Kultur‘ zu ,Gesellschaft‘ aus: „In der Systemreferenz lebender Systeme kann man ,Kultur‘ als Fortsetzung des Lebens mit anderen [...] Mitteln ansehen oder auch als gelerntes (im Unterschied zu genetisch festgelegtem) Verhalten begreifen. [...] All das mag dann auch ,anthropologisch‘ interessante Einblicke gewähren. Nur erlaubt es keine Rückschlüsse auf gesellschaftliche Evolution“ (ebd., S. 453). Vielmehr würden „genetische Determinationen wie andere Umweltfaktoren auch auf Gesellschaft einwirken, nämlich Kommunikation irritieren können“ (ebd.).
2. Biologische Systeme und Kulturentwicklung: Die Perspektive der Biowissenschaft Der Luhmann’sche Begriff von Evolution und der Bedeutung des Lebendigen ist Biowissenschaftlern, gleichwohl sie beide mit dem Paradigma der darwinischen Evolution arbeiten (auf die sich Luhmann explizit bezieht) fremd. Das liegt vermutlich an der hoch abstrakten und elaborierten Fachsprache Luhmanns, die ein schnelles Verstehen seiner Gedankengänge erschwert, und (vor allem) an der Konzentration auf den Gesellschaftsbegriff als Kommunikation, der von einzelnen Lebewesen abstrahiert. Biologen kennen meines Wissens keinen Gesellschaftsbegriff, der sich nicht über Lebewesen beschreiben ließe. Während bei Luhmann eine Gesellschaft aus Kommunikation besteht, besteht sie bei Biologen in der Regel aus Lebewesen. Aus soziologischer Sicht wäre zu fragen, ob Biologen dann nicht eher über Gemeinschaften sprechen, aus biologischer Perspektive wäre an die Soziologie die Frage zu richten, ob sich Gesellschaften –
9 Wobei die Psychologie bei Luhmann als Wissenschaft abqualifiziert wird, die „Vorurteile“ über den Menschen produziert, hingegen die Biowissenschaften noch allgemeines Wissen über den Menschen ermögliche; vgl. Luhmann 2002, S. 22.
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ohne die Bedingung ihrer Möglichkeit hinreichend zu beachten –, angemessen feinkörnig beschreiben lassen.
2.1 Entwicklung im Raum: Das Verhältnis von Natur zur Kultur Will man sich aus biologischer Perspektive dem erziehungsrelevanten Phänomen nähern, dann wird nicht von der Gesellschaft ausgegangen, sondern von menschlichem Verhalten. Damit steht aus Sicht der Biologie nicht der Begriff Gesellschaft, sondern Kultur im Vordergrund – und sie wird bezogen auf die menschliche Natur. Kulturelle und natürliche Grundlagen menschlichen Verhaltens werden in den heutigen Biowissenschaften nicht länger dichotomisch gegenüber gestellt10, sondern die menschliche Fähigkeit zur Kultur als Resultat der biologischen Angepasstheit des Menschen an seine Umwelt interpretiert. Kultur wird als ein Ausdruck menschlicher Natur gesehen; mit den Worten des Biologen Hubert Markl: „Es ist uns natürlich, unser Dasein durch eine Kulturtradition zu bewältigen“ (Markl 1983, S. 40). Die Kulturfähigkeit wird über die biologische Evolution erklärt und damit nach dem biologischen Anpassungswert von Kulturausprägungen gefragt (vgl. Tooby/Cosmides 1992). Der biologische Anpassungswert von Kulturausprägungen ist in einer Reihe von Aspekten untersucht worden; zum Beispiel die Erklärung kulturell bedingter Nahrungsbeschaffungsstrategien (vgl. Hill/Hurtado 1996; Kaplan/Hill 1992, Kaplan u. a. 2000), für die Entstehung von Krankheiten (vgl. Nesse/Williams 1997), für Nahrungspräferenzen (vgl. Sherman/Billing 1999), für die Erklärung von Formen der Ehe (im Überblick Voland 2000), kulturell vermittelter reproduktiver Entscheidungen (vgl. Voland 1998) und des Investments in Bildung (vgl. Zwoch 1999; Anderson/Kaplan 1999; Anderson/Kaplan/Lam/Lancaster 1999). Kultur wird als Teil der biologischen Angepasstheit des Menschen verstanden (vgl. Cosmides/Tooby 1992; Vogel 2000; Weingart u. a. 1997) und dient „in letzter Analyse der möglichst gewinnbringenden Gestaltung reproduktiver Ressourcen, also: Gesundheit, Sexualpartner, Besitz, Kinder, andere Verwandte, Freunde, Prestige, Status, Gruppenzugehörigkeit – all jener Facetten einer menschlichen Gemeinschaft also, deren Handhabung mit Konsequenzen für den persönlichen Lebensreproduktionserfolg verbunden sind“ (Voland 2002; S. 278). So lassen sich beispielsweise für die verschiedenen Formen von Ehen (Polygamie, Polyandrie und Monogamie) Strategien zur Optimierung von Reproduktionsbedingungen unter verschiedenen Ressourcenbedingungen zeigen. Oder aus dem Bildungsbereich konnten US-amerikanische Autoren feststellen, dass Bildungsinvestment mit der genetischen Nähe der Eltern korrelierte: 10 Wie sich dies noch in den Debatten um das Verhältnis von „Anlage“ und „Umwelt“ in den sechziger und siebziger Jahren zeigte und zum Teil heute noch in der Intelligenzforschung die Debatte prägt, vgl. im Überblick Freeke 1999.
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Anderson und Kaplan (1999) konnten zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit, ein College zu besuchen, für ein gemeinsames leibliches Kindes mehr als doppelt so hoch ist als für ein leibliches Kind mit einer früheren Partnerin (d. h. ohne die direkte väterliche Unterstützung). Noch geringer ist die relative Wahrscheinlichkeit für ein Kind, das mit einem nicht leiblichen Stiefvater zusammenlebt. Diese Ergebnisse ließen sich sowohl im amerikanischen Kontext (vgl. Anderson/Kaplan 1999) als auch an Schülerinnen und Schülern aus dem kulturellen Kontext der Xhosa in der Republik Südafrika zeigen (vgl. Anderson/Kaplan/Lam/Lancaster 1999). Ebenso dramatisch unterschied sich die mit den Kindern verbrachte Zeit zwischen leiblichen Vätern und Steifvätern (vgl. Anderson/Kaplan, 1999 S. 422f.). Als Kosten für Elterninvestment wurden Kosten für die Schule, Kosten für Kleidung, sonstige Kosten sowie die mit den Kindern nach Angaben der Eltern verbrachte Zeit erhoben. Biowissenschaftliche Erklärungsmuster stellen geistes- und sozialwissenschaftliche Theorien zur Beschreibung und Erklärung kultureller Phänomene nicht grundsätzlich in Frage oder treten gar mit dem Anspruch auf, diese abzulösen. Vielmehr kann das Verhältnis der einen zur anderen Theorietradition angemessener im Hinblick auf unterschiedliche Frage- und Problemhorizonte beschrieben werden: Während Geistes- und Sozialwissenschaften nach den direkten oder indirekten Wirkursachen für Verhalten fragen und dieses beispielsweise durch Gruppenphänomene, soziales oder kulturelles Kapital, Erwartungsmuster oder Motivationslagen erklären, geht es einer biowissenschaftlichen bzw. evolutionären Argumentation darum, den Anpassungswert und Selektionsvorteil eines Verhaltens zu ergründen. Biowissenschaften vertreten nicht den Anspruch, Gesellschaften vollständig zu beschreiben, wohl aber einen Beitrag zur Reflexion von Kultur zu ermöglichen. So geht es im oben genannten Beispiel darum, über genetische Nähe (und damit erwarteten reproduktiven Nutzen) Wahrscheinlichkeiten zum Bildungsinvestment vorherzusagen. Mag es unter verschiedenen Theorieschulen in Details unterschiedliche Akzentuierungen geben (vgl. im Überblick Laland/Brown 2002), eines ist diesen Ansätzen eigen: Sie haben nichts gemein mit einem simplen genetischem Determinismus, der häufig biowissenschaftlicher Argumentation reflexartig von Geisteswissenschaftlern unterstellt wird11 (so zum Beispiel aus der Erziehungswissenschaft bei Liegle 2002; Dietrich/Kohlrausch-Sanides 1994; aber auch bei Luhmann, s. o.). Das Missverständnis eines simplen genetischen Determinismus ist unmittelbar verbunden mit unterkomplexen Vorstellungen über das Verhältnis von Anlage und Umwelt. Der Versuch einer Aufteilung von Verhalten in angeborenes und erworbenes Verhalten zeigt als Theoriemodell eine zu geringe Erklärungskraft. Genetische Entwicklungsprogramme sind gegenüber bestimmten Milieueigenschaften sensitiv – kein Lebewesen reagiert auf alle umgebenden Einflüsse. 11 Vgl. z. B. Laland/Brown 2002: „an evolutionary perspective does not equate with a genetic determinist view of human behavior“ (S. 17).
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Auch die Sensitivität für bestimmte Umwelten ist sozusagen Bestandteil des evolutionären Erbes. Die häufig verbreitete Gegenüberstellung von Anlage und Umwelt beruht auf einem Kategorienfehler. Auch die Lernfähigkeit des Menschen ist evolviert und stellt eine Form der natürlichen Angepasstheit dar, so dass es nicht darum gehen kann, „ob ein bestimmtes Verhalten Ergebnis der natürlichen Selektion oder eines kulturellen Lernprozesses ist, sondern die Frage ist letztlich, aus welchen Gründen welche Lernprozesse aus der natürlichen Selektion hervorgegangen sind“ (Voland 2000, S. 24; vgl. auch Tooby/Cosmides 1992). Alles Lernen ist damit Folge einer genetisch bedingten Umwelt-Selektivität – und in diesem Sinne (aus logischer Perspektive) durch einen genetischen Algorithmus determiniert, ohne vorhersehbar zu sein. Jeder Lernprozess verändert das System selbstreferentiell und führt so zu völlig individuellen, aber nicht beliebigen Ausformungen des Phänotyps. So verstanden sind Menschen genetisch determiniert, ohne jedoch Trivialmaschinen (im Sinne Luhmanns) zu sein. Genzentrierte Strategien sind hoch flexibel und führen in unterschiedlichen Umweltsituationen zu verschiedenen Verhaltensweisen. Kleinste Unterschiede in der Umwelt (bzw. in deren Interpretation und Wahrnehmung) lassen jene Unterschiede entstehen, die in der europäischen Philosophie üblicherweise mit dem Konzept von Freiheit und Willensentscheidung beschrieben werden (vgl. Beckermann u. a. 2005; für erziehungswissenschaftliche Kontexte Scheunpflug 2003; Scheunpflug im Druck).
2.2 Entwicklung in der Zeit: Evolution des Lebendigen Menschliche Entwicklung wird mit zwei unterschiedlichen humansoziobiologischen Ansätzen beschrieben. Der erste sieht die Menschen in ihrer historischen Entwicklung von den Australopithecinen zum heutigen homo sapiens sapiens. Die Angepasstheit eines bestimmten Merkmals ergäbe sich dann aus seiner Funktion während seiner evolutiven Entstehung und ist nicht durch die aktuelle biologische Zweckdienlichkeit beschrieben. So kann beispielsweise die menschliche Präferenz für Süßes, die unter heutigen Ernährungsmöglichkeiten in den nördlichen Industriestaaten zu Gesundheitsrisiken führt, doch als „eine in einer kohlehydratarmen Umwelt entstandene biologische Angepasstheit, die unseren steinzeitlichen Vorfahren dabei half, ihren Energiehaushalt zu optimieren“ (Voland 2000, S. 19) interpretiert werden. Gleichzeitig lassen sich Anpassungsvorgänge beobachten. Hier geht es um Verhaltensweisen, die die tatsächlichen Fitnesskonsequenzen beachten, die mit Verhaltensweisen verbunden sind. Beispielsweise werden polyandrische Eheformen (also die Verheiratung einer Frau mit mehreren Männern, meistens Brüdern), wie sie im Hochland von Tibet vorkommen, als Anpassung beschrieben, weil diese unter Bedingungen landwirtschaftlicher Ressourcenknappheit und geringer Arbeitsproduktivität höchstmögliche Fitnesserträge bringt (Crook/ Crook 1988, zitiert nach Voland 2000, S. 19).
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Häufig lassen sich beide Strategien komplex miteinander kombiniert beobachten: Komplexe Verhaltensvorschriften sind als Algorithmen evolviert, die in unterschiedlichen Umwelten unterschiedlich verrechnet werden und zu sehr individuellem Verhalten führen. Menschen sind beispielsweise darauf evolviert, Partnerwahlpräferenzen unter der Perspektive von Reproduktionsinvestment zu verrechnen und durch individuelles Verhalten auszudrücken. Wie eine individuell getroffene Präferenz – und damit individuelles Verhalten – aussieht, ist ein Produkt der Anpassung an eine konkrete ökologische Situation und damit der Ausdruck der Bilanzierung von Verhalten (vgl. zum Konzept der Anpassung und der Angepasstheit Voland 2000, S. 17f.; für pädagogische Kontexte Scheunpflug 2001, S. 27ff.). Während bei diesem Beispiel der Reproduktionsmechanismus starr festgelegt ist (Frauen bekommen Kinder), werden die dazu gehörigen Verhaltensweisen (über Partnerwahlstrategien) als konditionale Strategien in einer bestimmten Umwelt interpretiert. Eine konditionale Verhaltensstrategie wird als eine evolvierte Verhaltensvorschrift verstanden, die in unterschiedlichen individuellen Lebenssituationen zu ganz unterschiedlichen Verhaltensweisen führt (für die erziehungswissenschaftliche Geschlechterforschung Scheunpflug 2004). Spätestens an dieser Stelle zeigt es sich wiederum, dass die moderne biologische Forschung – anders als die klassische Verhaltensforschung – nicht von starren angeborenen Verhaltenskonzepten ausgeht. Vielmehr ist ein Verhaltensalgorithmus, der individuelles Verhalten subtil auf eine ganz bestimmte Umwelt abstimmt, offensichtlich ein Einflussfaktor, der in ganz unterschiedlichen Umwelten zu ganz verschiedenen Verhaltensweisen führt. Anspruchsvolle biowissenschaftliche Forschung ist sich dieser Theorieprämissen bewusst. Es wird forschungstechnisch ausgegangen von einer Hypothese, beispielsweise der Angepasstheit menschlichen Verhaltens. Dafür werden empirische Belege gesammelt. In diesem Sinne ist die evolutionäre Biowissenschaft eine empirisch sehr gut gesättigte Theoriebildung, deren Wahrheit sich nicht über Seinsaussagen, sondern allenfalls – wenn man es denn so möchte – über Methoden und damit zusammenhängende Geltung beschreiben lässt. Verhalten wird so – im Sinne Vaihingers (1927) – immer als „als ob Hypothese“ beschrieben: Menschen verhalten sich so, als ob darwinische Algorithmen handlungsleitend wären. Im strengen Sinne müssten alle obigen Aussagen als Theorieaussagen mit Als-ob-Unterstellung formuliert werden. Dann allerdings wären Texte zu menschlichem Verhalten kaum noch lesbar. Von daher wird als wissenschaftstheoretische Konvention diese Sprachregelung unterstellt.12
12 Der obige Satz: „Menschen sind beispielsweise darauf evolviert, Partnerwahlpräferenzen unter der Perspektive von Reproduktionsinvestment zu verrechnen und durch individuelles Verhalten auszudrücken“ müsste beispielsweise lauten: „Menschliches Verhalten kann so interpretiert werden, dass es darauf evolviert sei, als ob Partnerwahlpräferenzen unter der Perspektive von Reproduktionsinvestment verrechnet und diese dann durch individuelles Verhalten ausgedrückt würden.“
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2.3 Das Verhältnis von Individuen zur Kultur Wie wird nun vor diesem Hintergrund das Verhältnis von Individuen zu Gesellschaften beschrieben? Gesellschaft im Sinne Luhmanns kommt gar nicht in den Blick – vielmehr beschreibt die Biologie die Umwelt- und Ressourcenabhängigkeit von Verhalten bzw. die Adaptivität von Verhalten in ganz bestimmten Umwelten. In diesem Sinne geht es auch um Verhaltensweisen, die aus Perspektive der Geisteswissenschaften als kulturell bedingt beschrieben worden sind. Wird „Gesellschaft“ nicht mit Kultur gleichgesetzt, sondern mit dem Gesellschaftsbegriff eine Strukturbildung eigenen Typs auf Grundlage von Kommunikation verstanden, dann geht es biowissenschaftlicher Forschung im engeren Sinne nur mittelbar um Gesellschaft. Gesellschaft würde dann nicht unabhängig von kulturellen Phänomenen zu interpretieren sein, aber auch nicht in ihnen aufgehen. Biowissenschaftliche Erkenntnisse reichen in die Beschreibung von Kultur, nicht aber in die Beschreibung von Gesellschaft. Die Biowissenschaft verlässt die Descartes’sche Tradition des Dualismus von Natur und Kultur und erklärt Kultur – wie oben dargestellt – aus einer darwinischen Perspektive. Kultur entsteht nach dieser Theorie im Dienste der Fitnessmaximierung. Kultur ist damit Ausdruck biologischer Funktionalität: „Nur biologisch zweckdienliches Verhalten, also solches Verhalten, das beim Verfolgen jener proximaten Lebensziele, die dem biologischen Erfolg vorangestellt sind, hilfreich ist, hat Aussicht auf Imitation und in den Kanon der lokalen Traditionen aufgenommen zu werden“ (Voland 2000, S. 25). Kultur wird verstanden als ein kumulativer Effekt individuellen Verhaltens auf der Grundlage evolvierter Interessen und Strategien. Theoriestreit gibt es darüber, wie der Beginn kumulativer Kulturtradierung begann, d. h. welchem Mechanismus er geschuldet ist. In den Theorieentwürfen von Flinn und Alexander (1982) wird Kulturleistung auf die Imitation des Erfolgreichen zurückgeführt (vgl. auch den differenzierten Entwurf von Boyd/ Richerson 1985, 1992). Nach den Arbeiten von Tomasello (2001) über das Verhalten von Primaten begann die Kulturentwicklung durch Lehre und Tradierung. Kultur wird damit als ein Folgephänomen der Fitnessmaximierung von Individuen interpretiert. Im Unterschied dazu beschreibt die Mem-Theorie Kultur nicht als einen Effekt, der sich auf die Weitergabe von Gen-Replikatoren zurückführen lässt (wie in den beiden oben genannten Theorien), sondern mit der Beschreibung der Weitergabe kultureller „Meme“ als eine Evolution eigenen Typs. Was allerdings mit einem Mem gemeint ist, wird von Vertretern dieser Theorie sehr ungenau und zum Teil auch widersprüchlich ausgeführt: Redeweisen, Ideen, Glauben, Überzeugungen, Gedanken, Moden, Handlungsschemata etc. (vgl. Dawkins 1996, S. 304ff.; Blackmore 2000). Unabhängig davon, dass die metaphorische Fassung der Begriffe aus geisteswissenschaftlicher Sicht einer kritischen Analyse wert wäre, wird diese Theorie aus soziobiologischer Perspektive kritisiert aufgrund der mit ihr vertretenen Grundannahme, Meme als Replikatoren zu beschreiben. Unklar bliebe in diesem Kontext deren Repro-
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duktionsmechanismus (vgl. Voland 2002; Spektrum der Wissenschaft 2000). Bemerkenswert in dem hier diskutierten Kontext ist die Tatsache, dass in dieser – durchaus noch undifferenzierten – Kulturtheorie der Versuch unternommen wird, kulturelle Phänomene unabhängig von den Überlebensinteressen von Menschen zu beschreiben – der bisher zwischen Geistes- und Naturwissenschaften ausgetragene Dissens über die angemessene Beschreibung von Kultur ist nun offensichtlich auch innerhalb der Biowissenschaften angekommen. Bemerkenswert ist, dass unlängst eine elaborierte Evolutionäre Pädagogik vorgelegt wurde, die sich auch auf die Unterscheidung von Genen und Memen bezieht (vgl. Treml 2004a).
3. Das Verhältnis von biologischen und sozialen Systemen aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive 3.1 Das Medium von Erziehung Erziehung ist ein Teil des sozialen Systems Gesellschaft. Ohne Gesellschaft ist Erziehung in Schulsystemen nicht denkbar – und es ist kein Zufall, dass das Erziehungssystem parallel zur Ausweitung von Familienstrukturen in gesellschaftliche Formen entsteht. Das Erziehungssystem unterscheidet sich allerdings von anderen gesellschaftlichen Systemen u. a. dadurch, dass dessen Medium nicht außerhalb des Menschen liegt. Luhmann machte den Vorschlag, von der „Formung des Lebenslaufes zu sprechen“13; Jochen Kade hatte 1997 vorgeschlagen, dass der Code des Erziehungssystems „Vermittelbar/nicht-vermittelbar“ lauten könnte14. Beide Vorschläge unterscheiden sich in den unterstellten Freiheitsgraden gegenüber dem Medium-Konzept im Wirtschaftssystems (Geld), im Rechtssystems (Gesetz) oder im politischen System (Macht). Menschen sind nicht nur an Erziehung beteiligt, sondern kommen in diesem Prozess auch als das Medium vor. Damit entsteht ein Problem: „Die Beschreibung des Kindes als unentbehrliches Umweltsystem der Erziehung aus der Perspektive der gegenseitigen psychischen und sozialen Entwicklungsdynamik müsste [...] eine der Aufgaben der Erziehungswissenschaft“ sein (Heyting 1996, S. 208). Aus soziologischer Perspektive liegt es allerdings nahe, wenn es um die Beschreibung des Erziehungsprozesses geht, diese individuelle Freiheit zu vernachlässigen und über die Or13 Es könnte sein, dass „der Erziehung ein anderes Medium zugrunde liegt als der Wissenschaft und daß die festen Kopplungen, die sie anstrebt, nicht im technisch anwendbaren Wissen liegen, sondern in den Formen der Lebensläufe, an denen sie mitwirkt“ (Luhmann 1997b, S. 29). 14 „,Vermittlung‘ bezeichnet das gesellschaftliche Problem, das der Entwicklung des pädagogischen zugrunde liegt und zu dessen Lösung sie beitragen soll, ja, dessen Lösung von ihr abhängen soll, und zwar der Vermittlung von gesellschaftlichen Teilbereichen ebenso wie von Individuen und Gesellschaft“ (Kade 1997, S. 35).
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ganisation von Kommunikationsofferten nachzudenken. Nur dann ist Erziehung in gesellschaftlicher Perspektive überhaupt praktisch organisierbar und theoretisch denkbar. Da die individuelle Freiheit jedes einzelnen Menschen keinen kausalen input-output-Zusammenhang zu beschreiben ermöglicht, sollte in Konsequenz der Versuch einer input-output-Reflexion unterlassen und von der Beschreibung des Kindes Abschied genommen werden, da sich aus diesen Überlegungen keine relevanten Perspektiven für erzieherisches Handeln ergeben würden (so beispielsweise die Argumentation von Heyting 1996). Hier ist anzumerken, dass eine solche Perspektive nicht nur dem alltäglichen Handeln widerspricht (denn eine ungefähre Vorstellung erwartbarer Reaktionen des Gegenübers muss – quasi auch als fiktionale Annahme unterstellt werden, um Handlungsfähigkeit zu ermöglichen), sondern auch theoretisch unbefriedigend ist. Schließlich besteht ein, wenn auch zugegebener Maßen nicht kausaler Zusammenhang zwischen den (unterstellten) Lernmöglichkeiten des Gegenübers und dessen Verhalten bzw. dessen Verhalten und den organisierten Lernangeboten. Die Einschätzung der Bedingungen der Möglichkeit für Lernprozesse ist für die Organisation von Lernangeboten von Bedeutung. Es ist eine theoretische und eine empirische Frage, ob man diese Bedingungen der Möglichkeiten für Lernprozesse rein als individuell undurchschaubar (jedem Menschen unterschiedlich inhärente Möglichkeit) oder als gewissen Gesetzmäßigkeiten unterliegend, und damit wissenschaftlich reflektierbar, interpretiert. Aus Perspektive der Biowissenschaften (und der Psychologie), muss aus erkenntnistheoretischen wie auch aus empirischen Gründen eine gewisse Regelhaftigkeit der Bedingungen der Möglichkeiten von Lernen unterstellt werden. Erkenntnistheoretisch ergibt sich diese Regelhaftigkeit aus der Erklärung des Lebens aus darwinischer Grundlage; empirisch lässt sie sich an vielen Stellen nachweisen, zum Beispiel bei der Regelhaftigkeit des kindlichen Spracherwerbs (vgl. Pinker 1996, 1998), in der Entwicklung des Zahlbegriffs (Dehaene 1999) (um nur eine kleine Auswahl zu nennen; vgl. für die Erziehungswissenschaft im Überblick Scheunpflug 2003; für die Schulkindheit Scheunpflug 2004b). Allerdings ist dieses Verhalten nicht vorhersehbar – und von daher für pädagogisches Handeln nicht leitend. Der Blick auf naturwissenschaftliche Angebote ermöglicht von daher nicht (s. u.) Rezepte für pädagogisches Handeln zu formulieren. Deshalb aber diese Theorien nicht zu rezipieren, wäre unbefriedigend. Damit würde die Möglichkeit vertan, die jedem pädagogischen Handeln zugrunde liegenden Alltagstheorien einer wissenschaftlichen Reflexion zu unterziehen.
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3.2 Unerfüllbare Erwartungen an die Biowissenschaften Freilich entstehen mit der Rezeption der Biowissenschaften wiederum erneut alte Theorieprobleme der Erziehungswissenschaft: (1) Von großer Bedeutung erscheint mir, dass sich die Technologierwartungen von Lehrerinnen und Lehrern in der Rezeption biowissenschaftlicher Erkenntnisse nicht erfüllen werden (vgl. Becker 2005). Manche Biologen schüren diese Erwartungen unseriös, indem sie aus der Darstellung biologischer Erkenntnisse sofortige Handlungsanweisung mit Garantieerklärung ableiten. Aber auch für die Rezeption der Biowissenschaft wird das grundsätzlich bestehende, von Niklas Luhmann so treffend beschriebene, Technologiedefizit nicht ausgehebelt. Die Biowissenschaft beobachtet Menschen nicht als Trivial-Maschinen und kann von daher keine Rezepte für den Umgang mit konkreten Kindern eröffnen; vielmehr bietet sie Theorieangebote, die Muster von Verhaltensweisen und Wahrscheinlichkeitskorridore für Verhalten in großen Gruppen identifizieren. Insofern werden nach Rezepten suchende pädagogische Praktiker ebenso wie einfache Muster liebende Wissenschaftler von diesem Angebot genauso enttäuscht werden, wie von vielen anderen Theorieimporten zuvor. Diese Enttäuschung macht die Biowissenschaft für die Erziehungswissenschaft aber nicht wertlos, im Gegenteil: Biowissenschaftliche Forschung kann die Erkenntnisse, die der Erziehungswissenschaft bereits aus der Psychologie zur Lerntheorie vorliegen, um wichtige Erkenntnisse (zum Beispiel zur Geschlechterforschung, Kooperation, Lernen etc.) erweitern und Aussagen über Wahrscheinlichkeitskorridore menschlichen Verhaltens machen. Damit wird vor allem die erziehungswissenschaftliche Theoriebildung (und damit indirekt auch die Professionalisierung der Praxis) erheblich angeregt. Das alte Theorieproblem, den Status von Forschungsergebnissen im Hinblick auf die Erwartungen und den Druck der Praxis angemessen zu beschreiben, bleibt also unverändert bestehen (und in diesem Sinne gilt dann auch die von Frieda Heyting geäußerte negative Einschätzung der Relevanz von Daten über das Kind; vgl. Anmerkung 5). (2) Biowissenschaftliche Daten ermöglichen einen Zugang zu den Bedingungen der Entstehung von Kultur und zu manchen kulturellen Phänomenen; damit aber eine postmoderne industrielle Gesellschaft hinreichend beschreiben zu wollen, wäre eine Verkürzung der Zusammenhänge – auch in schulischen Kontexten. So lässt sich der „Biogenetische Imperativ“ des Eltern-Investments mit seinen Bedeutungen für den Bildungserfolg vermutlich aufklären; aber nicht die Bedeutung der Organisation von Schule. Biowissenschaftliche Theorien erreichen das Individuum und erklären (in steigendem Maße) kulturelle Präferenzen. Die Erkenntnis, dass soziale Systeme eben nicht durch die Menge der Individuen zu erklären sind, ist auch aus biowissenschaftlicher Perspektive als das Phänomen der „Emergenz“ bekannt und dürfte vor diesem Hintergrund selbstverständlich sein.
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3.3 Allgemeine Evolutionstheorie und das Programm einer Evolutionären Pädagogik In Ansätzen bearbeitet ist die Frage, wie biologische und soziale Systeme mit einer gemeinsamen Theoriesprache erziehungswissenschaftlich gefasst werden könnten und wie deren Zusammenwirken angemessen beschrieben werden kann. Dieter Lenzen schlägt aus einer systemtheoretischen Perspektive vor, zwischen „Lebenslauf“ und „autopoietische Humanontogenese“ zu differenzieren „als zwei Seiten eines Systemcodes [...], von denen die autopoietische Humanontogenese das bezeichnet, was sich neurophysiologisch einmalig selbst organisiert, [...] während Lebenslauf [...] wie der einmalige Organismus einem fremdselegierten Lebenslaufmuster folgt“ (Lenzen 1997, S. 244, Herv. i. O.). Dies halte ich für einen bedenkenswerten Vorschlag. Um die gleichzeitige Beschreibung biologischer und sozialer Systeme bemühen sich ebenfalls die Ansätze einer Evolutionären Pädagogik (vgl. Treml 2004b). Hierbei geht es nicht nur um die Rezeption biowissenschaftlicher Erkenntnisse aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive, sondern vielmehr um eine integrierende Theorieperspektive, die mit dem Paradigma der Evolution gleichermaßen die individuelle als auch die gesellschaftliche Entwicklung zu beschreiben vermag und dabei eine eigene erziehungswissenschaftliche Perspektive einnimmt. Die naturalistische Perspektive ist dabei gleichermaßen anregend wie die kulturalistische; die Auseinandersetzung zwischen beiden Forschungsrichtungen ist es ja gerade, die Varianz und Komplexität ermöglicht (vgl. ausführlich Treml 2004b, S. 59ff.). Die Evolutionstheorie ist als eine große „Metaerzählung“ offen für die Mannigfaltigkeit von unterschiedlichen Gegenstandsbereichen und dabei in der Ordnung des Denkens relativ einfach, indem sie mit wenigen Grundoperationen (Variation, Selektion und ggf. Stabilisierung) und Unterscheidungen (verschiedener Ebenen der Evolution) operiert. Eine Evolutionäre Erziehungswissenschaft ermöglicht, die Forschungsergebnisse der Biowissenschaften in den Blick zu nehmen und fruchtbar zu machen und gleichzeitig erziehungswissenschaftliche Fragestellungen theoretisch anspruchsvoll zu reflektieren:
> Sie ermöglicht, Erziehung als ein Produkt der Evolution zu beobachten – > > > > >
von ihrer Entstehung in der Phylogenese (im Brutpflegeverhalten) und ihren Veränderungen in der sozio-kulturellen Evolution. Eng damit verbunden ist die Evolution des Erziehungssystems. Sie ermöglicht, den erziehungswissenschaftlichen Theoriediskurs in seiner Entwicklung komplex darzustellen – vor allem im Hinblick auf die wirkungslosen Diskurse. Der Prozess der Erziehung lässt sich selbst als Prozess der Evolution begreifen. Das Produkt von Erziehung lässt sich evolutionär erklären. Die Vorraussetzungen von Erziehung werden ebenfalls beschreibbar.
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Ein solches Forschungsprogramm geht über den Diskurs mit der Biologie hinaus. Es hat nicht den Anspruch, die Relevanz und Berechtigung anderer erziehungswissenschaftlicher Zugänge in Frage zu stellen. Sehr wohl ist damit aber das ehrgeizige Projekt verbunden, eine Erziehungstheorie zu entwickeln, die die Entwicklung sozialer Systeme und psychischer bzw. biologischer Systeme im interdisziplinären Diskurs der Bezugswissenschaften der Erziehungswissenschaft gemeinsam zu denken vermag.
4. Ausblick „Wir werden bei einem pluralen Theoriewährungssystem bleiben, aber vielleicht lässt sich durch Mitführen von universalistischen Theorien dieses oder anderen Typs die Zirkulation im System beschleunigen“ (Luhmann 1987, S. 320) – so die Einschätzung Niklas Luhmanns zur Theoriedebatte in den Wissenschaften. Dass die Zirkulation gelungen ist, kann jetzt schon festgestellt werden: Kaum eine Theorie vermochte so viele Anregungen zu geben wie die Darwinische Evolutionstheorie in den Naturwissenschaften und die Systemtheorie in den Geisteswissenschaften. Es bleibt abzuwarten, wie sich das Projekt einer Allgemeinen Evolutionstheorie als Evolutionäre Pädagogik entwickelt und wie die Biowissenschaften das Erziehungssystem anzuregen vermögen. Daran zu arbeiten, dürfte sich aber in jedem Fall lohnen.
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Die Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Johannes Bellmann ist Professor für Allgemeine Pädagogik an der PH Freiburg PD Dr. Thomas Brüsemeister ist Privatdozent für Soziologie an der Fern-Universität Hagen PD Dr. Yvonne Ehrenspeck ist Privatdozentin und Oberassistentin am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie der Freien Universität Berlin und vertritt zur Zeit eine Professur für Allgemeine Pädagogik an der Carl-vonOssietzky-Universität Oldenburg PD Dr. Kai Uwe Hellmann ist Privatdozent für Soziologie und vertritt zur Zeit eine Professur für Kultursoziologie an der Universität Leipzig Prof. Dr. Jochen Kade ist Professor für Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Erwachsenenbildung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main Prof. Dr. Volker Kraft ist Professor für Pädagogik/Sozialpädagogik, Psychologie und Beratung an der Fachhochschule Neubrandenburg Prof. Dr. Harm Kuper ist Professor für Bildungsorganisation und Bildungsmanagement an der Bergischen-Universität-Wuppertal PD Dr. Thomas Kurtz ist Privatdozent für Soziologie an der Universität Bielefeld und vertritt zur Zeit eine Professur für Soziologie an der Universität Duisburg/Essen Prof. Dr. Dieter Lenzen ist Professor für Philosophie der Erziehung und Präsident der Freien Universität Berlin Prof. Dr. Jürgen Markowitz ist Professor für Soziologie an der Martin-LutherUniversität Halle Prof. Dr. Hans Merkens ist Professor für Empirische Erziehungswissenschaft an der Freien Universität Berlin Prof. Dr. Annette Scheunpflug ist Professorin für Allgemeine Pädagogik an der Universität Erlangen-Nürnberg PD Dr. Raf Vanderstraeten ist Privatdozent und vertritt zur Zeit eine Professur für Soziologie an der Universität Bielefeld