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Friederike Heinzel · Werner Thole · Peter Cloos Stefan Köngeter (Hrsg.) „Auf unsicherem Terrain“
Friederike Heinzel Werner Thole · Peter Cloos Stefan Köngeter (Hrsg.)
„Auf unsicherem Terrain“ Ethnographische Forschung im Kontext des Bildungs- und Sozialwesens
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1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Stefanie Laux VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15447-3
Inhaltsverzeichnis Einleitung Werner Thole/Friederike Heinzel/Peter Cloos/Stefan Köngeter »Auf unsicherem Terrain«. Ethnographische Forschung im Kontext des Bildungs- und Sozialwesens ............................................................................ 11
1. Ethnographie in der Erziehungswissenschaft Werner Thole Ethnographie des Pädagogischen. Geschichte, konzeptionelle Kontur und Validität einer erziehungswissenschaftlichen Ethnographie ........................................................................................................................ 17 Friederike Heinzel Ethnographische Untersuchung von Mikroprozessen in der Schule .................................... 39 Karin Bock/Katja Maischatz Ethnographie und Soziale Arbeit – Ein kritisches Plädoyer................................................. 49 Sven Steinacker Historische Ethnographie: Der Forscher im Staub der Aktendeckel .................................... 67
2. Zugänge zum Feld. Getting in, Getting on, Going native Karin Bock Feldnotizen über das Zustandekommen von Gesprächen mit Kindern oder: Die Ethnographin im Kinderbett............................................................. 85 Holger Schoneville An ein Zelt lässt sich nicht gut anklopfen. Der Feldzugang als soziale Aufführung und Kampf um Deutungen .............................................................. 95 Sabine Bollig »Ja, ist das jetzt mehr ein Praktikum oder was?« Feldzugang als situatives Management von Differenzen....................................................................... 107 Jörgen Schulze-Krüdener Jugendbrauchtum im Blick sozialpädagogischer Ethnographie. Eine Entdeckungsreise in eine wenig beachtete jugendkulturelle Szene ....................................................................................................... 117
Jörn Lamla Zugänge zur virtuellen Konsumwelt. Abgrenzungsprobleme und Revisionsstufen der Ethnographie ............................................................................... 127
3. Praktiken und Praxen der Ethnographie. Beobachten, Erzählen, Schreiben Jutta Wiesemann Ethnographie (machen) mit Kindern in der Schule: Die Beobachtung der Beobachter ....................................................................................... 143 Bina Elisabeth Mohn Dichtes Zeigen beginnt beim Drehen. Durch Kameraführung und Videoschnitt ethnographische Blicke auf Unterrichtssituationen und Bildungsprozesse entwerfen ................................................... 153 Marc Schulz Gefrorene Momente des Geschehens. Feldvignetten aus der Kinder- und Jugendarbeit ............................................................................................. 171 Peter Cloos Narrative Beobachtungsprotokolle. Konstruktion, Rekonstruktion und Verwendung ....................................................................................... 181 Ulrike Loch Zur Bedeutung ethnographischer Beobachtungen für die Biographieforschung .......................................................................................................... 193
4. Produktionsweisen von Wissen. Befremdung, Rekonstruktion, Verständigung Georg Breidenstein Einen neuen Blick auf schulischen Unterricht entwickeln: Strategien der Befremdung................................................................................................. 205 Bettina Hünersdorf Mikroanalytische Rekonstruktion von Protokollen der teilnehmenden Beobachtung ........................................................................................ 217 Stefan Köngeter Zwischen Rekonstruktion und Generalisierung – Methodologische Reflexionen zur Ethnographie ............................................................... 229 Argyro Panagiotopoulou Ethnographie und Bildungsqualität: Umgang mit Heterogenität und Förderung von Literalität im europäischen Vergleich ................................................. 243
Bettina Völter/Marion Küster Ethnographische Praxisprotokolle und Rollenspiel. Eine Methode zur Projektreflexion in der interkulturellen und sozialräumlich orientierten Gemeinwesenarbeit ................................................................ 255 Doris Bühler-Niederberger Die Beobachtung der EthnographInnen – kommentierende Notizen ................................. 267
Die AutorInnen................................................................................................................... 273
Einleitung
»Auf unsicherem Terrain« Ethnographische Forschung im Kontext des Bildungs- und Sozialwesens Werner Thole/Friederike Heinzel/Peter Cloos/Stefan Köngeter
Ethnographie als Forschungsstrategie im Kontext des Bildungs- und Sozialwesens bewegt sich »auf unsicherem Terrain«. Das ist erstens darüber zu verstehen, dass die neuere Ethnographie auf keine lange Tradition und damit nur auf relativ wenige Feldforschungserfahrungen verweisen kann. Zudem interessierte sich die Erziehungswissenschaft bislang nur partiell theoretisch für die methodologischen Besonderheiten, die sich der Ethnographie im Kontext des Bildungs- und Sozialwesens im Unterschied zu anderen Forschungsfeldern und -disziplinen stellen. Vor diesem Hintergrund ist es zwar irritierend, aber wenig überraschend, dass sich die forschungsbezogenen Diskussionen und Reflexionen im Kontext der Erziehungswissenschaft kaum für das methodische Profil ethnographischer Aufklärungen in den schul- und sozialpädagogischen Feldern interessieren und somit die Kompetenz dieser Forschungsmethodologie in Bezug auf die Identifizierung konkreter Interaktionsgeschehen und die spezifischer Handlungsmodalitäten würdigen. Die Aufsätze dieses Bandes stellen die ethnographische Methodologie und die sich daraus ergebenden methodisch-praktischen Herausforderungen vor und diskutieren diese. Dabei werden neben grundlegenden methodologischen Überlegungen insbesondere drei konstitutive Bausteine des ethnographischen Forschens fokussiert, die dem Ablauf des zirkulären Forschungsprozesses folgen: die Zugänge zum Feld, die Praktiken der Ethnographie und die Produktionsweisen von Wissen. Der Band versteht sich als ein »theoretisch gerahmter Baukasten« zur Markierung und Diskussion von methodischen Erfahrungen und Problemen ethnographischer Forschungsstrategien in der Pädagogik mit Kindern und Jugendlichen sowie als ein »Werkzeugkoffer« zur Konzeptualisierung und Realisierung von ethnographischen Forschungsprojekten. Betrachtet man das vorzufindende methodische und thematische Spektrum der qualitativ-rekonstruktiven Forschung zu zentralen pädagogischen Handlungsfeldern beispielsweise der Schulpädagogik, der Erwachsenenbildung oder der Sozialen Arbeit, dann drängt sich der Eindruck auf, dass sich die Forschung hier insgesamt wenig experimentierfreudig zeigt. In den Studien werden Methoden favorisiert, die nicht nur eine einfache, sichere Operationalisierung versprechen und auf die weitgehend ohne umfängliche theoretische Explikationen zurückgegriffen werden kann, sondern die auch erprobt und methodologisch ausbuchstabiert zu sein scheinen. Insgesamt überwiegen so die narrativ-biographischen Verfahren und leitfadenorientierten Erhebungsformen. Neben diesen Methoden finden sich erst jüngst auch vermehrt Forschungsarbeiten mit Bezugnahme auf die Objektive Hermeneutik und die Dokumentarische Methode. Dieses »Quartett« des erziehungswissenschaftlichen Forschungsrepertoires wird nur selten ergänzt durch ethnographische Herangehensweisen, in denen mehrere so genannte »Erhebungsmethoden« Anwendung finden und unterschiedliche methodische Zugänge und deren Ergebnisse trianguliert werden. Zudem verwundert
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auch, dass sich schul- oder sozialpädagogisch kontextualisierte Forschungen selbst selten auf das konkrete berufliche Interaktionsgeschehen in den Feldern der jeweiligen Praxen einlassen. Die Scheu vor dem eigenen Feld findet wahrscheinlich in der Unsicherheit ein Motiv, die sich aus den offenen methodischen Fragen einer Ethnographie im Kontext der Pädagogik ergeben. Während die Ethnographie als »Befremdung der eigenen Kultur« mittlerweile unbestritten einen wichtigen Platz in der Forschungslandschaft der Soziologie einnimmt, beispielsweise als Jugendkulturforschung, und auch im Rahmen der Schulforschung einige an neuere Studien mit ethnographischem Zugang vorliegen, sind andere erziehungswissenschaftliche und hier insbesondere sozialpädagogische ethnographische Studien in den zurückliegenden zwanzig Jahren eher selten. Mit anderen Worten: Die Feldforschungserfahrung der »Pädagogik« scheint bislang eher gering. Insbesondere auf fünf Ebenen scheint Bedarf zu bestehen, bestehende Desiderate aufzuarbeiten: Erstens wurden die Möglichkeiten, Chancen und Grenzen einer ethnographischen Forschung im Kontext der Pädagogik, auch und insbesondere in der Schul- und Sozialpädagogik, bislang nur wenig erörtert. Ethnographie wurde und wird gemacht, ihre besondere Qualität und Kompetenz in Bezug auf die Entzifferung des Pädagogischen jedoch erst allmählich stärker herausgestellt und benannt. Zweitens wurde bislang der Frage kaum nachgegangen, ob und wenn welche Besonderheiten und spezifischen Probleme sich im Gegensatz zu anderen Disziplinen im Kontext einer erziehungswissenschaftlich orientierten Ethnographie ergeben. Stellen sich beispielsweise für eine sozialpädagogische Ethnographie andere Fragen und Probleme als für eine ethnographische Schul-, Jugend- oder Polizeiforschung? Drittens ist zu beobachten, dass – im Kontrast zu anderen Forschungstraditionen, wie beispielsweise der Biographieforschung – insbesondere im Rahmen von Schul- und Sozialpädagogik sich erst in letzter Zeit ein kontinuierlicher Diskussionszusammenhang zur methodischen Konsolidierung der Ethnographie herauszubilden scheint. Viertens ist wahrzunehmen, dass in vielen Forschungsberichten und grundsätzlichen Konzeptionalisierungen die konkreten methodischen Probleme kaum diskutiert werden, die sich in den einzelnen Phasen der Forschungsarbeit ergeben. Und letztendlich ist fünftens zu beobachten, dass im angelsächsischen Sprachraum die Ethnographie als Forschungsmethode zuweilen mit qualitativer Forschung gleichgesetzt wird – auch weil hier unter anderem die Biographieforschung weniger verbreitet ist. Ethnographie wird hier methodologisch und methodisch viel breiter diskutiert. In den Beiträgen dieses Bandes werden die über diese Aspekte angesprochenen Desiderate und Fragestellungen der Ethnographie aufgegriffen und diskutiert. Illustriert wird so die bislang noch viel zu gering geschätzte und unterbewertete Kompetenz der Ethnographie, soziale Prozesse und Dynamiken, Inszenierungen und Symbolisierungen, Deutungen und soziale Praktiken in institutionalisierten pädagogischen Arbeitsbereichen und Handlungsfeldern zu dokumentieren und zu entschlüsseln. In der Sprache der empirischen Sozial- und Bildungsforschung gelangen über ausformulierte ethnographische Forschungsperspektiven die Prozessqualitäten – in der Sprache der neueren Ethnographie: die Performativität – pädagogischer Szenarien und Projekte in den Blick methodisch ausgewiesener und nachvollziehbarer empirischer Bestandsaufnahmen und Evaluationen. Die spezifischen Effekte und Wirkungen von Bildungs- und Lernsituationen – also die Gegenstände der
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gegenwärtigen Lern- und Lehrforschung – werden von Dispositiven, Strukturen und Traditionen, Praktiken und Praxen, Diskursen und Handlungsformen gesteuert und gerahmt und können insbesondere über ethnographische Forschungsstrategien erschlossen werden. Ethnographische Zugänge, so die These, die diesen Band durchzieht, ermöglichen in besonderer Weise, Modulationen eines »guten« Unterrichts, einer »guten« sozial- oder erwachsenenpädagogischen Praxis sowie deren Wirkungen zu identifizieren. In dem Band werden so die über die Ethnographie der empirischen Bildungsforschung zur Verfügung gestellten erweiterten Erkenntnismöglichkeiten vorgestellt und das Programm der empirischen Bildungs- und Sozialforschung mit einer Forschungsmethodologie konfrontiert, die das »Wie« gelungener pädagogischer Praxis zu erklären sucht. Das pädagogische Terrain wird dadurch zwar keineswegs »sicherer« – mit Hilfe einer ethnographischen Forschungshaltung und -praxis ergeben sich aber neue Möglichkeiten die pädagogischen Praktiken, ihre Prozessualität und ihre Kontextualität, auszuloten und dadurch neue Handlungsspielräume zu eröffnen. Zu danken ist hier zuerst den AutorInnen, die zum Teil übergebührend lange auf die Publikation ihres Beitrages warten mussten. Dank auch allen, die einzelne Beiträge kritisch kommentierten und so dazu beitrugen, die Qualität der Aufsätze und somit des Bandes insgesamt zu verbessern. Ebenfalls Dank schulden wir denjenigen, die an der organisatorischen und verwaltungstechnischen Abwicklung des Projektes sich beteiligten, insbesondere Bettina Hegemann, die sich engagiert an der Umsetzung der Manuskripte in eine drucktaugliche Vorlage beteiligte sowie Ilka Hutschenreuter und Uta Marini für die Endkorrektur. Nicht zuletzt danken wir der Hans Böckler Stiftung, und hier insbesondere Werner Fiedler und Uwe Dieter Steppuhn, die uns auf unbürokratische Weise mittels eines finanziellen Zuschusses die Durchführung einer Tagung ermöglichten, auf die die Mehrzahl der in diesem Band publizierten Beiträge zurückgehen. Und wieder einmal gilt unser Dank Stefanie Laux, die die Veröffentlichung des Buches im VS Verlag ermöglichte. Wir hoffen, dass dieser Band die methodische Diskussion über die Ethnographie als Forschungsstrategie weiter anzuregen vermag sowie nachhaltig dazu beiträgt, die Ethnographie als Forschungsrichtung in der Erziehungswissenschaft weiter qualitativ zu etablieren. Kassel und Hildesheim, im Juni 2009
1. Ethnographie in der Erziehungswissenschaft
Ethnographie des Pädagogischen Geschichte, konzeptionelle Kontur und Validität einer erziehungswissenschaftlichen Ethnographie Werner Thole
In der erziehungswissenschaftlichen Forschungslandschaft gewinnt die Ethnographie seit einiger Zeit an Anerkennung. Vor dem Hintergrund der Geschichte der pädagogischen Forschung könnte jedoch auch von einer Renaissance gesprochen werden. Denn entgegen der wiederholt vorgetragenen Annahme, dass die qualitativ-rekonstruktive Methodologie und die Ethnographie im deutschen Sprachraum bis zum Ende des 20. Jahrhunderts kaum eine relevante Rolle spielt (vgl. Zinnecker 2000; Hünersdorf 2008), wird in diesem Beitrag gezeigt, dass ethnographische Methoden in der Phase der Herausbildung der Erziehungswissenschaft und von wissenschaftlich breiter abgestützten pädagogischen Praxen eine, für den außerschulischen Bereich vielleicht sogar die Standardmethode bildet. (1.) Allerdings erfährt die Ethnographie in den Diskursen der erziehungswissenschaftlichen Frühphase nicht durchgehend Beachtung. Mit der Durchsetzung der geisteswissenschaftlichen Pädagogik etabliert sich erstens eine Idee von Erziehungswissenschaft, die sich nicht genuin forschungsbasiert konzipiert, und zweitens kommt qualitativ-rekonstruktiven Methoden im Zuge der Durchsetzung einer deduktiv angelegten, auf die statistische Auswertung von quantitativen Daten orientierten Forschung allgemein eine geringere Aufmerksamkeit zu. Die Randstellung der Ethnographie als Methode zur Erforschung des Pädagogischen, so die Argumentation in diesem Beitrag, trägt und trug mit dazu bei, dass die Erkenntnisse, die mittels weitgehend ethnographischer Verfahren den pädagogischen Reflexionen zur Verfügung gestellt werden können, in den theoretischen Reflexionen der Erziehungswissenschaft nur eine geringe Würdigung erfahren. (2.) Obwohl eine traditionelle Verbundenheit von ethnographischen Verfahren mit der Erziehungswissenschaft festzustellen ist, bestehen nach wie vor in den Diskursen der konventionellen, empirischen erziehungs-, bildungs- und sozialwissenschaftlichen Forschung Vorbehalte und Unsicherheiten gegenüber den ethnographischen Verfahren sowie den hierüber gewonnenen Befunden. Ignoriert bleibt, dass sich der ethnographische Blick in jüngster Zeit, angeregt und provoziert durch die gesellschaftlichen Umstrukturierungen im letzten Drittel des zurückliegenden Jahrhunderts, von der statischen Registrierung und dem nachvollziehenden Verstehen des Beobachteten hin zu der Identifizierung und Rekonstruktion der Prozesse der Herstellung von Wirklichkeit verschiebt. (3.) Abschließend ist die Kompetenz der Ethnographie als Forschungsmethodologie zur Aufklärung und Erhellung des Pädagogischen nochmals zu betonen und zu diskutieren (4.).
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Werner Thole »Beobachten« oder »Messen« ԟ Tradition der Feldforschung und Ethnographie in der Pädagogik
In Nachzeichnungen der sozial- und erziehungswissenschaftlichen Geschichte der Forschung wird die Entstehung einer allgemeinen empirischen Forschungskultur weitgehend mit der Herausbildung einer tatsachenbezogenen, auf die Erhebung von vermeintlich objektiven Daten ausgerichteten Methodik verbunden (vgl. Maus 1973; Bonß 1982; Drewek 2004). Die historisch genauere Betrachtung regt jedoch begründet dazu an, die Genese der neuzeitlichen empirischen Forschung im 19. Jahrhundert neu zu denken und die Entwicklung der empirischen Sozialforschung nicht reduziert auf die Etablierung eines quantitativtatsachenbezogenen Paradigmas in der Frühphase der Erziehungswissenschaft, Volkswirtschaft, Psychologie und der Soziologie zu reduzieren. Wird eine Rekonstruktion der empirischen Sozialforschung anhand früher Studien unternommen, dann ist sogar davon auszugehen, dass die qualitativ-deskriptive sich sogar vor der quantitativ-statistischen Wirklichkeitssicht herausbildet (vgl. Bonß 1982). Ein über quantitative Daten sich absicherndes und begründendes Forschungsparadigma etabliert sich in breiterer Form in den Sozial- und Volkswirtschaften erst um die Wende zum 20. Jahrhundert. Qualitative Methodendesigns hingegen suchten als monographische Erhebungsform schon vorher, soziale Realitäten zu beschreiben. Gegenüber den Verallgemeinerungs- und Instrumentalisierungsversuchen der quantitativ-experimentellen Empirie konzentrierte sich diese Perspektive schon früh auf das Verstehen von gesellschaftlichen Wirklichkeiten über die exemplarische Analyse von Einzelfällen mit dem Ziel, soziale Realitäten subjekt- und situationsspezifisch zu rekonstruieren. Doch nicht die totalitätsbezogene, sondern die tatsachenbezogene Wirklichkeitsgenerierung universalisierte sich im späten 19. Jahrhundert und wurde zum dominierenden Paradigma der sozialwissenschaftlichen Forschung spätestens ab dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Ihre Schrittfolge Begriffsbildung, Operationalisierung und Messung (vgl. Mayntz/Holm/Hübner 1972) entsprach in ihrer auf Systematik, Objektivität und instrumentelle Quantifizierung bedachten Methodik eher dem technizistisch-zweckrationalen Zeitgeist und dem Standard des neuen »normal science« als die diesen Prämissen entsagende, spurenorientierte Totalitätsempirie (vgl. Bonß 1982, S. 83). Im Gegenzug verliert zu dieser Zeit die monographische, also im Kern qualitativ ausgerichtete Forschungstradition an Bedeutung, geriet aber immerhin nicht gänzlich in Vergessenheit. Insbesondere abgesichert über Gustav v. Schmollers (1883) Kritik der instrumentellen, quantifizierenden Forschungsstrategien1 konnte sich die induktiv wie indizienorientierte, monographische Forschung mit ihrer prinzipiell experimentellen Ausrichtung zumindest in einem Nischenfeld behaupten und unter anderem über den »Verein für Socialpolitik« auch größere, volkswirtschaftliche Erhebungen institutionell realisieren. Dennoch existierten und forschten immer zwei Konzepte, das szientistische, statistische Programm als das offizielle und das spurensichernde als das inoffizielle. Obwohl niemals vollständig verschwunden, wird die Totalitätsempirie in den Volks- und Sozialwissenschaften dann erstmals wieder Ende der 1920er Jahre durch das Frankfurter Institut für Sozialforschung theoretisch exklusiver als sozialwissenschaftliche Forschungsmethode im 1
Gegen Versuche, die Statistik als dominante und einzig objektive Forschungsmethode zu präferieren, führte er an, dass es sich bei dieser Methode lediglich um eine Methode der »Messung von Größenverhältnissen (…) handelt, die über die Natur der Dinge nicht aussagt« (Schmoller 1901, S. 114).
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Kontext eines breiter angelegten empirischen Forschungsprogramms thematisiert. In Kritik der traditionellen Universitätsforschung betonte insbesondere Max Horkheimer den synoptischen, interdisziplinären Charakter von Sozialforschung und entwickelte eine Konzeption, die sich der Frage zuwendet, wie Wissen und gesellschaftliche Realität wieder zueinander finden können (vgl. Jay 1981). Gegenüber dem zahlenfixierten Forschungsparadigma wendet er ein, dass das Ziel der Entzauberung der Welt sich in dem quantifizierenden Programm reduziert auf die »statistischen Aufbereitung (…) über mehr oder minder zahlreiche einzelne Personen (…). Die Dinghaftigkeit der Methode, ihr eingeborenes Bestreben, Tatbestände festzunageln, wird auf ihre Gegenstände, eben die ermittelten subjektiven Tatbestände, übertragen, als ob dies Dinge an sich wären und nicht vielmehr verdinglicht. Die Methode droht sowohl ihre Sache zu fetischisieren wie selbst zum Fetisch zu entarten« (Horkheimer/Adorno 1962, S. 208 f.). Die sich in diesen Überlegungen kommunizierende Kritik an dem Methodenreservoir und den Deutungskompetenzen der klassischen, quantitativen Sozialforschung wird zum inhaltlichen Orientierungspol der Einwände gegen die tatsachenzentrierte Sozialforschung und zum Votum für eine auf qualitativen Daten basierende Totalitätsperspektive. In der kulturanthropologischen, pädagogischen und erziehungswissenschaftlichen sowie partiell auch der psychologischen Forschung setzt sich das auf Tatsachen, also auf quantitative Daten fokussierte Forschungskonzept erst später, in den Erziehungswissenschaften als dominantes erst mit der sogenannten empirisch-realistischen Wende in den 1960er Jahren auf breiter Front durch (vgl. Roth 1958, 1963). Offen strukturierte Befragungen und insbesondere Verfahren der teilnehmenden Beobachtung finden auch nach der Wende zum 20. Jahrhundert in der Pädagogik und in der Psychologie des Aufwachsens weiterhin nicht nur Zuspruch und Anwendung, sondern auch in theoretischen Erörterungen nachhaltige Fürsprache, auch wenn in den schulbezogenen Studien, ausgelöst über einen Paradigmenwechsel in der psychologischen Reifeforschung von einer beobachtenden hin zu einer differenziellen, auf quantifizierbare Daten setzenden Psychologie, jetzt auch statistische Erhebungen durchgeführt werden. Vieles spricht dafür, davon auszugehen, auch wenn eine detaillierte Aufarbeitung der Frühphase der pädagogischen Forschung noch aussteht, dass in den ersten Jahrzehnten der pädagogischen Forschung erstens beobachtende, feldund lebensweltbezogenen Methoden zusammen mit anderen qualitativ-rekonstruktiven Methoden wie Interviewverfahren, Spontanberichten, Tagebuch- und Aufsatzmethoden gegenüber rein statistischen Verfahren überwiegen und zweitens totalitätsbezogene Perspektiven, also nicht auf den schulpädagogischen, familialen, beruflichen oder freizeitorientierten Alltag von Kindern und Jugendlichen reduzierte Forschungsfragen die pädagogische Forschungskultur bestimmen.2 Unzählige kleinere Studien votieren ebenso für diese Sicht2
Und gleichzeitig findet sich immer wieder Unsicherheit gegenüber qualitativ-rekonstruktiven Verfahren formuliert. Johann Hinrich Wichern reflektiert dieses Unbehagen im Kontext seiner Lebensbewährungsstudien schon Mitte des 19. Jahrhunderts und führt aus, dass die Dokumentation des Erfolges von stationären, erzieherischen Unterbringungen in sogenannten Rettungshäusern »gewöhnlich in Zahlen erwartet« wird, »während es sich um ein Gebiet handelt, auf dem (…) die unmessbare und unzählbare Qualität gegenüber der ganz abstrakten, aber freilich greifbaren und zählbaren Quantität ihr gutes Recht zu behaupten hat«. Und, diese Annahme begründend, fügt er hinzu: »Wer nach den Resultaten einer Rettungsanstalt fragt, fragt nach sittlichen Größen, nach Gesinnung, nach verschiedener Intensität derselben; das sind aber Tatsachen, die im letzten Grund zu erkennen sein Menschenauge imstande ist, über deren Vorhandensein selbst unter denen, denen die Personen möglichst bekannt sind, die verschiedensten Ansichten verlauten (…). Als Bestes würde sich demnach ergeben, von aller Zahlenstatistik auf diesem Gebiete abzusehen. Und das ist wirklich die Ansicht, wel-
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weise wie programmatische Überlegungen zur Kontur von pädagogischer Forschung. So plädiert beispielsweise Theodor Fritzsch (1906, S. 947) in einer Skizze für eine Erweiterung und Fundierung der schulpädagogischen Beobachtungen in der »Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik«: »Die unzeitige Theoriesucht der Sterblichen ist eins der mächtigen Hindernisse, die den Fortgang der menschlichen Erkenntnis hemmen. Um der Pädagogik mehr Vollkommenheit zu verschaffen, muss sie auf Erfahrung gegründet werden. Dazu ist nötig die pädagogische Beobachtung«. Die auf den Philanthropismus des 18. Jahrhunderts zurückgehenden Hinweise umspannen ein forschungsorientiertes, wenn auch äußerst diffuses Beobachtungsfeld, das sogar ausdrücklich auch diejenigen, außerschulischen Sozialisationsfelder mit einschließt, die sich heute unter dem Begriff Sozialpädagogik versammeln. Bei T. Fritzsch wie auch in den programmatischen Ausführungen von Ernst Meumann zu dem von ihm 1912 mitbegründeten Hamburger »Institut für Jugendforschung« zeigen sich Konturen eines offenen, die Felder und Handlungsbereiche der Pädagogik umfassend einschließenden Forschungsprogramms. Dem Hamburger Jugendinstitut ging es dabei um mehr als nur um die Etablierung einer psychologisch unterlegten, soziologischen Jugendforschung. Es ging einerseits um die Initiierung von Untersuchungen zur »Entwicklung der Jugend selbst, sodann um das soziale Problem der Beziehungen der Jugendlichen zu den sozialen Verhältnissen, unter denen sie aufwachsen, und endlich um das Kulturproblem« sowie um die Frage, welche »Bedeutung eine rationelle Organisation der Jugendbildung für das geistige und wirtschaftliche Leben eines Volkes hat« (Meumann 1912, S. 3). Für entsprechende Erkundungen beanspruchte das Hamburger Institut, eine »wissenschaftliche Instanz« zu sein, die sich »vollkommen fernhält von aller Schulpolitik« und »die nichts erstrebt als systematische Erforschung des geistigen und sittlichen Lebens der Jugend und der Einflüsse, unter denen es tatsächlich steht« (Meumann 1912, S. 18). T. Fritzsches und E. Meumanns, der allerdings nicht nur für den Einsatz von beobachtenden, sondern auch und insbesondere von statistisch-quantifizierenden Verfahren votiert, Akzentuierungen zu Beginn des zurückliegenden Jahrhunderts stehen exemplarisch für das Projekt, die Pädagogik und Psychologie, aber auch die Philosophie und Theologie für qualitative, vornehmlich auf systematische Beobachtungen sich stützende empirische Beobachtungen der heranwachsenden Generationen zu motivieren. Die zeitnah und in den darauffolgenden zwei Jahrzehnten durchgeführten pädagogischen und entwicklungspsychologischen, volkskundlichen und anthropologischen Forschungen basierten vereinzelt zwar auch auf statistisch-deskriptiven Mess- und Beobachtungsformen, in einem nicht geringen Umfang jedoch auf nicht standardisierten Beobachtungen.3 Die tendenziell ethnographischen, auf Dokumente und Interviews, vornehmlich aber über Aufenthalte in den Untersuchungsfeldern abgesicherten Studien in den Anfangs-
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cher die meisten, die wissen, was für Aufgaben einem Rettungshause gestellt sind, beipflichten. Dagegen könnte es passender erscheinen, eine Realstatistik zu versuchen, welche in einer Reihe von Gesamtbildern die späteren Verhältnisse von entlassenen Zöglingen aufstellte. In solchen Bildern könnte dann freilich übergenügend dargetan werden, was für ein Reichtum von guten Früchten aus der Arbeit eines Rettungshauses im Verborgenen und Offenbaren herauswächst. (…) So tritt also trotz aller jener Einwendungen der Wunsch nach Zahlen immer aufs neue wieder in den Vordergrund. Soll deswegen dieser Anforderung genügt werden, so muss jenes tiefere Maß der Beurteilung nicht festgehalten, sondern muss ein Maß angenommen werden, das in Zahlen sich ausdrücken lässt.« (Wichern 1908, S. 238 f.). Die Erträge dieser Studien finden sich aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven gewürdigt, so etwa aus Sicht der Jugendforschung (vgl. u. a. Dudek 1990), aus Sicht der Schulforschung (vgl. u. a. Drewek 2004) oder aus Sicht der Sozialpädagogik (vgl. u. a. Böhnisch 1998; Wensierski 1997; Thole 1999).
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jahren der pädagogischen Forschung beziehen sich weniger auf Teilaspekte des Lebens von Kindern und Jugendlichen oder den Schulalltag, sondern auf die Gesamtheit der Lebensumstände und -wege der Heranwachsenden, den Alltag und die dort sichtbar werdenden Besonderheiten, also auf das Gesamtsetting des Untersuchungsfeldes und der hier agierenden Personen. Wohl eine der ersten ethnographischen Studien dieses Genres legt 1912 der Hamburger Theologe Clemens Schultz unter dem Titel »Psychologische Studien über die Jugend zwischen 14 und 25« vor, in der er Jugendliche der Hamburger Hafenviertel charakterisiert und für sie den Begriff der »Halbstarken« kreiert. Die habituelle, subkulturelle Stilbildung der Halbstarken wirkt ԟ damals wie heute ԟ provozierend. Auch wenn bei C. Schultz’ Studie weniger ein forschungs- als ein handlungsbezogenes pädagogisches Interesse anklingt, die besondere Expressivität der Arbeiterjugendkultur und ihre praktische Kritik an den gesellschaftlichen Normalitäts- und Moralvorstellungen provoziert ihn, sucht er doch in seinem Bericht, die »kleine Lebenswelt« und die renitenten Alltagsfluchten der Jugendlichen dicht und damit nachvollziehbar zu beschreiben, wenn auch nicht frei von moralischen Wertungen und pädagogischen Handlungsaufforderungen: »Unsere Jugend ist es wert, dass man sie lieb hat, für sie arbeitet, für sie lebt. Die Jugend gerade aus unserem Volk ist begeisterungsfähig, ist noch edel und rein in ihrem Denken und Fühlen. Die Klagen über die Verrohung der deutschen Jugend verbitte ich mir; ich kenne die Jugend besser als tausend andere. Zahlen beweisen nichts, das Leben und die Erfahrungen beweisen alles. Lachend stehe ich in St. Pauli ԟ dem mit Unrecht verrufenen St. Pauli ԟ mitten in den schwierigsten Verhältnissen, mitten in einer Volks- und Arbeitergemeinde seit 12 Jahren im innigsten Verkehr mit der Jugend, täglich, stündlich, und habe die besten, wundervollsten Erfahrungen gemacht. (...) Wer an der Jugend arbeitet, weil er sich eingebildet hat, dass die unglückselige Statistik ihm bewiesen hat, dass die Jugend verroht ist, der ist unfähig und ungeschickt dazu« (Schultz 1908, S. 71). Zehn Jahre später legt Georg Dehn, bekannt durch seine Studie »Proletarische Jugend« (Dehn 1929), eine Untersuchung unter dem von C. Schultz übernommenen Titel »Die Halbstarken« (Dehn 1918) vor. Beide Studien legen zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowohl einen wesentlichen Grundstein für die qualitative, auf ethnographischen Verfahren basierende Kinder- und Jugendforschung wie auch für die Ethnographie des Pädagogischen. C. Schultz und G. Dehn realisieren ihre Beobachtungsstudien wie schon Jahrzehnte zuvor beispielsweise Johann Heinrich Pestalozzi (1949), Johann Hinrich Wichern (1988) oder auch Jean-Jacques Rousseau (1971) in seinem Werk »Emile oder über die Erziehung« methodisch naiv, zumindest ohne explizite Vorstellung und Diskussion der herangezogenen Methoden. Diese im weitesten Sinne einfache, intuitive Variante der Ethnographie überwinden dann Jugendstudien und pädagogische Untersuchungen ab Mitte der zwanziger Jahre des zurückliegenden Jahrhunderts. In welcher Form und Tiefe methodische Fragen in den Studien erörtert werden, illustriert beispielhaft die Studie »Die jugendliche Fabrikarbeiterin« von Hildegard Jüngst (1928). H. Jüngst versucht in ihrer Arbeit, die »Wesensformung« von fabrikarbeitenden Mädchen, ihre physische Konstitution, ihre psychischen Belastungen und Interessen in der Freizeit zu eruieren, um zu bestimmen, mit welchen Bedürfnissen die Pädagogik sich auseinanderzusetzen und unter welchen Bedingungen die Pädagogik ihr Bildungswerk (vgl. ebd. 1928, S. 10) vorzunehmen hat. Ausgehend von einer »Auseinandersetzung mit den bisherigen jugendpsychologischen Forschungsmethoden« diskutiert sie das Problem, eine der Forschungsintention angemessene Methode zu finden
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auf der Basis einer umfangreichen Literaturrecherche unter anderem mit der Erkenntnis, dass sie hier mit einer Schwierigkeit konfrontiert ist, der neuere Arbeiten jener Zeit mit vergleichbarer Brisanz sich auch schon stellten. Jugendpsychologische Forschungen, so wird herausgestellt, konzentrieren sich auf eine eng begrenzte Population, sie »beschränken sich in der Hauptsache auf die Darstellung des Seelenlebens Jugendlicher der gesellschaftlichen Oberschicht« (Jüngst 1928, S. 10). Die Erfahrungen, Wünsche und allgemeinen Lebensgewohnheiten der weiblichen Jugendlichen sind, so führt sie aus, mit der Methode der »verstehenden Psychologie«, wie sie Eduard Spranger kurz zuvor entwickelte, nicht zu erkunden und zu verstehen, denn »wo ein Verstehen einsetzen soll, muss man zuvor wissen, was man verstehen soll« (Jüngst 1928, S. 16). Für wenig tauglich erachtet sie auch die ebenfalls kurz zuvor von Charlotte Bühler (1932) vorgestellte Tagebuchmethode, denn »das Fabrikmädchen schreibt kein Tagebuch im Sinne spontaner schriftlicher Äußerung«. Und auch die Dreiwortmethode erscheint ihr wie die Fragebogenmethode wenig geeignet, da »in einem so weitmaschigen Netz, wie es ein Fragebogen nur vorstellen kann, psychische Feinheiten« nicht erfasst werden können. Die methodischen Reflexionen motivieren sie, ein Forschungsdesign zu entwerfen, das der aktiv-teilnehmenden Beobachtung ähnlich ist und das sie als ein »Eingehen in den Lebenskreis der zu Erfassenden« (Jüngst 1928, S. 28) beschreibt. Das »Eintauchen« in die Welt der jugendlichen Fabrikarbeiterinnen wird ergänzt durch eine kleine Fragebogenerhebung und durch »Expertengespräche« mit »zuständigen, interessierten Frauen aus der Fürsorge, der Berufstätigkeit, der Fabrikpflege und Arbeiterinnentätigkeit« (Jüngst 1928, S. 30). Selbstreflexiv diskutiert sie auch die möglichen Quellen, die die Validität der Erhebung und Deutung beeinflussen, deutet hin auf das Muster der Übertragung und Gegenübertragung, auf Skrupel, die das Eintauchen in intime Lebensweltbereiche verhindern und auf Fehlerquellen, die ihr methodisch produziert erscheinen. Im Kern wird hier das methodische Forschungskonzept der Ethnographie mit Blick auf ein konkretes Forschungsfeld und eine spezifische Adressatinnengruppe durchdacht und begründet. Wie sehr sich diese frühe Variante einer qualitativ-rekonstruktiven, pädagogischen Forschung selbstvergewissernd gegenüber der erklärend-quantifizierenden Forschung reflektieren und disziplinär positionieren muss, illustriert plastisch der Essener GewerbeOberlehrer Phillip Behler in seiner Dissertation »Psychologie eines Berufsschülers«. Unter der Überschrift »Methoden der Jugendforschung« führt er in seinem einleitenden Kapitel aus: »Allgemein sind im Hinblick auf das Ziel zwei Grundrichtungen der Psychologie zu unterscheiden. Eine sucht den Ursache-Wirkungszusammenhang der psychischen Phänomene zu analysieren und zu erklären, folgt hierbei also der naturwissenschaftlichen Methode; die andere kehrt den teleologischen Charakter ihrer Aufgabe hervor und strebt danach, durch intuitives Einfühlen die psychischen Sachverhalte ›sinngebend‹ zu deuten. Man scheidet sie kurz in erklärende und verstehende Psychologie. Wenn auch die erklärende Psychologie vornehmlich auf die Zeit der frühen Kindheit (…) und die geisteswissenschaftlich-verstehende Psychologie (…) in der Jugend- und Erwachsenenpsychologie ihr Feld findet, so wäre doch eine scharfe Abgrenzung nach ihrem Forschungsbereich verfehlt. Vielmehr ist es notwendig, dass beide Methoden sich ergänzen« (Behler 1928, S. 8). P. Behler begründet im Weiteren, warum eine Erforschung von Berufsschülern auf ein verstehendes Paradigma zurückzugreifen und die angewandte Methodik auch Tagebücher, Selbstdarstellungen, Briefe und Gedichte in die Auswertung mit einzubeziehen hat. Weil
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diese Materialien aber von jugendlichen Berufsschülern nur ungern zur Reflexion und Selbstdarstellung herangezogen werden, wird im Kern jedoch die Methode der Beobachtung favorisiert und das Beobachtungsfeld auch über den schulischen und berufsbezogenen Bereich hinaus auf alle Lebensbereiche ausgedehnt, um die »psychischen Phänomene aus der Totalität des Jugendlichen« heraus deuten zu können (Behler 1928, S. 14). Wird der disziplinären Selbstverortung vertraut, konzipiert P. Behler eine psychologische Studie über Berufsschüler. Dem Zuschnitt nach realisiert er jedoch eine ethnographische Studie über Jugendliche aus dem proletarischen Milieu der 1920er Jahre unter explizitem Einschluss ihrer schulischen und außerschulischen Erfahrungen in pädagogischen Institutionen, »indem die Experimentallektion nicht nur in den Dienst der psychologischen Forschung gestellt wird, sondern das unterrichtlich-erzieherische Ergebnis in jedem Falle zielsetzend bleibt«. Der pädagogische Raum der Schule wird hier zum zentralen Ort der Ethnographie. Die »Ergebnisse« der Beobachtungen in den Klassenräumen und die Äußerungen der Schüler werden protokolliert, ohne jedoch diese »als absolut Gegebenes zu werten, sondern an der Ganzheit des Jugendlichen zu kontrollieren« (Behler 1928, S. 17). Weitere Studien, wie etwa die des Ruhrgebietspädagogen Heinrich Kautz (vgl. Kautz 1926) über Jugendliche zwischen Familie, Schule und Freizeitleben im »Schatten der Schlote«,4 die auf Selbstzeugnissen, statistischen Erhebungen und Beobachtungen basierende, regionalbezogene Studie über 14- bis 18-jährige Jugendliche aus dem Arbeitermilieu von Claus Stockhaus (1926) oder die sich nach den Alltagsorientierungen und Arbeitserlebnissen erkundigende Studie von Rudolf Regnet (1931), der in seinen methodologischen Vorüberlegungen vorsichtig gegen eine tatsachenbezogene, »generalisierende« und für eine »Neuorientierung« der Forschung argumentiert, greifen gleichfalls auf ethnographische Verfahren zurück und sondieren ihre Erkenntnisse hinsichtlich möglicher Konsequenzen für das pädagogische Projekt. Explizit auf ein ethnographisches Design zielend und dieses methodisch vorstellend erforschten Martha und Hans Muchow (1935) den Bewegungsraum von Großstadtkindern und die ihnen darüber gegebenen Möglichkeiten, sich die Welt zu erschließen, indem sie die »Objekte« ihres Forschungsanliegens zu agierenden »Subjekten« der Forschung machen und die Kinder zu aktiven Feldforschern ihrer eigenen Sache werden. Weitere kleinere ethnographische Studien thematisieren Fragen der pädagogischen Forschung eher am Rande, aber zum Verstehen jugendlicher Bewegungen, Artikulationen und ihres Verstehens der Gesellschaft durch die pädagogischen Milieus präsentieren sie entscheidendes Wissen. Diese Studien widmen sich insbesondere den in Rummel-, Wander-, Straßen-, Park- und Tanz-Cliquen organisierten und als »proletarische[r] Hochstapler«, »Industrieritter«, »Rosenkavaliere«, »Junge Industriefalter« oder »Halbstarke[r]« titulierten Jugendlichen der Industrieregionen und Großstädte (vgl. u. a. Staeven-Ordemann 1933; Fournier 1931; Erhardt 1930). Wiederum andere Studien beobachteten die Jugendlichen aus einer deutlich akzentuierten sozialpädagogischen Perspektive, interessierten sich für die jugendlichen Lebenswelten wie auch für sozialpädagogische Aufgaben- und Fragestellungen. Betont findet sich diese doppelte Anlage unter anderem in der Studie »Jungen in Not«, in der Peter Martin Lampel seine Beobachtungen als Hospitant in einem Fürsorge4
Die Schule und auch »die leuchtende Sonne am pädagogischen Himmel, die Sozialpädagogik«, sah er gefordert, Initiative zu ergreifen, »wenn die Lehrerschaft in der sozialen Betätigung für das Volk noch weiterhin versagt und sich nicht in letzter Stunde besinnt, wird man staatlicherseits schließlich zum Ersatzmittel der Schulpflegerin greifen müssen« (vgl. Kautz 1926, S. 263-295).
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heim literarisch aufarbeitet und über autobiographische Berichte von Jugendlichen belegt (Lampel 1929), in der kleinen Studie über jugendliche Trebegänger von Konrad Theiß (1932) und in der romanhaften Beschreibung »Jugend auf der Landstraße« von Ernst Haffner (1932). Und auch bei der von Carl Mennicke (1930), Direktor des Sozialpolitischen Seminars der Deutschen Hochschule für Politik, angeregten, auf teilnehmenden Erfahrungen basierenden sozialpädagogischen Kindheits- und Jugendstudie »Jungen in Not« dokumentiert sich die pädagogische Absicht der Ethnographien spätestens dort, wo er sie zitiert, um den weiteren Ausbau öffentlicher pädagogischer Institutionen ԟ vom Kindergarten über Einrichtungen der Jugendfürsorge und Jugendpflege bis zum Volksbildungswesen ԟ einzuklagen und über die Studien zudem eine stärkere Vernetzung dieses außerschulischen Feldes mit dem öffentlichen Schulwesen reklamiert. 2
Zum methodischen Programm, disziplinären Profil und Ertrag der frühen pädagogischen Ethnographie
Obwohl im Kern beobachtenden Verfahren vertrauend, zeichnet die frühen ethnographischen Studien eine methodische Vielfalt und Kreativität aus, die darauf schließen lässt, dass die gewählten Forschungszugänge über die jeweils anvisierten Forschungsfragen operationalisiert wurden und nicht umgekehrt. Diese methodologisch gesehen positive Feststellung ist zwar fruchtbar vor dem Hintergrund, dass gegenwärtig immer noch Forschungsfragen über ein zuvor gewähltes methodisches Verfahren operationalisiert werden und nicht umgekehrt, korrespondiert jedoch auch mit zwei irritierenden Befunden. Durchgängig dokumentieren die hier zitierten Studien erstens eine zaghafte bis deutliche Distanz zu dem Paradigma einer tatsachenbezogenen, administrativ und wahrscheinlichkeitstheoretisch ausgerichteten, auf statistischen Erhebungen basierenden Forschung. Die sich in den Studien mehr oder weniger ausführlich findenden Hinweise zu den methodischen Verfahren der quantifizierenden Tatsachenforschung lassen darauf schließen, dass statistische Methoden auch im pädagogischen Diskurs als »Standardkonzeption« programmatisch eine hohe Anerkennung genossen. So sehr sich auf der Diskursebene das empirisch-quantitative Paradigma anscheinend eine führende Definitionsmacht auch erobert haben mochte, möglicherweise auch, weil es im Zuge der Etablierung der experimentellen Psychologie an Bedeutung gewann; auf der Ebene der Forschungspraxis dominieren nicht standardisierte und in einem nicht geringen Maße sogar beobachtende Methoden. Auffallend ist zweitens, dass eine nicht geringe Anzahl von Studien ihre eindeutig pädagogischen Fragestellungen als psychologische Studien betiteln, im Text sich dann jedoch vorsichtig distanzieren sowohl von einer Kontextualisierung der Forschungsfrage über die Psychologie, weil eine psychologische Rahmung beispielsweise nicht ermöglicht, sozialkulturelle, lebenslagenspezifische und auf die Erziehungswirklichkeiten abzielende Fragen zu bearbeiten, als auch von den Standards der quantitativ-experimentellen, auf das Individuum konzentrierten Forschungsmethodik. Möglicherweise verantwortet die Dominanz der geisteswissenschaftlichen Pädagogik in den 1920er Jahren, die an empirischen Sondierungen bekanntermaßen insgesamt wenig Interesse zeigt (vgl. Drewek 2004, S. 38), diese Situation mit und motiviert oder drängt geradewegs die empirisch orientierten Vertreter der Pädagogik in dieser Zeitspanne dazu, ihre Studien im disziplinären Milieu der Psychologie
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zu verorten, um den Preis, die pädagogischen Implikationen der bearbeiteten Forschungsfragen lediglich versteckt diskutieren zu können.5 Die psychologische Tarnung der pädagogisch-ethnographischen Forschung in den Jahrzehnten der Herausbildung und sukzessiven Konsolidierung der Erziehungswissenschaft erleichtert heute nicht gerade ihre Erkennbarkeit. Möglicherweise werden ihre inhaltlichen Befunde und Ergebnisse sowie ihr methodologisches Design auch aus diesem Grunde in der Gegenwart kaum beachtet oder nicht einmal als empirische Forschung identifiziert. Zumindest in den schulpädagogischen Diskussionen findet die hier vorgestellte Forschungslandschaft kaum Beachtung. Die schulbezogene Forschung bis in die 1950er Jahre hinein wird insgesamt vielleicht auch deswegen nicht nur als »äußerlich zersplittert und fragmentiert, sondern auch zugleich inhaltlich durch die Limitierung und Spezialisierung ihrer Fragestellungen« als sehr beschränkt wahrgenommen und »von den Ansprüchen an eine umfassende wissenschaftliche Analyse, Reflexion und Steuerung des Bildungswesens insgesamt (…) weit entfernt« (Drewek 2004, S. 38) bewertet. Hierüber lässt sich ein weiterer, dritter Befund destillieren. Aus einer Perspektive, die die empirische Bildungsforschung nicht auf die eigentlichen Unterrichtsprozesse reduziert und somit eng als Lehr-Lern-Forschung konzipiert, illustrieren gerade die auf methodischer Vielfalt basierenden Studien der 1920er Jahre drittens die Erkenntnismöglichkeiten pädagogischer Forschung. Das Aufklärungsinteresse findet sich nicht fokussiert auf eine enge Forschungsfrage, sondern häufig adressiert an Fragestellungen, die strukturelle Rahmenbedingungen wie die Lebenslagen und -verhältnisse, psychische Dispositionen, sozial-kulturelle Praxen und Orientierungen von Kindern und Jugendlichen außerhalb der Schule in den Jugendvereinigungen und den sozialen Netzwerken ebenso mit in den Blick zu nehmen sucht wie auch die institutionellen Strukturen von Schule, die Unterrichtsinhalte und -praxen. Die Jugend- und die Kindheitsforschung sind zu Beginn des 20. Jahrhunderts eng mit der schulbezogenen und sozialpädagogischen Forschung verwoben und kaum different (vgl. Kelle 2005; Thole 1999). Viele, keineswegs alle und nicht alle Studien im gleichen Umfang kommen damit einem Anspruch nahe, den Mitte der 1960er Jahre Otto Schäfer, Eugen Lemberg und Rosemarie Klaus-Roeder quasi programmatisch für das »Deutsche Institut für Internationale Pädagogische Forschung« in einer Studie zur Soziologie der Gymnasialjugend formulieren, 5
Diese ambivalente disziplinäre Verortung zeigt sich auch noch in den 1950er Jahren, beispielsweise in der kleinen Studie von Hildegard Hetzler und Georg Morgenstern (1952) über das Aufwachsen im ländlichen Raum. Die auf teilnehmenden Beobachtungen, Interviews und kleineren statistischen Erhebungen basierende, im eigentlichen Sinne ethnographische Studie zielt darauf ab, die Folgen einer auf »privaten kapitalistischen Gewinnstrebungen« beruhenden »Rationalisierung und Technisierung des bäuerlichen Arbeitslebens« (Hetzler/Morgenstern 1952, S. 11) für die Erwachsenenbildung, für »die freie pädagogische Arbeit an der schulentlassenen Jugend oder (…) der allgemeinbildenden Landschule« (ebd., S. 13) zu erforschen. In ihrer Anlage erinnert die Studie an die von Paul F. Lazarsfeld, Marie Jahoda und Hans Zeisel durchgeführte Studie über »Die Arbeitslosen von Marienthal« (Lazarsfeld/Jahoda/Zeisel 1933), nur, dass nicht Fragen des Umgangs und der Verarbeitung von Arbeitslosigkeit, sondern das allgemeine, bäuerlich geprägte Alltagsleben auf dem Lande und die hier lokalisierten Erziehungs- und allgemeinen Bildungswirklichkeiten fokussiert werden. Ausgewiesen wird diese Studie nun jedoch nicht als eine auf die Rekonstruktion der Totalität des ländlichen Lebens abzielende Ethnographie, sondern vorgestellt als »Beitrag zur psychologischen und pädagogischen Tatsachenforschung«. Damit wird sowohl der Tatsache entsprochen, dass seriöse, pädagogisch orientierte sozialwissenschaftliche Forschung am ehesten Anerkennung findet über die empirische Psychologie wie auch über das Programm einer auf statistischen Daten beruhenden »Tatsachen-«, nicht jedoch über das Programm einer auf die Nachzeichnung von Alltag orientierten »Totalitätsforschung«.
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dass das »Festhalten an dem einmal konzipierten Bildungskanon (…) den Bildungsbedürfnissen und Bildungsinteressen der Jugend zu wenig gerecht« wird. Vergleiche »mit außerschulischen Bildungseinrichtungen und -veranstaltungen anderer Länder« zeigen, dass die außerschulischen Bildungsinteressen mehr Beachtung verdienen und letztendlich so »der Gymnasialreform hier ein bisher kaum ins Auge gefasstes Betätigungsfeld zuwächst« (Schäfer/Lemberg/Klaus-Roeder 1965, S. 11), also die Verbesserung von Schule Wissen über die Lebensverhältnisse und Interessen von Schülern voraussetzt. Ohne deutlich und explizit auf die frühen ethnographischen Studien hinzuweisen oder gar an diese ausgewiesen anzuknüpfen, entstehen erst ab den 1970er Jahren wieder vermehrt Studien, partiell im Kontext der jetzt neu formulierten pädagogischen Handlungsforschung (vgl. z. B. Haag u. a. 1972; Heinze u. a. 1975), die über Verfahren der passiven und teilnehmenden Beobachtung und damit im weitesten Sinne der Ethnographie ihre empirisch basierten Verstehensbemühungen und Aufklärungen abstützen (vgl. Zinnecker 1995, 2000). Ausdrücklich weisen auch diese Studien auf die eingeschränkten Erkenntnismöglichkeiten von quantitativen Studien hin und begründen hierüber auch den jeweils für die einzelnen Untersuchungen gewählten methodischen Zugang. In Bezug auf die Schule sind neben einigen frühen Studien (vgl. z. B. Zinnecker 1975; Projektgruppe Jugendbüro 1973) vor allem Studien der letzten fünfzehn Jahre zu nennen, auch weil sie methodologisch reflektiert unter Rückgriff auf ethnographische Verfahren die Sozialbeziehungen im Kontext von Schulen, schulische Vorder- und Hinterbühnen, geschlechtsspezifische Kommunikationsformen und alltägliche Interaktionspraxen identifizieren (vgl. z. B. Krappmann/Oswald 1995; Breidenstein/Kelle 1998, 2002; Wiesemann 2000; Göhlich/Wagner-Willi 2001; Wagner-Willi 2005; Tervooren 2001; Breidenstein/Jergus 2005). Neben der ethnographischen Schulforschung findet sich eine zweite Linie der feldbasierten Forschung in der jüngeren Tradition der Sozialpädagogik und hier bezogen auf das weite Feld der non-formalen Bildungs- und Freizeiteinrichtungen für Kinder und Jugendliche. So liegen ältere Studien zur Straßensozialarbeit, also zu den niedrigschwelligen Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit (Specht 1979; Miltner 1981), Untersuchungen zu den sozialräumlichen Orientierungen und Netzwerken von Jugendlichen (vgl. z. B. Becker/Hafemann/May 1984; Bietau 1989; Thole 1991) sowie zum Alltag in sozialpädagogischen Einrichtungen (Kraußlach/Düwer/Fellberg 1976; Aly 1977; Hoppe u. a. 1979; Scarbath u. a. 1981; Becker/Eigenbrodt/May 1984; Thole 1991; Pfennig 1996) vor. Aus unterschiedlichen Blickwinkeln und methodologisch different werden in den Studien die pädagogischen Felder, die Interaktionen zwischen Jugendlichen und PädagogInnen und der Jugendlichen untereinander, die dynamischen Einigungsprozesse von Jugendlichen und PädagogInnen, die Ängste und Unsicherheiten der PädagogInnen im Umgang mit den Besuchern und die strukturellen Rahmungen der Projekte der Kinder- und Jugendarbeit unter Rückgriff auf die unterschiedlichsten empirischen Daten und Materialien interpretativ erschlossen. Waren die genannten Studien der 1970er Jahre noch sehr stark praxisreflektierend und deskriptiv angelegt, die Studien in der anschließenden Phase der 1980er und 1990er Jahre zwar schon methodisch ausgefeilter begründet und feldaufschließend, darauf bedacht, die Dynamiken und Prozesse in den pädagogischen Handlungsfeldern rekonstruktiv aufzuhellen, gelingt es jüngeren Studien beispielsweise, die Konstitutionsbedingungen und die Performativität der Kinder- und Jugendarbeit in den ihr zugrunde liegenden elementaren Bedingungen nachzuzeichnen (vgl. u. a. Küster 2001; Cloos u. a. 2007).
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Eine dritte Forschungslinie zeigt sich in den organisations- und professionsorientierten Studien, die sich im Anschluss an die Verwendungsforschung und über eine Kritik an den normativen Professionalisierungskonzepten der Erziehungswissenschaft unter Rückgriff auf ethnographische Methoden als institutionssensible und organisationskulturelle Rahmungen reflektierende, ethnographische Professionalisierungs- und Professionskulturforschung vorstellt (vgl. Klatetzki 1993; Helsper 2008; Helsper u. a. 2001; Reh 2008; Cloos 2008). In einer vierten Forschungslinie sind Ansätze einer Ethnographie des Pädagogischen im Kontext der allgemeinen pädagogischen Organisationsforschung (vgl. u. a. Göhlich 2005) und hier insbesondere bezogen auf die Praxen in der Erwachsenenbildung sowie der Fort- und Weiterbildung (vgl. Tippelt 2005) und in den Recherchen zum Umgang mit Wissen (vgl. Kade/Seitter 2007) zu erkennen. Quer zu diesen Forschungslinien platziert sich mit der Ethnopsychoanalyse eine Methodologie, die in den theoretischen und methodischen Reflexionen der Ethnographie zumeist, wenn überhaupt, lediglich am Rande mitgedacht wird, die aber die ethnographische Schul-, Jugend- und Kulturforschung phasenweise wesentlich beeinflusst. Sie inspiriert und begründet den Weg von der Ethnologie des Fremden zur Ethnographie des »Nahen«, des selbstgelebten, bekannten beziehungsweise »heimischen« Alltags wesentlich mit und dokumentiert die erweiterten Erkenntnismöglichkeiten der Ethnographie insbesondere über Studien zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft und zur gesellschaftlichen Produktion von Unbewusstheit (vgl. u. a. Erdheim 1982). Und nach wie vor existiert eine aus praktischen Erfahrungen und Erlebnissen sich mit Material versorgende erlebnisgesättigte Ethnographie des Pädagogischen (vgl. u. a. Stürzbecher 1994; Tertilt 1996). Diese Form der naiven, folkoristischen Ethnographie6 ist in den zurückliegenden Jahrzehnten immer wieder zu entdecken. Insbesondere in den Jahren nach 1945 entsteht eine Vielzahl von dichten Beschreibungen über Jugendliche. Beispielsweise schildert der Hamburger Pfarrer Wolfgang Weißbach (1971) seine Erfahrungen mit Rockern und Hella Pfannkuch-Wachtel (1962) berichtet detailliert über ihre Arbeit in einer Jugendgruppe, die dann indirekt auch in der theoretisch reflektierend angelegten, auf teilnehmenden Beobachtungen basierenden Feldstudie von Christel Bals (1962) vergleichend Eingang finden.
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In den Jahren zwischen 1933 und 1945, insbesondere in den 1940er Jahren findet eine Form der folkloristischen »Ethnographie« eine ihres »kritischen Stachels« vollkommen entledigte Praxis. Das Wissen, das heute über die kulturell-ästhetischen Praxen und die non-konformen, renitenten jugendkulturellen Praxen der Edelweiß- und Kittelbachpiraten, der Meuten und Swings existiert, verdankt sich auch autobiographischen Schilderungen, vornehmlich jedoch den in Akten dokumentierten Berichten von »teilnehmenden Beobachtern«. Die immer wieder zitierte »Denkschrift des Reichssicherheitshauptamtes vom 15. März 1943« zu den jugendlichen Strömungen außerhalb der Hitlerjugend ist eine Ansammlung solcher Berichte. Der kulturelle Stil der Swings wird in dem Bericht unter anderem wie folgt beschrieben: »Vorwiegend trug man lange, häufig karierte englische Sakkos, Schuhe mit hellen Kreppsohlen, auffallende Schals, auf dem Kopf einen UngerDiplomat-Hut, über den Arm bei jedem Wetter einen Regenschirm und als Abzeichen im Knopfloch einen Frackhemdenknopf mit farbigem Stein. Auch die Mädchen bevorzugten eine lang herab wallende Haarpracht. Die Augenbrauen wurden nachgezogen, die Lippen gefärbt und die Fingernägel lackiert« (vgl. Peukert 1980, S. 312). Die »Denkschrift« ist ein fataler Beleg dafür, welche Gefahr dichte Beschreibungen für die Beschriebenen darstellen, wenn die Ethnographien politisch denunzierend, kriminologisch oder aber auch pädagogisch instrumentalisiert werden.
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Werner Thole Vom Programm der klassischen Ethnographie zur Ethnographie pädagogischer Prozesse, professioneller Praktiken und institutioneller Rahmungen
Eine umfassende und systematische Würdigung und Auslotung der Bedeutung der Ethnographie des Pädagogischen für das Verstehen von formalen, informellen und non-formalen Bildungs- und Erziehungswelten und für die erziehungswissenschaftliche Theoriebildung steht noch aus. Die hier vorgestellten, sicherlich noch sehr kursorischen Betrachtungen plädieren dafür, die Bedeutung der Ethnographie als Quelle des Wissens über das Pädagogische höher zu bewerten als dies in der Regel der Fall ist. Ethnographische Blicke auf das Pädagogische bereichern die Herausbildung von theoretischen Perspektiven und erziehungswissenschaftlichen Profilen möglicherweise relevanter, als bislang in den jeweiligen Diskursen ausgewiesen. Die im Rahmen dieses Beitrages berücksichtigten Studien votieren begründet für die Annahme, dass die ethnographisch gewonnenen Befunde über pädagogische Szenarien und ihre Rahmungen wesentlich erkenntnisträchtiger sind als ihre bisherige Rezeption vermuten lässt. Zu oft jedoch verstecken sich die Erkenntnisse der pädagogischen Ethnographie in vertexteten Alltagsepisoden oder gar in ԟ wunderbar illustrierten ԟ Anekdoten und Geschichten. In diesem erzählerischen Korsett verdecken sie jedoch zuweilen ihre eigentliche, auch für den Theoriebildungsprozess bedeutsame Brisanz und Erkenntniskraft. Authentizitätszwang, die Huldigung der Phänomenologie als theoretische bedeutsame Konzeption und das Anliegen, die Originalität des Feldes nicht über theoretische Explikationen zerstören zu wollen, tragen die bewusste Distanz zu theoretischen Codierungen der ethnographischen Präsentationen und verantworten die ԟ unbegründete ԟ Bescheidenheit und Zurückhaltung der klassischen Ethnographie gegenüber Theoriebildungsprozessen. Dass die Ethnographie, sobald in Texten dokumentiert, immer die Konstruktion einer neuen Wirklichkeit vornimmt, bleibt ignoriert. Aber auch eine allgemeine Skepsis gegenüber den ethnographischen, auf qualitativ-rekonstruktive Methodologien vertrauenden Texten verantwortet die Zurückhaltung gegenüber den ethnographisch gewonnenen Wissensbeständen in den erziehungswissenschaftlichen Diskursen mit. Anstatt das qualitativ-rekonstruktiv erhobene Wissen als Ressource der Aufklärung und »Entzauberung« der Wirklichkeit zu lesen, werden die ethnographisch gewonnenen Erkenntnisse oftmals ԟ immer noch ԟ einem theoretisch inspirierten Entzauberungsprozess ausgesetzt, damit implizit entwertet und für Theoriebildungsprozesse als nicht zitierfähig klassifiziert. Der von Renate Mayntz (1985, S. 69) schon Mitte der 1980er Jahre in der Soziologie ausgemachte Entzauberungsprozess der hypothetisch-deduktionistischen Sozialforschung fand und findet zwar auch in der Erziehungswissenschaft Resonanz. Mit Blick auf die Erwartungen und Hoffnungen, die die quantitativ-statistische empirische Bildungsforschung gegenwärtig erzeugt, scheint jedoch diese Entzauberung nur eine eingeschränkte, gebrochene Verunsicherung des Glaubens an die Tragfähigkeit der über diese empirische Programmatik gewonnenen Befunde hinterlassen zu haben. Trotz der genannten Zurückhaltung gegenüber der Ethnographie in den erziehungswissenschaftlichen Diskursen nimmt diese mittlerweile eine immer bedeutendere Stellung innerhalb der sozialwissenschaftlichen und erziehungswissenschaftlichen Forschung ein.7
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Die folgenden Überlegungen verdanken sich auch den Diskussionen mit Peter Cloos, Stefan Köngeter und Burkhard Müller im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierten Projektes
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Im Kontrast zum angelsächsischen Sprachraum, wo trotz eines zu beobachtenden »turn to Biographical Methods« qualitative Forschung weitgehend mit Ethnographie gleichgesetzt wird (vgl. Knoblauch 2001; Clarke 2002; Denzin/Lincoln 2000; Denzin 1997), gewinnt die Ethnographie im deutschsprachigen Raum zwar an Beachtung, spielt trotz ihrer Geschichte und gegenwärtigen Wiederbelebungen aber weiterhin keine herausragende Rolle. Unter dem Etikett der Ethnographie verbirgt sich allerding keineswegs ein geschlossenes Konzept ԟ Ethnographie ist nicht gleich Ethnographie. Darauf weisen nicht nur adjektivische Ausschmückungen hin, neben einer ethnologischen Ethnographie werden eine postmoderne, soziologische, fokussierende, konversationsanalytische, ethnomethodologische, komparative, semantische, exotische oder die hier diskutierte pädagogische Ethnographie8 (vgl. Knoblauch 2001; Zinnecker 2000; Friebertshäuser 1997; Hitzler 2000) genannt, auch Unklarheiten darüber, was Ethnographie methodologisch überhaupt meint,9 können für die Tatsache zitiert werden, dass das Dach der Ethnographie ganz unterschiedliche methodische Konzepte aufsuchen. Den diversen Entzifferungen von Ethnographie soll hier keine weitere hinzugefügt werden, zu verweisen ist jedoch darauf, dass sich das an die Ethnographie adressierte Frage- und Erkenntnisinteresse und das von der Ethnographie realisierte Forschungsprogramm im zurückliegenden Jahrzehnt deutlich erweitert und neu akzentuiert hat (vgl. Wulf/Zirfas 2007; vgl. auch Hitzler 2000), von einer Ethnographie des »Wie etwas ist« zu einer Ethnographie des »Wie sich etwas herstellt und reproduziert«. Das methodische Kernstück der klassischen Ethnographie bildet die Feldforschung, die darauf abzielt, das alltägliche Leben zu beobachten und durch die Untersuchung möglichst wenig einzugreifen oder zu verändern. Die dabei produzierten Berichte über die teilnehmende Beobachtung ergänzen zumeist mündliche und schriftliche Befragungen (Interviews, Gruppendiskussionen, Fragebogenerhebungen und ExpertInnengespräche) (vgl. Friebertshäuser 1997, S. 504). »Theoretisch geht es um die Hervorhebung eines Phänomenbereichs gelebter und praktischer Sozialität, dessen ‚Individuen’ (Situationen, Szenen, Milieus) gewissermaßen zwischen den Personen der Biographieforschung (mit ihrer erleb-
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»Konstitution und Performanz der Kinder- und Jugendarbeit« (vgl. z. B. Cloos u. a. 2007; Thole u. a. 2009) sowie kritischen Anmerkungen von Holger Schoneville. In diesem Beitrag wird auf eine weitere adjektivische Charakterisierung der Ethnographie verzichtet. Die Rede von der Ethnographie des Pädagogischen soll betonen, dass es nicht darum geht, eine »pädagogische Ethnographie« (vgl. Zinnecker 2000) – also die Ethnographie als eine pädagogische Methode – zu konzipieren, sondern darum, die Fruchtbarkeit der Ethnographie als Forschungsmethodologie für die Pädagogik zu betonen. Die Ethnographie des Pädagogischen besitzt die Kompetenz, die Kultur, die Modulationen, Prozesse, Praktiken und Praxen, Handlungsformen und Deutungsmuster in pädagogischen Handlungsfeldern unter Rekonstruktion der pädagogisch-programmatischen, strukturell-institutionellen und organisatorischen Rahmenbedingungen, der Latenzen und Immanenzen der hier wirkenden gesellschaftlichen Dispositive, der personellen und organisatorischen Professionskultur sowie der Lebensbedingungen, Lebensentwürfe, der Inszenierungspraktiken und der zu identifizierenden Wege der AdressatInnen durch die Biographie aufzuschließen und in Texten zu präsentieren (vgl. u. a. Hünersdorf 2008; Friebertshäuser 1997). In der ethnographischen Forschungspraxis wird es durchgängig kaum gelingen, alle genannten Aspekte in einem Projekt vollständig einzubeziehen. Forschungspraktisch sind demzufolge Fokussierungen vorzunehmen. Ethnographische Methoden und Gruppendiskussionsverfahren werden beispielsweise als »ausgewählte Methoden der Datenerhebung« der Biographieforschung vorgestellt (vgl. Marotzki 1999, S. 115), trotz der vielfach kommunizierten Erkenntnis, dass mit den Begriffen Ethnographie und Biographieforschung (…) doch zwei sehr unterschiedliche methodische Welten umrissen werden« (Lüders 1997, S. 136). Angesichts der diffusen Gesamtlage wird auch verständlich und nachvollziehbar, warum Ronald Hitzler und Anne Honer (1997) darauf verzichten, die Ethnographie als eine eigenständige Methodologie der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik zu präsentieren.
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ten Sozialität) und den (nationalen) Bevölkerungen der Demographie anzusiedeln sind. Methodisch wird mit der Adaption der ethnographischen Leitdifferenz von Fremdheit und Vertrautheit ein Vorgehen etabliert, das für das offensive Verhältnis zum Nichtwissen charakteristisch ist, das wir eben als Heuristik der Entdeckung des Unbekannten bezeichneten« (Ammann/Hirschauer 1997, S. 11). Die Ethnographen werden durch ihr Eintauchen in ein Forschungsfeld dabei für einen eingegrenzten Zeitraum zu beobachtenden Akteuren des untersuchten Feldes. Durch die Teilnahme kann Ethnographie »unter Reflexion des vorgängigen eigenen alltäglichen Verstehens, natürliche ›settings‹ (…) beschreiben, um Alltagserklärungen und Alltags-Handeln verstehen zu können« (Honer 1994, S. 87). Die Perspektive der zu Untersuchenden kann so nachgezeichnet werden, auch wenn das »aufgrund der prinzipiellen Unzulänglichkeit des fremden Bewusstseins (der ForscherInnen gegenüber den zu Erforschenden) eben bestenfalls ›typisch‹ gelingen kann« (Hitzler/Honer 1988, S. 501). Ethnographische Forschungsstrategien haben somit gegenüber anderen methodischen Verfahren den Vorteil, das Feld als ganzes sowie die Alltagsdeutungen und Interpretationen der AkteurInnen einer sozialen Praxis nah am Geschehen zu erfassen. Im Gegensatz zu anderen qualitativ-rekonstruktiven Verfahren und quantitativen Erhebungen können hier im Sinne einer talking ethnography entlang der praktischen Erfordernisse, situativen Settings und der routinisierten und habitualisierten Praktiken Interpretationen der Teilnehmenden erhoben werden, die konkrete Szenarien im Feld erläutern, begründen oder reflektieren. Die Möglichkeit, dabei gewesen zu sein und am Geschehen teilgenommen zu haben, eröffnet die Chance, insbesondere das inkorporierte Wissen einer routinisierten Praxis in den Blick zu bekommen. Ethnographische Forschungsstrategien sind darauf spezialisiert, offene und komplexe soziale Alltagssituationen durch Befremdung (vgl. Amann/Hirschauer 1997), Beobachtung, (Co)-Präsenz im Feld und Befragung der Feldteilnehmer zu erfassen. Ihr Vorteil sind die Alltagsnähe, die ganzheitliche Erfassung, die große Flexibilität im Feld wie auch die Berücksichtigung von Vor-Sprachlichkeit und Vor-Reflexivität sozialer Wirklichkeit. Im Erhebungsverfahren sichert sich die Ethnographie nicht die Erkenntnismöglichkeit, »die Welt der anderen mit ihren Augen zu sehen, sondern diese Weltsichten als ihre gelebte Praxis zu erkennen« (Amann/Hirschauer 1997, S. 24). Die klassische Ethnographie vertraut dabei den Präsentationen und Signifikanten der sozialen Praxen, blickt auf das Zusammenspiel von Lebenswelten, Organisationen und Milieus, sozialen Rahmen, Sprache und Körperlichkeit, Ritualen, Symbolen und Artefakten, Regeln, Normen und Rollen. Bewusst wird dabei zumeist auf die theoretisch konsistente Rahmung des Beobachteten verzichtet. Damit wird sicherlich einer zuweilen, gerade auch in der pädagogischen qualitativ-rekonstruktiven Forschung zu entdeckenden Subsumtionspraxis kritisch entgegnet ԟ entsagt wird damit einem Epistemozentrismus, »der darin besteht, alles zu ignorieren, was den spezifischen Unterschied zwischen Theorie und Praxis ausmacht, und in die Beschreibung und Analyse der Praktiken die Vorstellung [projiziert], die der Analytiker davon haben kann, weil er außerhalb des Gegenstandes steht, den er von weitem und von oben betrachtet« (Bourdieu 1993, S. 370). Geöffnet wird so aber eine andere Falle ethnographischer Verfahren, die sich in der Praxis als »narzisstische Reflexivität« zeigt und sich darin dokumentiert, Fragen nach den Bedingungen und Konstruktionsprinzipien der sozialen Wirklichkeit nicht auf die ethnographische Tagesordnung zu setzen. »Sobald wir die gesellschaftliche Umwelt beobachten, ist unsere Wahrnehmung dieser Welt von einem ›Bias‹ beeinträchtigt, der an den
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Umstand gebunden ist, daß wir, um die Welt studieren, beschreiben und von ihr sprechen zu können, mehr oder weniger vollständig von ihr abstrahieren müssen« (Bourdieu 1993, S. 370). Diese ethnographische Perspektive auf das »was ist» erfährt gegenwärtig eine neue Akzentuierung, die sich zwar auch Diskussionen der Erkenntnisinteressen und methodischen Verfahren der Ethnographie, aber auch Überlegungen im Anschluss an Diagnosen eines Wandels der Gesellschaft verdankt. Auch wenn jüngeren sozialwissenschaftlichen Gesellschaftsanalysen nur eingeschränkte Evidenz zugesprochen wird, votieren empirische Befunde dafür, dass sich die strukturell gewachsenen und traditionellen Rahmungen der Ökonomie, des Sozialen und der Kultur verändern, neu ordnen und in ihrer zeitlichen Dauer und Kontinuität flexibler und weniger eindeutig vorstellen. Muster und ästhetische Praxen im Freizeitverhalten unterliegen einem neuen Rhythmus, Lebensstile und Prozesse der Identitätsbildung verlaufen unsicherer und Bildungs- und Armutsverläufe zeigen eine neue Dynamik, die auf ein gesellschaftliches Muster der partiellen Individualisierung und Entstrukturierung bei gleichzeitigem Fortbestehen struktureller Ungleichheiten hindeuten. Auch wenn individualisierende Tendenzen zu identifizieren sind (vgl. Kohler 2005; Georg 2005; Stein 2005; Isengard 2005), lassen sich soziale Praxen, Formen der Mobilität, kulturell-ästhetische Muster und berufliche Wege nicht ausschließlich als Reflex einer sozialen Lage verstehen. Zu registrieren ist beispielsweise zumindest ein »Unterschied zwischen jenen, die sich trotz misslicher Lebenslage in der gesellschaftlichen Welt zu Hause fühlen, und denen, die trotz günstiger Lebensverhältnisse von der Frage beherrscht sind, ob sie überhaupt noch einen Platz im gesellschaftlichen Ganzen haben« (Bude/Lantermann 2006, S. 20). Die bundesrepublikanische Gesellschaft des beginnenden 21. Jahrhunderts ist »anders« als die des 20. Jahrhunderts – wenn auch nicht so »anders«, wie in den Feuilletons und postmodernen Debatten zuweilen angenommen wird. Die Herstellung von sozialen Wirklichkeiten ist zumindest mehr denn je abhängig und wird gestaltet von denjenigen, die in den Wirklichkeitsbereichen agieren. Angeregt und provoziert durch diese gesellschaftlichen Umstrukturierungen verschiebt sich der ethnographische Blick weg von den statischen Registrierungen und dem nachvollziehenden Verstehen des Vorgefundenen hin zu der Identifizierung und Rekonstruktion der Prozesse der Herstellung von Wirklichkeit. In den ethnographischen Blick gelangen damit neben den Dispositiven und Rahmungen, Strukturen und Traditionen, Praktiken und Praxen, Diskursen und Handlungsformen neu auch die »Rahmungen, Szenarien, mimetischen Zirkulationsformen, Präsentationspraktiken und Darstellungssituationen« (Wulf/Zirfas 2007, S. 10), also die Bühnen und Formen der Produktion und Reproduktion des Kulturellen, Sozialen und möglicherweise auch des Politischen und Ökonomischen. Mit anderen Worten: »Soziologie als Ethnologie der eigenen Gesellschaft fungiert in diesem ›Pluriversum‹ (…) sozusagen als professionelles Grenzgängertum zwischen den eigensinnigen Welten. Sie rekonstruiert und übersetzt, wie Menschen im Zusammenleben mit anderen ihre jeweilige Welt konstruieren« (Hitzler 2000, S. 29). Neben der Identifizierung, Rekonstruktion, dem Verstehen und der theoretischen Codierung der gesellschaftlichen »Ordnung der Diskurse« entwickelt die neue Ethnographie Sensibilität und Kompetenz für die Prozesse der Herstellung und »Performativität der Diskurse«. Im Feld der Pädagogik geraten mittels dieses empirischen Blicks damit die Formen, Praxen und Praktiken des pädagogischen Handelns selbst in den Blick, die Prozesse der
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Herstellung und Inszenierung der AkteurInnen ԟ die »performance« der PädagogInnen wie der Kinder und Jugendlichen, SchülerInnen und möglicherweise auch der Eltern ԟ in den pädagogischen, schulischen wie außerschulischen Projekten und Szenarien, die Prozesse der Konstituierung und Artikulation von Selbst- und Weltdeutungen, die Praxen der Entwicklung und Präsentation von Wissen, Können und Handeln sowie die Performativität der körperlichen wie symbolisch-interaktiven Alltagspraxen. Das Performative hat, wenn es als performative Praxis verstanden wird, mehrere Seiten. Erstens wird auf das praktische Vollziehen hingewiesen und damit auf die dem Handeln zugrunde liegende Konventionalität. Zweitens aktiviert performatives Handeln immer auch Formen der körperlich-szenischen Aufführung. Inszenierungen des Sozialen implizieren Formen der körperlichen Inszenierung und schließen dabei auch den sozialen Ort als Rahmung der jeweiligen Handlung mit ein. Drittens ist performatives Handeln jeweils auch präzisierende Selbstdeutung (vgl. Göhlich 2001). Jede performative Praxis konstituiert konkrete und spezifische Formen der Selbstreferentialität, indem jeweils auch Selbstbezüge mit ausgewiesen werden. Letztendlich viertens sind performative Handlungen beziehungsweise performative Praxen ohne eine von ihr ausgelöste wie ihr zugrunde gelegte kommunikative Wirkung nicht denkbar. Die zentrale Wirkung des Performativen kann dabei in der Setzung von Rahmen und der Bestimmung von Konventionen und deren jeweiliger Erneuerung verstanden werden. Damit sind sie niemals in sich geschlossen, sondern zugleich Determinanten für weitere soziale Interaktionen, die aber genau wie die vorherigen nur gelingen können, wenn »alle Beteiligten ein praktisches Wissen davon haben, was sie zu tun, wie sie sich aufeinander zu beziehen und wie sie sich aufzuführen haben« (Wulf u. a. 2001, S. 256). Das praktische Wissen stammt, oder genauer, entsteht über die Erinnerung an Erfahrungen in bereits ähnlichen Situationen. Jedwede soziale Handlung bedarf dieses praktischen Wissens. Ohne dieses Wissen wird der Vollzug der performativen Praxis nicht umstandslos gelingen – mit anderen Worten: Es muss ein – über Erfahrung geronnenes, ritualisiertes – Wissen über Rahmen und die fortwährende Rahmung einer sozialen Situation geben, ansonsten kann ein Miteinander-Interagieren nicht gelingen. Das Produkt von Handlungen und sozialen Praxen ist allerdings nie Duplikat einer schon erlebten, vorhergehenden Handlung, findet jedoch Anknüpfungspunkte und kann zugleich dennoch abweichend ausgestaltet sich präsentieren. Der Bezug und die Reproduktion der schon existenten »Welt«, deren Aneignung durch die Subjekte und die Deklarierung dieser zur »eigenen Welt« ermöglichen Prozesse der Herstellung von neuen sozialen Praxen – »Welten« – die Herstellung von Subjektivität über Anerkennung in diesen performativen Handlungen (vgl. Bausch/Sting 2001; Göhlich 2001; Wulf u. a. 2001). Performativität drückt die Form der diskursiv-kulturellen Regulierung des Subjekts aus, aber keine auf die reine Inszenierung konzentrierte, freie Platzierung in der Welt, eben nicht nur die durch strategisches Spiel intendierte, sondern die durch kulturelle, traditionelle, soziale und Lebenslagen bedingte präformierte Entfaltung wie Neuformatierung von Subjektivität, letztendlich also von Habitus (vgl. Butler 1990, 1997; Reckwitz 2008) und von sozialen Praxen. In modernen Gesellschaften realisiert sich die Herstellung und Formung von Subjektivität und sozialen Praxen, von Handlungs- und Deutungsschemata zwar nie unabhängig und losgelöst von den gesellschaftlich bereitgestellten, traditionellen und in die Praxen und Körper eingeschriebenen Dispositiven, die die Herstellung von Subjektivität wie von sozialen Praxen auch wesentlich »lenken, … bestimmen, … hemmen, … formen, … kontrollieren und … sichern«
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(Agamben 2008, S. 26). Aber, vielleicht deutlich anders als in kastenförmigen und sozial traditionell und unbeweglicher strukturierten Gesellschaften, ist die Strukturiertheit der Gesellschaft und sind die Formen der Vergesellschaftung in modernen Gesellschaften über die sie aktivierenden sozialen Praktiken durchaus gestaltbar und schreiben sich dann in ihrer »neuen Form« wiederum in die Prozesse der Formatierung und Neuformatierung der Körper und der sozialen Praktiken ein. Dieser Prozesshaftigkeit der Herstellung von Subjektivität und sozialen Praxen wird durch die Einführung des Begriffs der Performativität in der jüngeren Methodologie der Ethnographie entsprochen. Dadurch, dass die neue Ethnographie eine Forschungsstrategie darstellt, die es insbesondere erlaubt, soziale Praktiken und ihre Performativität empirisch in den Blick zu bekommen (vgl. Reckwitz 2000), kommt ihr auch eine besondere Relevanz für die Analyse des Pädagogischen zu, eben weil sie nicht nur die Aufmerksamkeit auf die Resultate, Befindlichkeiten, institutionellen Strukturen, Selbstäußerungen und Rahmungen der pädagogischen Projekte lenkt, sondern auch zu einer Analyse der Herstellungsformen und eben auch der Performativität pädagogischer Szenarien motiviert, ohne zu ignorieren, in welcher Form gesellschaftliche Dispositive hierauf Einfluss nehmen ԟ und wiederum mit anderen Worten: »Die Erziehungswirklichkeit ist im Blickwinkel des Performativen nicht der repräsentative Text einer Präsenz oder Wahrheit der historischen pädagogischen Bewegung, sondern das Zugleich von Präsenz und Absenz, von Signifikat und Signifikant. (…) Das Performative benennt das, was sich in Äußerungen und Handlungen zugleich zeigt und verbirgt (…)« (Wulf/Zirfas 2007, S. 9). 4
Ethnographie als erziehungswissenschaftliche Forschungsmethodologie ԟ Ausblick
Verdeutlicht werden konnte, dass die Ethnographie des Pädagogischen auf eine längere und ansehnlichere Geschichte zurückblicken kann, als dies gemeinhin angenommen wird, auch wenn sich diese partiell als psychologische Forschung präsentiert. Und nachvollziehbar und plausibel konnte hoffentlich auch gezeigt werden, dass die Ethnographie gegenwärtig einen konzeptionellen Wandel vollzieht, von einer Ethnographie des »Konsistenten und Kontingenten» hin zu einer Ethnographie der Entzauberung der Konstitutionsprozesse, der Modulationen und der Performativität von Subjektivität, sozial-kulturellen Praxen und Praktiken. Mit dieser programmatischen Wende entgegnet die Ethnographie auch Vorhaltungen, lediglich naiv und deskriptiv angelegt komplexe gesellschaftliche, kulturelle, soziale oder pädagogische Felder, Praktiken und Praxen zu paraphrasieren und sich so auf eine »feldnarzisstische« Vertextung des Beobachteten zu reduzieren. Mit dem methodologischen Perspektivenwechsel eröffnen sich für die Erziehungswissenschaft sowohl theoretische wie forschungsmethodische neue Erkenntnischancen. Unter Rückgriff auf die theoretische Idee der Performativität lässt sich der strukturell erweiterte Bildungsbegriff, der neben den formalen auch die non-formalen und informellen Felder als Orte des Erwerbs von Bildung identifiziert, inhaltlich neu fassen. Über das Mitdenken der Performativität lassen sich nicht mehr nur die Resultate und die materiellen Dimensionen von Bildung registrieren, sondern auch die Formen des Erwerbs von Bildung rekonstruieren. Die Gehalte eines erweiterten Begriffs von Bildung können über die forschungsprag-
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matische Operationalisierung der Idee von Performativität identifiziert werden (vgl. Thole u. a. 2009). So gelingt es im Kontext des Pädagogischen, »die Vermittlung von subjektivem Erlebnis und historischem Hintergrund von Erziehung« in seiner Relation und seinen konkreten Modulationen zur rekonstruieren, »um Erziehungsprozesse, Erziehungsinstitutionen, -konzepte, -methoden und -instrumente (…), Rahmungen, Szenarien, mimetische Zirkulationsformen, (…) Präsentationspraktiken und Darstellungssituationen« (Wulf/Zirfas 2007, S. 8 u. 10) zu verstehen, um letztendlich zu begreifen, was Erziehung, Sozialisation, Bildung, Hilfe, Unterstützung und Prävention eigentlich bedeuten und ausmachen. Damit rückt die konkrete Totalität des Pädagogischen in den unterschiedlichen Handlungsfeldern ins Zentrum des empirischen Interesses. Die gegenüber der empirischen Bildungsforschung zur Verfügung stehenden erweiterten Erkenntnismöglichkeiten sind beträchtlich. Das Forschungsparadigma einer empirischen Bildungs- und Sozialforschung, das lediglich die Effekte von Bildungsprozessen als von ihrer Dynamik abstrahierende Momentaufnahmen (vgl. u. a. Oevermann 2004, S. 473) erhebt und dokumentiert, wird kritisch angefragt und über die Ethnographie mit einer Forschungsmethodologie konfrontiert, die die Praxen der Konstitution und Performativität von pädagogischen Handlungsszenarien in Gestalt von Unterricht, Hilfe- und Unterstützungssettings sowie informellen Lernarrangements zu rekonstruieren in der Lage ist. Keineswegs liegen damit jedoch generelle Begründungen gegen eine mit großen Datenmengen operierende, statisch-komparativ angelegte, auch mit entwicklungspsychologischem Wissen ausgestattete Bildungsforschung vor, jedoch starke Argumente, qualitativ-rekonstruktive Verfahren und insbesondere die Ethnographie als Forschungsmedium mit einer größeren Beachtung und Anerkennung zu versehen. Literatur Agamben, G. (2008): Was ist ein Dispositiv. Zürich u. Berlin. Aly, G. (19773): Wofür wirst du eigentlich bezahlt? Möglichkeiten praktischer Erzieherarbeit zwischen Ausflippen und Anpassung. Berlin. Amann, K./Hirschauer, S. (1997): Die Befremdung der eigenen Kultur. Ein Programm. In: Hirschauer, S./Amann, K. (Hrsg.) (1997): Die Befremdung der eigenen Kultur. Frankfurt a. M., S. 7-52. Bals, C. (1962): Halbstarke unter sich. Köln u. Berlin. Bausch, C./Sting, S. (2001): Rituelle Medieninszenierungen in Peergroups. In: Wulf, C. u. a. (2001): Das Soziale als Ritual. Zur performativen Bildung von Gemeinschaften. Opladen, S. 249-324. Becker, H./Eigenbrodt, J./May, M. (1984): Pfadfinderheim, Teestube, Straßenleben. Jugendliche Cliquen und ihre Sozialräume. Frankfurt a. M. Becker, H./Hafemann, H./May, M. (1984): »Das ist hier unser Haus, aber…«. Raumstruktur und Raumaneignung im Jugendzentrum. Frankfurt a. M. Behler, P. (1928): Psychologie des Berufsschülers. Köln. Bietau, A. (1989): Arbeiterjugendliche zwischen Schule und Subkultur. In: Breyvogel, W. (Hrsg.) (1989): Pädagogische Jugendforschung. Opladen, S. 131-159. Böhnisch, L. (1998): Sozialpädagogische Sozialforschung. In: Rauschenbach, T./Thole, W. (Hrsg.) (1998): Sozialpädagogische Forschung. Gegenstand und Funktionen, Bereiche und Methoden. Weinheim u. München, S. 97-112. Bonß, W. (1982): Die Einübung des Tatsachenblicks. Frankfurt a. M.
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Ethnographische Untersuchung von Mikroprozessen in der Schule Friederike Heinzel
In der empirischen Schul- und Unterrichtsforschung wurde der Forschungsstrategie der Ethnographie in den letzten zehn Jahren eine gesteigerte Wertschätzung zuteil, eine wertvolle Bereicherung, während gleichzeitig quantifizierende und international vergleichende Assessment-Studien vom Typ TIMSS, PISA und PIRLS/IGLU die schulpädagogische Diskussion bestimmen. Bereits 1995 hatte Zinnecker eine pädagogische Ethnographie der »Kindheit in der Schule« gefordert, um Schulkinder herauszuführen aus dem »Fadenkreuz didaktischer Modelle, spezifischer Handlungsprobleme des Lehrpersonals, eingefangen mit den Mitteln einer messenden Variablenwissenschaft«(Zinnecker 1995, S. 21). Er bedauerte, dass allenfalls Ansätze zur ethnographischen Analyse pädagogischen Handelns in der Schule vorhanden seien. Die Einschätzung von Zinnecker steht im Widerspruch zu den Ausführungen von Thole (in diesem Band), der eine traditionelle Verbundenheit ethnographischer Verfahren mit der Erziehungswissenschaft sieht und betont, dass die Ethnographie des Pädagogischen auf eine längere und beachtenswertere Geschichte zurückblicken könne, als dies gemeinhin angenommen werde. Dieser Gegensatz lässt sich auflösen, wenn zwischen schulischer und außerschulischer Pädagogik unterschieden wird. Gerade die Schule stellt ein besonders schwieriges Feld für ethnographische Forschung dar, denn Ethnographie hat meist die Erkundung fremder Welten zum Ziel. Das schulpädagogische Feld ist für jede Forscherin und jeden Forscher eine langjährig vertraute soziale Situation mit reichhaltigen biografischen Erfahrungen. Hier können weder fern liegende Kulturen erforscht werden noch Nischen der eigenen Kultur (vgl. Hünersdorf/Maeder/Müller 2008, S. 14). Fremde Welten gibt es hier höchstens dann zu entdecken, wenn sich der Blick auf Phänomene der Peer- und Jugendkultur richtet. »Die Befremdung der eigenen Kultur« (Hirschauer/Amann 1997) bildet deshalb eine ganz besondere Herausforderung für die schulpädagogische Empirie. Erst das neuere Forschungsprogramm der Ethnographie, das einen Blickwechsel vom nachvollziehenden Verstehen auf die Herstellung von Wirklichkeit vollzogen hat (vgl. Thole in diesem Band) und eine Praxistheorie, die den Handlungs- durch den Praktikenbegriff ersetzt, scheint neue Möglichkeiten zur methodischen Befremdung zu eröffnen und eine Verortung der Ethnographie in der Unterrichtsforschung zu erlauben (vgl. Breidenstein 2008, S. 109 ff.; Wiesemann/Amann 2002). In diesem Beitrag wird zunächst die Entwicklung der Untersuchung von Mikroprozessen in Schule und Unterricht skizziert. Verschiedene Forschungsschwerpunkte werden aufgezeigt und Ansätze der Ethnographie unterschieden. Dann werden drei neuere ethnographische Untersuchungen aus dem Bereich der deutschsprachigen Schulforschung vorgestellt, die alle auf eine systematische Durchdringung der Schul- und Unterrichtskultur zielen, aber auch konzeptionelle Unterschiede zu verdeutlichen vermögen. Zuletzt werde ich den aktuellen Stand der schulpädagogischen ethnographischen Forschung kurz zu bilanzieren versuchen.
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Friederike Heinzel Entwicklung und Schwerpunkte der Untersuchung von Mikroprozessen in Schule und Unterricht
Unter schulischen Mikroprozessen werden die alltäglichen Handlungen und Interaktionen in der Schule verstanden. Es geht darum, kleinste Konfigurationen sozialen Handelns im System Schule zu erfassen. In den USA und Großbritannien entwickelte sich die Untersuchung von Mikroprozessen in Schule und Unterricht in den 1970er Jahren in Abgrenzung zu standardisierten Beobachtungsverfahren. Mit mikrosoziologischen Ansätzen sollte die standardisierte Beobachtung im Klassenraum und eine Orientierung an vorab festgelegten Konzepten überwunden werden. Auch unterschwellige Aspekte der Interaktion sollten erfasst werden. Feldforschung, qualitative Forschung oder Einzelfallforschung wurden in den 1980er Jahren in den USA mit dem Sammelbegriff »Ethnographie« bezeichnet (vgl. auch Thole in diesem Band). Auch in der deutschen Schulforschung breiteten sich qualitative Forschungsansätze aus, wobei hier zunächst eine Konzentration auf die Analyse von Texten erfolgte, deren latenter Sinngehalt mit hermeneutischen Methoden wie Objektiver Hermeneutik, Tiefenhermeneutik oder narrationsstrukturellen Verfahren rekonstruiert wurde. Die hermeneutische Entschlüsselung von Sinn und Bedeutung einerseits und die ethnographische Feldforschung mit Teilnehmender Beobachtung zur Entdeckung von Praktiken andererseits bildeten verschiedene Forschungsperspektiven aus (vgl. Böhme 2004; Friebertshäuser 1997). In Bezug auf die bearbeiteten Inhalte können folgende Schwerpunkte bei der Erforschung schulischer Mikroprozesse ausgemacht werden (vgl. auch Wilcox 1982): 1. Arbeiten zur Bedeutung der Schulen für die Reproduktion der Kultur der Industriegesellschaft mit Klassenunterschieden, arbeitsteiligen Lernprozessen, Wettbewerbs- und Leistungsorientierung sowie Anpassungs- oder Auslesemechanismen. Hier werden meist Schülerforschung und Subkulturforschung verknüpft (vgl. Zinnecker 2000, S. 670 f.). Zu dieser Gruppe gehört Willis’ Analyse der Umwertung schulischer Werte in der widerständigen Jugendkultur von Arbeiterjugendlichen Englands (Willis 1979), eine der bekanntesten und meist zitierten ethnographischen Studien. Hier wurde der Übergang von Jungen aus der Arbeiterklasse ins Arbeitsleben untersucht. Detailliert schildert Willis in der Hauptstudie schulische Widerstandsformen und Gegenkultur einer Gruppe von zwölf Jugendlichen, die eine Jungenschule besuchen. Er begleitete diese Jugendlichen in den letzten zwei Schuljahren im Unterricht und in den ersten Monaten im Arbeitsleben und nahm zudem Gespräche mit deren Eltern, mit Lehrern und Berufsberatern auf Tonband auf. In diesem Bereich kann in Deutschland auf die Arbeiten der Projektgruppe Jugendbüro (1975) und die Studien des Essener Projektes von Bietau, Breyvogel und Helsper (1983) hingewiesen werden, die gleichfalls Anpassungsverhältnisse zwischen Jugendlichen und Schule untersuchten. 2. Untersuchungen von kulturellen Konflikten und Aushandlungsprozessen der Gleichaltrigen an Schulen mit Diskrepanzen und notwendigen Vermittlungsleistungen zwischen der Lebenswelt von Schülern und dem Wertesystem der Lehrkräfte: Viele dieser Studien sind eher im Bereich der Kindheits- und Jugendforschung anzusiedeln oder bemühen sich um eine Verbindung von Schul- und Kindheitsforschung. Hierzu gehören Untersuchungen zu Mikroritualen in der Schule, zur Bedeutung der Peer-Kultur in der Kindheit oder Ado-
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leszenz und zur Erkundung der Peer-Kultur in der Schulklasse (z. B. Adler/Adler 1998; Breidenstein/Kelle 1998; de Boer 2006; Eder 1995; Heinzel 2003; Krappmann/Oswald 1995; Rusch/Thiemann 2003; Tervooren 2006; Thorne 1993; Weißköppel 2001). Häufig werden in diesen Untersuchungen schulische Situationen jenseits oder am Rande des Unterrichts betrachtet, wie Pausensituationen, Morgenkreis, Klassenrat oder »Nebenhandlungen« in offenen Lernsituationen. In vielen dieser Studien spielen soziale Differenzierungen und Aushandlungsprozesse der Gleichaltrigen eine zentrale Rolle, wobei die Geschlechterunterscheidung zentrale Bedeutung erhält. 3. Studien zu Mikroprozessen im Feld des Unterrichts, zu Praktiken des Lehrens und Lernens oder zur sozialen Konstitution des Lernens (vgl. Breidenstein 2006; Huf 2006; Kalthoff 1997; Krummheuer 1997; Mehan 1979; Mohn/Amann 2005; Mohn/Wiesemann 2007; Panagiotopoulou 2003; Wiesemann 2000). Dabei können zwei Ansätze zur Erforschung von Mikroprozessen im Feld des Unterrichts unterschieden werden (vgl. Breidenstein 2002, S. 13 f.; Hammersley 1993):
Kompetenztheoretische Ansätze: die Teilnehmer im Feld werden als kompetente Darsteller einer spezifischen Kultur betrachtet und ihr Sprachwissen in der sozialen Ordnung der Unterrichtsinteraktion wird untersucht (Untersuchungen zum »classroom talk«). Learning Lessons (Mehan 1979) ist eine der frühen Studien aus diesem Bereich. Mehan bezeichnet seine Arbeit, in der er lehrergelenkten Unterricht in Bezug auf Strukturen und Strukturierungsprozesse der unterrichtlichen Interaktion untersucht, als »Constitutive ethnography« (ebd., S. 16). Unterrichtsstunden betrachtet er als sozial organisierte Ereignisse (ebd., S. 10). Er beschreibt Strategien, mit denen Lehrer und Schüler die unterrichtliche »Ordnung« aufrechterhalten und rekonstruiert das Initiation-Reply-Evaluation-Muster als Grundstruktur von Unterrichtsgesprächen. In kompetenztheoretischen Ansätzen wird häufig mit Ethnomethodologie und Konversationsanalyse gearbeitet (z. B. auch Ehrlich/Rehbein 1983). Handlungstheoretische Ansätze beschreiben (oder zeigen, wie im Falle der Kameraethnographie) mit der Forschungsstrategie der Ethnographie die Routinisiertheit oder Unberechenbarkeit sozialen Handelns in Schule und Unterricht sowie die Darstellungsformen, die schulische Wirklichkeit ausmachen. Hierzu zählen Untersuchungen zu »Schülertaktiken«, zur »Hinterbühne« des Unterrichts, zur Ausübung des »Schülerjobs«, zum »Lernkörper« oder zum »Handwerk des Lernens« (vgl. u. a. Breidenstein 2006; Heinze 1980; Mohn/Amann 2005; Mohn/Wiesemann 2007; Zinnecker 1978). In diesen Studien werden schulische oder unterrichtliche Interaktionen so analysiert, dass Ordnungsmuster sichtbar werden. Den Teilnehmern im Feld von Schule und Unterricht werden ungleiche Interessen zugesprochen und die Formen der Kontrolle, des Widerstands aber auch der routinierten Bewältigung der schulischen Lernsituation werden beschrieben.
Es zeigt sich, dass vor allem fremde Lebenswelten (die Kulturen der Gleichaltrigen oder subkulturelle Gruppierungen und schulferne Milieus) in den Blick der schulpädagogischen Ethnographie gerieten. Nur selten wurde der Unterricht zum Gegenstand ethnographischer Studien und wenn dies geschah, dann galt das Interesse meist dem (lehrerzentrierten) Unterrichtsgespräch oder den Widerstandsformen der Schülerinnen und Schüler im Unterricht.
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Erst in den letzten Jahren wurden auch die interaktiven Bewältigungen der Unterrichtsanforderungen und das schulische Lernen der Kinder mit der ethnographischen Forschungsstrategie untersucht (z. B. von Breidenstein 2006 oder Kalthoff 1997).
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Ausgewählte neuere Studien
Im Folgenden soll auf drei Studien näher eingegangen werden, die unterschiedliche Schwerpunkte in der Ethnographie des schulischen Handlungsfeldes entfalten. Die Intention bei der Durchdringung der Schul- und Unterrichtskultur und konzeptionelle Unterschiede sollen herausgearbeitet werden. In der ethnographischen Studie von Kalthoff (1997) zur Wohlerzogenheit wird am Beispiel von Jesuitenkollegs und Landeserziehungsheimen die kulturelle Praxis der Vermittlung von schulischem und sozialem Wissen beschrieben. Die Untersuchung von Kalthoff wurde ausgewählt, weil der Autor als ein führender Vertreter der neuen schulpädagogischen Ethnographie gelten kann. Kalthoff beabsichtigt zu analysieren, wie die internatsschulische Realität beschaffen sein muss, um »erzogene« Individuen hervorzubringen (ebd. S. 14). Er fragt nach den Mitteln und Ressourcen, auf die Pädagogen zurückgreifen, aber auch nach den Anpassungsund Überlebensstrategien der Schüler (ebd. S. 15). Sein Forschungsinteresse richtet sich auf »die Konstruktionslogik der pädagogischen Praxis« (ebd. S. 14) aus der Perspektive »einer kulturalistisch argumentierenden Praxistheorie« (ebd. S. 16). Kalthoff beschränkt sich nicht auf die Beobachtung im Internat, sondern bezieht auch die Schule und den Unterricht in seine ethnographische Studie ein. Seine Beschreibungen des schulischen Handelns enthalten interessante Analysen zur interaktiven Konstruktion von Wissen (ebd. S. 72 ff.), zur Raum-Zeit-Organisation, zur Fabrikation von Antworten im Unterricht und zur Praxis der schulischen Bewertung. Die Beobachtungen in den Internaten (ebd. S. 153 ff.) zeigen verschiedene Aspekte des internen Lebens, insbesondere die Dichte der Schüler-Sozialität und die Konstitution der Internatsordnung durch Aushandlung oder Übertretung bzw. Bestrafung. Durch die Fixierung sozialer Relationen in der Schule und durch Anforderungen im Internat, »an sich selbst zu arbeiten« werden Kompetenzen der Wohlerzogenheit (wie z. B. die Fähigkeit zu unterscheiden und sich zu unterscheiden) als Basis für Prozesse der Identitätsbildung bei den Schülern geschaffen (ebd. S. 244 f.). Die Wirkung der Internatserziehung führt Kalthoff zudem auf den zeitlichen Rhythmus als ein permanent wiederkehrendes Strukturprinzip zurück, das sich in die Körper der Schüler einschreibe. Wohlerzogenheit werde »in der Anordnung der Internatsschule erzeugt« (ebd. S. 245). Kalthoffs Studie ist auf Verstehen (im Gegensatz zum Erklären) schulischer Wirklichkeit gerichtet, wobei er eine konstruktivistische Perspektive einnimmt. Er untersucht die Praxis als Herstellung sozialer Ordnung im Unterricht und im Internatsleben. Kalthoff räumt ein, dass auch seine Ethnographie nicht der Kritik entgeht, »eine bestimmte Erzählung« zu sein, doch er möchte sie als »realistische Ethnographie« (ebd. S. 19) bezeichnet wissen. Die Untersuchung von Breidenstein (2006) mit dem Titel »Teilnahme am Unterricht. Ethnographische Studien zum Schülerjob« fragt danach, was Schüler und Schülerinnen im
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Unterricht tun und wie sie es tun (ebd., S. 9). Die Metapher des »Schülerjobs« illustriert sowohl die Schülertätigkeit als auch die Haltung von Schülerinnen und Schülern gegenüber ihrem Tun (ebd. S. 11). Breidenstein beschreibt die »wiederkehrenden Verrichtungen, Abläufe und Tätigkeiten, die zusammen genommen den ›Schülerjob‹ kennzeichnen« (ebd. S. 12). Er beansprucht, durch die Fokussierung auf die Tätigkeiten von Schülerinnen und Schülern in der Unterrichtssituation neue Zugänge zu den Problemen der Unterrichtswirklichkeit zu eröffnen. Diese ethnographische Studie wird hier vorgestellt, weil sie in der Schulpädagogik stark beachtet und als außerordentlich innovativ eingeschätzt wird. Auch Breidenstein nimmt (wie Kalthoff) eine praxistheoretische Perspektive ein, denn er möchte alltägliche Praktiken der Schülertätigkeit im Unterricht analysieren, die durch praktisches Wissen und Können bestimmt sind. Er betont zudem, dass mit der Akzentuierung auf Praktiken der Blick von den »Akteuren« gelöst werde und die Materialität des Geschehens (Bewegungen, Gegenstände, Räume) in den Blick geraten könne (ebd., S. 17 ff.). Breidensteins ethnographische Analysen aus zwei kontrastierenden Schulklassen (eine Klasse an einer reformorientierten Gesamtschule und eine Klasse an einem traditionsorientierten Gymnasium) beruhen auf langfristigen Unterrichtsbeobachtungen (teilnehmende Beobachtung, teilweise auch Tonaufzeichnungen und Videographie). Er stellt zunächst räumliche Aspekte des Schülerhandelns dar und zeigt, dass Schüler-Praktiken auf die Erweiterung von Räumen abzielen (ebd. S. 39 ff.). Seine Beobachtungen zum Phänomen der weit verbreiteten Langeweile im Unterricht verweisen darauf, dass eine Anerkennung der Normalität der Langeweile und deren Kultivierung zu den Routinen von Schulklassen gehört (ebd. S. 65 ff.). Den Kern der Studie bildet die Analyse der grundlegenden unterrichtsbezogenen Praktiken von Schülerinnen und Schülern in den vier Sozialformen (Frontalunterricht, Gruppenarbeit, Partnerarbeit und Einzelarbeit) (ebd. S. 87 ff.). Mit der Beobachtung von Klassenarbeitssituationen, der Analyse des Schülerhandelns in Bezug auf die Bedeutung der Produktorientierung im Unterricht und mit der Darstellung von Praktiken der Vergabe, Entgegennahme und Kommunikation von Zensuren beschreibt er weitere Kernbereiche der Teilnahme am Unterricht. Das Verhältnis der Schüler zu ihrem Job beruhe – so arbeitet Breidenstein abschließend heraus – »gleichzeitig auf Teilnahme und Distanznahme«, wobei ein gewisser »Unterhaltungswert« gesichert sein muss (ebd., S. 260). Er nimmt an, dass sich der Unterricht letzten Endes in einer umfassenden Produktorientierung verdichtet. Breidensteins schulpädagogische Ethnographie konzentriert sich auf den Unterricht, den er nicht von seinen Aufgaben, sondern von der Praxis und der Seite der Adressaten her untersucht. Er betont den Pragmatismus des Schülerjobs, der weder mit »Lustlosigkeit« zu verwechseln noch mit dem Theorem der »Entfremdung« zu erfassen sei (ebd. S. 263). Ihm geht es nicht darum, die Haltung der Schülerinnen und Schüler zum Unterricht zu beklagen, sondern »in ihrem Pragmatismus zu rehabilitieren« (ebd. S. 263). Rusch und Thiemann (2003) analysieren in ihrer Studie »Mitten im Kampfgetümmel« Unterrichtsgespräche über Schulbuchtexte. Sie verfassen »ethnographische Reportagen aus Klassenzimmern« (so der Untertitel des Buches) zu Unterrichtsgesprächen in über zwanzig Klassen an Grundschulen, Hauptschulen, Gesamtschulen und Gymnasien. Mit »Kampfgetümmel« werden die Fraktionierungen der Schulklassen und die entbrennenden Identitätskämpfe bezeichnet (ebd. S. 4 f.). Diese Studie scheint in der schulpädagogischen Diskussi-
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on bislang eher selten wahrgenommen zu werden und wird deshalb hier etwas ausführlicher dargestellt. Lehrerinnen und Lehrer wurden gebeten, mit den Kindern über einen – von dem Forscherpaar vorgeschlagenen – Text zu sprechen. Die ausgewählten Texte entstammten Schulbüchern und waren typisch für Unterrichtsanlässe, in denen Fragen der Identität (Geschlechtsidentität, kulturelle Identität) thematisiert werden sollten. Zum Ablauf der Unterrichtsgespräche waren keine Vorgaben gemacht worden (ebd. S. 3 f.). In dieser ethnographischen Studie wird – im Sinne Goffmans – das Klassenzimmer als »Schauplatz« betrachtet, »in dem soziale Akteure die Dramaturgie des Geschehens vorwärts treiben« (ebd. S. 7). Gleichzeitig wird angenommen, dass mit der Modernisierung des Schulehaltens der »Kampf um die Anerkennung von Identitäten« eskaliert (ebd. S. 16). In den einzelnen Kapiteln wird der Bühnencharakter der Schulklasse mit Fraktionierungen, Deutungskriegen und der Konstitution kleiner Deutungsgemeinschaften, der Handel um Identität, die Kämpfe zwischen den Geschlechtern, das Scheitern der Verständigung, die Unmöglichkeit interkultureller Kommunikation und die Inszenierung von Geschlossenheit beschrieben. Die Studie von Rusch und Thiemann widmet sich einem klassischen Thema ethnographischer Unterrichtsforschung, dem Unterrichtsgespräch. In der Untersuchung wird mit einem akteurszentrierten Ansatz gearbeitet und sie kann im Modernisierungs-Diskurs verortet werden. Der Kontrast zwischen dem, was Kinder »wirklich tun«, und dem, was sie »tun sollen«, wird – teilweise unter Verwendung von Kriegsvokabular – herausgearbeitet. Die Untersuchung unterscheidet sich von den beiden vorher behandelten vor allem dadurch, dass hier nicht die Materialität sozialer Praktiken beobachtet wird. Stattdessen wird auf Aushandlungen und kulturelle Konflikte der Akteure fokussiert, Probleme der Belehrung werden analysiert und die Diskrepanzen zwischen der Lebenswelt von Schülern und dem Wertesystem von Lehrkräften und Schulbuchmachern durchleuchtet.
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Aktuelle Bilanz der ethnographischen Forschung im pädagogischen Handlungsfeld Schule
In der ethnographischen Schul- und Unterrichtsforschung geht es nicht um die Bestimmung von Zielen und die Intentionalität pädagogischen Handelns (wie in der Didaktik) und nicht um Wirkungen, Effekte und Qualität (wie in der pädagogisch-psychologischen LehrLernforschung), sondern um die Untersuchung von Mikroprozessen und die Beschreibung der Interaktionen der Beteiligten an Schule und Unterricht. Die ethnographische Untersuchung schulischer Mikroprozesse richtete sich zunächst vor allem auf die Peer- und Subkulturen in der Schule, auf Aushandlungs- und Differenzierungsprozesse oder auf das lehrerzentrierte Unterrichtsgespräch. Es gibt aber viele weitere soziale Situationen, die in Schule und Unterricht einem permanenten Prozess der Interpretation und Definition durch die Akteure unterworfen sind (vgl. Wiesemann/Amann 2002). Neuere ethnographische Untersuchungen betonen die Bedeutung sozialer Praktiken, die als kleinste Einheiten des Sozialen gelten und seit den 1990er Jahren in verschiedenen sozialwissenschaftlichen Forschungsfeldern (vgl. Reckwitz 2003, S. 282) eine wichtige Rolle spielen. Eine Praktik ist nach Schatzki (1996, S. 89) als ein routiniert hervorgebrach-
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ter »temporally unfolding and spatially dispersed nexus of doings and sayings« zu verstehen. Praktiken können nur durch Beobachtung erfasst werden, weil sie im Alltagswissen verhaftet und der Reflexion der Beobachter nicht zugänglich sind. Als Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken gelten die Verankerung des Sozialen im praktischen Wissen (im Sinne von »know how«), die Abhängigkeit sozialer Praktiken von Körpern und Artefakten und das sie kennzeichnende Spannungsfeld von Routinisiertheit und Unberechenbarkeit (vgl. Reckwitz 2003; s. a. Breidenstein 2008 in diesem Band). Mit der Akzentuierung von Praktiken soll der Blick von den Akteuren gelöst werden (vgl. Breidenstein 2006, S. 17). Zwischen der Schule und dem Unterricht als Feldern ethnographischer Forschung wird bislang nicht systematisch unterschieden. Die Interaktionsordnung in der Schule und die Interaktionsordnung im Unterricht unterscheiden sich aber beträchtlich. Seit Parsons (1968) und Fend (1980) ist die schulpädagogische Diskussion durch die strukturfunktionalistische Sichtweise bestimmt, doch kann der Unterricht nicht auf seine Funktionen für das Gesellschaftssystem reduziert werden, sondern muss – stärker als die Schule – aus den situativen Bedingungen heraus verstanden werden, denn er beinhaltet für die Akteure eine Fülle von Situationen, in denen subjektive Deutungen und Bewertungen von Ereignissen vorgenommen werden müssen. Unterschiede in Bezug auf theoretische Vorannahmen zur Schule und zum Unterricht müssten klarer herausgearbeitet werden. Die Unterscheidung zwischen Schule und Unterricht müsste zudem, wie auch die Unterscheidung zwischen »unterrichtlichen« und »außerunterrichtlichen« Tätigkeiten, konsequenter als eine Unterscheidung der Teilnehmer analysiert werden. So wird z. B. der Morgenkreis in der Grundschule, der den Übergang zwischen außerschulischer Lebenswelt der Kinder und Schule gestalten soll, von Kindern teilweise noch nicht als Unterricht empfunden (vgl. Heinzel 2003). Auch wenn neue ethnographische Studien in der Schulpädagogik entstanden sind und diese – wegen ihrer irritierenden Wirkung – eine gewisse Aufmerksamkeit erhalten, handelt es sich um eher punktuelle Anstrengungen. Eine aktuelle Tendenz besteht in der Produktion von kamera-ethnographischen Studien, die nicht das Buch, sondern das Bild als Produktionsform wissenschaftlichen Wissens wählen (z. B. Mohn/Amann 2005; Mohn/Wiesemann 2007; vgl. auch Mohn in diesem Band). Mit der praxistheoretischen Perspektive scheint sich im deutschsprachigen Raum gegenwärtig ein Hauptstrom der Ethnographie des schulpädagischen Handlungsfeldes herauszubilden. Allerdings sollten auch die kompetenzorientierten Ansätze weitergeführt werden, die ebenfalls gewinnbringende Erkenntnisse erbracht haben. Traditionen der Ethnographie, deren Autoren Schüler oder Lehrer waren und die der Praxisforschung zugerechnet werden können (zur Übersicht vgl. Zinnecker 2000, S. 677 f.), finden derzeit kaum wissenschaftliche Beachtung (vgl. auch Hünersdorf 2008). Gleichwohl erscheint es sinnvoll, Einseitigkeiten zu vermeiden, die verschiedenen Stränge der Ethnographie im schulpädagogischen Handlungsfeld weiterzuführen und besser aufeinander zu beziehen.
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Ethnographie und Soziale Arbeit – Ein kritisches Plädoyer Karin Bock/Katja Maischatz
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Einleitung oder: Auf der Suche nach ethnographischen Spuren in der Sozialen Arbeit
Innerhalb der Sozialen Arbeit finden sich viele Hinweise darauf, dass ethnographische Studien wesentliche Erkenntnisse und Einsichten in Disziplin wie Profession vorangetrieben haben. Zwar wurden solche Studien bislang kaum explizit als »ethnographische« Studien ausgewiesen1, doch wirft man einen »ethnographischen Blick« in die Geschichte Sozialer Arbeit, so erscheinen nahezu alle sozialpädagogisch beziehungsweise sozialarbeiterisch initiierten Hilfen (beispielsweise in Großbritannien und den USA) auf dem Weg vom »Helfen als Beruf« mehr oder weniger ethnographisch inspiriert: Da ist die Gründung der Toynbee Hall durch Henrietta und Samuel Barnett, die den Londoner Studenten vorschlugen, sich für einige Zeit ein Haus in einem Fabrikviertel zu mieten, um so zu lernen, »das Leid mit den Armen zu teilen« (zit. nach Müller 1982, S. 21), oder die durch die Barnetts ermutigten Chicagoerinnen Jane Addams und Ellen Starr, die nach der Gründung von Hull House als eines ihrer Ziele formulierten, »die Lebensbedingungen in den industriellen Bezirken von Chicago zu untersuchen« (Müller 1982, S. 73).2 Die Liste ließe sich fortsetzen (vgl. hierzu auch Jakob/Wensierski 1997). Allen Untersuchungen innerhalb der Sozialen Arbeit am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist gemeinsam, dass sie die Erforschung prekärer Lebensbedingungen und Lebenswirklichkeiten3 zum Ausgangspunkt sozialer, rechtlicher und gesellschaftlicher 1
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Vermutlich weil die Ethnographie aus der Ethnologie (synonym für die im angloamerikanischen Raum gebräuchlichen Termini »social anthropology« beziehungsweise »cultural anthropology«) beziehungsweise Völkerkunde hervorgegangen ist. Deren vornehmliches Anliegen bestand darin, insbesondere die Sozialstrukturen tribaler Gesellschaften in (ihren) vorindustriellen Entwicklungsstadien im Gegensatz zur eigenen Kultur beziehungsweise Gesellschaftsordnung zu beschreiben (was im Übrigen auf eine lineare Annahme von Gesellschaftsentwicklung rekurriert). Erst in der neueren forschungstheoretischen Auseinandersetzung wird der Beitrag der Ethnographie zur Entwicklung der teilnehmenden Beobachtung als Methode herausgearbeitet. In einer verkürzenden Darstellung und mit speziell sozialpädagogischer Fokussierung gibt Lüders (2000, S. 385) zumindest einen kurzen Verweis auf diese Lesart, wenn auch nur angedeutet als Insider-Tipp und getarnt als »Methode teilnehmender Beobachtung«: »Teilnehmende Beobachtung hat ihre historischen Wurzeln (…) in den Sozialreformbewegungen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA und Großbritannien. Ethnische sowie verteilungs- und migrationsbedingte Konflikte in den urbanen Industriezentren und das Entstehen neuer Formen von Armut und Verelendung in den Slums der Großstädte mobilisierten nicht nur Sozialreformer, sondern auch Wissenschaftler und Universitäten.« Nicht von ungefähr stehen mehrere der »klassischen« Studien aus der Chicago School im Zusammenhang mit Hull House beziehungsweise Jane Addams und Ellen Starr, die mit den Pragmatisten der ersten Generation (insbesondere John Dewey) befreundet waren: So entstand im Kontext von Hull House die wohl berühmteste qualitative Studie zum »Polish Peasent in Europe and America« von William Isaac Thomas und Florian Znaniecki (1918-1920), aus der das so genannte, vielzitierte und in letzter Zeit etwas vergessene »ThomasTheorem« abgeleitet worden ist (vgl. Fischer-Rosenthal 1995). Mit »Lebenswirklichkeiten« bezeichnen wir hier und im Folgenden die sichtbaren, alltäglichen Muster der Lebensbedingungen und deren praktischer Bewältigung.
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Forderungen nach Veränderung für die Betroffenen nahmen, die deshalb auch als sozialreformerische Bewegungen verstanden worden sind. Man kann diese Ansätze somit auch als Suche nach einer Antwort auf die soziale Frage interpretieren, deren Weg über die Erkundung und Erforschung lebensweltlicher Zusammenhänge und gesellschaftlicher Disparitäten führte. Diese Forschungsstränge werden zumeist (und wenn überhaupt) als Wurzeln der teilnehmenden Beobachtung, nicht jedoch als dezidiert ausgewiesene Wurzeln der Ethnographie diskutiert (vgl. Lüders 2000). Eine Spurensuche nach ethnographischen Wurzeln innerhalb der Sozialen Arbeit gehört also nicht unbedingt zu den allgemein anerkannten sozialwissenschaftlichen Mainstream-Themen qualitativer Forschung.4 Versteht sich doch die »klassische« Ethnographie zuerst als Nachfolgerin der Ethnologie, als sie vom »extensiven Datensammeln zur intensiven Erforschung lokaler Zusammenhänge« überging; die (mehr oder weniger) anerkannten »Wurzeln ethnographischer Methoden« liegen somit zuallererst »in den anthropologischen und ethnologischen Werken von Bronislaw Malinowski, Franz Boas und in den linguistischen Studien von Edward Sapir« (Ohlbrecht 2000, S. 660). Doch dieser ethnologischethnographischen Herangehensweise darf vorgehalten werden, dass sie sich immer schon mit eingegrenzten, separaten und weniger mit gesellschaftsumfassenderen Fragen auseinandergesetzt hat. Die Erkenntnisse, die aus den ethnologischen Studien abgeleitet wurden, lieferten denn auch jeweils ihre eigenen Grenzen und Beschränkungen gleich mit. Zumeist ging es eben um sozialräumlich (künstlich) begrenzte Teilausschnitte, die kaum noch etwas mit dem gegenwärtigen Verständnis von lebensweltlicher Ethnographie (vgl. Honer 1993) gemeinsam haben dürften. Deshalb wollen wir auch einen etwas anderen Weg einschlagen. Uns geht es weder um die Bestimmung und Verortung ethnographischer Methoden im Allgemeinen oder die Begründung einer ethnographischen Methodologie im Besonderen (vgl. hierzu Honer 1993; Hirschauer/Amann 1997; Lüders 2000; auch Girtler 2001) noch um eine Rekonstruktion einer (wie auch immer gelagerten) Diskussion um die historischen Wurzeln Sozialer Arbeit und Ethnographie; dieses setzen wir als gegeben voraus. Vielmehr wollen wir im Folgenden danach fragen, welche Antworten die Diskussion um eine erziehungswissenschaftliche Ethnographie beziehungsweise um die Gegenstandsbestimmung sozialpädagogischer Forschung liefern (2.1), um die Möglichkeiten ethnographischer Methoden im »Feld« der Sozialen Arbeit ausloten zu können (2.2). Im Anschluss daran diskutieren wir, wo die Grenzen des ethnographischen Blicks innerhalb Sozialer Arbeit liegen (2.3). Zusammenfassend widmen wir uns der Frage, wie sich eine in ethnographischer Perspektive öffnende Soziale Arbeit formieren könnte, sodass eine weitergehende Analyse im Kontext gesellschaftlicher Verallgemeinerungen möglich wird (3).
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Wohl aber der Verweis darauf, dass die qualitative Forschung insgesamt eine lange Tradition mit heterogenen Wurzeln innerhalb der Sozialen Arbeit hat (vgl. Jakob/Wensierski 1997) – wenn auch nicht von den Nachbardisziplinen zur Kenntnis genommen. Ob dies tatsächlich unter dem Label »Rekonstruktive Sozialpädagogik« als Synonym für »Konzepte und Methoden sozialpädagogischen Verstehens in Forschung und Praxis« Bestand haben wird, bleibt abzuwarten. Unserer Ansicht nach müsste hier künftig eine viel differenziertere (und auch: selbstbewusste) Analyse der vorliegenden Forschungstraditionen und daran anschließenden Studien erarbeitet werden. Denn inzwischen hat sich eine etwas anders gelagerte sozialpädagogische Forschungslandschaft etabliert, als es noch in den 1990er Jahren der Fall war.
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Möglichkeiten und Grenzen ethnographischer Methoden im Feld der Sozialen Arbeit
2.1 Erziehungswissenschaftliche Ethnographie und sozialpädagogische Forschung: Unbequeme Antworten auf basale Fragen Zumindest innerhalb der qualitativ forschenden erziehungswissenschaftlichen Disziplin ging es in den letzten Jahren auch immer um die Frage, ob es so etwas wie eine »erziehungswissenschaftliche Ethnographie« (vgl. Zinnecker 2000; Zeck 2002) gäbe oder wie sich gar eine (qualitativ) orientierte sozialpädagogische Forschung formieren könnte (vgl. exemplarisch: Jakob 1997; Lüders 1998; als Überblick: Rauschenbach/Thole 1998; Schweppe/Thole 2005). Diese Diskussionen sind hier in unserem Kontext wichtig, weil sie auf scheinbar banale Fragen (Gibt es eine erziehungswissenschaftliche Ethnographie? Und: Was ist sozialpädagogische Forschung?) basale Antworten liefern, die für die Bestimmung von ethnographischer Forschung innerhalb Sozialer Arbeit aufschlussreich sind. Zuerst gehen wir deshalb der Frage beziehungsweise den Antworten nach, die Jürgen Zinnecker (2000) für die Existenz einer erziehungswissenschaftlichen Ethnographie geliefert hat, um daran anschließend zu diskutieren, was eigentlich sozialpädagogische Forschung ist. Unsere Aufgabe wird darin bestehen herauszufinden, wo und wie sich Schnittmengen aus diesen beiden Diskussionen ergeben, um dann die Möglichkeiten und Grenzen ethnographischer Forschung in der Sozialen Arbeit aufzeigen zu können. In seinem Artikel aus dem Jahr 2000 stellt Zinnecker jüngere Entwicklungstendenzen und Einflussgrößen der ethnographischen Forschung vor, wobei er insbesondere die bis dato unzureichende Repräsentation der angloamerikanischen Kulturanthropologie in der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft hervorhebt. Interessant für unseren Zusammenhang ist aber vielmehr Zinneckers aufgeworfene Frage nach der »Feldforschung im Feld der Pädagogik« (Zinnecker 2000, S. 382). Er sucht diese von einem eher sozialwissenschaftlich interdisziplinären Standpunkt zu beantworten, um die Möglichkeiten zu skizzieren, die sich der Pädagogik dadurch bieten können. So ist es nebensächlich, wer sich als approbierter Forscher ausweisen darf (Erziehungswissenschaftler versus Vertreter anderer Disziplinen, Experten versus Laien etc.), sind es doch nur allzu oft gerade die »Grenzgänger« zwischen den Kulturen (Zinnecker 2000, S. 393), die mit einem nur ihnen eigenen, aktiven und relativierenden Umgang mit den kulturellen Grenzziehungen eine adäquate Ethnographie betreiben könnten. Durch die Betonung und Begründung einer psychosozialen Außenseiter-Position des 5 Forschers (marginalisierte Persönlichkeit ) verweist Zinnecker auf dessen interdisziplinäre Motivation, die gerade nicht aus der Mitte des kulturellen Feldes beziehungsweise der eigenen Disziplin entspringt. Am Beispiel des Zugangs zur Schulethnographie plausibilisiert Zinnecker diese kritische und insbesondere biographisch geprägte Grundhaltung, die für ethnographisch tätige ErziehungswissenschaftlerInnen kennzeichnend ist: Sie hätten oftmals selbst die Felder ihrer Disziplinen gewechselt und seien damit gleichermaßen prädes5
Der »marginal man« (Stonequist 1961) zeichnet sich durch Qualitäten und Einsichten aus, die dem Eingeborenen (beziehungsweise seiner Sichtweise) aufgrund seiner Involviertheit in der Regel versperrt bleiben. Daraus kann die »Perspektive des Fremden« beziehungsweise der befremdende Blick abgeleitet werden, was dann ja auch Amann/Hirschauer (1997) getan haben (wenn auch nicht unbedingt mit Rekurs auf Stonequist).
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tiniert, deren sinnstiftende Elemente zu hinterfragen, diese für sich und andere zu befremden.6 Dies birgt jedoch auch das Problem, dass Ethnographie zwar als solche praktiziert wird, sich im Methodenkanon bislang aber nicht fest etablieren konnte. Mindestens ebenso weit gefasst wie die Frage danach, wer als forschende Autorität in Erscheinung treten darf, beantwortet Zinnecker auch die Frage nach der Eingrenzung des Gegenstands im Feld der Pädagogik. Diese habe sich schlichtweg aus den vorfindlichen pädagogischen Handlungsfeldern – einschließlich ihrer kulturellen Praxen und Orientierungen – selbst zu ergeben (Zinnecker 2000, S. 382).7 Eine Ethnographie, die den »Blick auf das Fremde der eigenen Kultur« gerichtet hat, »erhebt den Anspruch, die pädagogische, organisatorische Lebenswelt aus der Perspektive der dort Tätigen zu rekonstruieren« (Zinnecker 2000, S. 394). Sie rekurriert zwar weiterhin auf die klassischen Prämissen ethnographischen Vorgehens, variiert diese aber, indem sie ethnographische Berichte dialogisch durch Kommunikation validiert und sich damit von einer teilnehmenden Beobachtung wegbewegt hin zu einer »talking ethnography« von formellen und informellen, aber unbedingt offen zu gestaltenden Interviewsituationen. Die »lebensweltorientierte, humanistische Position« der EthnographInnen zielt also sowohl auf Partizipation als auch auf Dialog. Dabei rücken neben den bekannten Rollenträgern im Feld (wie beispielsweise LehrerInnen mit ihren je eigenen Theorien über ihre berufliche Lebenswelt oder ranghöhere Beamte) auch zunehmend die Kinder als Co-Produzenten der Reproduktion kultureller Wissensbestände in den Blick. Nach Zinnecker (2000, S. 395) konstituiert sich nun allerdings in einer um die Frage nach der »Sinnvermittlung durch die Interpreten« angereicherten Ethnographie möglicherweise eine neue Konfliktlinie innerhalb der pädagogischen und sozialwissenschaftlichen Ethnographie, die quer zu den alten Ordnungsmustern vom normativen versus interpretativen Paradigma liegt: Auf der einen Seite stehen dann die (eben beschriebenen) Vertreter einer sich zunehmend für alle Subjekte und Objekte der Lebenswelt öffnenden »populären Ethnographie«, die sich damit mehr oder weniger ihrer eigenen ethnographischen WissensAutorität berauben. Auf der anderen Seite treffen wir auf die VertreterInnen einer »konsequenten Professionalisierungs-Politik«, die auf die Positionierung von Ethnographie als anerkanntes Experten-Verfahren abzielen und für die der Beitrag von Alltags- und Organisationsmechanismen zur Wissensgenerierung kaum relevant ist. Etwas anders lagert Christian Lüders seine Forderung nach einer »genuin sozialpädagogischen Forschung«, indem er zunächst auf die Abgrenzung von sozialwissenschaftlicher Forschung auf der einen Seite von der »Diagnose, Bedarfsplanung, Supervision, Praxisberatung, Fort- und Weiterbildung (…) (von) anderen Verfahren der Fallanalyse und Praxisentwicklung beziehungsweise Qualitätssicherung in der Praxis« (Lüders 1998, S. 118) auf der anderen Seite zielt. Mit dieser Trennlinie lassen sich seiner Meinung nach die reflektierten Erfahrungsberichte von PraktikerInnen nicht an den Kriterien sozialwissenschaftlicher 6 7
Eine Feldforschung, die ganz im Sinne der Chicago School (R. Park) biographisch und sozial gerahmt als eine »Form akademischer Bildungsreise« definiert wird (Zinnecker 2000, S. 381). Dabei sehen sich aber gerade (junge) EthnographInnen mit einem Status- beziehungsweise Legitimationsproblem konfrontiert, wenn sie in die Bereiche pädagogischer Organisationen vordringen. Denn dort treffen sie auf die ausgebildeten und professionalisierten Hüter jener Bereiche, die das Interpretationsmonopol »ihres Feldes« nicht selten für sich allein reklamieren wollen (Zinnecker 2000, S. 394). Inwiefern allerdings nur Bildung und Erziehung im Zentrum der Praxisbetrachtungen pädagogischen Handelns stehen, lässt Zinnecker offen.
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Forschung messen. Dabei scheint hier die Unterscheidung nach der Forscher-Autorität eingewoben zu sein, auch wenn das für Lüders nicht das vornehmliche theoretische Analysekriterium ist. Die Lebenswelt in der Praxis konstituiert sich für Lüders aus den drei »Eckpunkten« des Feldes: der/den zuständigen Institution/en, den in ihnen hauptberuflich oder ehrenamtlich Tätigen und den AdressatInnen. Die identifizierten Rollenträger ergänzt Lüders dann (ebenso wie auch Zinnecker 2000, S. 120 f.) um die Lebenswelt der AdressatInnen, die sich in der Interaktion mit den institutionalisierten Rollenträgern ergibt: »Nicht die Lebenslagen der Kinder, Jugendlichen, jungen Erwachsenen und ihrer Erziehungsberechtigten als solche ist ihr Thema, sondern diese Lebenslagen in Zusammenhang mit Angeboten, institutionellen Strukturen, den professionellen Kompetenzen etc. der Kinder- und Jugendhilfe« (Zinnecker 2000, S. 121). Eine daran anknüpfende Kinder- und Jugendhilfeforschung hat es also zur Aufgabe, diese »Strukturen vor dem Hintergrund, dass in ihnen (sozial)pädagogische Prozesse stattfinden (sollen)« (Zinnecker 2000, S. 122) zu analysieren und dabei alle beteiligten Akteure gleichermaßen zu berücksichtigen. In seinen weiteren thematischen Überlegungen verfeinert Lüders (2006) den bereits angedeuteten Anspruch an die Formulierung einer rein »pädagogischen Ethnographie«, indem er die Ansätze von Zinnecker (1995) und Winfried Marotzki (1998) gegenüberstellt. Er gelangt hier schlussendlich zu der Erkenntnis: »wenn mit dem Begriff ›pädagogische Ethnographie‹ mehr gemeint sein soll als die Ethnographie pädagogischer Praxis, [bedürfte es] einer heuristischen grundlagentheoretischen Vergewisserung, was aus der Sicht (…) eines ethnographischen Zugangs als Erziehung beziehungsweise pädagogischer Prozess zu verstehen sei (…) und einer darauf abgestimmten Methodologie« (Lüders 2006, S. 143). Diesem Interesse würden sich jedoch die bereits bekannten Probleme innerhalb der Erziehungswissenschaft entgegen stellen, die auf die Frage rekurrieren, was denn Gegenstand 8 und welches die Perspektive der Erziehungswissenschaft sein sollte. Also ergäbe eine »erziehungswissenschaftliche und erst recht pädagogische Ethnographie (…) wenig Sinn«, ja sie sei sogar »ein bislang nicht einlösbares Programm« (Lüders 2006, S. 144). Denn eine derart eingeschränkte pädagogische Ethnographie könnte schließlich nur eine »Ethnographie von Erziehung, pädagogischer Praxis und Bildung« sein (Lüders 2006).9 Ihre vermeintlichen Nachteile ins Positive gewendet, bedeutet das für uns im Hinblick auf die Theoriebildung und Forschung in der Erziehungswissenschaft aber einen Erkenntnisgewinn, und zwar über die Konstitution sozialer Phänomene (Erziehung, pädagogischer Prozess, Bildung). Wenn man sodann im Rahmen der Untersuchung von pädagogischer Praxis die biographische Perspektive der beteiligten Akteure mitdenkt, lässt sich deren Wissen über die »Konstruktionen von Biographie und Erziehung in (ihrem) situativen Kontext« (Lüders 2006, S. 146) erschließen (mit anderen Worten die Analyse der »interaction order« im Sinne von Goffman). Die ethnographische Beschreibung und Rekonstruktion dieser lokalen Wissensbestände erfolgt dann entlang der Fragen:
Wie und in welchen pädagogischen Kontexten wird Biographie als Bezugspunkt thematisiert?
8 Eine subjektbezogene Perspektive oder doch eine eher strukturalistische Perspektive? 9 Die Frage ist hier, warum »nur«?
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Karin Bock/Katja Maischatz Wie konstituieren sich also in diesem Zusammenhang Biographie und Erziehung interaktiv? Und: In welchem Verhältnis stehen dann Biographie und Erziehung zueinander?
Ob allerdings eine so konstruierte Sicht auf erziehungswissenschaftliche beziehungsweise pädagogische Ethnographie dazu ermutigt, sich ethnographisch forschend einem sozialpädagogischen Feld zu nähern, darf bezweifelt werden. Denn wir finden bei genauerer Betrachtung wenig konstruktive Vorschläge, um die methodologischen Probleme ethnographischer Forschung konstruktiv zu wenden oder für eine erziehungswissenschaftliche respektive sozialpädagogische Ethnographie zu öffnen. Doch fassen wir zuerst die gemeinsamen Schnittmengen und wesentlichen Erkenntnisse dieser Überlegungen zusammen:
Eine eigenständige Forschungsmethode der pädagogischen Ethnographie existiert (bislang) nicht. Auch ist die Ethnographie keine originär pädagogische Forschungsmethode. Die gegenwärtige pädagogische Ethnographie beschäftigt sich mit der Lebenswelt der AdressatInnen und der Professionellen (PraktikerInnen). Ihr Mittel ist die »Befremdung der eigenen Kultur«, realisiert durch ein methodisch kontrolliertes Fremdverstehen. Das ethnographische Feld ergibt sich aus den pädagogischen Handlungsgebieten; deshalb konstituiert sich der ethnographische Gegenstand situativ und nur in der Praxis. Ethnographische Erkenntnisse lassen sich nur in der längeren Beobachtung gewinnen.
Darüber hinaus macht insbesondere Lüders (1998) deutlich, dass innerhalb einer ethnographischen Pädagogik als wissenschaftlichem Programm zwei Zugänge strikt voneinander zu trennen sind: einerseits die durch WissenschaftlerInnen betriebene Ethnographie mit einer gewissen ideologischen Grundhaltung (wenn man es so nennen mag) als Praxisbeobachtung oder -analyse; andererseits die durch multiperspektivisch arbeitende PraktikerInnen im Feld der Sozialen Arbeit realisierte ethnographische Erkundung als Praxisanwendung. Zinnecker (2000) warnt hingegen vor der Beliebigkeit einer durch die Erweiterung der Akteursperspektiven gekennzeichneten »populären Ethnographie«. Bei Zinnecker findet sich außerdem ein nicht erwarteter Anhaltspunkt, der den Gegenstand einer ethnographischen Pädagogik erweitert, indem er das Nicht-offensichtliche von pädagogischen Settings mit in den Blick nimmt. Neben Bildung und Erziehung sind prinzipiell auch andere parallel oder quer dazu ablaufende soziale Phänomene denkbar und können gleichberechtigt zum Gegenstand des Forschungsinteresses werden, also eine Begrenzung auf rein pädagogische Sachverhalte könnte den (pädagogisch) ethnographischen Blick auch verstellen. Ziehen wir aus diesen Überlegungen die nun für uns wichtigen (sozialpädagogischen) Schlüsse, so zeigt sich deutlich, dass beide Autoren offenbar ein Problem damit haben, das Feld erziehungswissenschaftlicher Ethnographie respektive sozialpädagogischer Forschung ab- und einzugrenzen. Die Suche nach einer »objektiven« beziehungsweise verallgemeinerbaren Beschreibung dessen, was denn nun eigentlich der originäre Gegenstand erziehungswissenschaftlicher Ethnographie sei respektive wie sich überhaupt sozialpädagogi-
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sche Forschung konstituiert, verstellt offensichtlich den Blick zum bereits Beschriebenen: Denn sowohl Zinnecker als auch Lüders können zwar klar den Gegenstand beschreiben, doch wo der eine Seriositätsprobleme anmeldet, hat der andere methodologische Zweifel. Die Gründe hierfür sind sicher vielschichtig. Denn in einer Zeit, als sich im angloamerikanischen Raum die ethnographische Forschung innerhalb der Sozial- und Humanwissenschaften bereits als Methode etablieren konnte, sah sie sich im deutschsprachigen Raum noch mit Akzeptanzproblemen konfrontiert, über die ihr ein unzureichender wissenschaftlicher Anspruch attestiert wurde. Zinnecker (2000) weist die Hemmungen, aber auch die Entwicklungsschübe einer ethnographisch orientierten Pädagogik anhand vieler Beispiele nach. In der Folge erzeugte die Verknüpfung von Ethnographie mit wissenschaftstheoretischen Paradigmen einerseits auch »verschiedene Spielarten« (Hitzler 2007), so unter anderem eine ethnomethodologisch-konstruktivistische, eine lebensweltanalytische und eine fokussierte Ethnographie, beziehungsweise auch Methodeninnovationen im Rahmen der bekannten Triangulationsmöglichkeiten (beispielsweise ethnographische Semantik). Andererseits entwickelten sich mit der Frage nach der adäquaten Forscher-Autorität, die je nach Profession eine je eigene »professionelle Schizophrenie« (Honer 2003, S. 202) hervorbrachte, auch vielfältige Zugänge und Lesarten ethnographischer Pädagogik. Mit der Adaption an ein und der Auseinandersetzung mit einem ethnographischen Selbstverständnis innerhalb disziplineigener Schwerpunktsetzungen der modernen Humanund Sozialwissenschaften vervielfältigten sich also gleichermaßen die Gegenstände (vgl. dazu Cloos/Thole 2006) und die Diskussionen darüber, was eigentlich pädagogische Feldforschung beziehungsweise Ethnographie ist und wie sie angemessen zu betreiben sei (vgl. Friebertshäuser 2000; Knoblauch 1996, 2001; auch Hitzler 2002). Mit anderen Worten: Die Komplexität erhöht sich. Eine grundsätzliche Einigkeit im deutschsprachigen Raum scheint diesbezüglich eigentlich nur in einem Punkt zu bestehen: Mit der Veränderung der Blickrichtung weg von der (strukturellen) Beschreibung einer fremden Kultur durch eine ethnozentrische Brille (die in der Regel die westliche Kultur zum Maßstab der Dinge erklärte, an dem sich andere Kulturen messen mussten) hin zur »Befremdung der eigenen Kultur« (Hirschauer/Amann 1997) eröffneten sich für die Pädagogik weitere Möglichkeiten, über ihre eigenen institutionellen Handlungsfelder zu reflektieren. So resümiert Marotzki in seinem Artikel über ethnographische Forschung aus dem Jahr 1998: »Klar ist jedenfalls schon heute, dass sich aufgrund der wachsenden Ausdifferenzierung von Lebenswelten und der prekärer werdenden Ausbalancierung von sozialen Folgen der derzeit ablaufenden gesellschaftlichen Transformationsprozesse in Richtung einer Informationsgesellschaft die Problemlagerungen, mit denen es Menschen täglich zu tun haben, in ihrem Aggregationsniveau verändern. Das erfordert andere verstehende Zugänge zu Lebenswelten. Insofern kann Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung vom Sensibilisierungspotential, das mit einer ethnographischen Haltung verknüpft ist, profitieren. Sie kann und sollte das Methodenarsenal wie auch die methodologische Grundlagenreflexion um ethnographische Verfahren erweitern, sodass ein Forschungsdesign entsteht, das es erlaubt, glaubhaftes und zuverlässiges Wissen über den Menschen in seinem soziokulturellen und lebensweltlichen Kontext bereitzustellen« (Marotzki 1998, S. 56). Mit den in Zinnecker (2000) »prognostizierten« und nunmehr eingetretenen Grenzziehungen innerhalb einer pädagogischen Ethnographie erscheint uns eine daran anknüpfende
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funktionale Unterscheidung wichtig: die Unterscheidung von WissenschaftlerInnen und PraktikerInnen im Feld sozialpädagogischen Handelns. Versuchen wir nun, diese Überlegungen konstruktiv für die Frage zu wenden, wie sich eine ethnographische Forschung mit dem sozialpädagogischen Blick bestimmen ließe. 2.2 Ethnographische Forschung mit dem sozialpädagogischen Blick: Möglichkeiten in Disziplin und Profession Innerhalb einer in der Tradition von Bronislaw Malinowski arbeitenden »klassischen Schule« der ethnographischen Forschung werden seit jeher und je nach wechselnden situativen Bedingungen und Forschungsgegenständen unterschiedliche methodische Feldzugänge und Analysemethoden angewendet und miteinander kombiniert. Auch wenn dieses Vorgehen nicht immer explizit als Triangulation ausgewiesen wird, so lässt sich mit Flick (2004, S. 53) von einer »impliziten Triangulation« in der Ethnographie sprechen. Dabei geht es nicht vordergründig um die Validierung der Erkenntnis an sich, sondern vielmehr um die Erweiterung der Erkenntnismöglichkeiten über den Gegenstand beziehungsweise den jeweils untersuchten Lebensbereich. Gerade deswegen können und sollten EthnographInnen auch alle denk- und greifbaren Informationsquellen im Forschungsprozess hinzuziehen (vgl. Flick 2004, S. 53). Denn wenn in einer klassischen Lesart das Ziel ethnographischer Forschung vornehmlich darin besteht, die Strukturen von ganzen Kulturen (kulturellen Repräsentationen einer Sozialstruktur) beziehungsweise innerhalb ihrer (Teil-)Gesellschaften zu beschreiben, dient die Anwendung ethnographischer Forschung in der Sozialen Arbeit vor allem der Erweiterung des Subjektbereichs über die wissenschaftliche Rekonstruktion von individuellen Konstruktionen der beteiligten Akteure:
Es geht um die Analyse beispielsweise von Lebenswelten der AdressatInnen, der Professionellen und der Institutionen. Dabei kommen verschiedene Methoden zum Einsatz: Teilnehmende Beobachtungen beziehungsweise beobachtende Teilnahme, das ero-epische Gespräch, Interviews etc. lassen sich jeweils im Forschungsfeld anwenden. Wie kein anderes qualitatives Verfahren lässt sich die ethnographische Perspektive darauf anwenden zu erfahren, wie Menschen ihren Alltag bewältigen, womit sie konfrontiert werden, wie sie sich Handlungsmuster und Begründungsstrukturen zurechtlegen, wo ihre Prioritäten liegen, wie sie die Welt erkennen, sehen oder verstehen. Für die theoretische Diskussion lassen sich daraus Beschreibungen und Analysen von Lebenswelten aus einer ganz bestimmten Perspektive ableiten, sozusagen eine rekonstruierte Konstruktion, die aus dem Blick der Akteure einen Ausschnitt auf die Strukturen der gemeinsam geteilten, unhinterfragten Erfahrungen in der Welt des Alltags – kurz: der Lebenswelt aufdeckt.
Reflexionsbedürftig ist dabei nicht zuerst, ob nun auch eine tatsächlich »erziehungswissenschaftlich« respektive sozialpädagogisch ausgewiesene ethnographische Forschung betrieben wird (das wird sich zeigen beziehungsweise hat sich schon gezeigt), sondern vielmehr, (a) welche Position diejenigen einnehmen, die beobachten und (b) wer wen beobachtet. Nehmen wir also nun die Hinweise von Lüders wieder auf, der zwischen einer Praxis- und
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einer Wissenschaftsforschung unterschieden hat, so lässt sich zunächst einmal festhalten, dass es offensichtlich mehrere Standorte der Beobachtung gibt und es zudem darauf ankommt, wer diesen Standort aufsucht: Aus disziplinärer Perspektive, das heißt aus dem wissenschaftlichen Forschungsinteresse der WissenschaftlerInnen haben wir eine (mehr oder weniger) »klassische« Variante des ethnographischen Forschungsstils: die Befremdung der eigenen (oder: einer fremden, wenn man kleine Lebenswelten als eigene, separate Welten versteht) Kultur. Die andere Perspektive wäre dann die professionelle Perspektive, das heißt die Perspektive der PraktikerInnen, die ihre AdressatInnen mittels ethnographischer Methoden (teilnehmend beobachtend, etwa: Streetwork) zu verstehen sucht. In der Beobachtung sozialpädagogischer Praxis treffen wir auf die Konstruktionen von Lebenswelt (das heißt, eigentlich sind es zunächst einmal die interindividuell verschiedenen Interpretationen und Ausschnitte der Lebenswirklichkeit), die wir (mutig) systemtheoretisch zunächst als voneinander differenzierte Sinnoperationen begreifen wollen. Diese Sinnoperationen als Kennzeichen sozialer Systeme treffen in der Realität des sozialen Hilfe-Systems aufeinander und reiben sich aneinander, beeinflussen sich gegenseitig (Interdependenzen mit ihrer wechselseitigen Durchdringung der jeweils anderen Sinnwelten), aber sie erzeugen auch Systemirritationen, beispielsweise in den psychischen Systemen, weil die psychischen Systeme für sich wiederum andere Sinnoperationen vollziehen. Will man so sozialpädagogisch forschen und hieraus auch Konsequenzen aus der und für die Praxis ableiten, muss das als solches erkannt, anerkannt und aufeinander bezogen werden: Es gilt idealiter, alle in der Lebenswelt aufeinander treffenden Sinnverwertungen der Kopplungen psychischer Systeme (also sowohl auf AdressatInnen-Seite als auch auf PraktikerInnen-Seite) im Moment der Gemeinsamkeit des sozialen Systems zu erschließen. Das heißt, wenn die beobachtete Lebenswelt ein soziales System ist, das sich dann ergibt, »wenn Handlungen mehrerer Personen sinnhaft aufeinander bezogen werden und dadurch in ihrem Zusammenhang abgrenzbar sind von einer nicht dazugehörigen Umwelt« (Luhmann 1975, S. 9), dann ist prinzipiell alles, was nicht diese Sinnoperationen für sich vollzieht, auch nicht zu diesem Bezugssystem gehörend, sondern zu dessen unbestimmter Umwelt. So ist die Lebenswelt nicht die reale Lebenswirklichkeit, sondern eben nur ein Teilausschnitt aus den Lebenswirklichkeiten der beteiligten »Akteure«, »Rollenträger« oder »Handelnden« (oder welche Bezeichnung die LeserIn hier vorziehen mag), in dem Sinn, dass in einer gegebenen Lebenswelt beispielsweise nur ein bestimmtes Thema sinnoperativ relevant ist (selbstreferentielles, autopoietisches System). Dabei kann jedoch nicht beobachtet werden, wie dieses bestimmte Thema kommunikativ für den Handelnden an andere soziale Systeme in der Zukunft anknüpft oder in der Vergangenheit angeknüpft hat (mit 10 denen er jeweils auch nur ephemer verbunden sein wird oder war). Im Sinne der SystemUmwelt-Unterscheidung können auch analytisch vorgehende ethnographische ForscherInnen, als Teil eines anderen beobachtenden sozialen Systems, nämlich des Wissenschaftssystems, nicht gleichzeitig Teil des beobachteten sozialen Systems sein (in welchem sich die Raum-Zeit-gebundene »Lebenswelt« der AdressatInnen und Professionellen konstituiert). Warum das so ist, soll im Folgenden kurz skizziert werden. 10 Der Handelnde kann nur in der Repräsentation eines psychischen Systems an soziale Systeme anknüpfen; die Sprache ist dabei der Mechanismus der die strukturelle Kopplung beider – ansonsten unabhängig voneinander operierender – Systeme erst ermöglicht.
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Beobachtung bedeutet mit Luhmann (1984, S. 64) zunächst nichts anderes als die »Handhabung von Unterscheidungen«. So kann sich jedes soziale System auch selbst beobachten, indem im Laufe des Kommunikationsprozesses von den Beteiligten ständig zwischen den Positionen von Handelnden und Beobachteten hin und her gewechselt wird (vgl. Luhmann 1984, S. 468). Eine Unterscheidung vorzunehmen, bedeutet also, nur eine Seite der Unterscheidung zu bezeichnen. Diese Operationsweise der systemeigenen Beobachtung nennt Luhmann auch Beobachtung »erster Ordnung«. Ein derartiges Prozessieren der Kommunikation innerhalb eines sozialen Systems hilft den Beteiligten, die Unbestimmbarkeit einer sozialen Situation (das heißt deren doppelte Kontingenz) zu meistern und füreinander zu reduzieren (vgl. Luhmann 1984, S. 154). Wie und was ein System beobachtet, ist immer abhängig von dessen Eigenart und Identität (beispielsweise eine Clique, ein Forschungsinstitut; vgl. Willke 1996, S. 170). Eine Beobachtung »zweiter Ordnung« ist allerdings erst dann gegeben, wenn das eigene Beobachten wiederum beobachtet wird, das heißt, die Beobachtung von Beobachtung stattfindet. Damit würdigt Luhmann nicht nur den Erkenntnisgewinn der Pädagogik im 18. Jahrhundert oder formuliert für die Soziologie deren wissenschaftstheoretischen Anspruch in der Moderne, sondern er liefert quasi auch den Standpunkt der FeldforscherInnen gleich mit, was für unseren Zusammenhang hier bedeutsam ist: Wir treffen also im Rahmen ethnographischer Forschung auf BeobachterInnen beziehungsweise ForscherInnen, die aus einer systemexternen Perspektive mit je ganz eigenen Sinnvollzügen das spezielle Hilfe-Setting beobachten und erst in dieser Situation als Beobachter zweiter Ordnung gelten können. Oder wie es Luhmann formuliert hat: »Unter den Anforderungen dieses Begriffs (der Beobachtung, d. A.) bedeutet das nicht, dass man irgendwelchen Leuten zuschaut, sondern dass man sich anschaut, wie sie sie beobachten. (…) Die Beobachtung zweiter Ordnung ist die Beobachtung eines Beobachters im Hinblick auf das, was er sehen (…) und im Hinblick auf das, was er nicht sehen kann« (Luhmann 2002, S. 155 f.). Dabei ist es nach Luhmann für den Beobachtenden wichtig, die Unterscheidungen des Beobachteten zu eruieren, das heißt sich zu fragen, nach welchen Unterscheidungen der Beobachtete arbeitet; (sind es beispielsweise moralische, persönliche oder unpersönliche Unterscheidungen? Wie teilt er sich seine Welt ein?). Für den Beobachter gilt es im nächsten Schritt zu ermitteln, wie er sich selbst diese Unterscheidungen erklärt; (warum entscheidet sich der Beobachtete ausgerechnet so und nicht anders?). Summa summarum erhöht sich für den Beobachter zweiter Ordnung mit all diesen Fragen auch die Komplexität, da er zugleich 1.) seine eigenen Relevanzsetzungen plausibilisieren muss (warum beobachte ich ausgerechnet diesen Beobachter?) und 2.) nachvollziehen muss, wie der Beobachtete seine Unterscheidungen vornimmt. Wichtig ist dabei vor allen Dingen aber der Zugewinn des Beobachters: Er befindet sich in einer Position, die ihm die Fähigkeit verleiht, das »zu beobachten, was andere Beobachter nicht beobachten können« (Luhmann 2002, S. 157). Die Beobachtung zweiter Ordnung erlaubt es also den WissenschaftlerInnen (oder einem anderen Beobachter der Beobachtung), die Handlungen der PraktikerInnen in ihrer Arbeit mit den AdressatInnen und beim Selbstbeobachten, Erforschen beziehungsweise Reflektieren über die eigene Arbeit zu beobachten; umgekehrt gilt dies jedoch nicht. Luhmanns Unterscheidungsmodus konsequent weiterverfolgend hieße das, dass ein Feldforscher als Beobachter zweiter Ordnung nie gleichzeitig die Beobachterperspektive (neutrale
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Beobachtung der Sinnoperationen eines sozialen Systems durch ein anderes soziales System) und die Systemperspektive (Involviertheit in die Sinnoperationen eines sozialen Systems) für sich beanspruchen kann – er gehört entweder zum System oder zu dessen Umwelt (System-Umwelt-Referenz). Und um für Luhmann an dieser Stelle wieder den re-entry in unsere Überlegungen zum Gegenstand einer ethnographischen Sozialpädagogik zu vollziehen: Genau diese Unterscheidung von etwas sehen und etwas nichtsehen in der Realität zielt auf den »blinden Fleck« ab (vgl. Luhmann 1997). Da nämlich jede Selektion an eine Unterscheidung gebunden ist, bedeutet das, dass man sich auch nur für eine Seite entscheiden kann: entweder für die Beobachtung oder für die Operation (und mit letztgenanntem für den Wiedereintritt in die Form beziehungsweise für die Unterscheidungen innerhalb eines Systems mit seinen spezifischen Operationen). In der Folge wird man zwangsläufig und immer etwas unbe11 rücksichtigt lassen müssen (vgl. Luhmann 1997, S. 187). Demzufolge ist der Beobachter (egal, welcher Ordnung er gerade angehört) sich immer selbst auch ein blinder Fleck, denn »die Beschreibung kann operieren, sie kann sich aber im Vollzug nicht selbst beschreiben, denn dies würde eine andere Operation, eine andere unterscheidende Bezeichnung erfordern. Sie kann nur im Nachhinein beschrieben werden« (Luhmann 1997, S. 882). Und je nachdem, was als Konsequenz einer Unterscheidung gerade im Fokus der Beobachtung steht, verschiebt sich damit auch die Grenze des Unterschiedenen beziehungsweise der »jeweils blinde Fleck«. Mit dem Zirkulieren des blinden Flecks ist zugleich ein u. E. wichtiges Moment der Beobachtung skizziert – wie sie eben auch für die ethnographische Haltung und ihre Methoden gilt. Denn aus dem Blickwinkel einer beobachtenden sozialpädagogischen Ethnographie gilt es, den (jeweils) blinden Fleck im sozialpädagogischen Handlungsfeld zu identifizieren, ihn zu thematisieren und methodisch zu reflektieren. In der Summe der Erkenntnisse aus den differenzierten thematischen Beobachtungen lassen sich wiederum verschiedene blinde Flecken unterscheiden – unterschiedliche systemische Grenzziehungen werden jeweils vor dem Hintergrund unterschiedlicher (Sinn-) Operationen sichtbar. Auf diese Weise können die ethnographisch über die Praxis der Sozialen Arbeit gewonnenen Erkenntnisse auch wieder in die Praxis der Sozialen Arbeit zurückgespiegelt werden. Eine Praxis Sozialer Arbeit, von der wir annehmen, dass sie sich im Rahmen ihrer Handlungsfelder (ob institutionell oder nicht-institutionell) immer nur auf spezifische Teilausschnitte der Lebenswirklichkeit be-SINN-en kann. Für die dort tätigen Professionellen lassen sich also neben ihrer rekursiven Selbstbeobachtung durch die Ergebnisse einer ethnographischen Sozialpädagogik auch weitere beziehungsweise andere handlungsrelevante Implikationen ableiten. Allerdings: Hier ergeben sich zugleich die ethnographischen Grenzen sozialpädagogischer Forschung, auf die wir im Folgenden näher eingehen. 2.3 Grenzen ethnographischer Forschung in der Sozialen Arbeit Zunächst lassen sich die Grenzen für eine ethnographische Haltung im (sozial)pädagogischen Feld sehr genau mithilfe der Leistungsfähigkeit moderner Funktionssysteme abstecken. Luhmann hat das so formuliert: »Der Pädagoge muss beobachten, wie er 11 So liegt auch das spezifische Interesse einer »Ethnographie oder ethnoscience«, die andere Kulturen beobachtet, darin zu »sehen, was andere nicht sehen« (Luhmann 2002, S. 160).
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beobachtet wird. Die Kinder hatten immer schon, allein aus Angst, die Notwendigkeit zu beobachten, ob sie beobachtet werden oder nicht. Aber jetzt müssen auch die Pädagogen, die Zentralfiguren des Geschäfts, ihre eigenen Einstellungen zurückhalten und erst einmal sehen, wie sie beobachtet werden und wie die Welt beobachtet wird« (Luhmann 2002, S. 161). Theoretisch ist diese Position zwar denkbar, praktisch steigert sie allerdings die Komplexität um ein Vielfaches. Nehmen wir nun an, Luhmann hätte mit seiner Beobachtungsmanie recht, dann kann die Leistung der WissenschaftlerInnen auch darin bestehen, diese entstandene Komplexität für die PraktikerInnen zu reduzieren. Wenn dem so ist, dann fungiert Wissenschaft wie ein filternder Trichter, durch den notwendige Selektionen vorgenommen werden müssen, damit die Praxis handlungsfähig bleibt beziehungsweise wieder dazu befähigt wird. Umgekehrt gilt jedoch dasselbe: Denn den WissenschaftlerInnen werden die Diskurse um ihre Position im Feld zum Verhängnis, sobald sie diese innerhalb des Feldes thematisieren beziehungsweise von anderen (etwa: den PraktikerInnen als Beobachtenden) thematisiert werden. Das heißt, der Reflexionsgrad darüber, was WissenschaftlerInnen beziehungsweise PraktikerInnen durch die Beobachtung zweiter Ordnung da für eine begrenzte Zeit tun, kann nicht im Feld verhandelt werden, sondern benötigt eine Reflexion außerhalb des Feldes, weil sich sonst die Logik des Feldes seiner selbst beraubt. Hieraus ergibt sich gleichsam automatisch die nächste Grenze ethnographischer Forschung innerhalb der Sozialen Arbeit (aber nicht nur hier): Denn wenn es stimmt, dass die Ergebnisse ethnographischer Feldforschung nur außerhalb des beobachteten Feldes reflektiert und verhandelt werden können, dann müssen diese Ergebnisse immer in eine Raum-ZeitKonstellation gebracht werden, aus der deutlich hervorgeht, wer wen wann wie lange und aus welchem Grund beziehungsweise mit welchen Absichten beobachtet hat. Denn BeobachterInnen aus dem Wissenschaftssystem können weder darüber hinaus noch davor ethnographisch »sehen«. Den PraktikerInnen dagegen erschließt sich eine Lebenswelt immer nur jeweils systemimmanent, das heißt, sie sind Teil des Systems mit seinen je eigenen Sinnoperationen beziehungsweise spezifischen Thematisierungen und werden es prinzipiell auch bleiben, bis sie ihre Profession niederlegen, aber dann haben sie nicht mehr den exklusiven Zugang zur Lebenswelt. Zudem – um diese Beobachtungs- und Reflexionsschleifen etwas abzukürzen – haben die PraktikerInnen als Beobachtende dasselbe Problem wie die WissenschaftlerInnen. Während sich also die sozialpädagogische ForscherIn, die sich ethnographischer Methoden des Erkenntnisgewinns bedient, um Abstraktion bemüht, obliegt es den praktisch arbeitenden SozialpädagogInnen, mithilfe der Erkenntnisse geeignete Instrumente beispielsweise der Hilfeplanung abzuleiten – mehr nicht. PraktikerInnen können demnach nicht die Selbstverständlichkeiten des Alltags auflösen, weil sie in die systemeigenen, alltäglichen Sinnvollzüge eingebunden sind, die ohne sie gar nicht zustande kommen würden. Den PraktikerInnen stellt sich sodann wiederum das Problem, was wohl die geeigneten Interventionsstrategien sind. Kontextbezogen bedeutet das auch, die Ausweitung derselben über die kulturell eigenen und damit gängigen (rechtlich legitimierten – oder systeminternen) Maßnahmen hinaus und mitunter auch kulturell fremde (system-fremde) oder einen Methoden-Mix aus beiden zu akzeptieren und zu praktizieren. Mit anderen Worten: das Wechselspiel im bekannten Kontinuum von Hilfe und Kontrolle erfährt eine Komplexitätssteigerung, keine Komplexitätsreduktion.
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Die Grenzen sind also klassischerweise systemtheoretisch definierbar; wichtig sind diejenigen blinden Flecken, die sich aus der jeweiligen Perspektive ergeben, das heißt, die Hauptschule aus der Sicht des Hauptschülers wird immer nur die Hauptschule aus der Sicht des Hauptschülers sein, nicht jedoch die Struktur der Hauptschule an sich und für sich (sozusagen system-extern) eröffnen können. Gefragt sind vielmehr komplexe Beobachtungsszenarien, die nicht nur räumlich und zeitlich deutlich ausgewiesen sind, sondern zudem die jeweiligen Beobachtungsperspektiven notwendigerweise mit einbeziehen. Doch es gibt noch eine gute Nachricht: Die hier angedeuteten Grenzen lassen sich für die ethnographische Forschung in der Sozialen Arbeit weiter spezifizieren: Deutlich wird hier zudem, dass dies ausschließlich auf diejenigen zutrifft, die sozialpädagogisch forschend oder/und praktizierend ausgebildet und tätig sind. Kein Angehöriger irgendeiner Nachbardisziplin ist in der Lage, solche BeobachterInnenperspektiven mit diesen Konsequenzen tatsächlich zu antizipieren. Denn wenn man sich die »Befremdung der eigenen Kultur« nicht länger als ethnographisches Martyrium vorstellt, sondern konstruktiv gewendet einmal davon ausgeht, dass ethnographische ForscherInnen auch immer wissen müssen, welche Kultur nun genau ihre eigene ist, die sie befremden müssen, so ist das wohl spätestens eine ganz spezielle Disziplin- wie professionstheoretische Frage, die keine der Nachbardisziplinen beantworten kann (und wird). In anderen Worten und frei nach Luhmann: Um eine Unterscheidung treffen zu können, muss man wissen, was unterschieden werden soll.
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Ausblick. Plädoyer für eine systematisch angelegte sozialpädagogische Ethnographie
Die diversen ethnographischen Entwicklungen in der Sozialpädagogik und ihre vielfältig kombinierten methodischen Ansprüche und theoretischen und/oder praktischen Perspektiven erzeugen neuerliche Kombinationen in der sozialpädagogischen Forschungslandschaft, die den Ethnographie-Begriff zwar bereichern, ihn jedoch gleichermaßen und notwendigerweise verwässern. Fragt man sich angesichts dieses Problems und wohl auch im Zauber retrospektiver Verklärung nach dem eigentlichen Gegenstand einer wie auch immer gearteten ethnographischen Forschung, dann liegt die erste Antwort wohl in der strukturellen Beschreibung von Kultur(en). Die vormals sozialräumliche Begrenzung durch geographische Gegebenheiten (man denke nur an Malinowskis Trobriand-Forschung) wurde ersetzt durch eine artifizielle Grenzziehung, die durch den Forscher (und nicht durch die Beteiligten beziehungsweise systemintern Handelnde, das heißt AdressatInnen und Professionelle) vorgenommen wird. Auch die sich vormals durch (wenn man so will natürliche und) systemeigene Zuschreibungsprozesse der jeweiligen Kultur konstituierende Unterscheidung von Fremdheit versus Vertrautheit des Forschers zum Untersuchungsgegenstand wurde mit der Anwendung ethnographischer Methoden auf die eigene Kultur und dem damit verknüpften Primat der »Befremdung der eigenen Kultur« aufgebrochen. Dem »going native« wurde also ein
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»going exotic« gegenübergestellt12, ein Problem doppelter Hermeneutik (vgl. Giddens 1997), das sich hier dem Forscher stellt – und das zudem prinzipiell nicht auflösbar ist. Und daraus ergibt sich die zweite Antwort: Wenn man sich fragt, was ein ethnographischer Blick leisten kann, dann lässt sich mit Zinnecker antworten, dass sie »den zusätzlichen Vorteil des direkten Zugriffs auf Handlungspraktiken (hat, d. A.), auch ohne (die) Sinnvermittlung durch die Interpreten« mit in die Rekonstruktion einbeziehen zu müssen (Zinnecker 2000, S. 395). Wir haben versucht, mithilfe einer systemtheoretischen Interpretation die unterschiedlichen Akteursperspektiven (mindestens jedoch die zwei konstituierenden Seiten: die AdressatInnen und die Professionellen), die in den Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit aufeinander treffen und reflektiert werden können, auch in ihrer Heterogenität und Komplexität anzuerkennen. Damit ist es möglich, auf deren Unterschiede zu verweisen, die sich sonst im Aufeinandertreffen in der Lebenswelt nivellieren, weil sie um die Herstellung einer sozialen Ordnung bemüht, zwangsläufig aufeinander verweisen beziehungsweise sich aufeinander beziehen müssen. Wir kennen nicht deren komplette Lebenswirklichkeiten, jedoch können wir über die Ausschnitte daraus, so wie wir sie als ethnographische SozialpädagogInnen beobachten können, auch nur reflektieren. Eine sozialpädagogische Ethnographie kann folglich die Handlungen der Beteiligten im jeweiligen Kontext beobachten und beschreibend wiedergeben beziehungsweise sie in ihren sinnhaften, wechselseitigen Bezügen innerhalb eines (situativ und räumlich begrenzten) sozialen Systems beschreiben und über die wiederholte Beobachtung (und damit Validierung des vormals Beobachteten) auch in ihren eingespielten Sinnroutinen und Strukturierungen annähernd nachvollziehbar machen. Ethnographische Methoden können also Zugänge zu und ein vertieftes Verständnis von Lebenswelten und Institutionen »zum Feld« eröffnen, sie jedoch nicht schon per se gesellschaftlich versteh- und verallgemeinerbar machen. Ethnographische Feldforschung bleibt das, was sie ist: Sie gibt Einblick in die Lebenswirklichkeiten und in die Lebensbedingungen. Hieraus sozialpädagogische Schlüsse zu ziehen, das ist Aufgabe der WissenschaftlerInnen, die sich daran anschließend anderer Methoden und Techniken bedienen müssen, um gesellschaftlich verallgemeinerbare Schlüsse ziehen zu können. Die Triangulation von verschiedenen Techniken und Methoden hat sich – forschungspragmatisch wie forschungslogisch – dabei als hilfreich erwiesen. Und falls in diesen Verallgemeinerungen dann schlussendlich sozialpädagogische Konsequenzen nicht mehr nur mitgedacht, sondern seriös ausformuliert werden, lässt sich dann sehr wohl von einer sozialpädagogischen Forschung sprechen, die sich des ethnographischen Blickes bedient. Wichtig ist hierbei, die Position des Beobachters räumlich und zeitlich mit zu reflektieren, diejenigen Methoden offenzulegen, die im Rahmen der Feldforschung angewendet worden sind und die Brüche und Unwegsamkeiten zu benennen, die letztlich blinde Flecken definieren und somit Grenzen aufzeigen können. Es geht also darum, a.
zuerst zu plausibilisieren, was der Gegenstand innerhalb sozialpädagogischer Forschung sein soll (Nachvollzug subjektiv gemeinten Sinns?, Rekonstruktion sozialen Handelns?, Konstitutionsregeln von Handeln und Wissen unter Identifikation der Tiefen- oder latenten Sinnstrukturen?) und
12 Andere daran anknüpfende dichotome Unterscheidungen sind hier denkbar: bekannt versus nicht bekannt, Eigen- versus Fremdgruppe oder System-intern versus System-extern.
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hieraus abgeleitet danach zu fragen, ob Ethnographie der geeignete Zugang und das geeignete Analyseverfahren für das Feld ist (klassische Ethnographie: strukturelle Beschreibung – und eben nicht: Theoretisierung – des Sozialraums).
Das eigentliche Problem ethnographischer Forschung besteht somit darin, dass noch zu oft mit einem Lebensweltbegriff (der übrigens – ethnographisch gewendet – selbst Ergebnis ethnographischer Forschung war) gearbeitet wird, der zwar nach außen begrenzt (»kleine Lebenswelten«), nach innen jedoch mit der Annahme homogener Gruppen innerhalb der Lebenswelt arbeitet. Aber »die Lebenswelt« ist nicht homogen, sondern man kann grundsätzlich von Heterogenität und Differenzen ausgehen, die durch Ungleichheiten und Ungleichzeitigkeiten gekennzeichnet sind. Damit kommen wir dann von der »Befremdung der eigenen Kultur« zu ungleichen Lebenswirklichkeiten, und der Fokus der Feldforschung könnte dann zuerst in der Frage bestehen, was denn eigentlich in dieser ganzen Differenz, Heterogenität und Ungleichzeitigkeit von den Subjekten interindividuell als gemeinsam erfahrbare, unhinterfragte Welt des Alltags bezeichnet wird, die sie (irgendwie tagtäglich) bewältigen. Das heißt, wie lassen sich eigentlich die Dimensionen von Lebenswirklichkeiten benennen (etwa: Rollen und ihre zugrunde liegenden Strukturierungsmuster, wie Wissensverteilung, Asymmetrien in Macht-, Informations- und Entscheidungsprozessen), die wiederum von einer kleinen zur anderen kleinen Lebenswelt total variieren können – aber nicht müssen. Favorisiert man eine solche Vorgehensweise, dann ist hierfür ein Perspektivenwechsel notwendig, der zwar inzwischen unzählige Male eingefordert, aber noch nicht oft eingelöst worden ist: Es geht dann nämlich um Triangulation, in der auch die Beobachterperspektiven mindestens erster und zweiter Ordnungen mit unterschiedlichen Methoden und Techniken konsequent ausgearbeitet und beschrieben werden. Die wohl größte Herausforderung dürfte darin bestehen, eine methodisch »saubere« Methodentriangulation auszuarbeiten, die zeit-, personen- und kostenintensiv sein wird. Erst so lässt sich die Entdeckung von Formellem versus Informellem, Offensichtlichem versus Verborgenem, Innenund Außensichten, Eigen- und Fremdbildern, Licht- und Schattenseiten (und nicht: schwarz-weiß) und schlussendlich Ungleichheiten und Ungleichzeitigkeiten plausibilisieren. So ließe sich das Ziel einer sozialpädagogischen Ethnographie formulieren: Es ginge dann darum, offensichtliche Lebenswelten, die sich innerhalb von institutionellen Hilfearrangements konstituieren, zu hinterfragen, um schließlich dahinter und quer liegende Strukturierungen, also Lebenswirklichkeiten, erfassen zu können (beispielsweise Ungleichheitsverhältnisse, die selbst strukturierend wirken). Hierdurch könnten soziale Lebenswirklichkeiten erfasst und beschrieben werden, die selbst schon immer ungleich sind. Es ginge also darum, ein möglichst vollständiges Bild (der Lebenswirklichkeiten) zu beschreiben, das sich aus der Kreuzung von sozialen Kreisen (Simmel) in einem Raum-Zeit-Kontinuum ergibt. Das heißt, die Menschen in ihren jeweiligen sozialen Rollen und Positionen strukturell zu begreifen und in ihren gesellschaftlichen Verwicklungen netzwerkartig zu erfassen. Und wenn dann daraus eine mögliche Antwort auf die soziale Frage diskutiert wird, aus der sich vielleicht sogar »Praxisempfehlungen« ableiten ließen, wären wir eventuell »des Pudels sozialpädagogischem Ethnographiekern« ein kleines Stück näher gerückt.
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Historische Ethnographie: Der Forscher im Staub der Aktendeckel Sven Steinacker
»Ob man sich im kulturellen Raum oder in der historischen Zeit von sich selbst entfernt, man braucht in jedem Fall nicht weit zu gehen, um auf Welten zu stoßen, in denen das Selbstverständliche seine Selbstverständlichkeit verliert.« (Isaac 1992, S. 147)
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Einleitung
Keine Frage, die Differenzen zwischen Ethnographie und Geschichtsschreibung scheinen größer als ihre Gemeinsamkeiten. Ganz offenkundig existieren zwischen der (beobachtenden) Teilnahme an den alltäglichen Lebenszusammenhängen der Erforschten, dem Eintauchen und Versinken in eine fremde Kultur und dem Studium archivalischer Quellen im Staub der Aktendeckel nur recht wenige Berührungspunkte. Gleichwohl haben sich die Geschichtswissenschaften seit den späten 1970er Jahren stärker für ethnographische, ethnologische und/oder kulturanthropologische Fragestellungen und Forschungsmethoden geöffnet – und vice versa (vgl. exemplarisch Berdahl u. a. 1982; Süssmuth 1984). Trotz der zum Teil mit harten Bandagen geführten Abgrenzungsbemühungen (vgl. dazu Medick 2001, S. 78-83; von Saldern 2005) sind ethnographisch-historische Forschungskonzepte im Rahmen der »Historischen Anthropologie«1, der »Alltagsgeschichte«2 oder der »MikroHistorie«3 zu einer festen Größe in der historischen Forschung avanciert. Obwohl sich diese
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Historische Anthropologie interessiert sich in einem umfassenden Sinne für den Menschen in der Geschichte, seine kulturell geprägten Lebensformen und Lebenserfahrungen. Dabei ist das Etikett »Anthropologie« insofern irreführend, als diese Ansätze zumeist nicht in der Tradition biologistischer Knochensammler und Schädelvermesser stehen, sondern stark von britischen, französischen und US-amerikanischen Ansätzen der »social« und »cultural anthropology« geprägt sind und sich stärker der »Ethnologie« verpflichtet fühlen (vgl. als Überblicke und Einführungen: Habermas/Minkmar 1992; Hausen 1997; Medick 2001; Tanner 2004, van Dülmen 2001). Alltagsgeschichte versucht, geschichtliches Handeln aus seiner eigenen Logik zu rekonstruieren. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie sich die Menschen in den gesellschaftlichen Verhältnissen bewegen und wie sie diese erlebten. Alltag wird dabei in einer doppelten Weise sowohl als Raum der Vielfalt und eigensinnigen Orientierungen als auch als Raum unreflektierter Dominanzverhältnisse und Ausbeutungsformen gefasst (vgl. zur Alltagsgeschichte u. a.: Berliner Geschichtswerkstatt 1994; Lüdtke 1989a, 1993, 2003; Schulze 1994; eher skeptisch: van Laak 2003). Die »Mikrogeschichte« oder »Mikro-Histoire« wendet sich gegen die totalisierende und fortschrittszentrierte Sichtweise der quantitativen Sozialgeschichte und ist analytisch an der Beschreibung konkreten menschlichen Verhaltens und kleinräumiger lokaler Konfigurationen in spezifischen historischen Kontexten interessiert. Ausgangspunkt ist die am methodologischen Individualismus orientierte Annahme, dass sich die Produktion und Reproduktion der sozialen Formen und Beziehungsmuster am besten vom handelnden Individuum her untersuchen lässt, wobei das Individuelle keiner Generalisierung geopfert werden soll (vgl. Medick 1994; Schlumbohm 1998). In Deutschland ist die Mikrogeschichte vor allem durch die Arbeiten des italienischen
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an der Schnittstelle von Sozialgeschichte und Ethnographie gelagerten Forschungskonzepte im Detail durchaus unterscheiden, können ihre gemeinsamen theoretischen und methodischen Bezugspunkte, so die Ausgangsüberlegung für den vorliegenden Artikel, auch für die Bildungs- und Wohlfahrtsgeschichtsschreibung wichtige Anregungen und Einsichten bereitstellen. Im Folgenden werden zunächst die erkenntnisleitenden Perspektiven und Themen einer historisch-ethnographisch konzeptionalisierten Geschichtsschreibung skizziert und auf dieser Folie einige Bemerkungen zu methodischen Prinzipien gemacht. Ein weiterer Abschnitt versucht die Möglichkeiten und Grenzen archivalischer Quellen für eine historische Ethnographie am Beispiel von Fürsorgeakten zu eruieren. Abschließend soll das Potenzial eines ethnographisch-historiografischen Zugangs anhand der Geschichtsschreibung des Bildungs- und Sozialwesens, genauer: der Forschung zur Jugendfürsorge näher ausgelotet werden.
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Ethnographische Themen und Perspektiven in der historischen Forschung
Ungeachtet aller Differenzen im Detail zeichnen sich die ethnographisch orientierten Ansätze der Geschichtswissenschaften durch eine Reihe von gemeinsamen Merkmalen aus, die sich gleichermaßen in ihrer Differenz zu traditionellen Formen und Themen der Geschichtsschreibung wie in ihrer Nähe zum ethnographischen Forschungsparadigma manifestieren (vgl. Lüdtke 1998; Sieder 1994; Tanner 2004, S. 13-27; van Dülmen 2001, S. 10-35). Eine ethnographische Perspektive der Geschichtsschreibung zeichnet sich im Wesentlichen dadurch aus, dass sie über die Erforschung von gesellschaftlichen Strukturen und Funktionen hinausgeht. Sie zielt, kurz gesagt, auf die möglichst konkrete Beschreibung der Lebensweisen von Gruppen oder Personen, einzelnen Momenten ihrer alltäglichen Lebenszusammenhänge, ihres Alltagsdenkens und -handelns. Dabei wird insbesondere der Binnenperspektive der Akteure, der Frage, welche Bedeutung das Handeln für sie hatte und ihnen vermittelte, größte Aufmerksamkeit geschenkt. Eine historische Ethnographie versucht, »Kontexte, Strukturen und Bedeutungen so aufzuklären, daß wir die Welt rekonstruieren können, wie sie von den Beteiligten selbst gesehen wurde« (Isaac 1992, S. 150). 2.1 Die mikroanalytische Erkenntnisperspektive In deutlicher Abgrenzung zu den Fragestellungen und Themen der klassischen Politik- und Ereignisgeschichte, aber auch als Erweiterung der dominanten strukturgeschichtlichsozialwissenschaftlichen Großkategorien (Klasse, Schicht, Milieu) der traditionellen Sozialgeschichte, widmet sich die ethnographisch orientierte Richtung der Geschichtsschreibung weniger der Erforschung der »großen« geschichtlichen Prozesse wie Modernisierung, Säkularisierung, Industrialisierung oder Nationenbildung, sondern konzentriert sich auf die Erforschung der konkreten, alltäglichen Lebensformen, Wahrnehmungs- und Handlungsweisen der Menschen in vergangenen Gesellschaften. Als »mikroanalytisches Vergrößerungsglas« (Tanner 2004, S. 11) soll der Blick für die Komplexität gesellschaftlicher Phänomene, historischer Prozesse und des menschlichen Lebens geschärft werden. Während Historikers Carlo Ginzburg (u. a. 1988, 1993) über den engeren Kreis von FachwissenschaftlerInnen hinaus bekannt geworden.
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sich die frühen Vertreter und Vertreterinnen einer Historischen Anthropologie zunächst vorrangig mit den elementaren, körperbezogenen menschlichen Verhaltensweisen und Grundsituationen wie beispielsweise Geburt, Heirat, Krankheit, Sexualität und Tod beschäftigt haben, hat das Themenrepertoire der Forschung mittlerweile variiert. Neben den vermeintlichen Relikten vormoderner Gesellschaften wie Religion, Magie, Hexerei und Aberglaube hat sich der ethnologisch-historische Blick in jüngster Zeit verstärkt den Lebens-, Arbeits-, Konsum- und Herrschaftsverhältnissen, sowie damit zusammenhängend den Phänomenen der Aneignung, des Konflikts und des Widerstands zugewandt (vgl. van Dülmen 2001, S. 60-100). Mit dieser Perspektivverschiebung haben insbesondere die Lebensweisen und Mentalitäten der so genannten »kleinen Leute« aus einfachen Verhältnissen, aus gesellschaftlichen Unterschichten und sozialen Randlagen verstärkte Aufmerksamkeit gefunden. Im Mittelpunkt des Interesses stehen diejenigen, die in den »großen« Erzählungen der klassischen Geschichtswissenschaften nicht als geschichtsmächtige Subjekte angesehen werden oder aber, wohlmeinender zwar, in der Konsequenz aber ebenso einseitig und verkürzend, lediglich als ohnmächtige Opfer übermächtiger Strukturen und determinierender geschichtlicher Prozesse angesehen werden. Im Gegensatz dazu werden die vermeintlich passiven Objekte gesellschaftlicher Umwälzungen in ethnographischen Ansätzen als »Agierende und Reagierende« in den Blick genommen, »die allein durch ihre historisch spezifische Wahrnehmung und Interpretation der sozialen und politischen Realität diese mitgestalten und nicht selten auch verändern« (Habermas/Minkmar 1992, S. 9). In expliziter Stoßrichtung gegen zentristische, unlineare und universalistische Lesarten historischer Wandlungen wird historische Veränderungsmacht damit also nicht primär an umfassende geschichtliche Prozesse, herausgehobene Ereignisse oder Personen gekoppelt. Im Mittelpunkt stehen vielmehr die kulturell geprägten Lebenszusammenhänge und Lebensformen kleiner Gruppen oder Gemeinschaften, manchmal auch nur einzelner Familien oder Personen, kurzum: die alltäglichen Produktions- und Reproduktionsweisen der Menschen. Eine mikroanalytische Erkenntnisperspektive versteht die Handlungs-, Wahrnehmungs- oder Bewusstseinsformen historisch konkreter Individuen oder Gruppen nicht als bloße Reflexe oder Produkte übergeordneter Rahmenbedingungen, sondern begreift sie als jeweils situativ konstruierte, relativ eigenständige und unbestimmte, jedenfalls als nicht statisch determinierte Phänomene. Freilich werden lokal verankerte Lebenswelten nicht losgelöst von geschichtlichen und sozialen Prozessen betrachtet. Wie Hans Medick in seinem frühen Plädoyer für die Einführung ethnologischer Erkenntnisweisen in die sozialgeschichtliche Forschung festgestellt hat, geht es eben nicht darum, das materielle Substrat der Gesellschaft auszublenden oder gar zu negieren, sondern die Bedingtheit und wechselseitige Verwobenheit subjektiver Erfahrungen und Handlungsweisen mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, Widersprüchen und Mehrdeutigkeiten sichtbar zu machen. Im Zentrum des Interesses steht der historische Alltag, »in dem die Vermittlung von Handeln, Erfahrung, Struktur und Geschichte geschieht, und zwar in schichten- und klassenspezifisch geprägten, regional und lokal bestimmten kulturellen Lebensweisen« (Medick 1989, S. 63, 2001, S. 86-89). Letztlich ist auch Mikro-Geschichte nicht ohne ihre spezifischen Verflechtungen mit und als integraler Teil der Weltgeschichte denkbar (vgl. dazu auch: Hausen 1997, S. 460f.; Tanner 2004, S. 110-118).
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2.2 Erfahrung und Praktiken: Die Binnenperspektive der Akteure Eng verbunden mit dem mikroanalytischen Zugang zu den kleinen Wirklichkeitsausschnitten konkreter Lebensweisen und Lebensformen und der Infragestellung universalistischer Denkannahmen ist das starke Interesse an den Handlungen und der Handlungsfähigkeit der Menschen als Akteure ihrer Geschichte. Den zweiten erkenntnisleitenden Bezugspunkt ethnographischer Geschichtsschreibung bildet der Fokus auf die Subjektivität in der Geschichte, die Frage nach dem aktiv handelnden Menschen, nach der Bedeutung der Handlungen für die Menschen, nach historischen Erfahrungen, mentalen Dispositionen und sozialen Praxen. Analog zu der auf einer synchronen Ebene operierenden Ethnographie gilt das Interesse vor allem der verstehenden Rekonstruktion der Perspektive der historischen Akteure, den konkreten Formen und Inhalten der Weltdeutungen, den Sinn- und Relevanzstrukturen der Menschen vergangener Gesellschaften. Es geht mithin darum, um ein in der Ethnographie geflügeltes Wort zu benutzen, die Binnenperspektive, den »native’s point of view« historischer Akteure zu rekonstruieren und die »Erfahrungen anderer Leute im Kontext ihrer eigenen Ideen« (Geertz 1983, S. 294) nachzuzeichnen. Das Ziel ist, ein Ereignis oder einen Prozess nicht »quasi von außen und hegemonial anzueignen und fortzuschreiben, sondern sie vom Akteur oder den Akteuren her zu interpretieren« (van Dülmen 2001, S. 58). Die Versuche zur (typischen) Rekonstruktion der Binnenperspektiven erschöpfen sich allerdings nicht in Aspekten reiner Ideen- oder Mentalitätsgeschichte. Eine an den Erfahrungen orientierte und interessierte historisch-ethnographische Geschichtsschreibung geht darüber hinaus und erkundet, »welche Wahrnehmungsweisen und Tätigkeiten es erlauben, Welt zu erfassen und symbolisch zu deuten, sie sinnlich-materiell zu empfinden und herzustellen, aber auch umzuwälzen« (Lüdtke 2003, S. 279). In den Fokus der Aufmerksamkeit rücken die alltäglichen Handlungen, Routinen und Rituale, mithin jene »stabilen Wiederholungsstrukturen des Alltagslebens, die zyklischen Muster von Gewohnheiten, das unspektakulär Repetative, die robusten Routinen, über die die Menschen ihre Lebensbedingungen reproduzieren und dadurch auch verändern« (Tanner 2004, S. 102). Trotz der zuweilen schillernden konzeptionellen Vielfalt und unterschiedlichen Konnotationen des Alltagsbegriffs (vgl. Lange 2002, S. 36-44) wird »Alltag« in der Regel als die grundlegende Sphäre des Erlebens und der wirklichkeitskonstituierenden Praxis der Menschen gefasst. Er ist der Raum der reflexiven Auseinandersetzung der Akteure mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Der Raum, in dem den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen durch die tägliche Auseinandersetzung erst ihre spezifische Bedeutung verliehen werden kann und die sozialstrukturellen Verhältnisse sowohl auf Dauer gestellt als auch verändert werden können. Das komplexe Geflecht der materiellen, diskursiven und symbolischen Praxen des Alltagshandelns ist damit auf das Engste verwoben mit der Geschichte von Machtbeziehungen und Herrschaft (vgl. Lüdtke 1989b, 1991, 1993). Damit erteilt die Rede vom »Alltag« allen sozialromantischen Vorstellungen vom Alltagsleben als letztem Refugium vermeintlich heiler, herrschaftsfreier und säuberlich von den Systemimperativen von Markt und Staat zu separierender Lebenswelten eine Absage.
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Fremdheit, Dichte Beschreibung, soziales Drama
Neben den genannten Erkenntnis- und Interpretationsperspektiven haben auch die mit der ethnographischen Feldforschung verbundenen Beobachtungs- und Darstellungstechniken zunehmenden Eingang in die historiografische Forschung gefunden. Ein zentrales Moment, das die meisten Ansätze einer an ethnographischen Konzepten orientierten Historiografie auszeichnet, bezieht sich auf das Fremdheitsparadigma der ethnographischen Feldforschung, das als Modell reflexiver Bemühungen eingeführt wird und die vorherrschende geschichtswissenschaftliche Hermeneutik hinterfragt. Eine historisch-ethnographische »Annäherung an die Geschichte« beruht zuvorderst darauf, die »Fremdheitsmomente und Differenzen vergangener Wirklichkeiten anzuerkennen, ja ausdrücklich herauszuarbeiten« (Medick 2001, S. 90). Die Annahme struktureller Homologien und Konvergenzen der Vergangenheit mit der eigenen, gegenwärtigen Kultur und ein unmittelbarer wirkungsgeschichtlicher Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Grundannahme der klassischen Geschichtsschreibung werden zurückgewiesen. Die Vergangenheit ist ebenso wenig ein lineares Vorläufermodell der Gegenwart wie Phänomene vergangener Gesellschaften nicht aus retrospektiven Analogieschlüssen abzuleiten und zu erklären sind. Obwohl bestimmte Parallelen natürlich nicht a priori ausgeschlossen werden können, liegt der Kern einer historischen Ethnographie darin, die Vergangenheit in einem umfassenden und grundsätzlichen Sinne als etwas Fremdes, »Nicht-Selbstverständliches« (Isaac 1992) zu begreifen. Diese Fremdheitsrelation markiert einen grundsätzlichen Wandel von der traditionellen sozialhistorischen Denkweise, die davon ausgeht, dass die hermeneutische Aneignung und Interpretation von Traditionen gerade deshalb möglich sei, weil sie dem gleichen Traditionszusammenhang entstammen und es dem oder der Forschenden möglich ist, sich einfühlend in die Menschen der Vergangenheit zu versetzen. Entgegen dieser »exzessive(n) Identifikation« hat der italienische Historiker Carlo Ginzburg (1988, S. 26) das Prinzip der »Entfremdung, der Fremdmachung, die Fähigkeit, bekannte Dinge als unbegreifbar anzusehen« als grundlegendes hermeneutisches Instrument der Geschichtsschreibung benannt. Der damit verbundene Perspektivwechsel beruht darauf, die Distanzen und Differenzen zu den Lebensweisen und Lebenswelten vergangener Gesellschaften sichtbar zu machen, wobei nach Habermas und Minkmar (1992, S. 15) in Abgrenzung zur historischen Hermeneutik jede Idee einer moralischen und emotionalen Verbundenheit mit den zu erforschenden Individuen und Gruppen a priori auszuschließen ist. Natürlich kann auch in der historischen Forschung ein erhebliches Maß an Vorwissen und Nähe zum Gegenstand nicht ohne weiteres geleugnet werden. Durch das in der Ethnographie bekannte methodische Prinzip der künstlichen Be-Fremdung (vgl. Hirschauer/Amann 1997; Hitzler 1997; Honer 1993) soll ermöglicht werden, die (vermeintlich) vertrauten historischen Sachverhalte als etwas »Fremdes« (wieder) zu entdecken und die Wahrnehmung der dokumentierten historischen Phänomene nicht dem vorhandenen Vorwissen und vorab formulierten abstrakt-theoretischen Modellen unterzuordnen. Der Anspruch, den kulturellen Selbstverständlichkeiten ihre Selbstverständlichkeit zu nehmen, ist also nicht gleichbedeutend mit den (unmöglichen) Versuchen, das je eigene Vorwissen zu vergessen. Vielmehr geht es darum, bestehende Wissensbestände zu explizieren, die »immer vorhandenen, aber eben nicht unverrückbaren Vorannahmen zu verschieben, zu ajus-
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tieren und zu modifizieren, bis ein narratives Muster gefunden ist, das den beobachteten Verhältnissen und der Offenheit der Situation ›gerecht‹ wird« (Tanner 2004, S. 112). Wie in der gegenwartsbezogenen ethnographischen Forschung hat sich die »Dichte Beschreibung« von Clifford Geertz (1983) zu einem zentralen Prinzip der Beschreibung, Offenlegung und Deutung der zu rekonstruierenden Handlungs- und Denkweisen vergangener Gesellschaften entwickelt. Dieses methodische Instrumentarium ermöglicht durch die detaillierte und komplexe Beschreibung historischer Wirklichkeitsausschnitte eine Interpretation sozialer Interaktionen und Beziehungen in einer bestimmten Gesellschaft im Kontext ihrer eigenen Normen und Werte (vgl. Heidegger 1999; Medick 1989). Der heuristische Wert der »Dichten Beschreibung« für eine historisch-ethnographische Geschichtsschreibung liegt insbesondere darin, dass durch die phänomenologisch genaue Inspektion jene »Bedeutungsstrukturen herausgearbeitet werden können, die den Forschern selbst fremd sind« (Lange 2002, S. 67). Der zunächst geübte Verzicht der Forschenden auf eigene Interpretationen der Vergangenheit und die Explizierung des Vorwissens soll die Möglichkeit eröffnen, sich der historischen Wirklichkeit über die Deutungen der Akteure zu nähern. Dies bedeutet auch, sich auf die Eigenlogiken und Inkonsistenzen der historischen Lebenswelten einzulassen und die historischen Akteure nicht an heutigen Ansprüchen zu messen oder an Maßstäben, die für die Zeitgenossen jenseits des Vorstellbaren lagen. Vielmehr geht es »um die – wie immer prekäre, heterogene, vielleicht gar unerklärliche – Einheit, die das Gesamt der Handlungen eines Akteurs oder einer Gruppe bildet. Wie sie das Widersprüchliche oder gar Unvereinbare zusammenbrachten und welche Bedingungen (materielle und mentale) ihnen das ermöglichten oder abnötigten, das ist elementares Erkenntnisanliegen« (Maase 2001, S. 260). Zur quellenorientierten Interpretation historischer sozialer Beziehungen haben sich verschiedene Studien fruchtbar auf das von Victor Turner entwickelte Konzept des »Sozialen Dramas« bezogen. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass die Interpretation von sozialen Konflikten grundlegende Einsichten in die von Widersprüchen und Antagonismen geprägten alltäglichen Lebenswelten ermöglicht. Dabei werden soziale Handlungsprozesse modellhaft als Einheit eines phasenweise verlaufenden Konfliktgeschehens verstanden, das häufig in weitreichende und längerfristig währende Beziehungsnetze hineinreicht und dessen spezifische Dramaturgie, Sinnhorizonte und Bedeutungszuschreibungen aus den unterschiedlichen Perspektiven der beteiligten historischen Akteure rekonstruiert werden können (vgl. Heidegger 1999, insb. S. 23-31; Maase 2001, S. 257 ff.; Isaac 1992). Der forschungspraktische Nutzen dieses analytischen Interpretationsmodells für eine historische Ethnographie liegt darin, den Blick für die mögliche Dynamik von sozialen Beziehungen zu schärfen und sie in ihre soziale Logik und in ihren Kontext einzubetten.
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Quellen oder: Wirklichkeiten durch Akten beobachten?
Obwohl in den letzten Ansätzen einige gemeinsame Perspektiven von historischer und ethnographischer Forschung skizziert wurden, bleibt als grundlegende Differenz festzuhalten, dass eine historisch operierende Ethnographie in den meisten Fällen nicht auf die durch systematische Feldforschung gewonnenen Daten zurückgreifen kann. In der Regel, und insbesondere dann, wenn auch die Methoden der Oral History aufgrund des zeitlichen Ab-
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stands zum Untersuchungsgegenstand nicht mehr anwendbar sind, ist die Sammlung, Aufbereitung und Auswertung historischer Artefakte unverzichtbar und für viele Fragestellungen ist und bleibt das Archiv das »Feld« der Wahl.4 Insbesondere schriftliche Quellen bilden (in der Regel) den unverzichtbaren Grundbestandteil jeder historischen Forschung.5 Da Texte und Dokumente für die meisten Gesellschaftsmitglieder ein zentraler Bestandteil der alltäglichen Erfahrung von Wirklichkeit sind, besitzen sie gerade (auch) für die Erforschung der subjektiven Dimension der Geschichte eine zentrale Relevanz. Vor allem autobiografische Selbstzeugnisse wie Tagebücher, Briefe, Familienchroniken, Autobiografien, Testamente, Bilder und Filme aber auch solche auf den ersten Blick grundlegend unterschiedliche Dokumente wie Verhörprotokolle, Gerichtsakten, Berichte und Stellungnahmen von Fürsorge- und Sozialbehörden, Steuerakten, Personalakten und Nachrufe haben breite Aufmerksamkeit gefunden. Als »Ego-Dokumente« informieren sie in allgemeiner Form, aber durch die jeweiligen Entstehungskontexte in je spezifisch akzentuierter und entsprechend quellenkritisch zu reflektierender Art und Weise darüber, »wie ein Mensch Auskunft über sich selbst gibt, unabhängig davon, ob dies freiwillig [...] oder durch andere Umstände bedingt geschieht« (Schulze 1996b, S. 21, 28; vgl. auch die Beiträge in: Schulze 1996a; Fuchs/Schulze 2002). Sicherlich ist gerade bei Texten, die im Rahmen juristisch-administrativ-polizeilicher Befragungspraxen entstanden sind, höchste Vorsicht angebracht, und nichts würde einer historisch-kritischen Rekonstruktion stärker im Wege stehen als ein unreflektierter Umgang mit den derart produzierten Daten. Aber auch aus den Überlieferungen aus dem »Archiv der Unterdrückung« lassen sich wertvolle Informationen über die Personen, ihre Erfahrungen, Wertvorstellungen und ihr Verhalten gewinnen und in einem gewissen Sinne lassen sich sogar mittelalterliche Prozessakten mit den Tagebüchern von Ethnologen vergleichen, in denen eine »vor Jahrhunderten durchgeführte Feldforschung aufgezeichnet ist« (Ginzburg 1992, S. 42). Für einen historisch-ethnographischen Zugang zum Sozial- und Bildungswesen sind insbesondere die Berichte von Fürsorge- und anderen Sozialbehörden zu einem unverzichtbaren Quellenkorpus geworden. Obwohl zur Erforschung wohlfahrtsgeschichtlicher Fragen zum Teil auch auf andere Quellen – etwa autobiografische Erinnerungstexte oder Tagebuchaufzeichnungen (vgl. Argelander/Weitsch 1933; Stieve 1925) – zurückgegriffen werden kann, bleiben die Behördenakten letztlich in vielen Fällen die einzig verfügbare Quelle. In ihnen finden sich Darstellungen individueller Erziehungsverläufe, Persönlich4
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Der auf den ersten Blick vielleicht irritierende Ansatz, ein Archiv nicht nur metaphorisch als »Feld« zu betrachten, gewinnt indes schnell an Plausibilität, wenn man sich vor Augen hält, dass auch in der Ethnologie Geertz’scher und Turner’scher Lesart kulturelle Symbolsysteme explizit als Text beziehungsweise Ansammlung zu interpretierender Texte verstanden werden. Wie ethnologische Untersuchungen von Kulturformen als Versuche aufgefasst werden können, einen literarischen Text zu verstehen, werden auch »in den Werkstätten der HistorikerInnen [...] stets historische Texte, die Spuren der Geschichte, interpretiert und verknüpft, um den sozialen Kontext herauszuarbeiten, in dem sie entstanden sind und in dem kulturelle Bedeutungen ausgehandelt werden« (Heidegger 1999, S. 13). Ansätze zu einer ethnographischen Annäherung an das Feld »Archiv« sind erkennbar (vgl. Fenske 2006, S. 161-170). Dies hat gegenüber den Möglichkeiten der Teilnehmenden Beobachtung nicht nur Nachteile. Texte und Dokumente liegen praktisch für alle gesellschaftlichen Bereiche in vielfältigen Variationen vor und erlauben damit die »Beobachtung« vieler Facetten vergangener Wirklichkeiten. Zu der quasi ubiquitären Verbreitung von schriftlichen Quellen in modernen Gesellschaften kommt der Vorteil, dass die Dokumentenanalyse in der Regel nicht unmittelbar auf die Kooperation von Versuchspersonen, bestimmte Termine oder äußere Rahmenbedingungen angewiesen ist. Zudem verursacht die Untersuchung keine Veränderung des Untersuchungsobjektes und ist beliebig oft wiederholbar (vgl. Reh 1995).
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keits- oder Sachgutachten verschiedener Stellen sowie mehr oder weniger ausführliches Material über die Vorgeschichte und Begleitumstände der behördlichen Intervention inklusive selektiver Zusatzinformationen über den persönlichen und sozialen Hintergrund der Betroffenen. Hinzu kommen fallbezogene Schriftwechsel der beteiligten Behörden sowie zum Teil aus erzieherischen oder administrativen Erwägungen dokumentierte persönliche Dokumente (Tagebucheinträge, Bittgesuche, Beschwerden, Briefe an Verwandte und Bekannte) der Betroffenen. Auf Grund dieser vielschichtigen und multiperspektivischen Konstruktionen von Wirklichkeit enthalten sie Informationen über unterschiedliche Aspekte der spezifischen »Kultur« sozialpädagogischer Arrangements und können zu verschiedenen Erkenntnisebenen aus unterschiedlichen Blickwinkeln Auskunft geben (vgl. Aich 1973; Brusten 1973; Kenkmann 1992; Köster 1999, S. 149-158; Peukert 1986, S. 211-218; Steinacker 2007, S. 292-299). Entgegen den einmal mehr, einmal weniger treffenden Vorbehalten gegen einen vermeintlich positivistischen Tatsachenbegriff bleibt auch für eine historische Ethnographie der traditionelle ereignisgeschichtliche Blickwinkel ein wichtiger Bestandteil historischer Erkenntnisgewinnung. Im Kern zielt diese Lesart auf die Rekonstruktion der dem Text äußerlichen Sachverhalte, Prozesse und Diskurse und liefert – sofern die Authentizität und Glaubwürdigkeit der Quellen nicht grundlegend in Frage zu stellen ist – Informationen darüber, was wann, wo und wie der Fall war. Im Kontext einer historischen Ethnographie des Bildungs- und Sozialwesens dient diese Analyseform vorrangig der Ermittlung von Informationen über die Hintergründe und den Verlauf einer sozialpädagogischen Intervention oder eines Bildungsprozesses. Diese Daten bilden gemeinsam mit weiteren, gegebenenfalls über andere Quellen zu erschließenden Informationen über die politischen und sozialen Verhältnisse sowie den (fürsorge-)rechtlichen und verwaltungstechnischen Bezugsrahmen den keineswegs zu unterschlagenden »objektiven« Kontext der historischen Akteure, wenn sich auch nicht alle Facetten des ereignisgeschichtlichen Rahmens explizit im subjektiven Bewusstsein der Subjekte niederschlagen müssen. Abgesehen von den notwendigen quellenkritischen Überlegungen geht es auf dieser Ebene demnach nicht in erster Linie um die Analyse des Dokumentes selbst, seiner Merkmale und Bestandteile, sondern primär um die darin dokumentierten Personen oder Ereignisse. Der Text bzw. eine chronologische Abfolge von Texten wird dabei freilich nicht kurzschlüssig als realgetreues Abbild der historischen Wahrheit »wie sie denn eigentlich war« betrachtet, sondern als ein Konstrukt, das jeweils eine mögliche Perspektive auf die beschriebenen historischen Sachverhalte und Handlungen spiegelt. Ohne dass sich dieser prinzipielle konstruktive Charakter zu Gunsten einer »endgültigen Wahrheit« aufheben lässt, ist es erforderlich, die Informationen über den interessierenden Sachverhalt mit weiteren korrespondierenden Daten oder Quellen und damit aus einer anderen Beobachterperspektive zu kontrastieren. Selbst auf den ersten Blick marginale Detailinformationen können auf diese Weise zu einem komplexen Bild verdichtet werden und zur Korrektur vorheriger Interpretationen beitragen. Eine zweite, an die ethnomethodologisch fundierten »Studies of Work« erinnernde Lesart fürsorgehistorischer Quellen erschließt die internen und externen Organisationsprinzipien, Strukturen, Regeln und Rituale in sozialpädagogischen Institutionen. Die amtlichen Dokumente fungieren dabei als »institutionalisierte Spuren« der »Aktivitäten, Absichten und Erwägungen ihrer Verfasser bzw. der von ihnen repräsentierten Organisationen«
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(Wolff 2000, S. 503). Sie ermöglichen sowohl den Einblick in die Umsetzung interner Normen und Regulative als auch die Durchführung institutionalisierter Handlungsabläufe und lassen zudem auch Schlüsse auf institutionelle Netzwerke, Kommunikationskanäle und -formen mit anderen Einrichtungen zu. Für eine historische Ethnographie ist in diesem Kontext vor allem von Interesse, dass die Fürsorgeberichte über die Rekonstruktion von bürokratischen Handlungsabläufen und organisatorischer Infrastruktur hinaus auch Rückschlüsse auf die Verhaltensweisen und die Bedeutungshorizonte der historischen Akteure, das heißt hier: insbesondere des fürsorgerischen Personals zulassen. Die in den Fürsorgeakten enthaltenen Persönlichkeitsgutachten legen gerade auf Grund der ihnen eigenen »Mischung aus Zufälligkeit und Unübersichtlichkeit der notierten Begebenheiten« (Peukert 1986, S. 211) beredtes Zeugnis über die handlungsleitenden Ordnungs- und Moralvorstellungen, Bedeutungshorizonte und Orientierungen ihrer Verfasser bei ihren alltäglichen Verrichtungen ab. Obwohl die Berichterstatter durchaus mit dem Anspruch auftraten, objektiv über die Lebensumstände ihrer Klientel zu berichten, sagen die Texte letztlich mehr über die Wertvorstellungen, Einstellungsmuster und weltanschaulichen Orientierungen ihrer Produzenten aus als über die in ihnen beschriebene Wirklichkeit. Sie sind damit eine wichtige Quelle für die historisch-ethnographische Rekonstruktion professioneller Wissens- und Praxisformen. Sie spiegeln die spezifischen Problemdefinitionen und Wahrnehmungsmuster und lassen die Definitions-, Kategorisierungs- und Stigmatisierungsprozesse erkennen, die konstitutiver Bestandteil sozialpädagogischer Problembearbeitung waren und sind. Hierbei kann vor allem die Untersuchung einzelner Fallgeschichten über einen längeren Zeitraum sowie der Vergleich in synchroner und diachroner Perspektive dazu beitragen, die institutionalisierten Konstruktionen und Zuschreibungen von Abweichung und Normalität als Prozesse in ihren jeweiligen historischen Kontexten näher in den Blick zu nehmen. In diesem Zusammenhang sind vor allem konversations- bzw. diskursanalytische Methoden geeignet, den Blick für die sozialen Praktiken der Produktion und Rezeption zeitgenössischer Dokumente zu schärfen. Im Mittelpunkt stehen dann allerdings nicht mehr die in den Akten konstruierten Wirklichkeiten, sondern die schriftlichen Artefakte werden ihrerseits zum Untersuchungsgegenstand. Im Gegensatz zur Verwendung von Texten als »Informationscontainer« für die Rekonstruktion einer »dahinter« liegenden Wirklichkeit steht in der textimmanenten Lesart die Analyse der Strukturmuster und Prinzipien bei Produktion und Verwendung von Dokumenten selbst im Vordergrund (vgl. Wolff 1995, 2000). Eine dritte, für eine historisch-ethnographische Forschungsperspektive auf bildungsund wohlfahrtsgeschichtliche Zusammenhänge zentrale Beobachtungsebene zielt auf die Rekonstruktion konkreter Erfahrungen und Lebensweisen der Menschen, wobei hier im Gegensatz zu der auf institutionelle Alltagspraxen fokussierenden Perspektive insbesondere die Individuen interessieren, die als »Objekte« in den Fürsorgeberichten auftauchen. Obwohl (Behörden-)Akten in erster Linie die institutionelle Perspektive reproduzieren, wäre es zu kurz gegriffen, ihnen jeglichen Erkenntniswert für die in ihnen thematisierten Personen und Sachverhalte abzusprechen. Fürsorgeberichte geben nicht nur wichtige Auskünfte über die Wissensformen und -hierarchien ihrer Produzenten, sondern erlauben auch Rückschlüsse auf die Lebens- und Verhaltensweisen sowie die Erfahrungen der Betroffenen. Dies liegt auf der Hand, wenn die Akten Materialien enthalten, die aus der Feder der Betroffenen selbst stammen (beispielsweise Briefe, Gedichte, Tagebucheinträge und andere
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persönliche Zeugnisse). Zwar muss auch in solchen Fällen davon ausgegangen werden, dass diese Fundstücke zielgerichtet und höchst selektiv aufbewahrt wurden und insofern nur einen Ausschnitt der Realität abbilden. Dennoch liegt ihr besonderer Wert gerade darin, dass es sich in diesen Fällen nicht um fremdgenerierte Daten über die Individuen handelt, sondern um Selbstzeugnisse von den Betroffenen, die recht verlässliche Aufschlüsse über ihre Denkmuster, ihre Einstellung gegenüber den Behörden, ihr Verhältnis zum sozialen oder familiären Umfeld usw. zulassen. Aber auch die durch die Behördenvertreter produzierten Dossiers ermöglichen aufschlussreiche sozialhistorische Einblicke in die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen über die sie berichteten. Da Fürsorgerinnen und Fürsorger über Hausbesuche und andere Recherchen »vor Ort« oft Zugang zur Privatsphäre ihrer Klientel hatten, enthalten ihre Berichte nicht nur standardisierte Daten zum sozialbiografischen Hintergrund der Betroffenen (beispielsweise Alter, Geschlecht, Beruf, Bildungshintergrund oder Familienstand), sondern in der Regel auch erstaunlich detaillierte Informationen zu den Lebensfeldern Familie, Beruf und Freizeit. Zudem berichten die Falldossiers recht ausführlich über individuelle Verhaltensweisen, Eigenschaften und Handlungsmotive der Betroffenen und untermauern die Stichhaltigkeit solchermaßen präsentierter »Fakten« oft mit der Wiedergabe von direkten Aussagen der Betroffenen (oder auch Dritter). So gehörte es etwa zum Standard in der Fürsorgeerziehung, die Kinder und Jugendlichen im Rahmen der medizinisch-psychiatrischen Eingangsdiagnostik ausführlich zu ihrem Umfeld und Lebensbedingungen zu befragen und Stellungnahmen zu den inkriminierten Verhaltensweisen und ihren Zukunftswünschen einzuholen (vgl. Kremer 2002, S. 115-127; Steinacker 2007, S. 308316). Allerdings darf über den oft erstaunlichen Gehalt solcher Aussagen für sozial- und mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen nicht aus den Augen verloren werden, dass die Informationen dieser Berichte, und dies betrifft auch die vermeintlichen sozialhistorischen »Hard-Facts«, Wirklichkeitskonstruktionen zweiter oder dritter Ordnung darstellen. Abgesehen davon, dass die Aussagen durch die ideologisch und klassenspezifisch geprägten Wahrnehmungsweisen der Berichterstatter und die spezifischen Handlungslogiken fürsorgerischer Institutionen gefiltert sind, stellen selbst die »authentischen« Ausführungen der Betroffenen – darin unterscheiden sich Fürsorgeakten nicht von autobiografischen Texten oder ethnographischen Feldprotokollen – keine objektive Wiedergabe der Realität dar, sondern lassen allenfalls näherungsweise Aussagen über die Selbstwahrnehmung der Akteure und ihr Verhältnis zur Realität zu. Sofern es allerdings gelingt, die Dokumente entgegen ihrer ursprünglichen Intentionen »zwischen den Zeilen und gegen den Strich« zu lesen (vgl. Mohrmann 1991), sind Fürsorgeberichte zwar immer noch weit davon entfernt, eine neutrale Schilderung »der« Wirklichkeit zu sein, sie lassen aber oft mehr und andere Interpretationen zu, als ihre Verfasser im Sinn hatten. Wie Rolf Lindner mit Blick auf die sogenannten »Wilden Cliquen« im Berlin der zwanziger Jahre gezeigt hat, sind die oft übertriebenen und widersprüchlichen Einschätzungen der zeitgenössischen Jugendbehörden nicht nur textkritisch zu problematisieren, sondern stellen ihrerseits ein signifikantes Datum dar. Der »interaktive Charakter von ›Spiel‹ und ›Gegenspiel‹«, der sich in den Fürsorgeberichten »Geltung verschafft«, erlaubt Rückschlüsse auf das den Akteuren eigene »dramaturgische Werkzeug«, seine Herkunft, Art und Verwendung (Lindner 1993, S. 452 f.). Die dialogische Dimension von Fürsorgeberichten
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erlaubt immer auch die Wahrnehmung konkurrierender, sich zum Teil widersprechender Stimmen über das Wesen von Dingen und ist demnach durchaus geeignet, Fragen zu beantworten, die über die Rekonstruktion innerinstitutioneller und professioneller Funktionslogiken oder spezifischer Textcharakteristika hinausgehen. Liest man sie als Quellen über die Interaktion der Betroffenen mit den Institutionen, können sie wertvolle Einsichten in die Erfahrungs- und Handlungsstrategien historischer Individuen bereitstellen. In den Dossiers zeigt sich das Aufeinandertreffen oft recht unterschiedlicher, durch die jeweiligen Lebenswelten, Erfahrungs- und Bildungshorizonte geprägter Wertvorstellungen und Interessen wie auch die konkreten Handlungs- und Argumentationsmuster der Betroffenen beim Umgang mit Sozialbehörden. Die spezifische Qualität von Dokumenten obrigkeitsstaatlicher Provenienz, und dazu zählen auch Fürsorgeakten, für eine historische Ethnographie besteht, zusammenfassend formuliert, in ihrem Wesen als Zeugnisse eines wechselseitigen Interaktionsprozesses, der durch zahlreiche Interessen geprägt war und in dem divergierende Erfahrungen und Wissensbestände eine tragende Rolle spielten.
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Perspektiven einer historischen Ethnographie für die Wohlfahrtsgeschichtsschreibung – das Beispiel der Jugendfürsorge
Die zuvor skizzierten Forschungs- und Erkenntnisperspektiven haben – wenn auch in der Regel nicht als historische Ethnographie deklariert – in den letzten Jahren verstärkten Eingang in die wohlfahrtsgeschichtliche Forschung gefunden und die bis dahin vorherrschenden organisations-, ideen- und sozialgeschichtlichen Ansätze um neue Themen und Fragestellungen bereichert (vgl. Crew 1998). In diesem Rahmen wurde vor allem dem Alltag in fürsorgerischen Institutionen und hier insbesondere den Einrichtungen der Jugendfürsorge große Aufmerksamkeit gewidmet und das spannungsvolle Ineinandergreifen von lokalen Praxen und übergeordneten Normen, Logiken und Techniken im alltäglichen Vollzug beleuchtet (vgl. Blum-Geenen 1997; Ramsauer 2000; Schmidt 2002; Steinacker 2007). Im Mittelpunkt stand dabei die Frage, wie sich die Ordnung der Institution (re-)produzierte, wobei auch die Reichweiten und Grenzen institutionalisierter Erziehungspraxen sowie die Widersprüche, Ambivalenzen und ungeplanten Effekte fremdbestimmter Erziehungsarrangements in den Blick genommen wurden. Unter der Zielsetzung, fürsorgerisches Handeln nicht nur strukturanalytisch, sondern als soziale, das heißt diskursive, materielle und symbolische Praxis zu untersuchen, könnte es für die zukünftige Forschung lohnenswert sein, den Blick stärker als zuvor auf das Personal von Fürsorgeeinrichtungen zu lenken. Hier wären nicht nur die (berufs-)politischen Interessen und Orientierungsmuster genauer auszuloten, sondern auch die Frage zu beantworten, wie die spezialisierten Wissens- und Erfahrungsformen in den alltagspraktischen Handlungsabläufen angewandt und eingesetzt wurden. Dies schließt das symbolische Deuten und Filtern von Wirklichkeit und das aktive und kreative Ausloten von bestehenden Entscheidungs- und Handlungsspielräumen ein. Mit der Frage nach dem (Herrschafts-)Alltag der Institution haben auch die von ihren Maßnahmen und Eingriffen betroffenen Menschen verstärkten Eingang in die Forschung gefunden. Im Gegensatz zu Studien, in denen die Klienten fürsorgerischer Institutionen lediglich als statistische Größe auftauchen oder sie zu Opfern übermächtiger Disziplinarstrukturen degradiert werden, bemühen sich neuere Studien darum, ihnen als Akteure, als
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handelnde Subjekte gerecht zu werden. Insbesondere die Interaktion der Betroffenen, ihr Agieren als Klienten der Sozial- und Erziehungsbehörden wurde verstärkt in den Blick genommen. Mit durchaus interessanten Ergebnissen. Die neuere Forschung hat beispielsweise gezeigt, dass die Interventionen der Sozialbehörden zwar in den meisten Fällen als unerwünschte Eingriffe in die private Lebensführung wahrgenommen wurden, die (temporäre) Kooperation mit den Jugend- und Sozialämtern aber keineswegs ausgeschlossen war. In einigen Fällen ging die Initiative sogar von den Betroffenen aus, die ihrerseits versuchten, die behördlichen Interventionen zur Befriedung innerfamiliärer Konflikte zu instrumentalisieren. Zudem musste die grundsätzliche Ablehnung der fremdbestimmten Erziehung nicht in permanentem Widerstand münden, sondern konnte durchaus mit einer partiellen oder temporären Anpassung an den Kanon der Einrichtungen einhergehen (vgl. Crew 1998, S. 139 f.; Schmidt 2002, S. 150 f., 239-263; Steinacker 2007, S. 295 ff., S. 411-416). Solche Formen der Aneignung und kreativen (Um-)Nutzung sozialpädagogischer Arrangements verweisen darauf, dass vereinfachende Dichotomien von negativ disziplinierender Administration und prinzipiell widerspenstiger Klientel offenbar zu kurz greifen. Eine stärker an Wahrnehmungs- und Denkweisen der Betroffenen orientierte wohlfahrtsgeschichtliche Forschung könnte zukünftig das komplexe und widersprüchliche Terrain von Widerstand und Kollaboration, Machtlosigkeit und Handlungskompetenz, Passivität und aktiver Aneignung von Welt näher ausloten und untersuchen, auf welchen konkreten Motiven und Vorstellungen solche Konvergenzen basierten und welche Folgen sie für die institutionalisierten Interventions- und Bildungsprozesse hatten. Aufschlussreich wäre auch, die Innenwelten der Fürsorgeklientel, die Binnenverhältnisse, die personellen und sozialen Beziehungen sowie die spezifische »Insassenkultur« in fürsorgerischen Einrichtungen näher zu untersuchen. Welche internen Figurationen und Hierarchien existierten innerhalb der »Zöglingsgesellschaft«, nach welchen Regeln und über welche Symbole und Praktiken wurden Rollenarrangements, Identitäten ausgehandelt, inszeniert und auf Dauer gestellt? Lohnenswert könnte in diesem Zusammenhang die Verwendung des Konzeptes des »Sozialen Dramas« zur Rekonstruktion fürsorgerischer Interventionen im Einzelfall sein. Die im fürsorgerisch-administrativen Verfahren aktivierten Beziehungs- und Akteursnetzwerke, die dynamischen Interaktionsfolgen und dabei aktivierten materiellen wie immateriellen Ressourcen sowie vor allem die in der Interaktion zum Ausdruck kommenden Vorstellungen, Erwartungen und Interpretationen, die wechselseitige Aushandlung von Bedeutungen und Identitäten können – über den Einzelfall hinaus – zum grundsätzlichen Verständnis der Konstitution und Entwicklung wohlfahrtskultureller Handlungs- und Ereigniszusammenhänge beitragen. Eine an ethnographischen Frage- und Problemstellungen orientierte wohlfahrts- und bildungsgeschichtliche Forschung ist dabei eine Möglichkeit historischer Erkenntnisgewinnung. Sie kann den Blick für bis dahin eher unbemerkte Facetten der Vergangenheit schärfen und neue und andere Fragen an historische Quellen stellen. Anspruch ist es dabei freilich nicht, sie als vermeintlichen Königsweg gegen alternative Formen der Erkenntnisproduktion auszuspielen. Viel gewonnen wäre allerdings, wenn der Komplexität und der Fülle der Vergangenheit durch eine integrative Forschungsperspektive Rechung getragen werden kann, die in der Lage ist, Ereignisse und Entwicklungen auf höheren Ebenen von Allgemeinheit mit mikroskopischen Detailansichten zu vermitteln. Die Art und Weise des erzieherischen oder fürsorgerischen Umgangs mit Menschen lässt sich eben nicht nur aus
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gesellschaftlichen Strukturen ableiten, sondern ist das Ergebnis einer komplexen Gemengelage aus lebensweltlichen Erfahrungen, Handlungsspielräumen, Wirklichkeitsdeutungen und Machtverhältnissen. In diesem Sinne kann ein historisch-ethnographischer Zugang dazu beitragen, einen unbedingten Anspruch auf holistische Erfassung und eindeutige Erklärungen der Vergangenheit zu relativieren. Zu erinnern ist daran, dass nicht nur die gelebte Vergangenheit, sondern auch »die berufsmäßige Produktion von Vergangenheitsvorstellungen« von einem »unendlichen Prozess der Korrekturen, Zwischenrufe und Einsprüche« (Maase 2001, S. 262) geprägt ist.
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2. Zugänge zum Feld. Getting in, Getting on, Going native
Feldnotizen über das Zustandekommen von Gesprächen mit Kindern oder: Die Ethnographin im Kinderbett Karin Bock
»Daß wir die Kinder so wenig kennen, kömmt, außer der Ursache, daß wir uns keine Mühe darum geben, auch daher, dass sie sich und ihre Handlungen und ihre Bewegursachen aus Furcht vor uns verbergen.« (Ernst Christian Trapp: Versuch einer Pädagogik, 178, S. 69)
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Vorbemerkungen: Aus der Perspektive von Kindern?
Innerhalb der Kindheitsforschung existiert seit längerer Zeit eine Diskussion darum, wie und ob die Welt und das Erleben von Kindern aus der ForscherInnenperspektive Erwachsener adäquat erfasst werden könnten (vgl. etwa Honig/Leu/Nissen 1996; Honig/Lange/Leu 1999). Dieses so genannte Differenzproblem von Kindern und Erwachsenen als »Eigenart und Fremdheit«, so die These, ließe sich im Grunde nur mit dem von Lena Alanen vorgetragenen Konzept der generationalen Ordnung als methodologischem Leitbegriff einlösen (vgl. Alanen 1992, 1997; Honig 1999). Fazit dieser Diskussion war die Installation und Begründung einer »neuen Kindheitsforschung«, die sich als »Soziologie der Kindheit« verstand, »Kinder als Akteure« zu ihrem Ausgangspunkt machte, sich methodologisch mit den Perspektiven auf Kinder und Kindheit abmühte und das Verhältnis von »Erwachsenem« und »Kind« innovativ zu bestimmen versuchte (vgl. Honig/Lange/Leu 1999; auch Hengst/Kelle 2003). Insbesondere die forschungsmethodologischen wie -methodischen Konsequenzen aus dieser Diskussion waren (aus heutiger Sicht) fatal: Bestätigte die Diskussion doch einmal mehr, dass eine Forschung »vom Kinde aus« quasi unmöglich sei und die »Perspektive von Kindern« empirisch kaum einzunehmen sei. Inzwischen sind diese Diskussionen in eine etwas andere Richtung gelenkt worden. So hat etwa Burkhard Fuhs vorgeschlagen, zwischen Kindheit und Kindsein zu differenzieren: »Vor dem Hintergrund der Vieldeutigkeit des Begriffs Kindheit wäre es sinnvoll, zwischen Kindsein und Kindheit zu unterscheiden. Für eine ›Soziologie des Kindesalters‹ wäre der Begriff der Kinderforschung für den Kinderalltag, für Handlungssituationen aus der Perspektive von Kindern und die Sozialisationsprozesse zu reservieren. Kindheitsforschung würde dann ›das Kind‹ als Sozialstatus und kulturelles Muster im historischen Wandel der Generationenverhältnisse meinen und die Lebensverhältnisse von Kindern in den Blick nehmen (…) Kindsein betont in diesem Modell die Kinder als Akteure, während Kindheit (in einem engen Sinn) die Strukturmuster des Kinderlebens meint. Kindsein richtet sich auf die konkreten Alltagspraxen von Kindern, und Kinderforschung versucht, die Perspektive von Kindern zu rekonstruieren. Kindheit meint die Gesamtheit aller gesellschaftlichen Bedingungen des Kinderalters« (Fuhs 2004, S. 277). Obwohl dieser systematisierende und zugleich (forschungsmethodologisch) durchaus ambitionierte Versuch einer Differenzierung von Kindheits- und Kinderforschung sinnvoll
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erscheint, ergeben sich forschungspragmatisch neue Probleme: Wie lassen sich diese Differenzierungen in eine empirische Studie einbetten, die beide Sichtweisen aufnimmt? Welche Position bzw. welche Perspektive auf Kindheit und Kindsein wird eingenommen, wenn man versucht, den »Alltag konkreter Kinder« (vgl. ebd.) empirisch einzufangen und ihn unter den jeweils gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen zu interpretieren? Sind Kinder nicht immer zugleich Akteure ihres eigenen Lebens als auch Funktionsträger pädagogischer Prozesse, d.h. gleichsam Subjekte wie Objekte in und von Erziehung? Und wie kann man überhaupt mit Kindern ins Gespräch kommen, wenn doch »Eigenheit und Fremdheit« die Perspektive von Kindern systematisch verstellen? Forschungspragmatisch jedenfalls ermutigt dieser hier nur knapp angerissene Diskurs jedenfalls nicht gerade, Kinder, Kindsein und Kindheiten empirisch zu erforschen. Gleichwohl kann er eine Reflexionsfolie für empirische Studien liefern, um zumindest im Vorfeld bei der Planung empirischer Studien die Positions- und Perspektivenbestimmungen von Forschenden genauer zu lokalisieren – könnte man meinen. Doch ungeklärt bei der gesamten Diskussion um die Perspektiven von Kindern als Akteure ist bislang, welche Position Forschende überhaupt einnehmen können bzw. wie sich die »Logik des Feldes« gegenüber Forschenden verhält. Denn eines hat die Diskussion um Kinder und Kindheiten deutlich gezeigt: Theoretische Positionsbestimmungen sind sicher für die intellektuelle Standortbestimmung aus erziehungs- und sozialwissenschaftlicher Perspektive hilfreich und interessant, allein, sie können kaum Auskunft darüber geben, wie sich Kinder durch ihren Alltag bewegen, welche Probleme und Fragen sie bewältigen, wie sie mit Erwachsenen und mit den alltäglichen Praktiken professioneller PädagogInnen umgehen. Zudem liefert die gesamte Diskussion um die Perspektive von Kindern und Kindheiten keinerlei Auskunft darüber, wie die Logik der Handlungen von Akteuren im Feld zu beschreiben und zu erfassen sei, wie man überhaupt mit den Akteuren ins Gespräch kommt und wie sich eine Forschungssituation herstellen lässt. Und darum soll es im Folgenden gehen. Zuerst werde ich kurz den Rahmen der Untersuchung skizzieren, um danach anhand von aufbereiteten Feldnotizen Einblicke in einen Forschungszusammenhang zu geben, in dem sich das Zustandekommen von Gesprächen mit Kindern durch eine zunächst irreführende Positionsbestimmung ergab. Zum Abschluss wird es darum gehen, forschungsmethod(olog)ische Konsequenzen zu ziehen.
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Der Forschungszusammenhang: Empirische Zugänge zum Kinderalltag
Im Rahmen meiner Untersuchungen zu Kinderalltag und Kinderwelten (vgl. Bock 2008) ging es um die Frage, wie sich Alltagserfahrungen und Sichtweisen von Kindern im Alter zwischen sechs und elf Jahren analysieren und rekonstruieren lassen. Um dieser Frage empirisch nachgehen zu können, sollte ein methodisches Erhebungsinstrument gewählt werden, mit dem die Perspektiven von Kindern auf ihre alltäglichen Erlebnisse, Erfahrungen und Handlungszusammenhänge möglichst adäquat eingefangen werden können. Hier bot sich das Verfahren der Gruppendiskussion an, da mit diesem Verfahren die Beteiligten gemeinsame Alltagserfahrungen in sekundären Sinnbildungsprozessen kommunizieren und (re-)konstruieren können. Allerdings wird in der Methodenliteratur häufig davon abgeraten, mit dem methodischen Instrument des Gruppendiskussionsverfahrens bei Kindern zu arbei-
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ten: Mehrfach wurde behauptet, dass jüngere Kinder (intellektuell) nicht in der Lage seien, eine »gelungene« Gruppendiskussion durchzuführen (so etwa Richter 1997; Vogl 2005). Allerdings existieren auch andere Forschungserfahrungen. So haben etwa Friederike Heinzel (2000) oder Iris Nentwig-Gesemann (2006) mehrfach darauf hingewiesen, dass das Gruppendiskussionsverfahren unter bestimmten Bedingungen als Erhebungsinstrument durchaus bei Kindern einsetzbar ist (vgl. zusf. zum Stand der Diskussion Bock 2008). Vor dem Hintergrund dieser beiden Diskussionen – der Unmöglichkeit, die Perspektive von Kindern empirisch einfangen zu können wie das Gruppendiskussionsverfahren bei Kindern einzusetzen – war ich gleichsam gewarnt und herausgefordert. Ich hatte mich zwar längst entschlossen, beides zu versuchen, fühlte mich aber (theoretisch) gewarnt und plante deshalb im Vorfeld der Erhebungsphase von Gruppendiskussionen eine zweijährige Feldbeobachtungsphase, in der ich mich der »Welt der Kinder« zumindest aus der Erwachsenenperspektive nähern wollte. Vom Frühjahr 2002 bis zum Sommer 2004 beobachtete ich in unregelmäßigen Abständen Kinder aus einer Grundschulklasse1. Die Schule, die die Kinder damals besuchten, war eine einzügige Grundschule, deren Zukunft ungewiss war, da sie bereits mehrfach geschlossen werden sollte. Dementsprechend hatten die dort tätigen PädagogInnen nur befristete Zeitverträge. Die Schule war seit etwa 20 Jahren nicht grundrenoviert worden, das Mobiliar stammte offenbar noch aus der Zeit der DDR. Im Frühjahr 2004, kurz bevor die Kinder die Grundschule verlassen sollten, berichtete mir die Klassenlehrerin über den Plan einer Abschlussfahrt mit der nunmehr vierten Klasse und bot mir die Mitfahrt an. Ich nahm das Angebot sofort an, an dieser dreitägigen Klassenfahrt teilzunehmen.
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Die Logik des Feldes oder: Positionsbestimmungen und Rollenzuschreibungen generationaler Ordnung
Ziel der dreitägigen Klassenfahrt war eine alteingesessene Jugendherberge in einem kleinen erzgebirgischen Ort, ca. 30 Autominuten von der Heimatstadt der Kinder und PädagogInnen entfernt, nahe einem alten Schloss. Rings um das Schloss gab es hauptsächlich Wald. Der nächstgelegene Bahnhof von der Jugendherberge war 5 km entfernt. Die Klassenfahrt wurde zusammen mit der dritten Klassenstufe der Schule geplant. Als pädagogische Betreuung standen somit die beiden Klassenlehrerinnen zur Verfügung, zusätzlich waren eine Hortnerin und der Sportlehrer der Schule für die Klassenfahrt eingeteilt. Für die Pädagoginnen war die Mitfahrt des Sportlehrers besonders wichtig »für die Jungen, der hat die besser im Griff, die brauchen einen Mann«, wie mir eine Lehrerin mitteilte. Am Morgen des Abfahrtstages meldete sich die Klassenlehrerin der vierten Klasse krank und sagte sofort die gesamte Teilnahme an der Abschlussfahrt ihrer vierten Klasse ab, so dass nunmehr die Klassenlehrerin der dritten Klasse, die Hortnerin, der Sportlehrer und ich mit den Kindern in die Jugendherberge fuhren. Mit den Kindern aus der vierten Klasse war ich längst sehr gut vertraut durch »unsere« zweijährige Schulzeit, die Kinder aus der dritten Klasse kannte ich von zufälligen Begeg1
Im Rahmen dieser Feldforschungen entwickelte ich nach und nach ein Manual zur Erhebung von Gruppendiskussionen mit Kindern; dieses Manual soll aber nicht Gegenstand dieses Textes sein (vgl. hierzu ausf. Bock 2008).
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nungen auf dem Schulhof und in den Schulfluren, sie kannten mich nur flüchtig. Für die Lehrerin, die Hortnerin, den Sportlehrer und die Direktorin war ich eine Lehramtsstudentin im Praktikum. Zwar hatte ich im Vorfeld mehrfach erläutert, dass ich weder Praktikantin sei noch Lehramt studierte, sondern eine Dozentin von der Universität, die eine empirische Studie über Kinderalltag und Kinderwelten plante, aber das war den Pädagoginnen egal. Für sie war ich eine Lehramtsstudentin im Praktikum, die sich vorgenommen hatte, sich besonders intensiv mit Kindern zu beschäftigen. Nicht so für die Kinder aus der vierten Klasse. Bei ihnen schwankte ich zwischen zwei Rollen hin und her: Für die einen war ich eine Schriftstellerin, die ein Buch über Kinder schreiben wollte, für die anderen eine zurückgebliebene Erwachsene, die aus unerfindlichen Gründen die Grundschule wiederholen musste. Sicher gibt es unzählige Alternativen, sich dem Feld zu nähern. Es ist viel darüber geschrieben und diskutiert worden, wie man sich dem Feld nähert, wie man sich eingliedert 2 und positioniert . Meiner Erfahrung nach nützen diese methodischen Hinweise anderer Forscherinnen aber nur als Reflexionshintergrund und vielleicht als Alternativkonstrukt im reflexiven Nachgang, denn im Feld war alles anders. Ich hatte zumindest gegenüber den Pädagoginnen keine Möglichkeit, so etwas wie eine Forscherinnenrolle im Feld zu behaupten. Immerhin konnte ich in den beiden Forschungsjahren an der Schule plausibilisieren, dass es mir nicht um die praktisch-pädagogischen Erziehungs- und Lehrmethoden der Hortnerinnen und Lehrerinnen ging (die Pädagoginnen hatten in den ersten Wochen immer wieder ihre Befürchtungen darüber vorgetragen, ob ich ihre professionelle Kompetenz wolle), sondern ausschließlich um die Erlebniswelt der Kinder, ihren Alltag, ihre Sorgen, ihre Ideen und Phantasien. Nur so konnte ich zu Beginn meiner Beobachtungen überhaupt den Zugang zum Feld erschließen. Im Verlauf der beiden Jahre fand jedoch eine Umdefinition meiner Rolle statt, die sich offenbar aus der Logik des Feldes ergibt. Durch eine schleichende sukzessive Degradierung der Position von der Forscherin über die interessierte Kinderpädagogin hin zur Lehramtstudentin im Praktikum wurde ich im Feld schließlich so akzeptiert, dass ich in Ruhe meinen Forschungsfragen nachgehen konnte. Doch im Verlauf der drei Tage in der Jugendherberge ließ sich letztlich auch die Position einer Lehramtsstudentin im Praktikum nicht mehr aufrechterhalten. 3.1 Mit Pädagoginnen ins Gespräch kommen … Genau genommen gab es während der Klassenfahrt nur drei Anlässe, in denen ich in den Augen der Pädagoginnen als Erwachsene gesehen wurde: Morgens, wenn es Bohnenkaffee gab, abends nach 21.00 Uhr, wenn die Hortnerin eine Zigarette rauchen und dabei nicht allein sein wollte und in zwei Gesprächen mit den Pädagoginnen am ersten Tag. Das erste Gespräch hatte ich gleich am Nachmittag des ersten Tages bei der Zimmervergabe. Für mich war ein Einzelzimmer in der Jugendherberge reserviert, das ich mir für den Datenabgleich und die Feldprotokolle reserviert hatte. Dieses Zimmer nahm sich kurzerhand »der Mann« in Gestalt des Sportlehrers. Die Lehrerin und die Hortnerin redeten mir währenddessen zu und erklärten mir ausführlich, dass dies die einzige Möglichkeit für den Sportlehrer sei, da es unzumutbar für ihn wäre, mit vier Jungen in einem Zimmer zu schlafen. Ich 2
Hier die ganzen Literaturverweise aufzählen zu wollen, würde den Rahmen sprengen. Stellvertretend für viele solcher Hinweise vgl. Lamnek 1993.
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bekam also statt des reservierten Einzelzimmers mit Erwachsenenbett ein Kinderbett im Zehn-Bett-Mädchen-Zimmer zugewiesen, dass immerhin für einen Ein-Meter-SechzigMenschen ausgelegt war. Die Begründung der Lehrerin lautete: »Damit sie näher an den Kindern sind. Da können sie mal so richtig erleben, wie das ist. Das wollten sie doch. Sie können ja abends noch rausgehen, sie müssen ja nicht gleich um 21.00 Uhr mit den Kindern schlafen.« Ich bedankte mich herzlich und suchte nach einer Abstellmöglichkeit für meine Technik. Der Herbergsvater verstand mein Problem und stellte mir sein Büro zur Verfügung. Das zweite Gespräch mit den Pädagoginnen fand am selben Abend im »Leiterinnenzimmer« statt. Sie hatten mich um 21.30 Uhr zu sich eingeladen – in ihr gemeinsames Zimmer, das für Betreuungspersonen mit Tischen, Stühlen, Leselampen und einem Schreibtisch eingerichtet war. Nachdem ich auf dem mir zugewiesenen Stuhl Platz genommen hatte, begannen die beiden Frauen, mich auszufragen: Wie es mir im Zehn-BettZimmer gefalle, ob mir auch schon aufgefallen wäre, dass dieses Mädchen schlampig sei, jenes verstört, und zwei »viel zu weit für ihr Alter«. Irritiert versuchte ich, mich irgendwie aus der Situation heraus zu manövrieren, erwiderte Belanglosigkeiten und verließ nach 17 Minuten unter einem Vorwand fluchtartig den Raum. Wieder zurück im Zehn-BettZimmer, in dem ich von meinen neun Mitbewohnerinnen stürmisch begrüßt wurde, konzentrierte ich mich auf die Geheimhaltung der Pyjama-Party-Vorbereitungen, die am folgenden Abend stattfinden sollte und an deren Organisation ich mich bereits beteiligt hatte. Denn meine Mitbewohnerinnen hatten eine Unterschriftensammlung »pro PidschamaParty« ins Leben gerufen, an der ich teilgenommen hatte. Am nächsten Morgen gehörte ich zu den Kindern – sowohl für die Pädagoginnen als auch für die Jungen und Mädchen. Zwar konnte ich weder wegen meines Gewichts und meiner Größe über die oberen Bettgestelle der Doppelstockbetten rennen und war auch nicht in der Lage, mir ständig die Fingernägel zu lackieren, T-Shirts zu wechseln oder mich im Zimmer mit Sonnencreme einzucremen, weil ich solche Utensilien vergessen hatte. Aber die Mädchen verziehen mir. Sie liehen mir ihren Lippenstift, versuchten, mir T-Shirts von sich auszuleihen und zeigten mir stolz die Bilder ihrer LieblingssängerInnen. Dann kam das Gespräch auf mich: Wir saßen gerade auf den oberen Betten im Zimmer verteilt, als Zang Weh aus der dritten Klasse plötzlich anfing, mir gezielt Fragen zu stellen: Warum ich mit sei, was ich mache, woher ich komme, wer ich bin. Alle schauten gespannt auf mich – und ich redete: Dass ich ein Buch über Kinder schriebe, dass ich wissen wolle, wie sie leben und was sie denken, dass ich mich für ihre Welt interessiere. Ein unglaubliches Tohuwabohu setzte ein: Jede wollte mir alles von sich erzählen, ich solle aufschreiben, weiterschreiben, mehr schreiben, schneller schreiben. Als ich sie fragte, welchen Namen sie in meinem Buch haben wollten – wegen des Datenschutzes und der Anonymisierung – waren sie plötzlich alle ganz still. Zang Weh war die erste, die die Worte wiederfand. Sie erklärte, sie wolle Zang Weh heißen, nichts als Zang Weh. Synonym, so ein Quatsch. Wer wolle denn schon mit einem falschen Namen versehen werden, wenn er schon einen echten, richtigen habe? Als ich erwidern wollte, klappte die Tür. Es ginge gleich los, die Wanderung zum Klauser-Stein beginne in zwei Minuten. Hektisch wurden Taschen und Rucksäcke gepackt, die Sonnencremes verstaut, Gummibärchen und Bonbons verteilt und die Variationsbreite der Pullover, Jacken und Hosen getestet. Nach fünf Minuten waren wir fertig, die Hortnerin
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rief schon vom Flur. Dann ging es los: Wir wanderten. Durch das Städtchen, über Straßen, Wiesen, Felder und durch den Wald. An den Händen gefasst liefen wir den Pädagoginnen nach, die uns zielgerichtet irgendwohin führten. Weder ich noch die Kinder kannten den Weg oder das genaue Ziel (lediglich die Angabe Klauser-Stein), aber das war egal. Ich hatte unendlich viel Zeit, um mit den Kindern ins Gespräch zu kommen. Schließlich gehörte ich ja jetzt irgendwie zu ihnen. 3.2 … um den Weg zu Gesprächen mit Kindern zu finden Bei der Auswertung und Reflexion der dreitägigen Feldphase wurde mir deutlich, dass ich für meine Forschungsfragen nicht besser ins Feld hätte integriert sein können. Gerade weil sich meine Position im Feld von der Lehramtsstudentin im Praktikum zur zu groß geratenen Drittklässlerin gewandelt hatte, eröffneten sich mir ungeahnte Möglichkeiten, um mit den Kindern ins Gespräch zu kommen. Denn von den Mädchen und Jungen war ich inzwischen in eine besondere Position eingeordnet worden – jeder wollte mich an den Händen fassen, neben mir gehen, mit mir reden. Und zwar exklusiv, am besten allein. Dass ich mich für sie und ihre Welt interessierte, verbreitete sich wie ein Lauffeuer unter den Kindern. Und sie waren sehr stolz darauf. Ich ging also gemeinsam mit den Kindern hinter den Pädagoginnen her, die am Anfang der Wanderung zunächst die Sehenswürdigkeiten des Städtchens erläuterten. Gerade war Lindas und Stefans Zeit gekommen, mich an den Händen zu fassen – die Kinder hatten einen Plan erstellt, wer mich in welcher Reihenfolge wie lange anfassen dürfe. Ich ging also mit Linda an der einen und Stefan an der anderen Hand, wir alberten leise herum und hörten mit halbem Ohr den Erklärungen der Lehrerin zu. Vor einer Villa, von der der Putz abbröckelte und in der ein Café war, blieb sie plötzlich stehen und sagte: »Das ist ein ganz berühmtes Café. Da gab es schon zu DDR-Zeiten Kuchen und Kaffee, das war so gut. Alle Leute kamen von weither und trafen sich hier. Man hat kaum einen Platz bekommen. Wenn ihr mal erwachsen seid, könnt ihr da auch rein. Ganz berühmt ist das – nicht nur jetzt. Eben auch schon zu DDR-Zeiten.« Linda zog mich am Arm, so dass ich mich zu ihr herunterbeugen musste, und flüsterte mir ins Ohr: »Die immer mit ihrem DDR-Scheiß. Das nervt vielleicht. Ständig erzählt die so was. Dabei ist das doch schon so lange her. Das will doch keiner wissen.« Ich fragte nach: was sie von der DDR wisse, ob die Lehrerin öfter solche Dinge erzähle und warum sie genervt sei. Linda erzählte viel von dem, was sie wusste, dass es mal die DDR gegeben hätte und eine hohe Mauer, über die keiner klettern durfte, dass alle Arbeit hatten, wie ihr ihre Mutter mal erzählt hatte und dass jetzt alles anders ist. Stefan, an meiner anderen Hand, hakte in das Gespräch ein: »Das abgetakelte Haus soll mal berühmt gewesen sein? So ein Blödsinn. Da sitzen doch nur Alte drin. Das bricht doch gleich zusammen, so wie das aussieht.« Ich fragte, wie er sich ein berühmtes Haus vorstelle. Stefan überlegte und schaute sich um. Als wir weitergingen, prüften wir jedes Haus auf seinen Wert und er beschrieb mir sein Traumhaus: Helle, große Fenster solle es haben, viele Blumen und ganz weiß müsse es sein. So eines, wie sein Vater bauen will, wenn er wieder Arbeit hat. Dann erzählte er mir von der Lebenssituation in seiner Familie. Linda kommentierte Stefans Geschichte manchmal kurz und hörte zu, bis er fertig war. Anschließend berichtete sie mir, wie sie lebt, was ihre Geschwister machen – sie hatte mehrere – seit wann ihre Mutter arbeitslos ist, wie das bei ihr mit der Kurzarbeit war, seit wann
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ihr Vater nicht mehr nach Hause zurückkehrt und wie sie es empfindet, jetzt, wo alles anders ist, weil das Geld nicht für den Monat reicht, die Geschwister ihre eigenen Wege gehen und wie sie versucht, ihre Mutter tagtäglich aufzuheitern. Andere Kinder kamen zu uns, wir gingen inzwischen in einer Zehnerreihe. Die Kinder fassten sich an den Händen und hörten zu. Als Linda und Stefan fertig waren mit ihrer Erzählung und ich mit meinen Nachfragen, spürte ich plötzlich zwei andere Kinderhände in den meinen. Nelly und Max waren an der Reihe, mich anzufassen. Nelly hatte gerade einen Regenwurm beobachtet, der am Straßenrand im Schmutz lag. Und sie berichtete mir über das drohende Schicksal des Regenwurms, das ihn bestimmt ereilen würde, wenn er da nicht weggehe. Max sagte gar nichts, er hörte nur zu. Als wir in den Wald einbogen, waren wir längst beim Thema Tiere im Allgemeinen. Max erzählte von seinem letzten Besuch im Zoo. Und Nelly versprach mir, sich bis zum nächsten Tag eine Geschichte über eine Fliege auszudenken, die sie mir dann erzählen wolle. Ich hielt mich während dieser ganzen Zeit zurück, fragte nur ab und zu nach, wenn ich etwas nicht genau verstanden hatte. Die Kinder berichteten ausführlich über ihre Lebenssituationen, die Familienwelten, in denen sie lebten, die Erlebnisse, die sie beschäftigten. Sie kommentierten leise die Erklärungen der Pädagoginnen oder hörten gespannt zu, wenn ihnen etwas interessant erschien. Und ich hatte auf meinem Tonband kompakte Geschichten über historische Vergangenheiten, über Familien- und Lebenssituationen, über die Welt der Tiere und über Alltagsprobleme und Wohnträume.
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Was ist die Perspektive von Kindern? Forschungsmethod(olog)ische Konsequenzen
Fasst man nun auf einer ersten Stufe die methodischen Konsequenzen der Feldnotizen zusammen, so tritt die Frage nach der Perspektive von Kindern zunächst in den Hintergrund. Vielmehr zeigt sich zuerst, dass die Erhebung von Gesprächen mit Kindern formal äußerst schwierig und zeitintensiv ist. Aus meiner Sicht gehören Kinder zu denjenigen Gruppen unserer Gesellschaft, zu denen man formal nur sehr schwer in Kontakt kommt. Nicht, weil Kinder nicht erzählen können oder wollen, sondern weil sie als Kindergruppe kaum fassbar sind und ihre Kindheit in einen komplexen, quasi undurchlässigen Institutionenzusammenhang eingebettet ist: Von der Familie in die jeweilige Tageseinrichtung und von dort (eventuell über sozialpädagogische Institutionen) wieder zurück in die Familie. Kindheit ist somit nach wie vor durchinstitutionalisiert. Die erste Konsequenz, die sich hieraus ergibt, ist forschungsmethodisch gleichermaßen banal wie basal: Um Kindsein und Kindheit erforschen zu können, muss man sich wohl in die Institutionen begeben (bzw. man ist bereits selbst Teil einer Institution). Betrachtet man nun die Erhebungsphase im Feld, so zeigt sich, dass es quasi unmöglich ist, in solch einer Erhebungssituation neutral zu sein oder sich relativ unbeteiligt im Feld zu bewegen. Nicht nur, weil ausgehandelte und zugewiesene Positionsbestimmungen im Feld sich verschieben und verändern, sondern auch, weil sich der Standpunkt der Perspektive natürlich auch aus der Forschungsfrage ergibt – das ist zwar auf den ersten Blick trivial, verweist aber auf den zweiten Blick auch darauf, wie ungenau die Diskussion von Forschungsperspektiven bleiben muss, wenn man solche Fragen ausblendet.
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Das Zustandekommen der Gespräche mit den Kindern wie mit den PädagogInnen schließlich war eindeutig situationsabhängig. Auslöser waren dabei die jeweiligen Ereignisverkettungen – vom Hände-Anfassplan der Kinder über die Erklärungen der Pädagoginnen bis hin zu den gemeinsam erlebten Begebenheiten. Diese Erlebnisse waren der Ausgangspunkt für die Gespräche. Hierbei erfolgte die Auswahl der Themen frei assoziativ. Das, was die Kinder erzählen wollten, und das, was ich thematisch lenken konnte, greift dabei direkt ineinander. Roland Girtler hat auf der Grundlage dieser Einsichten solche Gesprächssituationen als das »ero-epische Gespräch« beschrieben (vgl. Girtler 2001, S. 147 ff.)3.. Und er behauptet, dass eigentlich jede Form des Interviews »für ein echtes Forschen eher problematisch ist«, denn bei »einer gelungenen Forschung (…) kommt es (…) vorrangig darauf an, wie ich als Mensch von den Leuten, mit denen ich spreche, akzeptiert werde. Würde ich nicht als jemand gesehen werden, der ›in Ordnung‹ ist, (…) so hätte ich keine Chance, in eine fremde Lebenswelt einzudringen« (ebd., S. 149). Die methodologische Konsequenz, die sich hieraus ergibt, ist die Reflexion der Positions- und Perspektivenbestimmung aus Forschungssicht. Anders formuliert: Es scheint also gerade im Kontext der neueren Kindheitsforschung, in der Kinder als Akteure ins Blickfeld rücken, unmöglich, einen forschungsmethodologisch unbeteiligten Blick auf die generationale Ordnung zu entwickeln, in der sich Kinder (gesellschaftsbedingt notwendigerweise) bewegen. Vielmehr bietet sich hier eine andere Lesart an: Nachdem man sich in der Feldforschung auf die Seite derjenigen geschlagen hat, deren Lebenswelt im Zentrum steht, lässt sich die generationale Ordnung des Sozialen aus ihrer Perspektive erfassen. Und diese Perspektive erzeugt (notwendigerweise) blinde Flecken für die jeweils anderen Perspektiven der »auch noch«-Beteiligten, in unserem Fall: der PädagogInnen. Diese systematisch einzuholen, erfordert Anschlussforschungen. Kehren wir nun abschließend zu der eingangs gestellten Frage zurück, ob es tatsächlich sinnvoll ist, eine Kindheitsforschung »aus der Perspektive von Kindern« über die generationale Ordnung des Sozialen einzuholen oder gar zwischen Kindheit und Kindsein empirisch zu differenzieren, so zeigt sich, dass die Frage nicht das trifft, was (forschungslogisch) tatsächlich der Fall ist. Interessant wird es erst, wenn man beide Perspektiven systematisch miteinander verknüpft, d.h. wenn innerhalb einer empirischen Studie sowohl eine Kinderforschung systematisch durchgeführt wird als auch eine differenzierte Rückkopplung an die Kindheitsforschung stattfindet, in der gesellschaftliche Strukturen von Kindsein und das Zustandekommen von Kindheit mit reflektiert werden. Erst beide Perspektiven zusammen eröffnen die generative Ordnung des Sozialen – auch und gerade aus der Perspektive von Kindern. Denn obwohl die erziehungs- und sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung inzwischen über ein breites Spektrum an Theorien über Kindheit verfügt, muss »Kindheit (…) immer wieder neu gedacht werden, mithin ihre Geschichte und Theorie immer wieder neu geschrieben werden« (Berg 2004, S. 297).
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Im ero-epischen Gespräch geht es darum, dass sich sowohl Forscher als auch Beforschter gleichermaßen als Gesprächspartner in das Gespräch einbringen, d.h. auch der Befragte fragt den Frager, die Beziehung zwischen beiden ist durch das »Prinzip der Gleichheit« bestimmt (Girtler 2001, S. 147).
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An ein Zelt lässt sich nicht gut anklopfen Der Feldzugang als soziale Aufführung und Kampf um Deutungen Holger Schoneville
Möchte man etwas über die Welt und die Menschen in der Welt erfahren, muss man seinen Schreibtisch verlassen, hinaus gehen und die Menschen in ihrem Alltag beobachten und begleiten. Dies könnte man als die zentrale – wenn auch etwas vereinfachte – Position ethnographischer Forschung benennen. FeldforscherInnen grenzen sich aus diesem Grund immer wieder scharf von »Schreibtischtätern« oder, um einen Begriff von Roland Girtler zu verwenden, von »Verandasoziologen« ab (vgl. Girtler 2004, S. 9 ff.). Der Prozess der Feldforschung ist damit der Kern ethnographischer Forschung und wird klassischerweise in unterschiedliche Phasen unterteilt: »Zuerst kommt das Stadium der Initiation oder der Re-Sozialisation; hier versucht der Feldforscher, sich in den Arten von Beziehungen zu engagieren, die es ihm erlauben, seine Feldarbeit durchzuführen – diejenige Periode, in der er und seine Gastgeber die verschiedenen Arten von Rollen ausarbeiten oder entwickeln, die sie und er spielen werden. Als zweites folgt das Stadium, in dem der Feldforscher, der nun eine Anzahl von Beziehungen aufgebaut hat, in der Lage ist, sich auf seine Feldforschung zu konzentrieren. Danach kommt, drittens, das Post-FeldStadium, wo der Forscher seinen Abschlussbericht schreibt und versucht, wieder bei seinen eigenen Leuten Schritt zu fassen und sich zu readaptieren« (Wax 1979, S. 69).
Die von Rosalie H. Wax als Initiation oder Re-Sozialisation umschriebene erste Phase wird häufig auch als »getting in« und der darauf folgende Aufenthalt im Feld als »getting on« bezeichnet. Nachfolgend soll das Augenmerk auf diese erste Phase des Forschungsprozesses, die in der Literatur immer wieder als besonders schwieriger Teil beschrieben wird, gerichtet werden, um dabei die Frage nach den Fallstricken, der Bedeutung und den Chancen des Feldeinstiegs aufzuzeigen. Ein empirisches Beispiel wird dabei herangezogen, um die ersten Überlegungen zur performativen Herstellung des Feldzugangs zu verdichten.
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»Getting in« – ein ethnographisches Abenteuer
Die Forschungsliteratur ist sich einig: Der schwierigste Teil bei der Realisierung eines Forschungsprojekts beginnt schon, bevor die Forschung im eigentlichen Sinn richtig angefangen hat. So hält Alan Bryman in seinem Einführungswerk zu Forschungsmethodologie und -methoden fest: »One of the key and yet most difficult steps in ethnography is gaining access to a social setting that is relevant to the research problem in which you are interested« (Bryman 2004, S. 294). Ganz in diesem Sinn notiert auch Barbara Friebertshäuser (1997, S. 513): »Die ersten Tage und Wochen jeder Feldforschung sind die schwierigsten. Es gilt, die eigenen Absichten gegenüber den Untersuchten verständlich zu machen, sie für die Mitarbeit zu gewinnen, sich eine eigene Rolle zu suchen und zu lernen, sich in einem
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neuen, fremden Feld zu bewegen«. Die erste Phase im Feld beschreibt R. H. Wax aus der Perspektive der Forscherin mit dem Bild eines sozialen Niemandslands, in dem der Forschende »versucht sich so zu verhalten, als ob er ›dazugehört‹ und als ob er wüsste, was er tut« (Wax 1979, S. 72). In das Zentrum zahlreicher Beschreibungen rücken die Einstiege und Anfänge jedoch nicht ausschließlich aufgrund ihrer Schwierigkeiten, vielmehr wird dem Einstieg in ein Feld eine zentrale Rolle für das gesamte Anliegen des Forschungsprojekts zugewiesen. So betont Bruno Hildenbrand (1984), ähnlich wie auch Leonard Schatzman und Anselm Strauss (1979), dass es vom Feldeinstieg abhängt »welche Datenbereiche zugänglich gemacht werden und welche verschlossen bleiben (bzw. später nur unter Schwierigkeiten erschlossen werden können)« (Hildenbrand 1987, S. 11). Zu einer Zuspitzung kommt schließlich Barbara Friebertshäuser, die den Feldeinstieg aus diesen Gründen insgesamt als »ein intellektuelles, methodisches und soziales Abenteuer« (1997, S. 527) begreift. Wie ein solches ethnographisches Abenteuer aussehen kann, ist in zahlreichen Studien beschrieben worden. Eines der deutlichsten und eindrucksvollsten Beispiele ist sicherlich in der zum Klassiker avancierten Studie von William Foote Whyte zur »Street Corner Society« zu finden. Bei seinen Forschungen in einer »slum area« Bostons, welches in der Studie als Cornerville benannt und vor allem von italienischen Einwanderern bewohnt wird, versucht er u. a., in einer Kneipe Kontakt zu den dortigen Gästen zu erhalten. »I looked around me again and now noticed a threesome: one man and two woman. It occured to me that here was a maldistribution of females which I might be able to rectify. I approached the group and opened with something like this: ›Pardon me. Would you mind if I join you?‹ There was a moment of silence while the man stared at me. He then offered to throw me downstairs. I assured him that this would not be necessary and demonstrated as much by walking right out of there without any assistance« (Whyte 1955, S. 289).
Auch wenn sicher nur die wenigsten Feldeintritte solch spektakuläre Szenen enthalten, veranschaulicht sich gerade in der Zuspitzung dieses Beispiels, warum der Feldeintritt immer wieder als ein schwieriger und entscheidender Teil des Forschungsprozesses benannt wird. W. F. Whyte unternahm nach diesem ersten Scheitern keine weiteren Versuche, über die Kneipe Zugang zum Viertel zu erhalten; dieser Weg schien für ihn nach diesem Erlebnis nicht möglich. Die Befürchtung, dass durch einen fehlgeschlagenen ersten Kontakt der Zugang zu einem Forschungsfeld verbarrikadiert und damit schließlich das gesamte Forschungsanliegen gefährdet wird, erscheint vor dem Hintergrund dieses Beispiels nachvollziehbar und motiviert zur Suche nach Empfehlungen für einen guten Einstieg. Und in der Tat finden sich für Forschungsnovizen einige einführende Publikationen, die methodisches Grundwissen vermitteln wollen und Ratschläge bereitstellen (vgl. Hildenbrand 1984; Bryman 2004). Allerdings muss der Hoffnung nach einem standardisierbaren Forschungszugang, der den Erfolg bereits im Voraus sicherstellt, eine Absage erteilt werden. So hält Stephan Wolff (2000, S. 336) diesbezüglich fest: »Es gibt keine Patentrezepte, wie der Weg ins Feld gesucht und gefunden werden sollte. Weder ist es sinnvoll, die Illusion der Planbarkeit zu beschwören, noch, die situativen Unwägbarkeiten zu beklagen«. Der Eintritt in ein Forschungsfeld bleibt damit, trotz hilfreicher Empfehlungen, ein ethnographisches Abenteuer.
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Über diese forschungspraktischen Fragen hinaus scheint der Eintritt in ein Forschungsfeld jedoch aus einer anderen Perspektive interessant. Die oben getroffene Feststellung, dass der Feldeintritt gewissermaßen vor der eigentlichen Forschung liegt, scheint zwar zunächst plausibel, hält jedoch einem genaueren Blick nicht stand. Sicher enthält die erste Phase einige Schwierigkeiten, die es zu überwinden gilt, zugleich liegen in diesen Schwierigkeiten jedoch bereits erste Blicke auf das Forschungsfeld und beherbergen damit das Potenzial, Teile des Forschungsfelds zu verstehen und aufzuschließen. Der Weg in das Feld muss damit bereits als Teil der Forschung begriffen werden. In diesem Sinn weißt S. Wolff (2000, S. 336) darauf hin, dass man den »Weg ins Feld als eine nie ganz abgeschlossene Arbeitsaufgabe begreifen (und gestalten) [sollte], die kooperativ, d. h. gemeinsam mit den vermeintlichen »Objekten« der Forschung, abgewickelt werden muss. Die Beschäftigung mit dem Weg ins Feld dient nicht nur methodologischen oder forschungspragmatischen Zwecken. Sie eröffnet darüber hinaus Einblicke in Strukturen und Abläufe der Forschung als einer sozialen Veranstaltung und in das untersuchte Handlungsfeld«. In diesem Sinne halten Peter Cloos und Stefan Köngeter in einer Arbeit zu den Konstitutionsbedingungen der Kinder- und Jugendarbeit fest, dass Feldeintritte besondere Informationen über das Feld hervorbringen, »weil bereits beim Eintreten erste Vorentscheidungen darüber getroffen werden, welche ›stummen‹ Erwartungen an BesucherInnen herangetragen werden und welche Erwartungen die Jugendlichen aufweisen. Jeder Eintritt in einen Raum ist – pointiert gesagt – eine krisenhafte Übergangssituation, in der Eintretende und Anwesende blitzschnell entscheiden müssen, welcher soziale Rahmen (vgl. Goffman 1977) vorliegt und ob und wie er hergestellt wird. In der Regel gerät diese Krise dank Routine und hilfreicher Rituale gar nicht ins Bewusstsein, da auf gesellschaftlich geteilte »Produktionserfahrungen« zurückgegriffen werden kann. Erst bei Störungen – z. B. wenn Fremde oder »Ortsunkundige« eintreten – wird den Beteiligten das Selbstverständliche bewusst und zum Thema gemacht (Cloos/Köngeter 2006, S. 65-85; vgl. dazu auch Küster 2000). Die Betrachtung der ersten Kontakte mit dem Feld im Rahmen einer expansiven Rekonstruktion bieten sich damit für den Aufschluss des jeweiligen Feldes besonders an. Welche Möglichkeiten ein so verstandener Forschungseinstieg enthält, zeigen bspw. Stephan Wolff und Christof Lau in einer Forschungsarbeit zum Allgemeinen Sozialen Dienst (vgl. Wolff/Lau 1983). Den Forschungsprozess begannen sie mit einem kurzen formalen Schreiben und wurden in dem sich daran anschließenden Prozess, der schließlich neun Monate dauerte, mit zahlreichen und unterschiedlichen Anfragen seitens des ASD konfrontiert, ihr Forschungsanliegen zu begründen und ausführlicher darzustellen. Die Forscher, die in diesem Zusammenhang immer wieder an unterschiedliche Teile der Organisation verwiesen wurden, qualifizierten dieses Vorgehen zunächst als sinn- und nutzloses Verfahren. Erst später stellte sich dies als wichtige Datenquelle zum Verständnis der Organisation heraus. So können S. Wolff und C. Lau schon anhand ihres Versuches, Zugang zum ASD zu erhalten, dessen unterschiedliche Funktionsweisen aufzeigen. Deutlich wird dabei u. a., welche Befugnisse dessen unterschiedliche Abteilungen zugeschrieben bekommen und für sich reklamieren. Zugleich wurden den Forschern dabei auch Einblicke in die Wahrnehmung der unterschiedlichen Abteilungen ermöglicht. So stellte sich beispielsweise das Personalreferat als eine Abteilung dar, die von den SozialpädagogInnen tendenziell eher skeptisch gesehen wurde. Auch die offenkundige Befürchtung, das geplante Forschungsvorhaben sei dadurch motiviert, die Verwaltungsreform zu überwachen, ließ
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Schlüsse über die Selbstwahrnehmung zu und zeigte auf, wie die SozialpädagogInnen der Reform selber gegenüberstanden. Wie die unterschiedlichen Abteilungen wahrgenommen werden, zeigte sich den Forschern u. a. dann auf, wenn sie von einer bestimmten Abteilung zu einer anderen Abteilung »weiter geschickt« und dort zuweilen als Quasigesandte der Abteilung wahrgenommen und angesprochen wurden. Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen soll im Folgenden anhand eines empirischen Beispiels der Zugang in ein Forschungsfeld nachgezeichnet werden. Das Beispiel soll dabei zum einen die Schwierigkeiten und Fallstricke des ersten Kontakts im Feld illustrieren und aufzeigen, warum diese Phase der Feldforschung für die ForscherInnen ein besonderes Abenteuer darstellt. Zugleich soll zum anderen durch die Interpretation der dichten Beschreibung des Feldeintritts beispielhaft aufgezeigt werden, welche Bedeutung der erste Kontakt für den weiteren Prozess der Feldforschung hat und welche Möglichkeiten er bereit hält, wenn der Zugang zum Forschungsfeld als Teil der Forschung und das dabei produzierte Forschungsmaterial als zentrale Informationen über das Feld verstanden werden.
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Ein Zeltbewohner vor einer Kirche – eine empirische Annäherung
Im Zentrum des Projekts, aus dem nachfolgend Material präsentiert werden soll, steht das Leben des 42 Jahre alten Peter. Er wurde zum »Forschungsgegenstand« eines Projekts mit dem Titel »Interview mit einem Menschen ohne Obdach«, welches im Rahmen eines Seminars an der Universität Kassel1 realisiert werden konnte. Aufmerksam wurden die ForscherInnen auf Peter, da er mitten in Kassel und direkt vor einer Kirche seit einigen Monaten ein Zelt aufgeschlagen hatte. Für das Projekt wurden neben einem biografischen Interview auch dichte Beschreibungen zum ersten Kontakt erstellt, die nachfolgend etwas detaillierter betrachtet werden sollen.2 Die dichte Beschreibung kann dabei selbstverständlich nicht als ein unverschränktes Zeugnis sozialer Realität verstanden werden. Vielmehr ist sie als spezifische Textgattung zu lesen, die selber eine Konstruktion darstellt, welche zu einem bestimmten Zweck und mit einer bestimmten Dramaturgie verfasst wurde. Die Rekonstruktion des vorliegenden Textes zeigt für die hier interessierende Fragestellung einige Erkenntnisse, die sowohl aus Informationen über die Absichten, Empfindungen und Vorannahmen der ForscherInnen als auch aus Beschreibungen des Feldes bestehen. Im Rahmen einer ausführlichen Betrachtung gibt es viele Möglichkeiten, auf das Material zu schauen und unterschiedlichste Themen zu beleuchten. An dieser Stelle sollen jedoch dabei insbesondere zwei Themen im Mittelpunkt stehen: der Eintritt in das Feld und der erste Kontakt. 1 2
Herzlich bedanken möchte ich mich bei Ina Kaul, mit der ich zusammen das Material erhoben und die Beschreibung angefertigt habe. Während in der klassischen Ethnographie der extensive Aufenthalt im Feld als oberstes Gebot verstanden wird, konnte dies im Rahmen der hier präsentierten Arbeit nicht geleistet werden. Aus diesem Grund handelt es sich hier um eine Form der Feldforschung, die man vielleicht als »quick and dirty« bezeichnen könnte. Die innerhalb des Projekts angefertigten dichten Beschreibungen waren zunächst lediglich als »Beiwerk« zu einem narrativen Interview gedacht. Bei der genaueren Analyse der Beschreibungen und des Interviews wurde jedoch deutlich, dass die Beschreibungen zentrale Momente der Themen bereits enthalten, die in den Interviews, eingebettet in der Biografie, thematisiert werden. Aus diesem Grund soll an dieser Stelle die dichte Beschreibung im Zentrum der Betrachtung stehen.
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2.1 Eintritt in das Feld – ein schwieriges Unterfangen für die ForscherInnen Während in der Literatur häufig dazu geraten wird, den ersten Kontakt über einen Brief herzustellen (vgl. u. a. Hildenbrand 1984, S. 11), der die Anfrage ankündigt und auf den sich im Weiteren berufen werden kann, scheint ein solcher Zugang beim vorliegenden Beispiel kaum möglich zu sein. Das hier betrachtete Forschungsfeld verfügt schlicht nicht über einen Briefkasten bzw. eine offizielle Adresse, an die ein Brief adressiert werden könnte. Auch eine Kontaktaufnahme über Dritte, welche die Anfrage bereits ankündigen könnten, ließ sich nicht realisieren. Stattdessen wurde versucht, den direkten Kontakt zu suchen und über eine persönliche Ansprache Zugang zum Feld und das angestrebte Forschungsmaterial in Form eines Interviews zu erhalten. Wir sind auf alles vorbereitet, haben uns viel Zeit und auch gleich das Aufnahmegerät für das Interview mitgenommen. Für den Fall, dass unser Interviewpartner das Interview gleich machen möchte. Dass er es eventuell gar nicht machen möchte, kommt uns zunächst nicht in den Sinn. Warum auch nicht? Die erste Begegnung läuft dennoch etwas anders als geplant. Zunächst sind wir uns nicht ganz sicher, ob wir direkt zu ihm gehen sollen und entschließen uns dann, wohl auch aus Nervosität, erst einmal die Straße hoch zu gehen und nach einem geeigneten Platz zu schauen, an dem das Interview stattfinden könnte. Als wir zurückkommen, ist er nicht mehr da. Ist er weg? Oder im Zelt? Schon das ist eine Schwierigkeit, an die wir gar nicht gedacht hatten. Warum sollte ein Aussteiger auch nicht immer direkt vor seinem Zelt sitzen und ein Buch lesen? Sollen wir nachschauen, ob er im Zelt ist? Wir beschließen jedoch, ihm und uns noch ein wenig Zeit zu geben und gehen die andere Seite der Straße hoch, schließlich war die Suche nach einem Interviewplatz bisher ohne Erfolg.
Bei dem ersten unmittelbaren Kontakt handelt es sich, so wird es in der dichten Beschreibung deutlich, um eine ambivalente Situation. Auf der einen Seite wird in einer fast naiven Weise davon ausgegangen, dass der angestrebte Zugang gelingen und das Gegenüber bereitwillig über sich Auskunft geben wird. Auf der anderen Seite wird deutlich, dass die Situation maßgeblich auch durch die Unsicherheit der ForscherInnen geprägt ist, einen guten Einstieg in das Feld zu erhalten. Diese Unsicherheit scheint – zumindest zum Teil – dem Feldeinstieg als Teil eines Forschungsprozesses selber geschuldet zu sein. Schließlich muss im Rahmen des verfolgten Projekts versucht werden, Kontakt zu einer Person zu gewinnen, die zum Gegenstand der Arbeit gewählt wurde. Das Projekt selber steht und fällt mit dem Zugang zum Forschungsfeld. Gleichzeitig ist das Forschungsanliegen nicht nur nicht alltäglich, sondern durchaus ungewöhnlich und beinhaltet (moralisch) zum Teil schwierige Situationen. Das zentrale moralische Problem ist dabei, dass die ForscherInnen Einblicke in das Leben einer fremden Person erhalten wollen, ohne dabei eine reziproke Beziehung eingehen zu können (vgl. auch Schoneville/Köngeter/Gruber/Cloos 2006, S. 248 f.). Dem folgend finden sich unterschiedliche Darstellungen dieser Unsicherheit in der dichten Beschreibung wieder. In dem vorstehenden Ausschnitt zeigt sich diese darin, dass die ForscherInnen einen besonders gelungenen ersten Kontakt herstellen wollen und so zum Beispiel nicht direkt zum Zelt gehen, sondern zunächst auf eine gute Gelegenheit warten, um Kontakt aufzunehmen. Noch deutlicher wird das grundsätzliche Dilemma zwischen Forschungsinteresse und moralischer Schwierigkeit, indem das Zelt zum Problem für den ersten Kontakt wird.
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Als wir zurückkommen, ist er immer noch nicht zu sehen. Noch länger zu warten ist unangemessen und wir entschließen uns, zum Zelt zu gehen und zu schauen, ob er vielleicht dort ist. Doch da stellt sich schon das nächste Problem: Wie stellt man fest, ob jemand im Zelt ist? Schließlich gibt es weder eine Klingel noch eine Tür, an der man klopfen könnte und wenn man hineinschaut, ist man ja gleich drin, nicht nur im Zelt, sondern zugleich in der Privatsphäre des Gegenübers. Anscheinend haben wir beide den gleichen Gedanken, denn fast gleichzeitig rufen wir »Hallo«?
Die ForscherInnen reflektieren dies, indem sie in der Beschreibung bereits thematisieren, dass der erste Kontakt am Zelt potenziell auch ein Einbruch in die Privatsphäre des Gegenübers darstellen könnte: »wenn man hineinschaut, ist man ja gleich drin, nicht nur im Zelt, sondern zugleich in der Privatsphäre des Gegenübers«. Die grundlegende Schwierigkeit besteht hier aus zwei Aspekten: Erstens stellen die Zeltwände – im wörtlichen und auch im übertragenen Sinn – nur eine dünne Grenze zwischen Öffentlichem außerhalb und Privatem innerhalb des Zeltes dar. Die räumlichen Gegebenheiten des Zeltes, die hier den Lebensraum darstellen, bedingen damit die potenzielle Gefahr, dass diese Grenze durch das Forschungsanliegen durchbrochen wird. Dadurch, dass die ForscherInnen moralisch verpflichtet sind, das Private innerhalb des Zeltes in jedem Fall anzuerkennen und mit Respekt zu behandeln und zugleich die räumliche Situation genau dies verkompliziert, entsteht für die ForscherInnen eine schwierige Situation. Diese wird zweitens dadurch produziert, dass es in Bezug auf das Zelt keine geläufigen Verhaltensmuster gibt, die den Übergang vom Öffentlichen zum Privaten regeln und auf die hier zurückgegriffen werden könnte. Es findet sich am Zelt weder eine Klingel, wie an einer Wohnungstür, noch ein Empfang, wie im Eingang eines Hotels. Im Gegenteil, das Zelt zeichnet sich gerade dadurch aus, dass der Eintritt von Draußen nach Drinnen nicht durch eine offensichtliche Materialisierung institutionalisiert ist. Beides, die dünne Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem und auch die Abwesenheit von offensichtlichen Institutionalisierungen des Übergangs, lassen den ersten Kontakt für die ForscherInnen schwierig werden. Die Lösung besteht – wie in der dichten Beschreibung deutlich wird –schließlich darin, dass die Klingel, wie sie an Hauseingängen zu finden wäre, von den ForscherInnen durch das Rufen ersetzt wird. Es könnten an dieser Stelle weitere Situationen dieser Art aufgezeigt werden. Die Betrachtung und Reflexion dieser wenigen Sequenzen sollten jedoch die Besonderheiten eines ersten Feldeintritts schon erkennen lassen. Zugleich beherbergt bereits diese kurze dichte Beschreibung mehr als nur Informationen über das »Wie« des ersten Kontakts im Feld. Vielmehr enthält der betrachtete Einstieg in das Feld bereits Informationen über das Feld selber. Die hier geschilderten Schwierigkeiten sind aus dieser Perspektive als massive Fremdheitserfahrung und Produkt der Konfrontation der ForscherInnen mit den Strukturen Feldes zu verstehen. Diesen Überlegungen folgend können bereits aufgrund der dichten Beschreibung des ersten Kontakts einige Annahmen hinsichtlich der Strukturen des Feldes formuliert werden. So kann davon ausgegangen werden, dass die besondere räumliche Situation des Zeltes zu den konstitutiven Gegebenheiten des Lebensraums gehört und die These formuliert werden, dass sowohl der inoffizielle Status – Abwesenheit einer offiziellen Adresse, mit all seinen Folgen – als auch die Abgrenzung zwischen Privatem im Inneren und Öffentlichem außer-
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halb des Zeltes eine wichtige Rolle spielen. Diese ersten Thesen ließen sich sicherlich auch anhand der dichten Beschreibung noch weiter ausbauen und wurden in dem oben schon beschriebenen Projekt anhand des Interviews weiter verfeinert, modifiziert und stabilisiert. Auf die Ergebnisse soll an dieser Stelle jedoch nicht weiter eingegangen werden, vielmehr soll im Folgenden das Augenmerk noch einmal auf ein anderes Thema der dichten Beschreibung gelegt werden. 2.2 Der erste Kontakt – ein »Kampf« um Deutungen In der dichten Beschreibung werden implizit und explizit von den ForscherInnen Vorannahmen über das Forschungsfeld formuliert. Trotz der prinzipiellen Annahme, dass ForscherInnen sich »dumm zu stellen« (vgl. Hitzler 1986) und sich ohne Wissen und besondere Erwartungen dem Feld zu nähern haben, wird im Text deutlich, dass die ForscherInnen mehrdeutige Erwartungen bezüglich ihres Gegenübers haben. Dabei wird Peter zum einen als ein Aussteiger, der sich den gesellschaftlichen Erwartungen entzieht, und zum anderen als ein Obdachloser bezeichnet. Diese sehr allgemeinen Zuschreibungen werden in der konkreten Interaktion an unterschiedliche Attribute geknüpft, wie u. a. in dem ersten direkten Kontakt deutlich wird. Aus dem Zelt hört man etwas, jedoch nur unverständlich, niemand kommt heraus. Wir entschließen uns, doch hinein zu schauen, jedoch aus einiger Entfernung, sodass wir nicht gleich im Zelt sind. Wir blicken auf einen Mann mit einer Mütze auf dem Kopf. Bevor wir überhaupt genauer hinsehen können, sagt er, dass er arbeite. Damit hatten wir nicht gerechnet. Später werden wir uns fragen: »Was hat er denn gearbeitet?«, können dies jedoch nicht beantworten. In den anschließend erstellten Notizen schreiben wir stichpunktartig »eine schroffe Abfuhr«. Wir fragen ihn, ob wir kurz stören dürfen und er blickt auf. Wir erklären, dass wir Studierende seien und im Rahmen einer Veranstaltung Interviews mit verschiedenen Menschen in Kassel machen würden. Die erhoffte Begeisterung bleibt bei ihm leider aus. Er weist lediglich nochmals darauf hin, dass er gerade arbeite und somit keine Zeit habe. Irritiert fragen wir, in der Hoffnung, dass er nicht ganz absagt und wir ohne Interview dastehen, ob wir später wieder kommen könnten. Am gleichen Tag kommt kein Interview mehr zustande, aber wir machen mit unserem Aussteiger, von dem wir annahmen, dass er sich an keine gesellschaftlichen Konventionen halten möchte, einen Termin: Am folgenden Sonntag gegen Abend, so um 18 Uhr. Die vage Zeitangabe ergab sich wohl daher, dass wir nicht zu »spießig« sein wollten.
Bereits im ersten Dialog zeigt sich, dass die ForscherInnen einen Aussteiger erwarten. Wie genau dieser auszusehen hat, lässt sich aus der vorstehenden Beschreibung nicht erschließen, wohl aber wird eine Irritation deutlich: Die Antwort des im Zelt lebenden Peters, dass er arbeite, wird von den ForscherInnen nur fragend kommentiert und die Aussage insgesamt als eine »schroffe Abfuhr« bewertet. Während sich durchaus andere Kontexte denken ließen, in denen ein unangemeldetes Erscheinen eine ähnliche Antwort ergeben hätte, erscheinen die ForscherInnen hier stark überrascht. Es wirkt dabei so, als wenn sie erwartet hätten, dass ein Aussteiger nicht nur immer Zeit hätte, sondern vielleicht sogar froh ist, dass sie sich für ihn interessieren. Ähnliche Erwartungen werden hinsichtlich des Versuchs, einen Termin zu vereinbaren, deutlich. Dabei wird die Nennung einer festen Uhrzeit von den ForscherInnen als spießig kategorisiert und stattdessen die vage Verabredung »so gegen sechs« vorgeschlagen. Diese Formulierung – so wird bereits im Text reflektiert – ist
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maßgeblich der Annahme geschuldet, dass ihr Gegenüber sich den gesellschaftlichen Normen zu entziehen versucht. Zugleich stellen die Vorannahmen und die Handlungen der ForscherInnen nur einen Teil der beschriebenen Situationen dar. Diese sind als eine gemeinschaftliche Produktion aller Akteure zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten (sozialen) Raum zu verstehen. Werden die Beschreibung in diesem Sinne als Zeugnis einer sozialen Aufführung (vgl. Bausch 2001) beschrieben und die Handlungen der Akteure aufeinander bezogen, kann das aufgeführte Stück als ein »Kampf« um Deutungen bezeichnet werden. Betrachtet man aus dieser Perspektive die erste Interaktion, in der die ForscherInnen versuchen, auf sich aufmerksam zu machen, wird deutlich, dass das Sitzenbleiben im Zelt und die Antwort, dass er arbeite, eine Handlung ist, die diametral zu den Erwartungen der Forschenden steht. Der im Zelt sitzende Peter zeigt damit, dass er beschäftigt ist, nicht gestört werden möchte und dementsprechend die ForscherInnen für ihn eine Störung darstellen. Gleichzeitig stellt er sich als Person in einer ganz bestimmten Weise performativ her. Er inszeniert sich als eine Person, die etwas zu tun hat und mehr noch, als eine Person, die arbeitet. Gerade die Assoziationskette, die im Begriff der Arbeit steckt, erlaubt die Konstruktion einer Person, die Ziele verfolgt, nicht bloß herumsitzt und schon gar nicht von Fremden einfach so gestört werden kann. Wo ganz regulär gearbeitet wird, platzt man nicht einfach hinein. Auf einem Amt oder beim Arzt macht man einen Termin oder man wird darauf verwiesen, dass der jetzige Zeitpunkt ungünstig ist. Die Rolle von arbeitenden Menschen ist an bestimmte Verhaltensweisen geknüpft und lässt wiederum von anderen Personen bestimmte Verhaltensweisen erwarten. Wird dies in der Terminologie des Schauspiels weiter gedacht, so vollzieht Peter hier eine Aufführung, die aus verschiedenen Teilen besteht. Während der erste Teil in der Entgegnung daraus besteht, er arbeite und wolle nicht gestört werden, werden im zweiten Teil von den ForscherInnen die Regeln des Schauspiels akzeptiert und ein Termin für ein weiteres Treffen vereinbart. Zugleich wird hier jedoch deutlich, dass die ForscherInnen etwas anderes – eine andere Aufführung – erwartet hatten und irritiert sind. Im Text wird bereits reflektiert, dass die vage Aussage »gegen 18 Uhr« darauf zurückzuführen ist, dass sie nicht zu spießig erscheinen wollten. Auch hier wird, wie oben angedeutet, wieder eine Deutung stark gemacht, die Peter als eine Person versteht, mit der man (eigentlich) keine Termine macht. Dieser Deutung wird wiederum bei der Begrüßung zum zweiten Treffen – die als dritter Teil der Aufführung verstanden werden kann – eine ganz andere Selbstinszenierung entgegengesetzt. Als wir vor dem Zelt stehen, lösen wir das Problem des »Auf-uns-aufmerksam-Machens« routiniert, indem wir auf das halbwegs bewährte »Hallo« zurückgreifen. Diesmal kommt er direkt heraus, muss sich jedoch zunächst noch die Schuhe und seine Gore-Tex Jacke anziehen. Während im Hintergrund die Kirchturmglocken 18 Uhr schlagen, sagt unser Aussteiger: »Sehr pünktlich!«.
Im Gegensatz zum ersten unangemeldeten Treffen kommt Peter direkt aus seinem Zelt und zeigt sich vorbereitet auf das Kommen der ForscherInnen. Die Inszenierung, die während des ersten Kontakts bereits begonnen wurde, wird hier von ihm weitergeführt und schließlich durch die Bemerkung, dass die ForscherInnen sehr pünktlich seien, abgerundet.
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Gleichzeitig widersprechen diese Selbstinszenierungen und damit vorgenommenen Verortungen den Deutungen und Erwartungen der Forschenden diametral. Diese erwarten – überspitzt formuliert – eine Mischung aus einem faszinierenden aber vielleicht etwas verschrobenen Aussteiger und einem heruntergekommenen Obdachlosen, der nicht nur immer Zeit für die ForscherInnen hat, sondern sich sogar freut, dass sie sich für ihn interessieren. Diesen Erwartungen wird jedoch durch die konkreten Handlungen von Peter widersprochen und mehr noch: Hinter den Handlungen steht die Aussage »Ich bin nicht der, der ihr glaubt, dass ich sei«. Auf diese Weise entsteht ein »Kampf« um Deutungen, der sich auf Peters Person und Rolle in der Gesellschaft bezieht. Zugleich würde es zu kurz greifen, würde der »Kampf« lediglich als eine Auseinandersetzung zwischen den beteiligten Akteuren verstanden werden. So konnte ausgehend von diesen Überlegungen insbesondere im Interview herausgearbeitet werden, dass für Peter der ständige Versuch, gesellschaftliche Normalität herzustellen von hoher Bedeutung ist. Arbeit spielt dabei eine besondere Rolle und stellt für ihn, neben den dadurch erwerbbaren ökonomischen Ressourcen, das zentrale Medium zur Integration in die und Teilhabe an der Gesellschaft dar. Er akzeptiert und adaptiert dabei die Regeln der Arbeitsgesellschaft, wobei er sich durchaus bewusst ist, dass sein Leben im Zelt besonders ist und er eine gesellschaftliche Position innehat, die alles andere als im Zentrum der Gesellschaft liegt. Zugleich führt dies jedoch in keinem Fall zu einer Abwendung gesellschaftlicher Vorstellungen von einem guten Leben. Im Gegenteil, es kommt fast zu einer Überadaption, die insbesondere in der Tätigkeit deutlich wird, die er als Arbeit bezeichnet. Während diese in der dichten Beschreibung noch nebulös bleibt, stellt sich im Interview heraus, dass seine Arbeit darin besteht, Lottoscheine, die er wiederum von erbetteltem Geld kauft, auszupendeln und so zu versuchen, die Lottozahlen zu ermitteln. Diese Tätigkeit konnte im Interview schließlich als ein »ernstes Spiel mit Reichtum und Zugehörigkeit zur Gesellschaft« rekonstruiert werden. Auf der einen Seite spiegelt sich in dieser Tätigkeit in nahezu genialer Weise eine Adaption gesellschaftlicher Vorstellung, in welcher sich die Integration in die Gesellschaft darüber herstellt, dass man Arbeit hat, und sich Teilhabemöglichkeiten maßgeblich über ökonomische Ressourcen steuern. Auf der anderen Seite findet sich darin eine gesellschaftliche Selbstpositionierung, die durch die Ausweglosigkeit gesellschaftlicher Marginalisierung gekennzeichnet ist, von Peter jedoch schließlich positiv gewendet wird. Das Auspendeln der Lottoscheine ist Symbol für zweierlei, zum einen dafür, dass ein gesellschaftlicher Aufstieg auf normalem Weg unwahrscheinlich ist und zum anderen dafür, dass dies bei ihm jedoch nicht zur vollkommenen Resignation führt. Im Gegenteil, es wird auf die Wahrscheinlichkeit gesetzt, mittels spiritueller Kräfte die Lottozahlen zu bestimmen und damit nicht nur Zugang zu ökonomischen Ressourcen zu erhalten, sondern vor allem gesellschaftliche Teilhabe praktizieren zu können. Diese sehr weit führenden Interpretationen und Schlussfolgerungen basieren nicht ausschließlich auf dem Material der dichten Beschreibungen, sondern beruhen auch auf Rekonstruktionen des biografischen Interviews. In Bezug auf die Herstellung gesellschaftlicher Normalität, wie sie über die Konstruktion eines arbeitenden Menschen geschaffen wird, vermögen es die dichten Beschreibungen jedoch aufzuzeigen, wie sich diese in konkreten Handlungen des Alltags performativ vollziehen. In diesem Sinne ist der »Kampf« nicht nur zwischen den ForscherInnen und Peter zu verorten, sondern richtet sich vielmehr gegen Vorurteile im Allgemeinen, die Peter und seine Lebenssituation als besonders und
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von der Normalität abweichend erscheinen lassen. Der hier aufgezeigte »Kampf« um Deutungen ist damit Bestandteil gesellschaftlicher Diskurse um soziale Anerkennung (vgl. Honneth 2003, S. 148 ff.) und beinhaltet die Gefahr sozialen Ausschlusses.
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»Getting in« – ein Abenteuer und zentrale Informationsquelle
Die vorstehenden Ausführungen illustrieren vor allem zwei Dinge: Zum einen weisen sie auf potenzielle Unwägbarkeiten und Schwierigkeiten eines ersten Feldeintritts hin und zeigen damit auf, warum diese Phase der Feldforschung für die ForscherInnen ein schwieriges, aber eben auch spannendes Abenteuer darstellt. Die dabei produzierten Irritationen auf Seiten der ForscherInnen und der Beforschten sind, dies kann als Konsequenz aus dem vorstehenden Beispiel gezogen werden, nur schwierig mit standardisierten Techniken aufzulösen. Auch wenn sich in der Literatur einige hilfreiche Hinweise finden lassen, vermögen diese nicht die Schwierigkeit eines Eintritts in ein Forschungsfeld generell aufzuheben. Die hier vertretene These lautet dabei zugleich, dass eine solch verstandene Technisierung auch kein Ziel für die Feldforschung darstellt und darstellen sollte. Die hervortretenden Irritationen sind vielmehr als Fremdheitserfahrungen und damit als zentrales Element der Feldforschung zu verstehen. Während klassischerweise davon ausgegangen wird, dass in der Ethnographie der eigenen Kultur der Forschungsgegenstand »methodisch befremdet« (Hirschauer/Amann 1997, S. 12) werden muss und damit das »weitgehend Vertraute […] betrachtet [wird] als sei es fremd« (ebd.), weist dieser Forschungsbefund darauf hin, dass das als vertraut Angenommene und scheinbar Bekannte durchaus auch das Potenzial zur echten Irritation hat. Ethnographische ForscherInnen befremden sich damit nicht nur gegenüber dem Forschungsfeld, sondern werden auch durch das Forschungsfeld selber befremdet. Damit ist, zum anderen, die Phase des Eintritts in ein Forschungsfeld nicht als das »Vorgeplänkel« vor der eigentlichen Forschung und Erhebung zu verstehen. Vielmehr produziert der Eintritt in das Forschungsfeld selbst schon zentrale Informationen, die für das Forschungsanliegen genutzt werden können. Wie am vorliegenden Material aufgezeigt wurde, erhalten die ForscherInnen schon durch den ersten Kontakt zahlreiche Informationen über die Konstitutionsbedingungen des Feldes und verhandeln schon hier mit den FeldteilnehmerInnen über Umgangsformen und Beziehungskonstellationen und damit über die Rahmungen des weiteren Feldaufenthalts. Die Irritationen, die im Rahmen dieses Kampfes um Bedeutungen und in Zusammenhang mit der Aufführung von sozialen Positionen auf beiden Seiten entstehen, zeigen auf, wie das Feld durch die FeldteilnehmerInnen und durch Fremde konstituiert wird. Die Rekonstruktion des Feldzugangs mit der damit verbundenen Befremdung bietet somit eine zentrale Grundlage für die nachfolgende Erschließung des Feldes.
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»Ja, ist das jetzt mehr ein Praktikum, oder was?« Feldzugang als situatives Management von Differenzen Sabine Bollig
Der folgende Beitrag befasst sich aus ethnographischer Perspektive mit Fragen des Feldzugangs in pädagogischen Organisationen. Dazu wird auf Erfahrungen innerhalb eines ethnographischen Lehrforschungsprojekts zurückgegriffen, dass an der Universität Trier zum Qualitätsproblem in Kindertageseinrichtungen durchgeführt wurde (vgl. Bollig 2004). Der Feldzugang wird dabei als ein eigenständiges und dauerhaftes soziales Phänomen (vgl. Wolff 2000) innerhalb der Feldforschung thematisiert, welches seine konkrete soziale und sachliche Gestalt im Kontext spezifischer Feldforschungskonstellationen entfaltet. Am Beispiel der eigenen Feldsituation wird herausgearbeitet, wie ein situatives Management von Differenzen praktische Gestaltungsmöglichkeiten und reflexive Ressourcen zur Gestaltung von Feldrolle und Zugangsproblematiken ermöglicht.1
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Was hat es mit dem Problem des Feldzugangs auf sich?
Im Mittelpunkt der ethnographischen Feldforschung steht die Methode der Teilnehmenden Beobachtung (vgl. Amann/Hirschauer 1997). Aus kulturanalytischer Perspektive liegt die Zielsetzung dieser »situationsinvasiven« (ebd.) Form der Forschung in der Beschreibung der situativ eingesetzten Mittel zur Konstitution sozialer Phänomene, welche »durch die physische Tatsache ihrer Durchführung-am-Ort sowie durch eine örtliche Geschichte gekennzeichnet sind« (Knorr-Cetina 2002, S. 63). Es geht entsprechend um die Entfaltung der komplexen Erzeugungsmodi lokaler Wirklichkeiten (vgl. Kelle 1997) entlang des Wechsels von Teilhabe und analytischer Durchdringung des Geschehens. Die längere Teilnahme ermöglicht dabei nicht nur das Sammeln möglichst valider und vor allem auch vielfältiger und heterogener Daten, sondern auch die Steuerung des Forschungsprozesses entlang der Relevanzen, die sich erst im Prozess ergeben. Idealiter etabliert sich im wechselseitigen Prozess von Teilnahme und Analyse eine Sensitivität gegenüber dem »Methodenzwang des Feldes« (Amann/Hirschauer 1997, S. 19) im Sinne einer opportunistischen, feldspezifischen, »mimetischen« (ebd., S. 20) Erkenntnisstrategie, die ihre Selektivität an den bedeutsamen Strukturierungen des Feldes orientiert und nicht an den vorgefertigten »frames« (vgl. Agar 1980) der SozialforscherInnen. Die Arbeitstechniken des Beobachtens, Sammelns, Befragens, Protokollierens und Beschreibens sind entsprechend eingebunden in den Kontext der gemachten Erfahrungen der Feldforschenden, der selber durchgestandenen Erlebnisse und/oder des engagierten Handelns, welche die Grundlagen eines sich ständig ausweitenden Dialogs zwischen der vorerst eigenen »ethnozentrischen« Wirklichkeit der FeldforscherInnen und »dem Feld« bilden. Längere Teilnahme ist entsprechend also nicht nur als 1
Ich danke Peter Cloos für die kritische Lektüre des Textes.
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lange Strecke der Datenerhebung, sondern vor allem auch als Konditionierung der ForscherInnen entlang der Teilhabe zu verstehen, denn EthnographInnen »sind verkörperte Forschungsinstrumente, die durch das Untersuchungsgebiet trainiert werden« (KnorrCetina 2002, S. 37) und einen Prozess der »nachholenden Akkulturation«2 (Kalthoff 1997, S. 240) durchlaufen. Der Feldzugang, im Sinne eines sozialen Prozesses der Gewinnung von Vertrauen und Teilhabemöglichkeiten (vgl. Wolff 2000), endet daher auch nicht mit dem formalen Eintritt ins Feld (»getting in«), sondern muss als andauernder Prozess der Gestaltung der sozialen Beziehungen im Feld thematisiert werden, bei dem vor allem die lange Teilnahme und die damit verbundene Intensivierung der Beziehung zwischen den beteiligten Akteuren immer wieder Aushandlungen von Zugangsrechten erforderlich werden lassen (»getting on«). Diese Aushandlungsprozesse sind u. a. davon geprägt, dass die SozialwissenschaftlerInnen nicht einfach »nur teilnehmen« oder tatsächlich Mitglied werden möchten, sondern sich zur Generierung sozialwissenschaftlicher Daten ins Feld begeben. Sie stellen z. B. spezifische Fragen, die sich von den Handlungsrelevanzen und Situationen der FeldteilnehmerInnen unterscheiden, ziehen sich immer wieder aus dem Feldgeschehen heraus und machen sich Notizen zum Geschehen. In diesem zugleich problematischen wie produktiven Spannungsfeld von Teilnahme und Distanzierung, Präsenz und Repräsentation, entfaltet sich methodologisch die Erkenntnisressource der Feldforschung im Hinblick auf die Feldforschungspersonen als »hybride Forschungsinstrument[e]« (Amann/Hirschauer 1997, S. 25 f.). Mit dem Begriff des Hybriden ist hier sowohl die strukturell nicht aufzulösende Stellung zwischen Mitgliedern und Fremden in der Rolle der Forschenden umrissen, als auch die Tatsache, dass sie nicht nur als menschliche Aufzeichnungsapparate angesehen 3 werden können, sondern eben auch als »Mensch mit Eigenschaften« in den Feldforschungsprozess eintauchen. Die persönliche Involviertheit der FeldforscherInnen erzeugt dabei – gerade auch wenn es um Erstaunen, Befremden, Unwohlsein oder andere Erfahrungen geht – häufig wichtige Daten, die nur über dieses »hybride Forschungsinstrument« verfügbar sind. Zudem ist mit dem Begriff der Hybridisierung der Feldforschenden auch das Einlassen auf eine besondere kommunikative Feldpraxis angedeutet, in welcher der Feldforschende »Subjekt und Objekt der Beobachtung zugleich >ist], er ist Beobachter, Instrument der Beobachtung und Beobachteter in einem« (Kohl 1993, S. 114). Die Etablierung einer tragfähigen Feldrolle für diese »hybriden Feldforschungsinstrumente« zeigt sich somit als sehr spezifische »soziale Integration von Fremden in eine Lokalität« (Amann/Hirschauer 1997, S. 16 f.), bei der es – so die Argumentation von Stephan Wolff (2000) im Hinblick auf das Spannungsfeld von Mitgliedschaftsrolle und Grenzerhaltung – nur in einem begrenzten Maß darauf ankommt, die Distanz zwischen ForscherIn und Feld aufzuheben, sondern vielmehr auch die wechselseitigen Differenzen als Ressourcen für den Erkenntnisprozess anzuerkennen. Der Bestand und die Leistungsfähigkeit des hy-
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Der Begriff der »Akkulturation« setzt dabei die unaufhebbare Differenz zwischen Feld- und Forschungsakteuren konstitutiv voraus und verweist mit dem Zusatz »nachholend« zusätzlich auf das Dilemma, »dass der Ethnograph als ›Möchtegernmitglied‹ ja erst nach und nach erfährt, was ein Mitglied zu einem Mitglied macht« (Kalthoff 1997, S. 240). Persönliche Merkmale wie Empathie, bestimmte Kommunikationsstile oder die Passung ins Feld – wozu zum Beispiel auch schon die Frage des »richtigen« Geschlechts gehören kann – sind dabei ebenso mit einer erfolgreichen Feldforschungspraxis verbunden wie die Souveränität und auch Distanzierung gegenüber dem Feld.
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briden Arbeitsbündnisses hängen entsprechend nicht zuletzt auch von der Aufrechterhaltung dieser Differenzen ab.
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Feldzugang und Feldrolle in (pädagogischen) Organisationen
Eine Besonderheit für den Feldzugang in pädagogischen Organisationen ist dabei, dass Organisationen verschiedene Formen der Personenintegration über unterschiedlich stark festgelegte Erwartungsmuster im Sinne von Organisationsrollen zur Verfügung stellen. In der nicht-adressatenbezogenen Organisationsforschung haben wir es entsprechend mit InteraktionspartnerInnen innerhalb des Arbeitsbündnisses »Feldforschung« zu tun, die Berufs- oder Arbeitsrollen in der Organisation einnehmen.4 Diese Berufsrollen fordern von den Beteiligten unter anderem, ihr Agieren in der Organisation zweckrational und organisationsbezogen als fachliches Handeln zu gestalten. Für die Organisationsforschung in pädagogischen Handlungsfeldern durch ErziehungswissenschaftlerInnen wird gerade dies, nämlich dass dort professionelle Pädagogen berufsförmig agieren, als besondere Problemlage für die Gestaltung von Feldzugängen und Feldrollen markiert. Denn – so eine Argumentation von Werner Thole, Peter Cloos und Ernst-Uwe Küster (2004) – da die Situation von PädagogInnen in der Einrichtung dadurch gekennzeichnet ist, dass sie dort permanent unter professionellem Handlungszwang stehen, wird durch die beobachtende Rolle der ForscherInnen eine problematische Differenz aufgerufen. Diese ist dadurch charakterisiert, dass die forschenden PädagogInnen zwar an den Alltagssituationen möglichst intensiv teilnehmen, gerade aber von den Handlungsaufforderungen, die für die Organisationsrolle der Pädagogen konstitutiv sind, entlastet werden möchten. »Forschung in eigener Sache« im Feld der Pädagogik ist für die Autoren entsprechend von einer spezifischen Ambivalenz gekennzeichnet, die sie als »doppelte ExpertInnenschaft« charakterisieren, nämlich zugleich ForscherInnen als auch PädagogInnen zu sein und von den FeldakteurInnen dann eben auch als PädagogInnen angesprochen und unter professionellen Handlungsdruck gesetzt zu werden. 5 Wir haben in unserer ethnographischen Studie in der Vorbereitung des Feldzugangs in eine Kindertageseinrichtung ein ähnliches Problem im Wechselspiel von »Teilnehmen und Beobachten« antizipiert, was für mich vor allem auch damit verknüpft war, dass ich zum Zeitpunkt der Feldforschung bereits über eine sozialpädagogische Ausbildung und mehrere Jahre Berufserfahrung verfügte und dies durchaus auch als »Warming-up«-Ressource bei den Erzieherinnen einsetzte. Es zeigte sich jedoch wider unseres Erwartens, dass diese »doppelte Expertenschaft« in der praktischen Etablierung unseres Arbeitsbündnisses gar nicht so problematisch war. Wir sahen uns im Laufe des Forschungsprozesses vielmehr mit dem Erfordernis der praktischen Darstellung unserer Art von Fremdheit und Professionalität konfrontiert, um im Feld eine plausible Rolle zu finden. Diese interaktive Ausgestaltung des Feldzugangs möchte ich als situatives Management der Differenzen bezeichnen, 4 5
Wie weit diese Frage nach Arbeitsrollen in der Organisation ausgedehnt werden kann, zeigt sich an Georg Breidensteins Rekonstruktion des »Schülerjobs« in der Organisation Schule (vgl. Breidenstein 2006) Hiermit ist die Arbeitsgruppe des Lehrforschungsprojektes »Pädagogische Kultur in Kindertageseinrichtungen« unter Leitung von M.-S. Honig an der Universität Trier gemeint, und dabei im Besonderen Kai Schmitt, mit dem ich gemeinsam in derselben Einrichtung forschte.
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das auch deshalb als situativ bezeichnet werden muss, da es seine konkrete Form im Zusammenspiel von Forschungsfrage, Feld und Feldforschungssituation, FeldforscherIn und FeldakteurInnen entfaltet. D. h. meine These ist, dass sich durch die ambivalente Struktur der »Teilnehmenden Beobachtung« kein generelles oder grundlegendes Zugangsproblem für Erziehungswissenschaftler in der Feldforschung in pädagogischen Feldern ergibt, sondern je spezifische Feldkonstellationen mit je eigenen Problematiken, in denen sich die Feldzugangssituationen als Erkenntnisressource erweisen, wenn sie im Horizont dieses Zusammenspiels reflektiert werden. 2.1 Feldzugang als situatives Management von Differenzen Unsere ethnographische Studie hatte eine etwas ungewöhnliche Signatur, die die Feldforschungssituation nicht unwesentlich bestimmte. Der Feldaufenthalt war eingebunden in ein Forschungsprojekt, dessen Hauptauftraggeber der Träger und Dienstherr der untersuchten Einrichtung war. Dieser schlug einige Einrichtungen für die qualitative (Teil-)Studie vor, sodass der Bitte um Zugang zur Einrichtung die Empfehlung und Erlaubnis »von ganz oben« vorausging. Zwar war die Einwilligung der Teammitglieder selbstverständliche Voraussetzung, dennoch war offensichtlich, dass die Schwelle für eine Nicht-Einwilligung relativ hoch gewesen wäre. Die Einbindung in die Auftragsstudie hatte jedoch nicht nur formale, sondern auch inhaltliche Konsequenzen, denn das Thema des gesamten Forschungsprojektes war die pädagogische Qualität von Kindertageseinrichtungen. Eine Elternbefragung ermittelte das Elternurteil in Bezug auf die Einrichtungen, was die ethnographische Studie mit zwei Hypotheken belastete, die vor allem am Anfang immer wieder unterschiedlich virulent wurden. Erstens war damit die Befürchtung verbunden, dass die ethnographische Studie nun den Auftrag hätte, neben der Bewertung von außen durch die Eltern, die Arbeit der Kindertageseinrichtung auch von innen heraus zu bewerten: Wir standen im Verdacht, evaluieren zu wollen. Zweitens war damit aber auch die Hoffnung verbunden, dass wir eine pädagogische Beschreibung der Arbeit in der Kindertageseinrichtung anfertigen würden, die gegenüber den partikularen Interessen der Eltern eine fachliche Perspektive zum Tragen kommen lassen würde. Dass wir genau dies nicht leisten wollten und konnten, war anfänglich häufig Thema unserer Erläuterungen zur Studie, führte interessanterweise aber auch dazu, dass von großen Teilen des Teams sehr schnell betontes Desinteresse an der Studie gezeigt wurde – wir wurden von einigen Feldakteuren entsprechend auch eher »geduldet«. Dass wir als Studierende in die Einrichtung kamen, setzte zudem besondere Erwartungen frei: Wir wurden als Lernende, die etwas für ihre Ausbildung tun, wahrgenommen. Die ethnographische Studie war also durch eine permanente Spannung gekennzeichnet: Einerseits erzeugten wir etwas gemäßigte Erwartungen im Feld, da wir »nur« Studierende waren. Andererseits riefen wir einen etwas »erhöhten« Anspruch auf, welcher sich aus der Einbettung in die von den TeilnehmerInnen als zum Teil durchaus problematisch wahrgenommenen Gesamtstruktur des Forschungsprojektes ergab. Die Irritation, die von dieser unklar definierten Studierenden- und ForscherInnenrolle ausging, zeigt sich unter anderem auch daran, dass es lange Zeit keine klare »institutionelle Legende« zu unserem Aufenthalt zu geben schien. Auch wenn es von Anfang an die Vereinbarung gab, dass wir dort kein Praktikum absolvieren, sondern »forschend hospitieren« würden, so wurde uns doch von nahezu allen der insgesamt 13 Teammitglieder die Frage
»Ja, ist das jetzt mehr ein Praktikum, oder was?«
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gestellt: »Ja, macht ihr hier jetzt ein Praktikum, oder was?« Im Laufe der fast zweijährigen Feldforschung gab es zudem immer wieder »Getting-On«-Krisen, die sich vor allem in einer Reserviertheit gegenüber unseren Forschungsanliegen ausdrückte, obwohl im direkten Gespräch aber immer wieder betont wurde, dass wir sehr willkommen seien und es keine Probleme gäbe. Wir haben dies anfänglich zu stark in Bezug auf das Grenzgängertum der EthnographInnen (vgl. Zinnecker 2000) oder auf das Problem der »doppelten ExpertInnenschaft« (Thole/Cloos/Küster 2004, S. 82) reflektiert. Wir vermuteten, dass die spürbare Distanz zu uns, aus einer Verärgerung darüber erwuchs, dass wir zwar einerseits »PädagogInnen« waren, uns aber jeglicher »pädagogischer« Kommunikation und Aktion im Feld enthielten und haben entsprechend mit Erläuterungen und Erklärungen reagiert. Was wir dabei unterschätzten, war, dass sich die lokale Integration von Fremden auch – und u. U. sogar stärker – als praktisches Problem im Umgang mit den Möglichkeiten und Grenzen, die die Organisation als Rollenhandeln und Erwartungen an unsere Rolle zur Verfügung bereithielt, darstellte. Entsprechend haben wir in der laufenden Reflexion unserer Feldforschungssituation und von Zugangsproblemen eine heuristische Wende vollzogen, in der wir die Zugangsthematik im Anschluss an Herbert Kalthoff (1997) stärker entlang der lokalen Routinen im Umgang mit mehr oder weniger Fremden interpretierten. 2.2 Organisationsspezifische Rollen von »mehr oder weniger« Fremden Kindertageseinrichtungen stellen Organisationen dar, die über relativ durchlässige Grenzregimes verfügen und von den MitarbeiterInnen, Kindern und Eltern eine permanente Integration von Fremden in ihre Lokalität – sei es auf Dauer oder nur punktuell – erfordern. In der von uns untersuchten Kindertageseinrichtung ist dies zudem konzeptionell verankert, da dort das Konzept der »Offenen Kindergartenarbeit« verfolgt wird, das eine Öffnung sowohl nach innen als auch nach außen (Eltern, Gemeinwesen etc.) programmatisch verankert. Die MitarbeiterInnen der Einrichtung verfügen über vielfältige Routinen im Umgang mit mehr oder weniger Fremden, die sich in Bezug auf die Frage der lokalen Integration zudem – und dies ist die Differenzierung zu H. Kalthoffs (1997) Untersuchung von Fremdenrepräsentationen – stark über organisationsbezogene Rollenerwartungen vollziehen. Die Spannung zwischen Mitgliedschaftsrolle und Grenzerhaltung – so meine Interpretation – vollzog sich in unserem Fall als permanente Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung unserer Personen im Spiegel von Erwartungen an andere Rollen im Feld. So wurden wir – wenn es »gut lief« – den Nicht-Professionellen im Team (Vorjahrespraktikanten) oder persönlichen Gästen zugerechnet, – wenn es nicht so »gut lief« – jedoch eher den Eltern, Gemeindevertretern oder anderen, denen gegenüber die Erzieherinnen vielfältige subtile Formen der Grenzziehungen vollzogen, die bis zu Formen von professionalisierter Ignoranz gegenüber den täglichen Beobachtungen durch die Eltern reichten. Als praktikabel erwies es sich daher mit der Zeit, doch an die PraktikantInnenrolle in der Einrichtung anzuknüpfen, zumal diese für die Kindertageseinrichtung die einfachste Form der Integration von »lernenden Erwachsenen« darstellte. Praktikabel war dies, da wir einerseits die Erwartungen, die an PraktikantInnen gerichtet werden, aufnahmen, um unser Verhalten im Sinne einer Feinsteuerung anzupassen. Gleichzeitig modulierten wir diese Rolle, um die der ForscherIn etablieren zu können. Das heißt, wir wurden nicht zu Prakti-
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kantInnen, haben uns jedoch in bestimmten Punkten wie diese benommen. So wurde es im fragilen Arbeitsbündnis mit dem Team der Kindertageseinrichtung mit der Zeit zum gemeinsamen plausibilisierenden Faktor, dass auch wir in der Einrichtung, wie PraktikantInnen »lernend arbeiteten«. Ich will dies an zwei Beispielen darlegen. 2.3 Situatives Management von Differenzen als Modulationen von praktischen Arbeitsrepräsentationen 2.3.1 Eigene »Arbeitszeiten« Eines der sensiblen Themen war die Freiwilligkeit unserer Anwesenheit, was sich daran zeigte, dass wir als ForscherInnen keine Vorgaben im Bezug auf unsere Soll-Stunden hatten. Uns wurden von den MitarbeiterInnen die Arbeitszeiten der PraktikantInnen angeboten, die wir jedoch – bis auf die erste Einführungswoche, bei der wir zum Kennenlernen den ganzen Tag anwesend waren – unter Hinweis auf unseren Protokollierungsaufwand ablehnten. Mit Rekurs auf die fehlenden konkreten Vorgaben wurden unsere weiteren Abspracheninitiativen dann meist mit einem freundlich-distanzierten »Ja, wie ihr das wollt« beantwortet. Die Spezifika der Feldforschungsrolle, die sich hier an der strukturellen NichtZughörigkeit entzündeten, erforderten jedoch – und dies wurde uns erst mit der Zeit klar – in Bezug auf die Akzeptanz durch die Erzieherinnen ein bestimmtes Anwesenheitsmanagement, in dem sowohl Eingebundensein wie Freisetzung entlang von miteinander vereinbarten Anwesenheitspflichten und eigenständigen Arbeitszeiten repräsentiert wurden. 2.3.2 Die »eigene Arbeit« machen Das Attraktive an der PraktikantInnenrolle war zweifellos, dass bei dieser die lernende und zurückhaltende Einsozialisation in die Einrichtung quasi Programm ist. Jedoch wird von den PraktikantInnen dafür in der an unserer Studie beteiligten Kindertageseinrichtung eine Gegenleistung erwartet: Engagement, Zuverlässigkeit, Verständigkeit und die Durchführung eigenständiger Projekte und Angebote. Gerade die gewünschten pädagogischen Aktivitäten kollidierten jedoch mit unserem Forschungsinteresse6, das sich auf die alltäglichen Routinen zwischen ErzieherInnen und Kindern richtete. Anfänglich wirkte es auch auf uns, als könnten wir mit unserer zurückhaltenden, beobachtenden, fragenden Tätigkeit ganz besonders gut an bereits vorhandene Routinen in der Kindertageseinrichtung anknüpfen, da uns dies als eines der Kernstücke der erzieherischen Tätigkeit beschrieben wurde. In einem der ersten Gespräche erklärte uns die Leiterin der Kindertageseinrichtung nämlich, dass »vor allem Auszubildende Schwierigkeiten hätten, keine aktive Rolle einzunehmen, sondern die Kinder beim Freispiel, dem Lösen von Konflikten usw. zu beobachten und die Kinder über Beobachtung erst einmal besser kennenzulernen. Wir reagieren erfreut auf diesen Bericht und erklären, dass dies eine der vornehmen Verhaltensweisen von uns in der Feldforschung darstellen würde, da für uns Zurückhalten und Beobachten ja Methode hätte.«7 6 7
Zur ethnographischen Forschung in Schulen, die u. a. auf eigenen pädagogischen Aktivitäten basiert, siehe Tervooren (2006, S. 46) oder Sørensen (2007). Auszug aus Gesprächsnotiz zum ersten Gespräch mit der Kindertageseinrichtungs-Leitung zu unserem Forschungsvorhaben.
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Mit der Zeit zeigte sich doch, dass unsere zurückhaltende Art mehr und mehr Enttäuschungen auf Seiten der Erzieherinnen hervorrief und unsere Forschungsarbeit selbst für Irritation sorgte. Denn gerade unsere rekonstruierende Alltagsorientierung und die scheinbare Alltagsnähe unserer Forschungsmethoden wirkten »unprofessionell« in Bezug auf die von uns erwarteten Forschungsaktivitäten. In der Einrichtung gab es Erfahrungen mit systematischen Beobachtungsstudien, die unter Zuhilfenahme von Beobachtungs- und Fragebögen von Psychologen durchgeführt wurden – wir jedoch führten keine Interviews, sondern Gespräche. Wir stellten Fragen und schienen auch mit der Zeit kompetenter zu werden, nur war es nicht klar, was wir damit anfangen wollten. Wir beobachteten, aber scheinbar unsystematisch, und es blieb wohl auch unverständlich, was sich daraus ergeben sollte. Denn das Beobachten – in Bezug auf die Kinder – stellte für die Erzieherinnen dann eine Arbeitsrepräsentation dar, wenn etwas daraus hervorging, das dann als fachliches Handeln aufgrund von Beobachtung anerkannt werden konnte: Streit schlichten, Projekte entwickeln, sich mit den Kolleginnen über eine gemachte Beobachtung austauschen, mehr beobachten etc. (vgl. Bollig 2004). Im Spiegel der PraktikantInnenrolle liefen wir durch unsere alltagsnahen Arbeitsmethoden Gefahr, zu denen zu gehören, die nur rumsitzen und zugucken und die Erzieherinnen »mit Fragen nerven«, ohne dass erkennbar wäre, dass sie ein bestimmtes Engagement für die Sache aufbringen und lernen. Dieses Unbehagen in Bezug auf unser Wahrgenommenwerden im Feld veranlasste uns, unsere Forschungstätigkeiten stärker zur Darstellung zu bringen, d. h. wir begannen, unsere Art von Professionalität aufzuführen – zum einen dadurch, dass wir stärker eigene Beobachtungsinteressen formulierten und mitteilten und zum anderen, indem wir begannen, öffentlich zu protokollieren. Dies hatten wir am Anfang eigentlich vermieden, da wir es als unhöflich empfanden. Wir zeigten dabei zwar nicht die Tätigkeiten, die von PraktikantInnen erwartet werden, aber brachten doch stärker zur Sichtbarkeit, dass wir dort unsere »eigene Arbeit« vollzogen. Dies wurde von den Erzieherinnen dann zwar auch mit einem belustigten Befremden aufgegriffen, erzeugte aber auch gerade über diese Darstellung fremder Professionalität vermittelt mit der lernenden Haltung der PraktikantInnen eine stärkere Akzeptanz für unsere eigenartige Teilnahme am Kindergartengeschehen. Es war in dem Sinne gerade das modulierende Aufgreifen des organisationell gerahmten Rollenangebots der PraktikantInnen, das die Feldforschungssituation im Sinne der Akzeptanz unserer ForscherInnenrolle einerseits aufrechterhielt und anderseits vielfältige Einblicke in die Organisationsform Kindergarten ermöglichte. Die laufende Gestaltung von Feldzugang und Etablierung einer Feldrolle zeigte sich entsprechend nicht nur als ein Einpassen ins Feld, sondern auch als ein Management von Fremdheit und Differenz, das – so könnte es entlang der hier beschriebenen Beispiele formuliert werden – in je konkreten Forschungssituationen auch der »verkörperten Darstellung« über bestimmte Praktiken bedarf. Reflexiv stellte dieses Management von Differenzen gerade in Situationen, in denen der offene Dialog mit den Erzieherinnen nicht so gut funktionierte, eine Ressource für die Interpretation von Erwartungsmustern dar, die von den Berufstätigen gegenüber den »Mehr-oder-weniger-Fremden« in der Organisation aufgerufen wurden. Die Figur des situativen Managements von Differenzen zeigte sich als Heuristik in Bezug auf die Etablierung einer »hybriden Feldrolle« insofern als hilfreich und erkenntnisreich, als gerade die Spannung zwischen Mitgliedschaft und Nicht-Mitgliedschaft nicht nur erfordert, nach und nach herauszufinden, was ein Mitglied zu einem Mitglied
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macht (vgl. Kalthoff 1997), sondern eben auch, was einen Fremden zum Fremden macht, bzw. wie praktisch ausgehandelt wird, was ein Nicht-Mitglied zum Nicht-Mitglied macht.
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Fazit
Ethnographie zeichnet sich als flexible Forschungsstrategie (vgl. Lüders 2000) dadurch aus, dass sie ihre Methoden und Samplestrategien entlang des Forschungsgegenstandes, der Feldforschungssituation und der Konditionierung des »hybriden Forschungsinstruments der FeldforscherIn« im Rahmen der längeren Teilnahme entwickelt bzw. spezifiziert. Gerade diese Situiertheit der Methodenprobleme und -entwicklung bildet als Reflexionsressource daher auch die Möglichkeit, etwas »am eigenen Leib« über das Feld zu erfahren. In unserem Fall war dies einerseits die Feindifferenzierung von Fremdenrollen in der Organisation und Praktiken des Umgangs mit ihnen und andererseits die lokale Durchsetzungsfähigkeit praktischer Arbeitsrepräsentationen, die gerade durch die Probleme, die FeldforscherInnen zu integrieren, »erfahrbar« wurden. Diese Problematik war charakterisiert durch das Spannungsfeld von Auftragsforschung/Lehrforschungsprojekt, Akteursinteressen/Forschungsinteressen, StudentIn/ForscherIn und wissenschafts-/feldbezogenen Arbeitsrepräsentationen. Meines Erachtens unterscheiden sich in Bezug auf diese situativen Gestaltungserfordernisse und -ressourcen in der »hybriden Feldforschungssituation« pädagogische Forschungsfelder nicht von anderen, auch wenn die Vermutung nahe liegt, dass ErziehungswissenschaftlerInnen in pädagogischen Feldern stärker mit Handlungszumutungen konfrontiert werden als beispielsweise Ethnologen oder Soziologen. Dies hat jedoch nicht lediglich damit zu tun, dass »man derselben Zunft« angehört. In meiner aktuellen ethnographischen Forschung im medizinischen Feld der Kindervorsorgeuntersuchungen und Schuleingangsuntersuchungen (vgl. Bollig/Kelle 2008) wurde auch dort von den Medizinern – zumindest anfänglich – pädagogische oder auch entwicklungspsychologische Expertise und auch evaluierende Kommentierung der beobachteten Praxis von mir als Erziehungswissenschaftlerin erwartet, obwohl erst einmal keine professionellen Ähnlichkeiten zwischen den Handlungsproblemen von Medizinern und PädagogInnen unterstellt werden können. Vielmehr ist dieses Phänomen in diesem Feld wohl eher im Horizont einer von außen wenig wahrgenommenen grundlagenorientierten Forschungsidentität der Disziplin Erziehungswissenschaft zu interpretieren. Hier ist – je nach Forschungsfrage – in der Darstellung des For8 schungsanliegens auch eine Differenzierung zwischen PädagogIn und EthnographIn vonnöten, die einen selbst im Hinblick auf »pädagogische Begutachtung« des Feldes entlastet. Das situative Management der Differenz bezieht in diesem Sinne nicht nur Abgrenzungen gegenüber den Erwartungen der Feldakteure, sondern auch der »Heimatdisziplin« (vgl. Bollig/Kelle 2008) und eigenen professionsbezogenen Rollenzuschreibungen mit ein. Das hier vorgestellte Beispiel aus der ethnographischen Organisationsforschung in einer Kindertagesstätte zeigt, dass der Feldzugang nicht nur ein dauerhaftes, sondern auch ein lokales und je konkretes Problem darstellt. Wie die Feldrolle – als Verortungs- und Integra8
Zur Produktivität dieser Etablierung einer »ethnographischen Autorität« gegenüber den pädagogischen Handlungsanforderungen für die Interaktion mit den Feldakteuren siehe die Reflexionen zum Feldzugang und Feldrolle in ethnographischer Unterrichtsforschung bei Christina Huf (2006).
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tionsrahmen für den Feldzugang – dabei ausgestaltet wird und welche Probleme dabei konkret zu bearbeiten sind, hängt dabei sowohl von den lokalen Ressourcen, den beteiligten Akteuren, als auch von der Forschungsfrage und der daraus erwachsenden spezifischen Feldkommunikation ab. Die Problematik der »doppelten Expertenschaft« zeigt sich daher meines Erachtens nicht als ein grundlegendes Problem pädagogischer Ethnographie, sondern als ein spezifisches. Die von Werner Thole, Peter Cloos und Ernst-Uwe Küster in ihrem Beitrag zur »Forschung in eigener Sache« eingeforderte Aufklärung der ForscherInnen »über die von ihnen operationalisierte Methodologie« (Thole/Cloos/Küster 2004, S. 85) verspricht gerade im Widerstand gegen disziplinäre Vorabschließungen, die Vielfalt dieses »situativen Managements« für die reflexive Methodenentwicklung in der erziehungswissenschaftlichen Forschung verfügbar zu machen.
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Tervooren, A. (2006): Im Spielraum von Geschlecht und Begehren. Ethnographie der ausgehenden Kindheit. Weinheim u. München. Wolff, S. (2000): Wege ins Feld und ihre Varianten. Flick, U./von Kardoff, E./Steinke, I. (Hrsg.) (2000): Qualitative Forschung. Reinbek bei Hamburg, S. 334-345. Zinnecker, J. (2000): Pädagogische Ethnographie. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 3. Jg. (2000), Heft 3, S. 381-400.
Jugendbrauchtum im Blick sozialpädagogischer Ethnographie. Eine Entdeckungsreise in eine wenig beachtete jugendkulturelle Szene Jörgen Schulze-Krüdener
Eine Gesellschaft, die in immer mehr Milieus und Spezialkulturen zerfällt, hat der ethnographischen Forschung zu einer neuen Blüte verholfen und auch in der Sozialen Arbeit hat der ethnographische Ansatz einen erheblichen Aufschwung erfahren (vgl. Homfeldt/Schulze-Krüdener/Honig 2000; Cloos/Thole 2006). Während sich die sozialwissenschaftliche Betrachtung von jugendlichen Lebenswelten darin überschlägt, immer neue jugendkulturelle Stile und Praxisformen zu entdecken und diese in immer schnelleren Rhythmen als populäre, urban-globale »In-Kulturen« zu deuten und sogar als kulturelle Produktivkraft beschleunigend auf den Globalisierungsprozess wirkend zu verorten (vgl. Villányi/Witte/Sander 2007), stellen Formen und Felder jugendlicher Brauchinszenierung mit historischen Wurzeln oder alten Traditionen als Ressource und Aktionsfeld jugendkultureller Selbststilisierung, Vergemeinschaftung und Praxis eine oft übersehene, bisweilen ignorierte Facette des Jugendlebens und der Jugendszenen dar. Jugendbräuche gelten als überholt, antiquiert, rückwärtsgewandt oder als Marginalien und folkloristische Relikte, die in die Asservatenkammer volkskultureller Restbestände gehören, also überhaupt nicht zum Bild einer zukunftsorientierten, innovativen, selbstbestimmten und populärkulturell geprägten Jugend zu passen scheinen. Dass Brauchformen aber zum Jugendalltag gehören und ein relevanter Teil im Ensemble jugendeigener Kommunikations-, Gruppen- und Erlebnismuster sind, hat eine Untersuchung zur Lebenswelt von Jugendlichen in städtischer und ländlicher Umgebung deutlich gemacht (vgl. Vogelgesang 2001, S. 87 ff.): Zwei Drittel aller Befragten im Alter von 14 bis 25 Jahren geben an, aktiv an Jugendbräuchen teilgenommen zu haben. Insbesondere in ländlichen Räumen gibt es eine Vielzahl tradierter Brauchtumsformen, deren seit alters her überlieferte Traditionen weit in die Vergangenheit hinein reichen, häufig aber im Laufe der Jahre ihren Stellenwert verloren und teilweise nachhaltige Veränderungen hinsichtlich ihrer Ursprungsbedeutung erfahren haben. Mailehenversteigerung, Schariwari, Misrule, Pfingstquak, Laxemkochen, Martinsfeuer, Fastnacht, Schützenfest, Kirchweih usw. sind Beispiele dafür, dass zu bestimmten Anlässen oder Jahreszeiten historisch verbürgte Traditionen nach wie vor gepflegt werden oder aber, nachdem sie vorübergehend verschwunden waren, wieder als Ort von Kommunikation und Kommerz sowie als Bühne für Selbstdarstellungen und kollektive Inszenierungen zurückkehren. Ausgehend von diesen Alltagserfahrungen und -deutungen hat der Autor dieses Beitrages (zusammen mit dem Trierer Soziologen Waldemar Vogelgesang) im Rahmen eines interdisziplinär konzipierten Forschungsprojektes »Jugendbrauchtum – Formen, Funktionen und Gemeinschaftserfahrungen in der dörflichen und städtischen Kultur« in umfassender und systematischer Weise nach Ereignissen oder Institutionen gesucht, die Bräuche repräsentieren oder diese organisieren.
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In welchen Schritten und mit welchen Zugangs-, Erhebungs- und Interpretationsverfahren wir uns bei unseren explorativen Erkundungen und wissenssoziologisch-hermeneutischen Deutungen des Datenmaterials genähert haben, wird im ersten Schritt dokumentiert (vgl. hierzu ausführlicher Schulze-Krüdener/Vogelgesang 2002). Voranzustellen ist der Hinweis, dass die Maximen der Feld- und Interpretationsarbeit, an denen ethnographische Forschungen sich orientieren, durchaus variieren können, allerdings sind Transparenz, Intersubjektivität und Reproduzierbarkeit verpflichtende Maßstäbe. Im Anschluss an die Darlegung unseres forschungsmethodischen Richtlinienensembles wird das Lehenausrufen als Fallbeispiel vorgestellt. Diese Form des traditionellen Werbebrauchtums ist einer der markantesten traditionsgeladenen Jugendbräuche, auf den wir bei unserer lebensweltlich-ethnographischen Forschung gestoßen sind. In den letzten beiden Zugängen wird eine Interpretation des zeitgenössischen Studiums der jugendlichen Brauchformen vorgelegt und eine Perspektive für eine sozialpädagogische Ethnographie aufgezeigt.
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Strukturmerkmale lebensweltlicher Ethnographie
1.1 Going native: Recherchen vor Ort und aus erster Hand Zu Beginn unserer Feldstudie hatten wir nur eine sehr vage Vorstellung von unserem Gegenstandsbereich. Wir entschieden uns für teilnehmende Feldzugänge, also für Beobachtungen und Gespräche in natürlichen Settings. Dabei ließen wir uns davon leiten, Vorwissen und Vorerfahrungen erst einmal weitestgehend zu suspendieren. Offenheit, Sensibilität und Distanzierung von Bekanntem und Vertrautem durch eine Strategie »künstlicher Dummheit« (Hitzler) sollten den Blick frei machen, weiten, aber auch schärfen für die Sichtweisen und Relevanzen derer, die das Praxisfeld Jugendszenen konstituieren und tradieren, also hier zu Hause sind. Ethnographisch in diesem Sinne zu arbeiten, bedeutet zunächst einmal, dass die Grenzen zwischen sozialpädagogischer, journalistischer und soziologischer Recherche fließend werden. Es sind die alltäglichen Handlungsmuster, Wissensbestände und Artefakte der jugendlichen Szenenakteure, die es möglichst ungefiltert zu registrieren galt. Unser Forschungsobjektiv war gleichsam auf Weitwinkel gestellt: Natürliche Kommunikation an Originalschauplätzen sollte möglichst dokumentarisch erfasst werden. Dass dabei auch Zufälle eine Rolle spielen können, ist in der ethnographischen Methodendiskussion eher unterbelichtet geblieben: So wurden auch Interaktions- und Gesellungsmuster entdeckt, die im Selbstverständnis der jugendlichen Akteure zwar Brauchformen sind, aber keine historischen Wurzeln oder Traditionen haben (vgl. zu den Spaßbräuchen Krüdener/Schulze-Krüdener 2003). An diese erste Phase der noch eher indirekten und mittelbaren Braucherkundung im Jugendalltag, schloss sich die eigentliche Feldphase an. In der Rolle des teilnehmenden Beobachters wurden hier vor Ort und aus erster Hand bei verschiedenen Anlässen und auf unterschiedlichen Veranstaltungen, die im Selbstverständnis der jugendlichen TeilnehmerInnen und Organisatoren Brauchcharakter hatten, Eindrücke gesammelt, Gespräche geführt, Materialien erworben sowie fotografische und filmische Dokumentationen erstellt.
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1.2 Die ethnographische Haltung: Mitmachen und Erfassen der Wirklichkeit der Erforschten Die Anstrengung der ethnographischen Forschung besteht aber nicht nur im Zugang und in der Teilnahme an meist weniger bekannten Ereignissen, sondern auch – und vielleicht sogar in erster Linie – im möglichst unvoreingenommenen Einlassen auf die Wirklichkeit der hier handelnden Personen. Denn Ethnographie gewinnt ihre Erkenntnisse im Sinne einer reflexiven Rekonstruktion der Handlungen, Erfahrungen und Deutungsmuster der Erforschten und ihrer interaktiven und kollektiven Handlungspraxis. Nur wer in der Lage ist, sich auf das Unvertraute und Unbekannte einzulassen, hat Chancen, weniger bekannte bis weithin fremde Gewohnheiten und Lebenswelten auch tatsächlich zu erkennen und zu erschließen. Ethnographische Forschung versucht also offenzulegen, wie die Subjekte ihre Umwelt, ihre sozialen Beziehungen, Ereignisse und Erfahrungen interpretieren und damit diesen Sinn verleihen. Das bedeutet, sie muss möglichst nahe an die alltäglichen Denk-, Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsmuster herankommen, um aus der Binnenperspektive eine andere Welt in unserer Welt transparent zu machen. Denn nur wer in unbekanntes soziales oder kulturelles Terrain eintaucht, kann etwas entdecken und verstehen. Nur wer sich auf die hier herrschenden Sprachcodes, Interaktionsformen und Spielregeln einlässt, schafft die Voraussetzung für eine offene und partizipative Kommunikation, wird innerhalb des untersuchten Praxisfeldes ernst genommen und darf auf dessen besseres Verständnis außerhalb hoffen. 1.3 Perspektiven-Wechsel und Methoden-Triangulation Ethnographische Forschung muss unbedingt die Variabilität von auf den Gegenstand bezogenen Sicht- und Handlungsweisen berücksichtigen, um ihr exploratives Potential voll ausschöpfen zu können. Erhebungssituation und -verfahren sind mithin so zu konzipieren, dass die Beteiligten Gelegenheit haben, ihre eigene Auffassung vom Gegenstand darzustellen. Es ist davon auszugehen, dass jede Perspektive spezifische Erkenntnismöglichkeiten im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand in sich birgt, die es herauszuarbeiten gilt. Das heißt, der ethnographisch Forschende muss jederzeit damit rechnen, auf Unterschiede oder gar Brüche zu stoßen, wie Menschen bestimmte Dinge sehen und bewerten oder in bestimmten Situationen handeln und urteilen. Der Begriff der Triangulation trägt dieser Perspektivität und ihrer ethnographischen Aufdeckung Rechnung. Triangulationsverfahren können aber nicht den Sinn haben, die richtigen, wahren und authentischen Daten von den falschen zu unterscheiden oder eine Perspektive zur Verifikation oder Falsifikation einer anderen heranzuziehen. Perspektivenvielfalt und -wechsel stellen also keine verdeckten Validitätstests dar, sondern dienen der Anreicherung des Beobachtungs- und Relevanzraums (vgl. Flick 2000). Das Verständnis für eine fremde Lebenswelt ist somit aufs Engste gekoppelt an eine möglichst breite Informationslage, wobei der Heterogenität der in sie eingegangenen Materialperspektiven ein besonderer Stellenwert einzuräumen ist (vgl. Marotzki 2000). Ausgehend hiervon werden vorläufige Hypothesen und Kategorien formuliert und im stetigen Wechsel zwischen Datenmaterial und theoretischen Konzepten elaboriert und – wenn notwendig – modifiziert. Somit vollzieht sich der Er-
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kenntnisgewinn während der Feldforschung im kontinuierlichen Wechsel zwischen Datensammlung und Dateninterpretation. Ein so verstandenes explorativ-interpretatives Vorgehen der Gegenstandserkundung und Bedeutungserschließung haben wir in unserer Jugendbrauchstudie zu realisieren versucht und zwar einerseits durch die bereits angesprochene breite Quellenrecherche am Beginn des Projekts, des Weiteren durch die Teilnahme an möglichst vielen und vielfältigen brauchrelevanten Veranstaltungen und nicht zuletzt durch zahlreiche Informations- und Sondierungsgespräche mit Feld- und WissenschaftsexpertInnen. Das Spektrum reicht dabei von gestandenen HeimatforscherInnen über MitarbeiterInnen volkskundlicher Museen bis zu DozentInnen ethnologischer und kulturanthropologischer Studiengänge an Hochschulen, die uns bereitwillig ihre Erfahrungen, Sichtweisen oder Kenntnisse des historischen wie aktuellen Jugendbrauchtums dargelegt haben. Diese Experteninterviews können ihrerseits als ein wichtiger Baustein unseres Mehrmethoden-Sets angesehen werden, mit dem wir eine breitgefächerte Annäherung an die aktuelle Brauchwirklichkeit Jugendlicher in Angriff genommen haben. Teilnehmende Beobachtungen, Foto- und Videodokumentation sowie eine größere Anzahl von leitfadenorientierten Interviews mit jugendlichen BrauchakteurInnen bilden zusammen den Materialcorpus, der uns letztlich zur Beschreibung und Analyse von Brauchformen zur Verfügung stand. Um zusätzlich noch die Auswertungsarbeit der Forschungsgruppe und die hier einfließenden Aushandlungs- und Deutungsprozesse sichtbar zu machen, wurden einige Sitzungen aufgezeichnet und gemeinsam mit Methodenexperten und der Forschungsgruppe ausgewertet. 1.4 Heuristik als Erkenntnismittel und die Reflexivität der Forschenden In unserer Sicht ist Ethnographie weniger als eine Forschungsmethode zu verstehen, sondern viel eher als eine Bezeichnung für das schwierige Verhältnis des Forschers zu dem zu beschreibenden und zu deutenden Untersuchungsfeld. Denn es geht, wie sich gezeigt hat, zunächst einmal nicht darum, wie Max Weber (1988 [1904], S. 207) in seinem berühmten Objektivitäts-Aufsatz schreibt, »Ordnung in das Chaos der ... Tatsachen zu bringen«, sondern dieses Chaos zuallererst einmal zu produzieren, sprich: die Gegenstandsperspektivität der Erforschten aufzudecken. Dabei fungieren die ethnographisch arbeitenden ForscherInnen selbst als wichtiges Forschungsinstrument. Er oder sie wird nämlich zwangsläufig zum Bestandteil des untersuchten Feldes und die Interaktionen im Feld, die sozialen Rollen, die den Forschenden zugewiesen werden, die Probleme und Fettnäpfchen, in die sie geraten, sind relevante Erkenntniselemente. Ihre Beobachtungen, Eindrücke, Emotionen sind wichtige Daten im Forschungsprozess und sollten deshalb auch unbedingt in Forschungstagebüchern dokumentiert werden. Die Reflexivität des eigenen Forschungshandelns ist nicht zuletzt auch deshalb so wichtig, weil die Betonung der heuristischen Funktion ethnographischer Forschung leicht zu einem induktionistischen Missverständnis führen kann. Zwar gilt es als eine der Stärken lebensweltlicher Ethnographie, dass Relevanzsetzungen nicht von vorgängigen Forschungshypothesen überblendet werden, aber der Forschende muss sich immer wieder selbstkritisch die Frage stellen, ob die Nähe zum Untersuchungsfeld nicht möglicherweise seine Darstellung einfärbt. Denn die intensive Teilnahme am Lebensalltag einer fremden Kultur kann leicht zu nicht intendierten – und vor allem zu nicht erkannten – Formen der Enkulturation führen.
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Letztlich gibt es aber keinen Idealtypus der ethnographischen Repräsentation. Feldnahe Methoden sind weder per se ein Garant für eine vorurteilsfreie Wirklichkeitserschließung, noch sind sie für Artefakte anfälliger als andere Forschungsmethoden. Jedoch sind sie vielfach unentbehrlich, um die Lebenswirklichkeit der betreffenden Personen und Formationen zu erhellen und zu entschlüsseln. Dass dabei eine gewisse Skepsis und Vorsicht gegenüber der Qualität der eigenen Erkundungen und Analysen angezeigt ist, zeichnet erfahrene FeldforscherInnen aus. 1.5 Fallkontrastive und diskursive Auswertungsstrategien Die Grundintention der Ethnographie besteht somit zusammenfassend in der Erfassung der in Sinnbezügen konstituierten sozialen Wirklichkeit. Für die Datengewinnung bedeutet dies, Strategien und Methoden zu finden, die geeignet sind, soziale Lebenswelten gleichsam von innen aufzuhellen. Dabei lassen sich grundsätzlich zwei Datentypen unterscheiden: Einige Daten produziert das soziokulturelle Feld selbst, andere werden durch den Einsatz explorativer Methoden erzeugt und im Sinne einer teilnehmenden Beobachtung koproduziert. Zu den Informationsquellen, die bereits vorhanden waren, zählten bei unseren Brauchrecherchen in erster Linie volkskulturelle Materialien und Dokumentationen, die vom heimatkundlichen Eifel-Jahrbuch bis zur Sammlung von Spottgedichten in Junggesellenvereinen reichten. Methodische Zugänge wie teilnehmende Beobachtungen und leitfadenorientierte Interviews hingegen dienten der Generierung von neuen Daten und Perspektiven. Durch eine komplementäre und kompositorische Verwendung der auf diese Weise verfügbar gemachten empirischen Dokumente erhofften wir uns eine maximale Veranschaulichung der relevanten jugendkulturellen Sinn- und Handlungsmuster sowie der Gesellungsformen – und zwar ganz im Sinne der Leitmaxime ethnographisch operierender Sozialforschung: »Die ... Aufgabe besteht darin, die erforschte soziale Welt so lebensnah zu beschreiben, dass der Leser ihre Bewohner buchstäblich sehen und hören kann« (Glaser/Strauss 1979, S. 103). Als besonders fruchtbar erwiesen sich in diesem Zusammenhang die offenen und narrativ ausgerichteten Interviews, in denen die Jugendlichen sich in ausführlicher Form zu ihrer Szenenmitgliedschaft und -erfahrung äußern konnten und dies auch mit großer Bereitwilligkeit und Detailfreudigkeit taten. Alle Gespräche wurden – mit ihrem Einverständnis – mit Tonband aufgezeichnet. Diese Registrierungsform besitzt zunächst einmal den Vorteil, sich voll auf die Gesprächssituation und den Gesprächsablauf konzentrieren zu können. In der Auswertungsarbeit wurde eine in der hermeneutischen Tradition stehende Analyse und Deutung vorgenommen, die sowohl der originären Sichtweise der einzelnen jugendlichen Akteure als auch einer vergleichenden Systematisierung ihrer kulturellen Praxisformen Rechnung trug. Analytisch und auswertungstechnisch sind in diesem Zusammenhang zwei Interpretationsschritte zu unterscheiden. Im ersten Schritt zielte die Rekonstruktion auf individuelle Handlungs- und Sinnprofile. Sie kann als Einzelfallanalyse bezeichnet werden. Bei der anderen Auswertungsform wurde eine typologisierende Interpretation angestrebt. Aus den Einzeläußerungen wurden dabei fallübergreifend Strukturen und Zusammenhänge szenenrelevanter Ereignisse und Institutionen herausgearbeitet. Wir fragten hier in erster Linie nach bestimmten vorherrschenden Mustern, die dann in Form eines
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Textextraktes oder einer themenbezogenen Synopse, welche die Einheit der Transkripte auflöste, in die Auswertung miteinbezogen wurden. Diese Vorgehensweise erlaubt, die hinter singulären Aussagen sichtbar werdenden Strukturen und Tiefendimensionen offenzulegen. Die endgültige Interpretation beruht damit – neben der Verwendung von Sekundärdaten – auf einer zweifachen, intensiven Auseinandersetzung mit dem Transkript, wobei durch Rückgriff auf konversationsanalytische Verfahren auch Sinnsetzungen durch die spezifische Kommunikationspraxis von Forschungsgruppen aufgedeckt werden sollten. Denn Überinterpretationen und Verabsolutierungstendenzen sind im qualitativ ausgerichteten Forschungsprozess leicht möglich, wenn die Filterfunktion der Forschenden bei der Datenanalyse nicht hinreichend mitreflektiert wird. Im Weiteren wird an einem Fallbeispiel dargestellt, zu welchen Ergebnissen und Erkenntnissen unsere ethnographische Forschung führt (im Folgenden sind Originaltöne aus Interviews mit BrauchakteurInnen kursiv gedruckt).
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Fallbeispiel Lehenausrufen
In vielen Dörfern des westlichen Zipfels Deutschlands hat der jugendliche Lehenbrauch (vielerorts am Sonntag vor Fastnacht) im Kreislauf des Jahres seinen festen Platz wie andernorts der Maibaum, das Schützenfest oder der Nikolaus. Auch wenn die Herkunft nicht eindeutig geklärt ist, seine ursprüngliche Funktion »Liebschaften durch das Lehenausrufen zu regeln und zu fördern« (Nießen, o. J.) ist unbestritten. Durch das Ausrufen einer Lehenpartnerschaft sollte das Heiratsverhalten gefördert werden. In der Vergangenheit zählte diese dörfliche Kontaktinstitution zu den wichtigsten, sozial gebilligten Formen des Kennenlernens und der Eheanbahnung. Heute wird dieser Teil des Brauchs eher humoristisch kommentiert: Manchmal helfen wir dem Glück etwas nach, aber meistens ist das Ganze nur eine riesen Gaudi. Dabei spielt vor allem die »Bestechlichkeit« des Lehenkomitees, das sich aus ortsansässigen, ledigen männlichen Jugendlichen zusammensetzt, eine wichtige Rolle. Denn die im Ermessen des Komitees liegende Paarbildung kann durch das Entrichten eines akzeptablen finanziellen oder materiellen Obolus »selektierend« beeinflusst werden: Bei uns ist es halt so, wenn du 10 Euro für ein Mädel bezahlst, dann ist es halt weg. Dann kann kein anderer mehr kommen und 20 Euro zahlen. Mitte Januar ist es dann soweit: Das Lehenballkomitee hat die Vorarbeit geleistet, die Kuppelmaschinerie des Lehenkomitees nimmt ihren Lauf und die Paare werden ausgerufen. Das Lehenkomitee zieht – musikalisch untermalt – auf eine Anhöhe in der Nähe des Dorfplatzes, um von dort oben vor der nahezu vollzählig versammelten Dorfgemeinschaft die Namen der Paare, mit Trompetensignalen bekleidet, durch eine riesige Flüstertüte – der Lehentuut – zu verkünden. Je nachdem, welches Paar ausgerufen ist, heißt es: Ob, das ist recht oder: Das schadet ihm überhaupt nichts. Der Ablauf des Lehenausrufens unterliegt einem strengen Regelwerk und Ritual, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. Zeitlich, räumlich und thematisch genau fixiert, hat es den Charakter eines kulturellen Erbes, das einem Kanon gleich alljährlich auf die gleiche Weise inszeniert wird. Nach dem Ausrufen hat das Lehenpaar Rechte und Pflichten mit deutlichem Symbolgehalt zu übernehmen. So muss der verkuppelte Junge im
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Vorfeld des Lehenballs bei der Schwiegermutter das Einverständnis erbitten, die Tochter zum Ball führen zu dürfen. Willigt diese ein, muss die junge Frau nach Beendigung des Balls ihren Lehenpartner mit nach Hause mitnehmen, wo gemeinsam mit der Mutter ein von dieser zubereitetes Essen verzehrt wird. Am nächsten Tag bringt die junge Frau ihrem Lehenpartner eine mehr oder weniger große Brezel als Zeichen ihrer Zuneigung und Verbundenheit nach Hause und überreicht die Brezel im Beisein der Mutter vor der Haustür. Unterbleibt diese Geste, mag das Mädchen den Jungen nicht, und die Verbindung zwischen dem Paar gilt im Dorf als gelöst. Auch wenn in der Gegenwart das öffentliche Ausrufen von Lehenpaaren den typischen Charakter eines lokalen Verkuppelungs- und Heiratsmarktes weitestgehend verloren hat, wird jedoch die Pflege dieser Brauchtradition von den Jugendlichen hochgehalten: Der Hauptsinn ist die Fortführung der Tradition. Wenn dabei noch ein Pärchen verkuppelt wird, umso besser. (...) Beim Lehenball vor einem Jahr haben wir seit langem nochmals ein Pärchen ausgerufen, das später dann auch geheiratet hat. Die Umgestaltung des Orts, die Einübung des Ablaufs, die alljährliche Werbekampagne, nichts wird dem Zufall überlassen. Denn das Lehenausrufen und der anschließende Ball werden als Highlights eingestuft, als eine Art Visitenkarte für die Dorfjugend und ihren Wohnort. Auch wenn ein Geschlechtsrollenbias im Alltag und Selbstverständnis tradierter Brauchformen unverkennbar ist, so stiftet gerade das Lehenausrufen doch auf vielfältige Weise auch kommunikative Bezüge – und dies keineswegs nur zwischen den Gleichaltrigen. Denn der Rückbezug auf Traditionen und Rituale, die fest in der Dorfkultur verankert sind, eröffnet auch weitreichende Verständigungsmöglichkeiten zwischen den Generationen und vermittelt Jugendlichen das Gefühl des Anerkannt-Seins und des Dazugehörens.
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Interpretation brauchkultureller Praxisformen Jugendlicher
Traditionelle Jugendbräuche wie das Lehenausrufen tragen dazu bei, dass viele jugendliche BrauchakteurInnen in die Dorfgemeinschaft inkludiert werden, wobei allerdings die gemeinschaftsstiftende Funktion deutlich Vorrang hat. Mit Blick auf die Erosion des Kulturellen in der Moderne ermöglichen die auf Tradition und Rituale ausgerichteten jugendlichen Brauchkulturen, die als Jugendkultur im Kontext von gemeinschaftlicher Dorfkultur fest verankert sind, neben Formen sozialer Geselligkeit auch kulturelle Vermittlungsprozesse in den und zwischen den Generationen mit ihren unterschiedlichen Erfahrungsräumen und sozialen Lagen. Die Bräuche sichern als akzeptierte Generatoren jugendkultureller Freisetzung, Binnendifferenzierung und Praxis insbesondere im ländlichen Raum nicht nur die Weitergabe von Alltagskultur, sondern lassen soziale Bindungen zwischen Jung und Alt aus dem Gefühl gegenseitiger Abhängigkeit entstehen. Des Weiteren kommt Jugendbräuchen die wichtige Aufgabe zu, zum Anschluss, zur Stützung und zur Integration der Jugendlichen in die dörfliche Erwachsenenwelt beizutragen (wenngleich unübersehbar ist, dass Jugendbräuche etwa in Bezug auf das Geschlechterverhältnis zu einer Reproduktion patriarchaler Hegemonie oder auch zur Reproduktion von Etablierten und Außenseitern beitragen). Die Inszenierungen und Institutionalisierungen von regional höchst unterschiedlichen Brauchformen haben sich im ländlichen Raum verstetigt resp. eine Renaissance erfahren,
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Jörgen Schulze-Krüdener
wenngleich Veränderungen bzw. nachholende Modernisierungen im Blick auf andere jugendkulturelle Szenen und Gruppierungen unübersehbar sind. Spaßerlebnisse, das Ausbrechen aus dem Alltag, die fortschreitende Kommerzialisierung verknüpft mit immer höheren Verdienstmöglichkeiten für die jugendlichen Brauchträger und die Geselligkeit in der Gleichaltrigengruppe, bei der auch teilweise heftige Saufrituale mit dazugehören (u. a. auch, um die durch das Ausrufen heiseren Kehlen kräftig anzufeuchten), haben eine hohe Bedeutung. Im Schutze von traditionellen Zuordnungen von Jugendbrauchtum im ländlichen Raum sind Jugendliche aber nicht ausschließlich an der Wahrung überlieferter Traditionen interessiert, sondern entwickeln – wie die von den Jugendlichen selbst als lockere, unkonventionelle bezeichneten Spaß-Bräuche und die Transformation von historischen Jugendbräuchen zeigen – aus der akzeptierten Dorfkultur heraus neue oder modifizierte Bedeutungsrahmen: Jugendliche sind darauf aus, »sich durch etwas Neues, durch etwas Eigenes – und sei es auch nur etwas Neukombiniertes – abgrenzen zu können zum Zweck der Identifizierung untereinander« (Schröder/Leonhardt 1998, S. 45), zur Herausbildung eigener Identitäten und zur jugendkulturellen Eigenentfaltung, wobei hinsichtlich der Möglichkeiten zur jugendkulturellen Freisetzung durch das Jugendbrauchtum deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede im Alltag und Selbstverständnis tradierter Brauchformen zuungunsten von Mädchen und jungen Frauen unverkennbar sind. Aber es gibt bereits Orte, wo junge Frauen die Junggesellen des Dorfes ersteigern.
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Perspektiven für eine sozialpädagogische Ethnographie
Deutlich wurde, dass das Erleben von Geselligkeit, die jugendkulturellen Kommunikationsformen und die szenetypischen Erlebnisformen ausschlaggebend sind für die erlebnisrationale Teilhabe Jugendlicher an brauchvermittelten Situationen, Ereignissen und Vergemeinschaftungen, die besondere, aus dem subjektiv erlebten Alltag akzentuierte individuelle Erfahrungen stiften. Brauchereignisse bzw. brauchvermittelte Gruppierungen als Plattform und authentisches Ausdrucksmittel von spezifischen jugendkulturellen Formen und Szenen schaffen Gemeinschaft, setzen die aktive Einbindung der Teilnehmenden in ein eigenständiges Ereignis voraus, setzen auf Harmonie und Unmittelbarkeit angelegte Erlebnisschemata, stiften erlebbare Erfahrungen und ermöglichen profilierendes Image verbunden mit hohen Akzeptanz- und Erinnerungswerten für einen wachsenden Kreis von Jugendlichen – und dies ist kein kurzlebiger Trend. Mit unserer Brauchtumsstudie haben wir uns einem vernachlässigten Bereich der Jugendforschung zugewendet. Jugendkulturen werden vorwiegend in urbanen Räumen untersucht, wahrscheinlich weil sie sich in Städten viel häufiger zu sozialen Problemen entwickeln. Der Blick auf das Dorf bzw. die Region erweitert die Perspektive und zeigt Formen jugendkultureller Praxis außerhalb städtischer Enge. Es geht allerdings nicht darum, eine Idylle zu zeichnen. Das Dorf unterliegt genauso dem andauernden Modernisierungsprozess wie die Stadt (vgl. Schulze-Krüdener 2007). Der Gegensatz von Stadt und Land verdient weitere Nachforschungen. Ziel sollte keine Stereotypisierung, sondern eine ausgewogene Differenzierung sein. Das Paradigma ethnologischer Forschung sind immer noch »traditionelle Gesellschaften«. Methoden und Fragestellungen werden auf dieses Beispiel abgestimmt. Eine stärkere Thematisierung des Verhältnisses von Stadt und Land (wie auch
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Region) könnte zu neuen Beschreibungsformen und Erkenntnissen über jugendkulturelle Szenen führen.
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Zugänge zur virtuellen Konsumwelt Abgrenzungsprobleme und Revisionsstufen der Ethnographie Jörn Lamla
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Ausgangspunkt: Ethnographie der virtuellen Alltagsökonomie
Es spricht für die Wahl und die Erkenntnisleistung ethnographischer Ansätze in der Internetforschung, wenn schon in der Phase des Feldzuganges bestehende Vorstellungen vom neuen Medium erschüttert werden. In unserem Projekt1 ging es darum, Personen ausfindig zu machen, die sich über ihre Lebensgeschichte und insbesondere die Rolle von Computerund Internettechnologie in ihrem Konsumalltag nicht nur im Rahmen eines narrativen Interviews befragen lassen, sondern auch ihre Privatsphäre der ethnographischen Beobachtung ein Stück weit öffnen sollten. Das Spektrum an Konsumwelten, das wir zum Gegenstand machen wollten, reicht von Online-Bestellungen bei Versandhändlern über Produktsuch- und Preisvergleichsstrategien bis zu neuen Vernetzungsformen, die durch Belange des Konsums vermittelt sind. Wir nehmen Besonderheiten digitaler Waren ebenso wie neue Geld- und Zahlungsformen in den Blick, fragen nach den Möglichkeiten, online shoppen zu gehen (vgl. Lamla/Jacob 2005) und interessieren uns dafür, wie eBay und andere Plattformen das Marktwissen der Akteure verändern und ihr Alltagsverhalten beeinflussen. Von der alltäglichen Aneignung solcher Konsumwelten sollten die zu befragenden Personen nicht nur erzählend berichten, sondern diese mittels der simulierenden Vorführung ihrer Favoritenseiten am heimischen PC auch praktisch vorführen. Zwar entsprach das Design der Erhebung nie dem Anspruch einer längerfristigen, wiederholten teilnehmenden Beobachtung und Begleitung von Personen in ihrem privaten Konsumalltag.2 Doch war eine ethnographische Haltung insofern maßgebend, als wir uns auf die textförmigen Daten der Interviews allein nicht verlassen wollten, sondern Eindrücke von der räumlichen Situation im Privathaushalt und von den Praktiken der alltäglichen Lebensführung und der Computernutzung selbst für unverzichtbar hielten. Die virtuellen Konsumwelten sollten also in einem ersten Zugriff über die Gewohnheiten ausgewählter Verbraucherinnen und Verbraucher exploriert werden, wohl wissend, dass wir es mit einem neuen, sich äußerst dynamisch entwickelnden Medium zu tun haben, das in seinen verschiedenen Facetten auf diese Weise womöglich nicht zu erfassen sein würde. Da wir für dieses Problem durch theoretische Vorüberlegungen sensibilisiert waren und die ethnographische Haltung auch eine Offenheit für Revisionen in der Forschungsstrategie sicherstellen sollte, sprach zunächst nichts gegen diesen Einstieg. Doch zeigte sich schon 1
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An der Lösung der Feldzugangsprobleme sowie an Literaturrecherchen und inhaltlichen Diskussionen zu diesem Aufsatz waren auch Paul Gebelein und Katharina Witterhold beteiligt. Beide sind studentische Hilfskraft im DFG-Projekt »CyberCash – Konsumpraktiken in der virtuellen Alltagsökonomie«. Für ihre Unterstützung danke ich ihnen vielmals. Zu den Zugangsproblemen bei einer ethnographischen Erforschung der alltäglichen Internetnutzung in privaten Haushalten vgl. auch Bakardjieva (2005, S. 79).
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Jörn Lamla
bei der Umsetzung, dass wir die ethnographische Arbeit auch auf die virtuellen Welten des Internets selbst würden ausdehnen müssen. Denn im Zuge unserer Bemühungen, verschiedene Personen für die Mitwirkung an der Untersuchung zu gewinnen, ist uns deutlich geworden, dass wir die mit dem Internet verknüpften kulturellen Regeln noch nicht hinreichend begriffen hatten und uns Teile der virtuellen Welten dadurch verstellt blieben. Beim Zustand der Irritation wollten wir es nicht belassen, sodass uns die Neugier tiefer ins neue »Terrain« hinein führte. Ausgangspunkt war der Versuch, das Internet als Massenkommunikationsmittel in Analogie zur Zeitung zu nutzen. Wir hatten einen Aufruf mit Hinweis auf unsere Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft formuliert, der sich auf verschiedenen Wegen über die Universität verbreiten lassen sollte und Leser einlud, an einer Untersuchung zum 3 »Internet im Konsumalltag« mitzuwirken. Obwohl für die Interviews Aufwandspauschalen gezahlt wurden, stand davon im Aufruf nichts, da wir hofften, das Erzählen und Reflektieren über private Konsum- und Internetstrategien wäre Anreiz genug, an der Studie mitzuwirken. Und wie der Rücklauf über regionale Printmedien zeigte, war diese Annahme auch berechtigt. Warum sollten wir also nicht versuchen, Personen online genauso anzusprechen wie über die Zeitung oder herkömmliche schwarze Bretter? Zwar geht ein Großteil der über das Internet abgewickelten ökonomischen Praktiken in geschützten, für Dritte nicht einsehbaren und sozial entleerten Räumen vonstatten, die das breite Warenangebot über wenige Mausklicks in der Privatsphäre verfügbar machen (vgl. Ritzer 2005, S. 195-224; Lamla 2008a). Es gibt aber auch eine Reihe von Foren im Internet, wo sich Konsumentinnen und Konsumenten treffen und austauschen. Daher wurde zunächst versucht, solche Foren nach Orten zu durchstöbern, wo es aussichtsreich erschien, unseren Aufruf einzustellen (zu »posten«).
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Kontaktaufnahme über Verbraucherplattformen
Einen Anlauf starteten wir auf der Website www.geizkragen.de, die neben einer Preissuchmaschine auch zahlreiche Verbraucherinformationen bereithält und in vielen Kategorien mit Tipps für »Schnäppchenjäger« aufwartet. Im »Geizforum« findet zudem in Selbstorganisation ein reger Austausch zu unterschiedlichsten Themen vom »Geiz-Talk« über spezielle Unterforen für Computerprobleme bis hin zu Plauderecken und Tauschbörsen statt. Nicht zuletzt gibt es einen gut besuchten »Platz für diverse Themen und Fragen«, der eigentlich wie gemacht für den Aufruf schien. Nachdem er unter der Überschrift »Das Internet im Konsumalltag – Interviewpartner in Hessen gesucht« online war, dauerte es nur gut zwanzig Minuten bis eine erste Reaktion kam: »Hhhhhmmmmmm, ich wohne nicht in Hessen sondern in Paraguay« – ergänzt um einen neckischen Smiley. Auf diesen Hinweis folgte eine inhaltliche Auskunft, die zu erkennen gab, warum der »uralte Gemeindehase« mit Nickname »Crille«, eine Rentnerin mit recht hohem Aktivitätsgrad im Forum, auf den Eintrag reagiert hat: Es ging ihr um eine direkte inhaltliche Stellungnahme zum Thema, weil ihr das Internet dabei hilft, einige Waren aus Deutschland zu beziehen, die sie in ihrem 3
Inhaltlich wurde im Text des Aufrufs auf das Internet und das Spektrum an Konsumpraktiken von der eBayAuktion bis zum unbezahlten Film- oder Musik-Download Bezug genommen. Selbst Personen, die dem Online-Shopping skeptisch gegenüberstehen, wurden zur Kontaktaufnahme per E-Mail oder Telefon aufgefordert.
Zugänge zur virtuellen Konsumwelt
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Konsumalltag in Paraguay nicht oder nur zu horrenden Preisen bekommt. Gut eine Stunde später meldete sich dann ein weiteres hochaktives Mitglied der Geizkragen-Gemeinde, eine Studentin mit Nickname »dannis«, und fragte: »Um welche Sachen handelt es sich, die ihr in Paraguay nicht bekommt? Auch Lebensmittel und solche Sachen?« Daraufhin entspann sich ein kurzer, noch bis zum nächsten Tag reichender Dialog zwischen »Crille« und »dannis« zu dieser Nachfrage – und das war’s. Ähnlich ernüchternde Erfahrungen machten wir auf der Verbraucher-Plattform www.ciao.de, die sich als Kaufberatung von Verbrauchern für Verbraucher präsentiert. Dort wurde uns auf das Posten des Aufrufs hin von Mitgliedern der »Verbraucher-Community« nicht nur rüde mitgeteilt, dass es sich nicht um einen Anzeigenmarkt oder eine Arbeitsvermittlung handele, weshalb der Beitrag das »Thema verfehle« und kollektiv abzustrafen sei, sondern auch der folgende, gut gemeinte Rat erteilt: »Wenn Du Deine wissenschaftliche Arbeit genau so einfältig angehst wie diesen Versuch, dafür Versuchskaninchen zu finden, dann gute Nacht. Die Idee, in diesem Forum nach Deiner Zielgruppe zu suchen, die ist gut. Aber die Umsetzung ist uninspiriert und wird vermutlich nicht das gewünschte Echo finden. Dennoch viel Erfolg! Gruß«. Offenbar hatten wir falsche Vorstellungen darüber, welche Formen der Ansprache auf dieser Plattform die Wahrscheinlichkeit der Annahme unserer Offerte erhöhen und unter den »digital natives« als legitim gelten. Sicherlich war uns ein gewisses Risiko der Ablehnung bewusst. Wir wussten, dass die Online-Kommunikation in Diskussionsforen fragiler ist als das direkte Gespräch, wodurch die Vertrauensbildung und Anbahnung verbindlicher Kooperationsbeziehungen erschwert ist (vgl. Beck 2006). Auch hatten wir ein abstraktes Wissen vom kulturellen Gruppen- und Eigenleben sogenannter »Online-Communities« und von ihren Regeln der Sanktionierung (vgl. Marotzki 2004), wobei sich unsere Erfahrungen bis dahin aber auf distanzierte Beobachtungen (sogenanntes »Lurken«) beschränkten. Da es uns jedoch zunächst nur um den Zugang zu unterschiedlichen Verbraucherinnen und Verbrauchern in ihrem häuslichen Aktionsfeld ging, schien uns der Versuch tragbar, die Verbraucherforen auf gut Glück als unspezifische Massenkommunikationsmittel zu benutzen. Es ging uns ja zunächst weniger darum, Zugang zu den virtuellen Gemeinschaften selbst zu erhalten und ihre Kommunikationsrituale zu studieren, sondern darum, einige wenige Personen zu erreichen, die sich über diese Räume würden ansprechen und zur Mitwirkung gewinnen lassen. Das Scheitern der Annäherung an potenzielle Interviewpartnerinnen und -partner über die Verbraucherforen gab uns dann aber Anlass, eigene Vorannahmen über das Feld kritisch zu überdenken (vgl. auch Schönberger 2001). Immerhin handelt es sich nicht um unspezifische Kommunikationskanäle, sondern um komplexe Interaktionsräume, die sich explizit Verbraucherthemen widmen und damit für das Untersuchungsfeld der virtuellen Konsumwelten und -praktiken unmittelbar relevant sind. Im Sinne der herkömmlichen Ethnographie mit ihrer Konzentration auf lokale Kontexte und angeregt durch »Cultural Studies«, die über kulturspezifische Praktiken der Aneignung von Medien und Medienprodukten Auskunft geben (vgl. Hepp 2005), hatten wir uns dem Internet mit der vertrauten Vorstellung einer häuslich-lokal dominierten privaten Alltagskultur angenähert (vgl. auch Mikos 2005), die zwar nicht falsch ist, aber wichtige Facetten des Internets als eigenständi4 gem Kulturraum auszublenden droht. 4
Die Konzentration auf den Haushalt war bewusst vorgenommen worden, weil wir von reduzierten Internetpraktiken bei den neuen, durch Phänomene wie Napster, eBay sowie andere kommerzielle Optionen angesp-
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Jörn Lamla Erste Revision: Virtuelle Ethnographie im Kulturraum Internet
Da wir uns das Feld der virtuellen Konsumpraktiken und -welten im Sinne der »Grounded Theory« (Strauss/Corbin 1996) über Fallkontraste erschließen wollten, mussten wir zum einen sensibel auf die Beobachtung reagieren, dass auch Schnäppchenjäger und -jägerinnen sowie andere konsumorientierte User das Internet zu gemeinschaftsbildenden Zwecken nutzen, die zwar mit ihren privaten alltagsökonomischen Anliegen eng verzahnt sind, darin aber nicht aufgehen. Zum anderen wurden uns sogleich die globalen Dimensionen der kreativen Nutzung von E-Mail und Internet zu Konsumzwecken deutlich gemacht, die in einem regionalen Sample von Befragten aus Hessen womöglich nicht hinreichend sichtbar geworden wären, wie an der knappen, aber sehr aussagekräftigen Reaktion einer nach Paraguay ausgewanderten Rentnerin deutlich wird. Aus diesem Grund entschieden wir uns, parallel zu unseren Offline-Erhebungen weitere Anstrengungen zu unternehmen, auch online Zugang zu den Mitgliedern einer Verbrauchercommunity zu erhalten. Folglich galt es, die bereits geplanten Analysen virtueller Konsumwelten, insbesondere von ausgewählten Online-Shops und Marktplätzen, um eine »virtuelle Ethnographie« (Hine 2000) der Interaktionen und kulturellen Praktiken auf diesen Verbraucherplattformen zu erweitern. Mit unseren ersten Annäherungen an die virtuellen Treffpunkte der Konsumentinnen und Konsumenten hatten wir auch bereits an die Tür geklopft und gesagt, wer wir sind und was wir wollen. Kennzeichnend für die Methode einer virtuellen Ethnographie, die sich auf OnlinePhänomene konzentriert und das Internet als eigenständigen Kulturraum begreift, ist die Übertragung und Verlängerung methodischer Prinzipien der herkömmlichen Ethnographie in die neue Medienumgebung. Es sind mithin die in deutschen Handbüchern zur qualitativen Sozialforschung unter dem Eintrag »Ethnographie« auffindbaren Konzepte, die auch 5 eine im Internet selbst durchgeführte Online-Ethnographie im Kern bestimmen : Hier ist zunächst der längerfristige Feldaufenthalt, das Vertraut-Werden mit dem Fremden und Fremdmachen des Vertrauten und die aktiv am Geschehen »teilnehmende Beobachtung« (vgl. Lüders 2000; Hirschauer/Amann 1997) zu nennen, die über das »Lurken« in offenen Foren hinausgehen muss. Weiterhin lassen sich Online-Communities als in sich strukturierte, »kleine soziale Lebenswelten« behandeln und explorieren, deren Analyse die Perspektive eines typischen Mitglieds einzunehmen verlangt (vgl. Hitzler/Honer 2003; Honer 2000). Ziel ist die Erschließung von im Feld gültigen kulturspezifischen Kommunikationscodes und Regeln sowie die Anfertigung darauf basierender »dichter Beschreibungen« der lokalisierten Kultur (vgl. Geertz 1987b). Entsprechend grenzt auch Marotzki (2003, S. 129) den Forschungsfokus ab: »Zunächst gilt, was für andere, für uns neue Kulturräume auch gilt: Nähert man sich (…) einem anderen Kulturraum in ethnographischer Absicht (…), so werden zunächst soziale Strukturen, Regeln, Konventionen, Interaktionen, Kommunikationsstrukturen und Gruppenbildungen interessieren. Man wird Dokumente dieses Kulturraums untersuchen und selbst in ihn hineingehen, um zu beobachten und mitzuerleben, was dort in welcher Weise geschieht (…) und wie Kultur – verstanden als eine hinreichend klar ab-
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rochenen Nutzergenerationen ausgegangen sind (vgl. van Eimeren/Gerhard/Frees 2003; Castells 2003, S. 415-429). Erstaunlich ist, dass noch in den neueren deutschen Handbüchern oder Überblickswerken zur »qualitativen Medienforschung« (vgl. Mikos/Wegener 2005; Ayaß/Bergmann 2006) die methodischen Herausforderungen der Internetforschung nur marginal behandelt werden.
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grenzbare Praxis der routinemäßigen Signifikation, eine spezifische Praxis der Bedeutungserzeugung – strukturiert ist.« Vor allem Forschungen zu Newsgroups und Mailinglisten, themenspezifischen Forendiskussionen, virtuellen Gemeinschaften, Online-Spielen, sogenannten MUDs6, Identitätsexperimenten, Chat- und Flirträumen usw. (vgl. etwa Rheingold 1993; Paccagnella 1997; Markham 1998; Baym 2000) stellen typische Gegenstände dieser ins Medium Internet verlängerten konventionellen Form von Ethnographie dar. Unabhängig davon, inwiefern diese community-orientierte Sicht auf virtuelle Welten plausibel ist und auf andere internetbasierte Praktiken generalisiert werden kann (vgl. Wellman/Gulia 1999; Stegbauer 2001; Gläser 2005), lassen sich diesem Ansatz für einen ersten Zugang zu den Aktivitäten auf Verbraucherplattformen wichtige Hinweise entnehmen. Denn auch unter Usern, die vermeintlich mit ordinären Fragen der Alltagsbewältigung befasst und an Informationen über Produkte interessiert sind, wurden deutliche Merkmale einer Online-Vergemeinschaftung sichtbar, die zu einer ausführlicheren Beschäftigung mit den Plattformen herausforderten. Angefangen von Sprachkonventionen, der sogenannten »Netiquette«, die wir missachtet hatten, insofern unser Aufruf die Leserinnen und Leser mit »Sie« ansprach, über die Vertrauensbildung, für die ein kommunikativer Austausch über mehrere turns hinweg erforderlich schien, bis hin zu deutlich erkennbaren Gruppendynamiken, die an den sanktionierenden Kommentaren zu unseren Postings sichtbar wurden, zeigten sich Verbraucherforen als komplexe Kulturformen, die dem Kriterium einer kleinen sozialen Lebenswelt durchaus entsprechen dürften. Für die Lösung des Feldzugangsproblems besonders bedeutsam waren im Falle der Ciao-Community, auf die wir uns im weiteren Verlauf konzentrierten, die wechselseitigen Bewertungen und Kommentierungen der Mitglieder untereinander. Sie sind für die Regeln, Umgangsformen, Aufmerksamkeitskriterien und Statusdifferenzen maßgebend und hängen nicht zuletzt von den besonderen ökonomischen Bedingungen der Plattform und entspre7 chenden technischen sowie inhaltlichen Weichenstellungen der Plattformbetreiber ab. 6
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Die Abkürzung steht für Multi-User-Dungeon oder -Dimension. Zur Erläuterung heißt es etwa auf der Internetseite zum Spiel »Silberland«: »Ein MUD ist eine kleine Welt für sich. Ein MUD hat im Allgemeinen ein Grundthema, dem es sich verschreibt, im Falle des Silberlands ist dies die weitgefächerte Welt der Fantasy. Hier bewegen sich Wesen wie etwa Elfen, Zwerge, Hobbits und auch Menschen in einer virtuellen Welt, bestehen Abenteuer, erkunden das Land, kämpfen gegen kleine wie große Monster oder reden auch einfach nur miteinander« (URL: http://www.silberland.at, Zugriff am 13.08.2007; vgl. dazu auch Götzenbrucker 2001). Für die Diskussion um ethnographische Methoden in der Internetforschung sind hier die verschiedenen theoretischen Perspektiven auf technische Artefakte bedeutsam. Wenngleich das Internet aufgrund seiner gestaltungsoffenen Netzwerktechnologie maßgeblich durch Anwenderinnen und Anwender, also durch verschiedene kulturelle Praktiken des Gebrauchens, geprägt wird (vgl. Hörning 2001; Castells 2005), weist doch die ethnographisch ausgerichtete Technikforschung oder »Technografie« mit einigem Recht auf den zweiseitigen, symmetrisch verteilten oder »post-sozialen« Charakter der Beziehungen zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Handlungsträgern hin (vgl. Braun-Thürmann 2006; Latour 2006; Knorr-Cetina 1998). Im Design der Ciao-Plattform steckt einerseits viel menschliche Intelligenz, die an ökonomischen Profitinteressen der Betreiberfirma ausgerichtet ist und darauf zielt, die Kulturproduktion der Community in engen, kontrollierbaren Bahnen zu halten. Auf der anderen Seite ist die Entwicklung des neuen Geschäftsmodells maßgeblich dadurch beeinflusst oder hervorgebracht worden, dass die Internettechnologie neue Möglichkeiten der Einbeziehung der Verbraucherinnen und Verbraucher erst bereitstellt. Die Technologie verankert so auch eine gewisse Dialektik der Macht, da die Möglichkeit, Werbung über die Nutzung von »user-generated content« auszulagern, auch Interpretationsspielräume für die User zur Folge hat. In diesem Sinne lässt sich die Technologie als eine Mitspielerin in den Auseinandersetzungen und Aushandlungen verschiedener Akteure auf dem Marktplatz Internet begreifen.
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Jörn Lamla
Erstens ist hier das ausgeklügelte System der wechselseitigen Bewertungen von Testberichten über die verzeichneten Produkte und Angebote zu nennen, wodurch sich die Mitglieder untereinander kleinste Geldbeträge im Bereich von ein bis zwei Cents für ihre ReviewTätigkeit zuteilen, die aus den Werbe- und Marktforschungseinnahmen des Betreibers stammen. Zweitens soll die Qualität der Beiträge auch darüber gesichert werden, dass nur Berichte mit einer Mindestlänge (120 Wörter) hochgeladen werden können. Drittens nehmen diese stets von einem im Kategoriensystem der Plattform auffindbaren Produkt ihren Ausgang, worin die in den Richtlinien ausformulierte Erwartung zum Ausdruck kommt, dass dieses Produkt zuvor auch tatsächlich erworben worden ist und der oder die Schreibende damit hinreichende Erfahrungen im alltäglichen Gebrauch gesammelt hat. Eine solche technisch-administrative Vorstrukturierung der Diskussion findet sich sogar noch im Ciao-Café, wo sich die Community – fernab vom eigentlichen Marktplatz mit seinen Produkten und Dienstleistungen – ihres Zusammenhalts vergewissert und unterschiedlichste Themen von Alltagsfragen über Liebe und Freundschaft bis zur Politik diskutiert (vgl. Lamla 2008b).
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Arrival Story?
Nachdem wir diese Zusammenhänge studiert hatten, konnten wir einen zweiten Zugangsversuch starten, ohne zuvor den Status eines voll anerkannten Community-Mitglieds erwerben zu müssen. Hätte dies doch erfordert, zahlreiche Erfahrungsberichte über diverse Produkte oder Dienstleistungen zu verfassen, »Reviews« anderer Autorinnen und Autoren zu bewerten und zu kommentieren und dabei um Aufnahme in die »Netze des Vertrauens« möglichst vieler Mitglieder zu werben. Eine derart extensive Online-Ethnographie erschien uns als zu aufwendig: Wir waren auf der Farbskala der Mitgliederhierarchie noch »Weiße«, die, wie wir aus Kommentaren wussten, nicht oft gelesen werden, und vom Punktestand her waren wir aufgrund der anfänglich schlechten Bewertungen sogar im Minus. Außerdem war uns wichtig, von Beginn an als Forscherteam aufzutreten und uns nicht hinter Verbrauchermasken zu verstecken, die uns den Online-Zugang zwar erleichtert, aber beim späteren Übergang zu Offline-Kontakten neue Probleme beschert hätten. Deshalb machten wir uns die in der offiziellen Leitidee der Plattform verankerte Grundregel zunutze, wonach vor allem ehrliche Darstellungen von Erfahrungen wertzuschätzen seien, die unabhängig von Werbebotschaften die Alltagstauglichkeit und das Preis-Leistungs-Verhältnis von Konsumprodukten oder Dienstleistungen einzuschätzen helfen. Indem wir diese Codierung kreativ umwerteten, konnten wir relativ leicht Zugang zur Community erlangen: Wir haben schlicht unsere »Erfahrung«, dass wir als »Neulinge« und ohne über ein »Netz von Vertrauten« zu verfügen, auf Schwierigkeiten der Kontaktaufnahme stoßen, im zweiten Posting offensiv gewendet und dabei zugleich unterstrichen, dass keine kommerziellen Interessen hinter unserem Projekt stehen. Zudem haben wir auf eine eigens eingerichtete Website verwiesen, wo weitere Informationen mitsamt einem fotografischen Eindruck von uns eingeholt werden konnten. Weiterhin haben wir angedeutet, dass wir einen verantwortungsvollen Umgang mit der Macht, Beiträge durch Bewerten und Kommentieren abzustrafen, erhoffen. Diesen zweiten Aufruf haben wir unter dem Titel »Kontaktaufnahme‚ ohne Netz und doppelten Boden« im »Ciao-Café« eingestellt.
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Damit hatten wir sofort Erfolg. Die ersten, wiederum sehr schnell erfolgten Kommentare und Bewertungen waren gleich positiv und unterstützend. Zwar wurden vor allem Ratschläge geäußert, wo wir am besten Kontakt aufnehmen sollten oder wie wir ein »idealtypisches« Mitglied finden könnten. Aber das ermöglichte uns, mit den Urhebern dieser Reaktionen über private und öffentliche Gästebücher ins Gespräch zu kommen. Zwar gab es auch erneut Kritik, wir würden die Themenrubrik zweckentfremden oder sogar gegen die »AGB« der Plattformbetreiber verstoßen, der zufolge »Eigenwerbung« doch verboten sei. Aber solche Hinweise blieben in der Minderheit und konnten das Meinungsklima nicht mehr umstoßen. Vielmehr wurden negative Kommentare ihrerseits kritisiert, ihre Urheber als »Prachtexemplare« der Community bezeichnet und das Auftreten dieser »Netcops« mit dem Hinweis ironisiert, dass wir dieses Phänomen mal soziologisch untersuchen sollten. Wir schienen in der virtuellen Welt der Verbrauchercommunity angekommen zu sein. Die Erzählung einer solchen »arrival story« dient in ethnographischen Studien nicht selten der Authentisierung der Feldberichte. Sie soll plausibel machen, dass man tatsächlich 8 dagewesen ist und das Geschehen leibhaftig miterlebt hat. Dieses Vorgehen lässt sich als rhetorische, selbst historisch gebundene Darstellungspraxis dekonstruieren, die benutzt wird, um objektive Erkenntnis- und Repräsentationsansprüche der Autorinnen und Autoren zu stützen (vgl. Fuchs/Berg 1993, S. 84). Die Krise des ethnographischen Realismus, also des Anspruches, den »native point of view« wiedergeben zu können, spielt in neueren methodologischen Diskussionen, die stark durch postkoloniale Entwicklungen beeinflusst sind, eine wichtige Rolle. So werden etwa von Norman K. Denzin (1999, 2001) unter dem Leitbegriff einer »interpretativen Ethnographie« Methoden der Interviewerhebung und Darstellung von Ergebnissen entwickelt, die kritisch auf die Standortgebundenheit der (zumeist westlichen) Beobachter reflektieren und in Abgrenzung zur Textfixiertheit herkömmlicher Ethnographien die Gesamtperformance der Gewinnung und »Aufführung« von Forschungsergebnissen durch aktive Einbeziehung der Informanten berücksichtigt wissen wollen. Mediensoziologisch ist daran besonders interessant, dass Denzin von der Diagnose einer »Cinematic Society« ausgeht, in der das Kino den Blick der Ethnographie maßgeblich vorpräge und diese so zur möglichen Komplizin eines subtilen Überwachungsregimes werden lasse (vgl. Winter 2005). Die Bedeutungszunahme von methodischen Selbst- und Erfahrungsreflexionen der Feldforscherinnen und -forscher, die bis zu neuen Formen der »Autoethnographie« (vgl. Ellis 2004) gesteigert werden, sind auch für die Erforschung von virtuellen, d.h. über das Internet vermittelten (Konsum-)Welten bedenkenswert. Allerdings führt die Reflexion unseres Auftretens auf der Verbraucherplattform auch andere Grenzen der virtuellen Ethnographie vor Augen, die nicht nur die angemessene Repräsentation der untersuchten Kultur betreffen, sondern die Frage aufwerfen, in welchem Sinne es sich dabei überhaupt um ein kulturelles Feld mit scharfen Konturen handelt. Unsere personalen Identitäten und authentischen Erfahrungen haben wir im zweiten Anlauf der Kontaktaufnahme so in Szene gesetzt, dass wir Zugang zu »Community«Mitgliedern erlangen, ohne allzu tief in den virtuellen Meinungsaustausch der Verbraucherinnen und Verbraucher einsteigen zu müssen. Unser Vorgehen blieb also zur medialen Praxis des Aufschreibens und Kommentierens von Erfahrungen noch auf Abstand. Aber 8
Auch wenn Geertz (1993) sich kritisch über solche rhetorischen Stilmittel äußert, liefert sein bekannter Aufsatz über den balinesischen Hahnenkampf (1987a) hierfür doch das beste Beispiel (vgl. Fuchs/Berg 1993, S. 59).
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genau daraus lässt sich auch etwas über den virtuellen Kulturraum Internet lernen: Denn das Problem der Darstellung und Herstellung von Authentizität ist ein ständiger Begleiter in den medialen Internetpraktiken und wird pragmatisch durch verschiedene technische und kulturelle Mittel gelöst – angefangen von den aus E-Mail-, Chat- oder Forendiskussionen bekannten »Emoticons« bis hin zu Selbstinszenierungen auf privaten Profilseiten bei MySpace, Xing, StudiVZ oder auch Ciao (vgl. Hine 2000, S. 118-146). Auch die technologisch gestützte Zuteilung bzw. der Entzug von Vertrauenspunkten untereinander dient in verschiedenen Internetkontexten zur Lösung dieses Problems. Als wir nach geraumer Zeit unsere Online-Kontakte reaktivieren wollten, haben wir die betreffenden Personen nicht nur über ihre Gästebücher privat angesprochen, sondern per Mausklick zusätzlich in unser »Netz des Vertrauens« aufgenommen – gleichsam als Vertrauensvorschuss, der sich positiv auf ihr Community-Punktekonto auswirken würde. Dies erhöhte die Gesprächsbereitschaft auf der anderen Seite umgehend. Freilich handelt es sich bei solchen Konversationsregeln, die Annahmewahrscheinlichkeiten in der Internetkommunikation erhöhen, nicht um Spezifika virtueller Konsumwelten. Doch erzeugen die Testberichte den Eindruck, es handele sich um authentische Erfahrungen und Äußerungen, ebenfalls über mediale Darstellungs- und rhetorische Stilmittel. Diese reichen von kleinen Erzählungen zu den Gründen der Anschaffung eines Produkts oder typischen Situationen des alltäglichen Gebrauchs über die Beigabe von Fotos oder kleinen Vorführvideos bis hin zu Fetischisierungen, die sich aus den Diskurswelten und Symbolsprachen der Werbung bedienen. Warum sich die Community-Mitglieder an dieser Form der virtuellen Verbrauchervernetzung beteiligen, erklären hingegen auch diese Schreib- und Darstellungskonventionen nicht. Ihre Motive sind potenziell sehr vielschichtig, insofern sie sowohl ökonomisch (Taschengeld aufbessern) als auch gemeinschaftsorientiert (Freunde oder Anerkennung finden), sowohl auf Unterhaltung zielend (witzige Berichte lesen/schreiben) als auch durch Identitätsfragen (über die umgebenden Dinge das eigene Selbst entdecken) bestimmt sein können. Welche Praxis kann hier also Authentizität für sich reklamieren?
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Zweite Revision: Multi-Sited Ethnography
Die autoethnographische Reflexion der arrival story legt einen methodischen Blickwechsel nahe, der stärker auf die Differenzen der virtuellen Praktiken und Weltbezüge abstellt als auf ihre Gemeinsamkeiten. Bei unserem zweiten Versuch, online Zugang zum Feld zu erlangen, waren wir davon ausgegangen, dass es sich bei der Plattform um einen neuen Kulturraum handelt, in dem die registrierten Mitglieder ein abgrenzbares Set an Konventionen teilen und sich in gemeinsamen lebensweltlichen Bedeutungshorizonten bewegen. Das ist in gewissen Grenzen auch durchaus der Fall. Aber nicht allen teilnehmenden Verbraucherinnen und Verbrauchern geht es gleichermaßen um die Erzeugung und Aufrechterhaltung jenes Beziehungsgefüges wechselseitiger Anerkennung und Aufmerksamkeit, das höchstens für eine Kerngruppe von Hochaktiven konstitutiv sein und deren Zusammengehörigkeitsgefühl stützen mag (vgl. Stegbauer 2001). So sind die online-ethnographisch schwer zu berücksichtigenden »Lurker«, die sich nicht auf der Internetseite anmelden und mit »Nickname« und Passwort »einloggen«, sondern nur lesen und zuschauen, im Falle der
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Verbraucherplattform Ciao eine wesentliche Zielgruppe. Sie umfasst nämlich jene Konsumentinnen und Konsumenten, die über Suchmaschinen wie Google oder Yahoo nach Produktinformationen suchen, darüber auf Preisvergleiche und Testberichte bei Ciao oder anderen Anbietern gelenkt werden und über diese Portale den Weg zum Online-Shop finden.9 Wohl hat die kollektive Schreib- und Besprechungspraxis im Internet neue Formen der massenkulturellen Artikulation und Kommunikation hervorgebracht, die eine »kleine soziale Lebenswelt« konstituieren könnten. Diese Artikulationsformen stehen jedoch in einem komplizierten, näher zu bestimmenden Verhältnis sowohl zu den Interaktionsdynamiken der »Community« als auch zu den Symbolwelten des Marktes, des Geldes, der Waren, der Werbung, des professionellen Marketing usw. Für eine Analyse dieser Zusammenhänge bietet sich am ehesten das von Anselm Strauss (1978) prominent gemachte Konzept der »sozialen Welten« an, wonach das Internet weniger als homogener Kulturraum aufzufassen wäre, sondern als soziale Arena bzw. Ansammlung sozialer Arenen, in denen verschiedene soziale Welten aufeinandertreffen und auf unterschiedliche Weise – durch Aushandlungen, Konfliktaustragungen, Hybridisierungen, raumzeitliche Segmentierungen und Interdependenzen, soziale Evolution usw. – vermittelt werden (vgl. Schütze 2002; Clarke 2005). Auch Christine Hine (2000, S. 27) empfiehlt, das Internet nicht nur als separierte »self-contained cultures« in einem »bounded social space« zu betrachten, sondern zudem als kulturelles Artefakt, das durch die Arten und Weisen seines Gebrauchs zum Schnittfeld einer Vielzahl kultureller Praktiken, Motive, Zuschreibungen und Relevanzsetzungen wird. In Anlehnung an ihre diskursanalytische Erweiterung der Ethnographie ließe sich das Phänomen der virtuellen Verbraucherplattform »Ciao« etwa als ein Feld beschreiben, in dem zwei dominante Internetdiskurse – der Diskurs einer globalen Vergemeinschaftung und der Diskurs des perfekten Marktes – sich nicht bloß kreuzen, sondern der Gabentausch dem Warentausch auch hierarchisch untergeordnet wird: Die Kulturleistung der auf »Authentizität« getrimmten Erfahrungsberichte einer schreibenden Verbraucherminderheit wird der Erschließung neuer Märkte systematisch dienstbar gemacht (vgl. Lamla 2008b). Die Perspektivenverschiebung in Richtung verschiedener Diskurskontexte und sozialer Welten relativiert nun aber den Stellenwert von Ethnographie insgesamt, insofern diese zunehmend durch andere Erhebungs- und Auswertungsverfahren sowie den Import sozialtheoretischer Konzepte flankiert wird. Als hilfreich für die Untersuchung der heterogenen, vielschichtigen Aspekte von Konsumpraktiken im Internet erweist sich das Konzept der »Multi-Sited Ethnography« von George E. Marcus (1995), das seinerseits an den Überschneidungen des kapitalistischen Weltsystems mit lebensweltlichen Relevanzsetzungen in alltagskulturellen Zusammenhängen interessiert ist. Die Aufgabe der Ethnographie bestehe darin, verschiedenen Spuren zu folgen, um unscharf gewordene Feldgrenzen aufzuhellen – gewissermaßen als »an exercise in mapping terrain« (Marcus 1995, S. 99; vgl. auch Nadai/Maeder 2005; Wittel 2000). Dafür listet Marcus verschiedene Anhaltspunkte auf, die zugleich anzeigen, dass das Schwergewicht der empirischen Analyse auf speziellere, aus verschiedenen Disziplinen stammende Methoden übergegangen ist, die in einen gemeinsa9
Die Tatsache, dass diese, für die Untersuchung der virtuellen Konsumwelten von Ciao.de konstitutive Nutzergruppe über das Internet nicht ansprechbar ist, insofern ihre Praktiken anonym und unsichtbar bleiben, macht das Plädoyer für kombinierte, online- und offline-ethnographische Zugänge plausibel (vgl. Miller/Slater 2001).
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men Bezugsrahmen integriert werden sollen. Dabei lassen sich der Gegenstand und seine Grenzen unterschiedlich konstruieren, insofern ganz verschiedene soziologische Bezugskonzepte die ethnographische Kartografie anleiten können, angefangen von den Wanderungsbewegungen der menschlichen Akteure, über die der Artefakte, bestimmte Metaphern, eine Storyline oder Konfliktlinie bis hin zur lebensgeschichtlichen Perspektive der Biographieforschung (vgl. Marcus 1995, S. 105-110). Diese Konstruktionsoffenheit gibt nach Strübing (2006, S. 264-267) Anlass, den Vorschlag einer »fokussierten Ethnographie« aufzugreifen, die das Prinzip des erfahrungsintensiven, längerfristigen Feldaufenthalts zugunsten einer datenintensiven, auswertungsextensiven Forschungspraxis mittels technischer Aufzeichnungsgeräte aufgegeben hat (vgl. Knoblauch 2001, S. 129-133). Die Nähe zum textwissenschaftlichen Rekonstruktionsparadigma, die hier sichtbar wird, liegt auch meinem Ansatz zugrunde. Die Arbeitsteilung zwischen ethnographischen und anderen, etwa sequenzanalytischen Methoden, würde ich aber anders akzentuieren: Nicht die technisch vermittelte Erhebung, Transkription und spätere Interpretation fokussierter, also bewusst ausschnitthaft betrachteter Daten in der Forschergruppe stellt m. E. den Bezugspunkt ethnographischen Arbeitens dar, sondern die Erforschung von Zusammenhängen, Verknüpfungen und Hybridisierungen zwischen diesen sozialen und kulturellen Wirklichkeitsausschnitten. Bezogen auf die Konsumpraktiken im Internet, das in vieler Hinsicht selbst eine technische Apparatur der Datenaufzeichnung bereitstellt, kristallisiert sich das theoretisch zu durchdringende Problem weniger in einzelnen Ausschnitten des virtuellen Marktplatzes als vielmehr in dessen komplex verstreuter »Figuration« (vgl. Elias 1970). Die Stärke hermeneutisch-rekonstruktiver, insbesondere sequenzanalytischer Methoden sehe ich darin, Hypothesen über solche Interdependenzen an einzelnen Ausschnitten oder Spuren der sozialen Praxis zu generieren. Deren Falsifikation oder Verfeinerung erfordert sodann jedoch die ethnographisch sensibilisierte Wanderung 10 durch das unsicher gewordene Terrain. In diesem Sinne verstehe ich unter Ethnographie in der sozialwissenschaftlichen Internetforschung weniger eine Praxis der Forschung im Feld, sondern eher jene empirische Wissenschaft, die sich gezielt der Aufklärung diffuser Feldgrenzen widmet. Oder anders formuliert: Probleme des Feldzugangs werden durch die Ethnographie auf Dauer gestellt.
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3. Praktiken und Praxen der Ethnographie. Beobachten, Erzählen, Schreiben
Ethnographie (machen) mit Kindern in der Schule: Die Beobachtung der Beobachter Jutta Wiesemann
Beobachten ist eine zentrale Methode empirischer Forschung. Dieses wissenschaftliche Beobachten setzt einen theoretisch-methodologisch begründeten Zugang zu den Phänomenen voraus. Die Möglichkeiten teilnehmender Beobachtung für die Gewinnung wissenschaftlichen Wissens sind für die ethnographische Forschung unter anderem in der lokalen Zugänglichkeit der alltäglichen Lebens- und Handlungszusammenhänge begründet. Diese Zugänglichkeit existiert nicht nur für eine forschende Beobachtung, sondern zuallererst für alle an diesem Alltag beteiligten Akteure. Oder anders gesagt: Die Beobachtbarkeit sozialer Praxis ist eine ihrer Konstitutionsbedingungen, ebenso wie das Beobachten selbst konstitutiver Teil dieser alltäglichen Praxis ist.1 Der empirische Hintergrund meiner folgenden Überlegungen sind ethnographische Beobachtungen in Grundschulklassen, die mit der Videokamera durchgeführt wurden. In diesem Beitrag geht es dabei um das Verhältnis von forschendem Beobachten und alltäglichem Beobachten im Klassenzimmer: Von ethnographischer Beobachtung und der Beobachtung dieser Beobachtung durch die Akteure. D. h., wir versuchen einmal unsererseits zu beobachten, welche Beobachtungssituationen für die normalen Akteure dadurch entstehen, dass wir sie professionell beobachten. In der empirischen Forschung wird die Anwesenheit und Sichtbarkeit der Beobachterin und von Aufzeichnungsapparaturen häufig allein als ein methodisches Problem betrachtet. Sie verfälsche die »Natürlichkeit« der Situation zugunsten eines stark selbstkontrollierten Verhaltens der Akteure. Die Vorstellung ist dabei, dass die Beobachteten den Beobachtern »etwas vormachen« und die »normalen« Verhaltensweisen deshalb nicht beobachtet werden könnten. Mit den folgenden Überlegungen geht es mir darum, die produktive Seite dieser Forschungs-Intervention in ein Untersuchungsfeld zu beleuchten. Können wir nicht in der Art und Weise, wie wir als Forschende in bestimmten Handlungssituationen wahrgenommen und einbezogen werden, gerade etwas über die Eigenheiten unseres Forschungsfeldes lernen? Was zeigt uns die Beobachtung der Beobachter, d. h. das Wie unseres Einbezogenwerdens in den laufenden Handlungsvollzug über den schulischen Alltag? Mit der Durchführung der wissenschaftlichen Beobachtung im Klassenzimmer ergibt sich nach dieser Vorstellung die Chance, empirisches Wissen über alltägliche Beobachtungsformen im schulischen Kontext zu gewinnen. Die Leitfrage lautet deshalb: Worin bestehen die Eigenheiten des alltäglichen Beobachtens in schulischen Handlungszusammenhängen? Oder: Gibt es spezifisch schulische Formen des alltäglichen Beobachtens? Es geht im Folgenden um den Umgang der Beforschten mit der beobachtenden Kamera und die Bedeutung dieses Umgangs für den Forschungsprozess und die Forschungsergebnisse. 1
Im Zusammenhang ethnomethodologischer Konzeptualisierungen sozialer Wirklichkeit gilt die Darstellung von »etwas als etwas« als die zentrale Leistung, die wir in Interaktionen zu erbringen haben (vgl. dazu Garfinkel 1976).
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Jutta Wiesemann Normalisierte Beobachter
Als teilnehmende Beobachter rechnen wir in unseren Untersuchungsfeldern immer damit, dass wir sozial »auffällig« werden. Unsere Form des »Bloß-anwesend-Seins« ohne weitere Beteiligung am jeweils laufenden Geschehen provoziert solche Auffälligkeiten.2 Die folgende Situation zeigt dagegen eine Möglichkeit, wie ein normaler Akteur dieses Beobachten »übersieht«: Ich komme nach den Sommerferien das erste Mal in den Klassenraum der 2. Klasse. Im Raum herrscht geschäftiges Treiben. Alle Kinder sind mit Arbeiten beschäftigt. Einige laufen durch den Raum und holen etwas oder bringen etwas an einen Ort. Ich orientiere mich zunächst: Was ist hier los? Laufe an der Wand entlang, um niemandem in den Weg zu laufen. Plötzlich stellt sich mir ein kleiner Junge (Miro) in den Weg. Er steht unmittelbar vor mir und sagt: »Du, müssen wir erst die Aufgabe machen oder...» Er guckt mich nicht an, sondern eher auf Bauchhöhe auf mich. Miro hat mich nur einmal kurz gesehen bei dem Apfelfest mit der anderen 2. Klasse. Er kennt mich eigentlich gar nicht. Frau Honig hat mich auch nicht vorgestellt. Sie ist gerade mit einem anderen Kind beschäftigt. Sie sitzt neben dem Kind am Gruppentisch. Ist ein Erwachsener per se allwissend? Ist ein großer Mensch in einem Klassenraum automatisch ein Lehrer und weiß alles – durchschaut auch sofort alle Regeln und Aufgaben? Ich habe die Erfahrung bereits ebenso in der Klasse von Frau Schulz gemacht. Kinder fragen mich, ohne mich anzugucken oder zeigen mir ihre Ergebnisse und fragen, ob es so richtig ist und in welche Ablage welches Blatt gehört.
Was wir hier beobachten, verweist auf die alltägliche Beobachtungspraxis des Akteurs: Miro hat die Forscherin in die Kategorie »Lehrerin« einsortiert (nicht zum Beispiel in die Kategorie »Mutter von Mitschüler« oder »irgendeine fremde Erwachsene«) – ein alltägliches Verfahren der Normalisierung. Habe ich mich verhalten, wie sich Kolleginnen der Klassenlehrerin verhalten, etwa dadurch, dass ich in einer bestimmten Weise durch den Raum gehe? Ich habe nicht suchend nach meinem Kind Ausschau gehalten, bin nicht auf die Lehrerin mit einem Ansinnen zugegangen... Ich habe mich offenbar so verhalten, dass ich für Miro bis auf Weiteres als Lehrerin »durchgehen« kann. Diese Beobachtungsbeschreibung hebt aus forschungslogischer Sicht zweierlei in den Blick. Die Ethnographin sieht als teilnehmende Beobachterin, wie in diesem spezifischen Feld mit ihr verfahren wird. Als großer Mensch mit einer bestimmten Verhaltensweise scheint sie zuständig für die Regeln des Arbeitens und reflektiert als Selbstbeobachterin ihre Erfahrungen »am eigenen Leib« (Kalthoff 1997, S. 242).3 Was bedeutet dies aus forschungspraktischer Sicht? Kinder als Akteure ihrer sozialen Wirklichkeit sind auch Akteure in Forschungssettings, in denen sie agieren und reagieren. Forscher beobachten Kinder, die Forscher beobachten (oder wie in diesem Beispiel: Forschende als Lehrerin wahrnehmen). Dieser gemeinsame, reflexive Prozess der Herstellung eines Forschungssettings durch Forscher und Beforschte bietet bei systematischer Einbeziehung in die Analysen wertvolle Einsichten in die Ordnung des Feldes. Die Akteure geben auf
2 3
Dies vor allem deshalb, weil »bloßes Zugucken« in normalen sozialen Situationen eine besondere Form der Teilhabe an ihnen ist. Vgl. ausführlich zur Selbst- und Fremdbeobachtung den gesamten Beitrag von Kalthoff (1997).
Ethnographie (machen) mit Kindern in der Schule
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diese Weise Einblick in die lokal gültigen Regeln. Sie weisen uns Rollen und Orte zu und geben uns Aufgaben (vgl. Amann 1997).
2
Das Klassenzimmer als Ort alltäglicher Beobachtungen
In der Schule forschend beobachten ist ein besonderes Unterfangen. Die Schule selbst präsentiert sich auch ohne wissenschaftliche Beobachtung als angefüllt mit unterschiedlichsten Beobachtungsszenarien und vielfältigen Beobachtungsaktivitäten. Das Feld Schule erscheint besonders sensibilisiert für alle möglichen Formen der Beobachtung. Der Schulrat beobachtet die Schulleitung, die Schulleitung das Kollegium, das Kollegium die Schulleitung, die KollegInnen und die Kinder. Die Eltern beobachten die Lehrerinnen und die Schulleiterin. Die Grenzen zwischen Beobachtung und Kontrolle sind fließend. Der Schulrat, die Eltern, die LehrerInnen müssen nicht anwesend sein um als Beobachter präsent zu sein usw. Schülerinnen und Schüler sind ihrerseits nicht nur Objekte der Beobachtung, sondern reihen sich nahtlos in die Beobachtungskultur der Schule ein. Viele Unterrichtsformen erzeugen eine Beobachtungssituation, in der die SchülerInnen auf die Rolle von »bloßen« Beobachtern (Zuhörern) hingeführt werden (vgl. Wiesemann/Amann 2002). Die Allgegenwärtigkeit der Beobachtung in der Schule bedeutet im Alltag nicht, dass sie ständig Thema wäre. Explizit wird sie z. B. aus Sicht der Schülerinnen und Schüler nur in spezifischen Ereignissen wie Tests, Ermahnungen oder Lob. Das Beobachten hingegen ist in schulischen Situationen permanent zu beobachten. Die Beobachtungs- und Kontrollmechanismen der Institution Schule manifestieren sich in konkreten Aktivitäten im Klassenzimmer. Eine der zentralen Aktivitäten aller Akteure in diesem Raum ist nämlich das Beobachten selbst. Das Klassenzimmer ist ein von unzähligen Blicken durchleuchteter und durch diese Blicke gestalteter Raum. Die Schule erscheint als ein Ort von Beobachtern4, an dem Beobachten zu einem schulischen Handlungsmuster wird.
3
Das Projekt: schulische Handlungsmuster
Im Rahmen des Schulbegleitprojektes »Eine Grundschule auf dem Weg zur Öffnung. Schulalltag zwischen Routine und Reform. Schulbegleitung an der ›Regenbogenschule‹«5 konnte die Filmreihe »Schulische Handlungsmuster« um »Das Beobachten« erweitert werden. Die Rekonstruktion von spezifischen Handlungen in der Schule als schulische Handlungsmuster basiert auf der Idee, Schule und Schule-Machen in ihrer Eigentümlichkeit systematisch zu erfassen und zu verstehen. Die Schule als Institution ist gekennzeichnet von vielfältigen Handlungsproblemen, die die Akteure als professionelle LehrerInnen oder SchülerInnen bewältigen müssen, wie zum Beispiel: die Sortierung der Schülerkohorten in 4 5
Schulischer Erfolg könnte von der Fähigkeit, zu beobachten und das Gesehene zu interpretieren, abhängen. Diese Beobachtungskompetenz wäre ein Bestandteil gelungener, weil honorierter schulischer Sozialisation. Zu den Ergebnissen siehe auch Wiesemann (2008).
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Jutta Wiesemann
Jahrgänge, Klassen, Leistungsgruppen und Notenskalen. Die Strukturen, die daraus entstehen, zwingen in spezifische Handlungsschemata: Das Melden und das Drankommen, das Vorsagen und Abgucken sind Beispiele solcher schultypischer Schemata. Im Rahmen dieser Schemata bilden sich verschiedene schulische Lernformate aus. Die Schule wird als Institution sichtbar und SchülerInnen und LehrerInnen als Akteure der Institution in den Blick genommen. Besonders prekär erscheint dabei die Beobachtung der Schulakteure mit der Kamera. Das Gesehene ist jederzeit wieder abrufbar, es ist veränderbar und damit offen für unterschiedlichste Nutzungen und Deutungen. Dies bedeutet auf der einen Seite ein Risiko für die Teilnehmer und setzt ein besonderes Vertrauen in das Forschungsteam voraus. Auf der anderen Seite filmen wir Beobachtungsexperten, die uns Einblicke verschaffen oder verweigern können.
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Ethnographisches Beobachten im Klassenzimmer
Wir bewegen uns also auf mehreren Ebenen: Zunächst wissen wir, dass Beforschte Akteure im Forschungsprozess sind. Wir wissen auch, dass die Beforschten die Forscher beobachten und damit diese in ihre soziale Welt einbeziehen, ihnen sozusagen damit das Tor dazu öffnen. Um im Bild zu bleiben: Wenn das Tor geöffnet ist und ich eintrete, besteht die besondere Lage im Klassenzimmer darin, dass dort bereits ein ausgefeiltes und vielschichtiges Beobachtungssetting etabliert ist. Im Folgenden möchte ich zeigen, wie dieses Setting funktioniert und welche Bedeutung es für die Erforschung des Schulischen im Klassenzimmer hat. Die von uns zusätzlich zur Beobachtung eingesetzte Kamera kann in besonderer Weise zugleich Blicke der Lehrerinnen und Schüler auf sich ziehen und sie einfangen. Sie werden so zu einem für unsere weiteren Beobachtungen handhabbaren Datenmaterial. In ihrem Forschungsprojekt zum Konfliktverhalten von Kindern setzen sich Huhn u. a. (2000) ebenfalls mit dem Einsatz der Videokamera auseinander. Diesen Einsatz verstehen sie zunächst als Störung der sozialen Welt der Kinder und ihrer »Verständigung untereinander« (ebd., S. 195). Mit der Perspektive auf Kinder als die »zentralen Darsteller im Film« (ebd.) versuchen sie jedoch, die Blicke der Kinder hin zur Kamerafrau in ihren Forschungsprozess einzubeziehen und die Bedeutung im Rahmen von Konfliktszenen zu rekonstruieren.6 Der Einsatz der Videokamera bei meinen Arbeiten verfolgt gezielt diese Perspektive der Ko-Konstruktion des Forschungsfeldes durch die Akteure (Mohn/Wiesemann 2007). Die Kamera wird zur teilnehmenden Beobachterin. Dieses Verfahren bezeichnet Mohn als Kamera-Ethnographie und konzipiert kamera-ethnographisches Forschen als ein »Dichtes Zeigen« sozialer Phänomene: »Das Hineingehen in die Situationen, die man beforscht, ist ein Charakteristikum ethnographischen Arbeitens. Ethnographische Daten sind Ergebnis eines professionellen persönlichen Zugangs zum Feld. Dies gilt auch für eine Kamera-Ethnographie und ihr Potential, etwas zu sehen und zu zeigen, um den Preis, selbst dabei gesehen zu werden und sich plötzlich mittendrin zu befinden in den Situationen, die man beforscht. Eine dokumentari6
Zum Einsatz der Kamera in Forschungsprozessen mit Kindern siehe auch Huhn/Schneider 2003 und Huhn 2005.
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sche Nähe resultiert nicht aus dem Verbergen des Beobachters, nicht aus seiner Unauffälligkeit, sondern aus sozialen Beziehungen im Feld und aus dem Einnehmen einer Rolle, die das Feld anbietet. Bewegungsweisen und mögliche Forschungsbeziehungen korrespondieren mit den feldspezifischen Rahmenbedingungen. Ausgerechnet der interaktive Charakter von Beobachtungssituationen ermöglicht es schließlich, auch das ganz Alltägliche aus nächster Nähe filmen zu können« (Mohn 2007). Der Stellenwert einer gezielt gestalteten Forschungsbeziehung für das Gelingen eines Projektes wird durch das Forschungsinstrument Kamera offensichtlich. Die Kamera kann nur als Teil einer sozialen Situation »das ganz Alltägliche aus nächster Nähe filmen« (ebd.). Konkret und im Material zugänglich wird die Beziehung zwischen Forscher und Beforschten durch die verschiedenen Blicke der Kinder in die Kamera.7 Der Blick in die Kamera macht diese zu einem Teil des schulischen Beobachtungsszenarios. Das Kind wird vom Objekt der Beobachtung (in einem Labor) zum Subjekt im Forschungsprozess (in seiner sozialen Welt).8
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Beobachtungsaktivitäten der Akteure als Praktiken der Klassenformierung
Wie zeigt sich nun in den beobachteten Aktivitäten der Kinder und der Lehrerin, in denen sie die beobachtende Kamera beobachtend einbeziehen, die Bedeutung, die sie der Situation geben? Inwieweit verweisen sie damit auf ein charakteristisches schulisches Handlungsmuster? In den folgenden drei Szenen geht es um die Herstellung einer gemeinsamen Klassenöffentlichkeit. Gerade in solchen Szenen der Klassenformierung, der Synchronisierung, werden vielschichtige Beobachtungsaktivitäten von den Akteuren in Gang gesetzt. Die Klasse und das einzelne Kind sind Objekt subtiler, für das Gelingen der Synchronisierung notwendiger Beobachtungsvorgänge, die von Lehrerinnen und SchülerInnen jeweils spezifisch gestaltet werden und unterschiedliche Bedeutungen tragen. Dies können sein: Kontrolle, Überwachung, aber auch Neugier, Interesse oder Kooperationsangebote. Daniela: Daniela ist mit Karteikarten und ihrem Stift beschäftigt, schaut kurz, was hinter ihr geschieht und wendet sich dann ihrer Arbeit wieder zu. Die Lehrerin grüßt nun ihr »Guten Morgen« in den Klassenraum. Die Klasse antwortet im Chor – Daniela nicht. Das Hinzukommen der Lehrerin wird von ihr nicht sichtbar registriert. Die mehrmalige Anrufung ihres Namens hat ihre körperliche Hinwendung »nach vorne« zur Folge. Daniela beobachtet die Klasse und die Lehrerin. Nach Aufforderung der Lehrerin legt Daniela ihren Stift auf den Tisch und blickt nach »vorne«, also zur Lehrerin. Eine Mitschülerin, Carmen, liest einen 7
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Zu den Variationen der Blicke siehe den zweiten Teil des Films »Beobachten und beobachtet werden«. Hier werden sechs Varianten der Vereinnahmung der Kamera in die Klassensituation sichtbar: Die Kamera als Neue, die Kamera wird Teil der Klassensituation, die Kamera wird zum Teilnehmer am moralischen Diskurs, die Beobachtung (...gehört immer dazu), die Beobachtung der Beobachtung (auch die Kamera wird beobachtet, genau wie die anderen, was macht sie?), Ach ja, wir werden beobachtet! (...das kann auch mal nerven, oder: da ist ja noch die Kamera, die sich immer wieder auch auf mich richten kann). Zur Beobachtung in erziehungswissenschaftlicher Forschung siehe auch Beck/Scholz 2000 und Scholz 2005.
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Jutta Wiesemann Brief vor und Daniela scheint nach und nach innerlich und äußerlich die Klassensituation wieder zu verlassen hin zur Wiederaufnahme ihrer Arbeit mit den Karteikarten. Ihre Rückzugsaktivität hat zunächst Erfolg, d. h. sie wird nicht gestört oder sie fällt nicht auf, wie sie eine Karteikarte beschriftet und in eine Box einsortiert. In dem Moment als Carmen mit dem Vorlesen fertig ist und die Klasse schweigt, scheint die Lehrerin Daniela wieder in den Blick zu bekommen. Daniela jedenfalls reagiert auf die Stille: Sie schaut auf und entdeckt den Blick der Lehrerin. Das verschämte Lächeln und das Aufgeben ihrer Tätigkeit – sie legt den Stift wieder auf den Tisch – markiert ihr Einverständnis mit der vorher ausgehandelten Situationsdefinition: Sie hat gegen eine Vereinbarung verstoßen und ist dabei erwischt worden. Ihr Lächeln wirkt wie eine kleine Entschuldigung. Daniel: Daniel beobachtet die Lehrerin und das Geschehen um ihn herum – die Lehrerin beobachtet die Klasse. Seine Beobachtungen wirken unkonzentriert, da seine Blicke hektisch hin und her schweifen. Daniel sitzt nicht still, sondern ist auf seinem Platz eigentlich ständig in Bewegung. Daniela kommt nun in die Klasse. Er verfolgt sie unruhig mit seinem Blick, bis sie neben ihm – im Bild nicht sichtbar – sitzt. Er beugt sich in ihre Richtung und beginnt mit ihr zu sprechen. Die Lehrerin baut genau in diesem Moment in ihren Sprechtext an die Klasse mit erhobener Stimme den Anfang seines Namens ein. Daniel versteht dieses deutliche und laute Betonen eines Wortteiles der Lehrerin mitten im Satz als Ermahnung (»in der nächsten Stunde«). Er führt seine Hand in schneller Bewegung zum Mund – erwischt! Kurzfristig wendet er sich dem Klassengeschehen zu. Der Lehrerin scheint diese Zuwendung nicht deutlich genug. Sie nennt nun wieder mitten in ihrem Text an die Klasse mit erhobener Stimme und ärgerlichen Unterton seinen vollständigen Namen. Daniel windet sich auf seinem Stuhl. Emil: Emil sitzt zu Beginn des Unterrichts gedankenverloren beschäftigt mit dem Kneten eines Radiergummis oder Ähnlichem und ohne sichtbaren Kontakt zur Klasse an seinem Platz. Mit dem Aufblicken sieht er die Kamera auf sich gerichtet. Nach und nach scheint er zu erkennen, dass er beobachtet wird und schaut sofort, Orientierung suchend, um sich herum. Er legt das Objekt in seinen Händen sofort vorsichtig, fast unauffällig auf den Tisch, faltet die Hände, blickt noch einmal in die Kamera, wie um sich zu vergewissern, ob nun alles in Ordnung ist, blickt dann nach »vorne« zur Lehrerin.
Erkennbar wird, dass die Herausforderung bei der Klassenformierung um situationsgerechte Beobachtungskompetenzen der Akteure geht. Lehrerinnen wie SchülerInnen erzeugen durch die wechselseitige Beobachtung die gemeinsame Situationsdefinition. Emil zeigt uns deutlich auf – mit seinem Blick direkt in die Kamera –, dass er bemerkt, etwas im laufenden Geschehen übersehen zu haben. Wahrscheinlich hat ihn die veränderte Bewegungsund Geräuschkulisse im Klassenraum dazu verleitet aufzuschauen, den Kamerablick zu registrieren und sich wieder zu dem Geschehen um ihn herum in Beziehung zu setzen.
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Die Klassenformierung geschieht über Blicke und Beobachtungen. Die Klassenakteure beobachten die Blicke selbst, aber auch die Bewegungen, das Gesagte und die unterschiedlichen Geräuschkulissen im Raum. Das mitlaufende Beobachten ist eine notwendige, zentrale Routinehandlung aller Akteure in der Schule, besonders im Klassenzimmer. Eine sichere und gekonnte Nutzung von Beobachtungsstrategien bzw. Interpretation der Beobachtungen kann für die SchülerInnen von Vorteil sein und wie im Fall der drei Kinder gesehen, eine öffentliche Maßregelung verhindern. Die Fähigkeiten dazu sind bei den Kindern sehr unterschiedlich ausgeprägt. Daniela beherrscht erkennbar virtuos die Nutzung von Beobachtungsinformationen. Sie zeigt ihre mühelose Anpassung an die Klassensituation und kann dabei spielerisch und im Einvernehmen mit der Lehrerin ihre Eigeninteressen einbauen. Emil ist in der Lage, stillschweigend und fast ohne Bewegung sein Beobachtungsdefizit aufzuholen und fügt sich schnell den Klassenformierungsaktivitäten. Daniel hingegen kann sich trotz beobachtbarer Signale und deutlich beobachtender, fast fixierender Blicke der Lehrerin nicht den erwarteten Formierungsaktivitäten unterordnen. Er bleibt unruhig, windet sich auf seinem Stuhl hin und her und wird von der Lehrerin ermahnt. Zwei Aspekte scheinen von Bedeutung für den Prozess der Klassenformierung:
Beobachten können und Situationen interpretieren und den Körper und den Bewegungsdrang in spezifischen, so erst zu erkennenden Situationen zu kontrollieren.
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Schluss
Bis hierher ist deutlich geworden, in welcher Weise gerade der Klassenraum ein besonders prekäres Feld für forschendes Beobachten ist. Die Kamera wird zu einem Teil des immer schon vorhandenen Beobachtungssettings. Sie erhält die Rolle eines herausgehobenen Erwachsenen. In manchen Situationen kann sie mehr oder weniger dezent auf ein Geschehen hinweisen, die Akteure an die Öffentlichkeit ihrer Handlungen erinnern und sie disziplinieren. Für die Forschung im Klassenzimmer ist die Tatsache der Einbindung der ethnographischen Beobachtung der Kamera in die Beobachtungsstrukturen des Klassenraumes von zentraler Bedeutung. Unser Beobachten wird offenbar zu einer Variante derjenigen Beobachtungen gemacht, denen die SchülerInnen »normalerweise« (d. h. in unserer Abwesenheit) ausgesetzt sind und an denen sie durch eigene Beobachtungen teilnehmen. Die SchülerInnen befinden sich im ihnen bereits vertrauten Spannungsfeld von Beobachtung und Beobachten. Sie stellen für die Forschungsbeobachtung – wie für andere – Beobachtbarkeit her oder sie verweigern sie. In der bislang vorgeführten Auseinandersetzung mit schulischer Beobachtung als einer Praxis der SchülerInnen und den ethnographischen Beobachtungen mit der Kamera wird die Relevanz des situierten Beobachtens erkennbar. Die Kamera wird Teil der normalen Unterrichtssituation. Beobachten und Beobachtet-Werden ermöglichen den Akteuren die gemeinsamen Situationsdefinitionen: Dies gilt für die Situation der SchülerInnen wie für die Beobachtungssituation der Ethnographin.
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Jutta Wiesemann
Aus der Sicht der SchülerInnen wird die Herstellung der Beobachtbarkeit zur zentralen Handlungsanforderung: Vorführen. Beobachten, Verbergen, Zeigen, So-tun-als-Ob sind dabei die typischen Lern- und Handlungsformate. ForscherInnen an der Schule reihen sich in die etablierten Beobachtungsstrukturen der Schule ein. Für die Kinder sind wir eine Erweiterung des schulischen Beobachtungssystems. Sie können uns beobachten lassen oder uns etwas verheimlichen oder so tun als ob. In jedem Fall werden wir als Beobachter beobachtet. Im diskutierten Filmmaterial geht es darum, den schulischen Situationen näher zu kommen, ihre Ablaufstruktur als ein mikroskopisches, kleinteiliges Geschehen zu entziffern. Die Szenen zeigen eine Feinabstimmung als lokale Choreographie: Die Lehrerin und die Klasse kooperieren fortlaufend in der Herstellung der schulischen Situation; sie sind in ein Wechselspiel eingebunden, aus dem sie als Rollenträger nicht einfach heraustreten können. Das Wechselspiel heißt: fortlaufende Beobachtung. Der minutiöse und mikroskopische Blick auf die Mikrostrukturen sozialen Geschehens eines teilnehmenden Beobachters im Klassenzimmer (mit und ohne Kamera) kann die Methoden der Schulakteure bei der Hervorbringung des Modells »Schule machen« ins Licht rücken. Die Beobachteten bringen ihr Wissen darüber wie Schule gemacht wird explizit hervor, sobald sie beobachtet werden. Anders gesagt: Die Schülerinnen und Schüler machen uns nicht irgendetwas vor, sie zeigen uns, wie sie mit dem normalen Beobachtet-Werden umgehen: »Man dringt nicht eigentlich in eine andere Kultur ein, wie es die maskulinistische Metapher behaupten möchte. Man stellt sich ihr in den Weg, und sie verkörpert sich und fängt einen ein« (Geertz 1997, S. 56).
Literatur Amann, K. (1997): Ethnographie jenseits von Kulturdeutung. Über Geigespielen und Molekularbiologie. In: Hirschauer, S./Amann, K. (Hrsg.) (1997): Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie. Frankfurt a. M., S. 298-330. Beck, G./Scholz, G. (2000): Teilnehmende Beobachtung von Grundschulkindern. In: Heinzel, F. (Hrsg.) (2000): Methoden der Kindheitsforschung. Ein Überblick über Forschungszugänge zur kindlichen Perspektive. Weinheim u. München, S. 147-170. Garfinkel, H./Sachs, H. (1976): Über formale Strukturen praktischer Handlungen. In: Weingarten, E. u. a. (Hrsg.) (1976): Ethnomethodologie. Beiträge zu einer Soziologie des Alltagshandelns. Frankfurt a. M., S. 130-176. Geertz, C. (1997): Spurenlesen. Der Ethnologe und das Entgleiten der Fakten. München. Huhn, N. u. a. (2000): Videografieren als Beobachtungsmethode in der Sozialforschung – am Beispiel eines Feldforschungsprojektes zum Konfliktverhalten von Kindern. In: Heinzel, F. (Hrsg.) (2000): Methoden der Kindheitsforschung. Ein Überblick über Forschungszugänge zur kindlichen Perspektive. Weinheim u. München, S. 185-204. Huhn, N. (2005): Videographie. In: Mey, Günter (Hrsg.) (2005): Handbuch Qualitative Entwicklungspsychologie. Köln, S. 413-434. Huhn, N./Schneider, C. (2003): Forschungserfahrungen mit Körpersprache von Kindern. Visuelle Interpretation als Herausforderung zum Perspektivenwechsel. In: Hengst, H./Kelle, H. (Hrsg.) (2003): Kinder, Körper, Identitäten. Theoretische und empirische Annäherungen an kulturelle Praxis und sozialen Wandel. Weinheim u. München, S. 183-204. Kalthoff, H. (1997): Fremdrepräsentation. Über ethnographisches Arbeiten in exklusiven Internatsschulen. In: Hirschauer, S./Amann, K. (Hrsg.) (1997) : Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie. Frankfurt a. M., S. 240-265.
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Forschungsfilme Beispiele schulischer Handlungsmuster I. Auf das Ergebnis kommt es an. Dörsdorf 2002. Kamera und Schnitt zus. mit Klaus Amann. Beispiele schulischer Handlungsmuster II. Das Melden und das Drankommen. Dörsdorf 2003. Kamera und Schnitt zus. mit Klaus Amann. Beispiele schulischer Handlungsmuster III. Das Beobachten. Dörsdorf 2004. Kamera und Schnitt zus. mit Klaus Amann.
Dichtes Zeigen beginnt beim Drehen Durch Kameraführung und Videoschnitt ethnographische Blicke auf Unterrichtssituationen und Bildungsprozesse entwerfen Bina Elisabeth Mohn
Das »unsichere Terrain« ethnographischen Forschens ist für wissenschaftliche Erkenntnisprozesse eine besondere Chance, geht es doch in der Ethnographie um die Ermöglichung neuer und häufig überraschender Wissensaspekte – nicht um ein Abprüfen von Hypothesen. Unsicherheit ist sozusagen das Programm einer ethnographischen Forschungshaltung, die gerade nicht von den eigenen Gewissheiten, sondern systematisch davon ausgeht, alles könne auch ganz anders sein, als man dachte. Das Feld darf und soll alltägliches Vorwissen gründlich verunsichern, darf »fremd« sein oder »befremdet« werden (Amann/Hirschauer 1997). Mein Text plädiert dafür, die Kamera nicht in den Dienst einer Beseitigung dieser Verunsicherung zu stellen, sondern sie im Rahmen dieser offenen und öffnenden Wahrnehmungsprozesse und Formulierungsversuche zu nutzen: Durch die Kamera wird das Forschungsterrain nicht »sicherer«, gewinnt aber an Entdeckungspotential. Dichtes Zeigen beginnt beim Drehen? Gerade ethnographische Verfahren betonen doch, dass sie vorab gar nicht wissen können, was es letztendlich wohl zu zeigen geben wird! Der Slogan Dichtes Zeigen beginnt beim Drehen verweist auf eine paradoxe Charakteristik ethnographischen Forschens: Es spielt sich zugleich zwischen methodisch geschulter Wahrnehmungsfähigkeit und dem eigenen Vorstellungsvermögen ab, das nicht zuletzt im Kontext wissenschaftlicher Disziplinen ankert. Im ethnographischen Schreibprozess mag eine solche Dynamik zunächst vertrauter erscheinen als im Umgang mit der Kamera: Die Feldforschungsnotizen schreibender Ethnograph/innen sind ihre ersten Versuche, das, was sie im Feld hören und sehen, vielleicht auch schmecken, riechen und fühlen, in Worte zu fassen, vorläufig zu skizzieren und dabei einer Retrospektive, weiteren Bearbeitung und textuellen Transformation zugänglich zu machen, bis hin zu einer interpretativ verdichteten Beschreibung. Auch eine Text-Ethnographie bewegt sich dabei im Rahmen ihres Mediums: 1 des Schreibens und der Schrift. Eine Ethnographie, die sich nicht als Sammlertätigkeit oder Informanten-Ethnographie versteht, sondern als eine Beschreibung impliziter Sinnstrukturen kultureller Praxis, gerät schon beim Versuch, zunächst »bloß« zu notieren »was ist«, in einen durchaus konstruktiven Prozess. Wie Clifford Geertz (1990, 139 f.) feststellte, ist Ethnographie hausgemacht 1
In sozialwissenschaftlichen Forschungszusammenhängen wird häufig davon gesprochen, mit teilnehmender Beobachtung und Videographie zu arbeiten. Zwei Personen teilen sich den Job: Die eine schlüpft in die Rolle des beobachtenden Ethnographen, die andere soll Daten für eine videogestützte Ethnographie aufzeichnen. Das Beobachten scheint hier ohne Medium, der Kamera-Gebrauch ohne Beobachtung auszukommen. Kamera-Ethnographie versteht sich jedoch selbst als Ethnographie: Beobachtungen werden mit Hilfe einer Kamera aufgezeichnet und durch Videosequenzierung und Montage bearbeitet, während schreibende Ethnograph/innen ihre Beobachtungen über ein Notizbuchverfahren und textuelle Verfahren ins Medium der Schrift bringen.
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und liefert Beschreibungen der Beschreibenden, nicht der Beschriebenen. Stefan Hirschauer nennt dies: Etwas zur Sprache bringen, das vorher nicht Sprache war.2 Bringen wir nun die Kamera ins Spiel: Wie verhält es sich mit der ethnographischen Beschreibungsleistung, wenn wir mit einer Kamera anstelle von Notizblock und Stift Feldforschung betreiben? Inmitten unstrukturierter Visualität stellt sich das Problem einer visuellen Artikulation durch Kameragebrauch ganz ähnlich dem Verbalisierungsproblem schreibender Ethnographinnen und Ethnographen. Die mit einer Kamera formulierten Bilder und audiovisuellen Sequenzen werden nicht im Feld schon vorgefunden, lassen sich nicht einfach »einsammeln«. Sie werden entworfen, durch Blicke der Blickenden. Daher ist es treffend, die Kamera mit einem Caméra Stylo (Kamera als Federhalter) zu vergleichen, den wissenschaftliche Autor/innen benutzen, um ihre Beobachtungen in Form audiovisueller Field Notes aufzuzeichnen. Es entstehen dabei materialisierte Spuren der ethnographischen Blicksuche im Feld. So wie Geertz das ethnographische Schreiben als ein schriftstellerisches Tun ernst nahm, kann bei einem ethnographischen Kameragebrauch von bildender Forschung und einem filmischen Genre gesprochen werden. Die Bildsequenzen haben eine Autorschaft und liefern gerade deshalb ein Potential, persönlich verantwortetes Hinschauen mit späterem Zeigen-Können zu verknüpfen: Indem sie es wagen, etwas in den Blick zu nehmen und durch den Bildausschnitt der Kamera zu thematisieren, sind kamera-ethnographische Video-Sequenzen »auf dem Weg«, etwas zu sehen und haben dabei den Charakter von Skizzen. Ethnographisches Beschreiben sozialer/kultureller Praxis, ob nun mit Notizbuch oder mit Caméra Stylo, findet in einem anderen Genre statt, als die auf technische Aufzeichnung setzenden Dokumentationsverfahren, auch wenn diese verwirrender Weise oft »Videographie« genannt werden. Kamera-Ethnographie plädiert für eine Akzentverschiebung des Kameragebrauchs hin zur ethnographischen Blick- und Bildarbeit. Zu diesem Zweck unterscheidet sie fünf ethnographische Forschungsphasen, von denen keine einzige als »vor den Blicken« konzipiert wird:
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Phase 1: Blickschneisen Die Kamera wird zum »Caméra Stylo«. Ohne festen Drehplan werden Beobachtungen in audiovisuelle Field Notes übersetzt. Phase 2: Versuchsanordnungen Beim fokussierenden Schneiden werden durch experimentelle Arrangements der Bildsequenzen weitere Forschungsfragen aufgeworfen, Begriffe gebildet und Blickstrate-
Hirschauer schreibt: »Es sind die Probleme des Stimmlosen, Stummen, Unaussprechlichen, Vorsprachlichen und Unbeschreiblichen, die das ethnographische Schreiben zuallererst zu lösen hat. In ihm wird etwas zur Sprache gebracht, das vorher nicht Sprache war. Für diese Aufgabe einer Verschiebung der Artikulationsgrenze muss sich die Beschreibung von der Logik der Aufzeichnung abwenden und zu einer theorieorientierten Forschungspraxis werden, die nicht nach ihrer Dokumentationsleistung, sondern nach ihren analytischen Leistungen zu bewerten ist« (2001, 429). »Nennen wir es die Schweigsamkeit des Sozialen«, schlägt Hirschauer vor: »Mit dieser Metapher ist nicht nur das bezeichnet, was die Alltagssprache unter Schweigen versteht – ein Aussetzen der Sprechpraxis – sondern zum einen eine Leerstelle für eine auf Verbaldaten fixierte Forschung, zum anderen eine stumme Herausforderung für Beschreibungen, etwas eben doch ›zum Sprechen zu bringen‹, das Widerstände gegen Verbalisierungen bietet« (ebd., S. 437). Beim Versuch einer kameraethnographischen Beschreibung entpuppt sich die »Schweigsamkeit« als eine Bild-Losigkeit des Sozialen. Widerstände stellen sich beim audiovisuellen Forschen jedoch auf andere Weise, z. B. in Form der Unübersichtlichkeit des Sichtbaren.
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gien entworfen. Danach geht es idealerweise mit geschärftem Blick wieder zurück in eine Phase 1 (zirkuläres Forschen). Phase 3: Dichtes Zeigen Die erarbeiteten Sichtweisen, Beschreibungen und Analysen werden schließlich im Hinblick auf eine audiovisuelle Publikation rhetorisch, ästhetisch, dramaturgisch und didaktisch bearbeitet. Phase 4: Rezeption des Gezeigten In der Rezeption ereignen sich ausgehend vom Video die Blickstile der jeweiligen Rezipienten, was Stoff für Feedback-Erhebungen bietet. Phase 5: Reflexion Medialität, Methodologie, Gezeigtes und nicht Gezeigtes zu reflektieren und so das eigene Tun mit zu beforschen, sorgt für kontinuierliche methodologische Innovation.
Schon beim Drehen das Hinschauen zuzulassen ist für den weiteren analytischen Prozess und die spätere Zeigekompetenz einer Kamera-Ethnographie grundlegend. Welche Chancen liegen darin und wie kann dies praktisch durchgeführt werden? 1
Erkundung statt Dokumentation
Betreten wir Schulen oder Kindergärten mit einer Video-Kamera, so können wir nicht in allen Räumen der Einrichtung zugleich sein, schaffen es nicht, auch nur in einem dieser Räume alle Kinder auf einmal zu beobachten, ständig verpassen wir etwas und nie ist alles im Blick. Der alltägliche Sprachgebrauch zum sozialwissenschaftlichen Kameraeinsatz scheint den selektiven Wesenszug einer wahrnehmenden Empirie zu ignorieren: Wir filmen »Unterricht«, videographieren »Schulstunden«, dokumentieren »Situationen«. Es herrscht ein genau genommen gänzlich unnatürliches Bestreben nach technischer Reproduktion unserer Gegenstände des Forschens, die sich aber gerade nicht in sinnentleerter Gesamtschau von oben oder außen her erschließen lassen. Was wir als Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaftler untersuchen, ist definitiv »von Sinnen«. Komplexe Situationen, mit mehreren oder gar vielen beteiligten Personen, sind in sich multiperspektivisch und ihrem Wesen nach weder einfach zu überschauen, noch in einem Anlauf zu erfassen, geschweige denn abzubilden, so dass man sie schließlich »im Kasten« hätte.3 Die Idee, eine Situation durch ununterbrochen laufende Kamera in weitwinkliger Einstellung »mitzuschneiden«, scheitert an der Aufgabe, Aspekte der zu untersuchenden Komplexität Zug um Zug in den 3
Im Abschlussbericht (DFG-Projekt Jugendkultur in der Unterrichtssituation (2002-2005), G. Breidenstein, Zentrum für Schulforschung und Lehrerbildung (ZSL) Universität Halle-Wittenberg) heißt es: »Die Unterrichtssituation setzt sich für die Jugendlichen aus zwei Anforderungsbereichen zusammen, denen sie gleichzeitig ausgesetzt sind und in deren jeweiliger Erfüllung sie oft eine überraschende Kunstfertigkeit zeigen: Einerseits kommen sie im »Schülerjob« den Anforderungen des Unterrichts nach (aufpassen, sich melden, schreiben, rechnen, mit dem Partner arbeiten oder in einer Gruppe, ein Referat halten, eine Klausur schreiben usw.). Andererseits bewältigen sie die Aufgabe, jahrelanges Mitglied einer Schulklasse zu sein und etwas miteinander zu tun haben zu müssen. Dabei zeigt sich gerade durch die Beobachtung einzelner Schülerinnen und Schüler, dass Unterricht nicht nur ein Ort der Peerkultur ist, sondern auch, wie radikal Unterricht in einzelne peerkulturelle Welten zerfällt, die nur noch punktuell über die Lehrperson synchronisiert werden. In diesem Sinne zerfällt die Schulklasse bei näherer Betrachtung in eine Vielzahl von mehr oder weniger stabilen sich voneinander abgrenzenden Teilwelten.«
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Blick zu nehmen und durch bildnerische Fokussierung dem weiteren Forschungsprozess zu erschließen. 4 Vieles wird in der Interpretation übersehen, da es entweder nicht visuell fokussiert oder aus einer ungünstigen Position heraus aufgenommen wurde und sich deshalb seiner Thematisierung entzieht. Medien und Methoden erzeugen ihre Themen: VideoMitschnitte etwa stehen häufig im Dienst konversationsanalytischer Forschungsinteressen, bei denen ununterbrochene Ton- und Bildaufzeichnungen einem Studium sequentieller Verlaufslogik zugrunde gelegt werden und zu diesem Zweck auch taugen. Die Kamera wird zu einer Art »visuellem Tonband«, das als Stütze der Tonspur (videogestützte Forschung) fungiert. In der Regel bleibt dabei jedoch das Gesprochene die themengenerierende Ebene. Kamera-Ethnographie verzichtet auf flächendeckenden Dokumentationsanspruch und setzt stattdessen auf die Erkundung des Feldes im Hinblick auf ein Forschungsinteresse. Indem sie auf Blick- und Bildentwürfe setzt, kann sie das nicht, noch nicht oder nicht mehr Sprachliche beforschen. 2
Blickschneisen
Situationen mit der Kamera erkunden zu können, setzt auf den repetitiven Charakter routinierter Praktiken. Was gleichzeitig stattfindet, kann nacheinander abgearbeitet werden. So ist es möglich, die für vertiefende Fokussierungsprozesse erforderliche Selektivität einzugehen und dabei Material mit audiovisueller Qualität zu generieren. Möglichkeiten, Komplexität selektiv handhabbar zu machen, könnten in der ethnographischen Unterrichtsforschung z. B. auf Entscheidungen beruhen, mit der Kamera einzelne Schüler oder die Lehrerin durch den Schultag zu begleiten, bei Tischgruppe A zu verweilen oder sich auf herumlaufende Kinder zu konzentrieren; möglich wäre es, systematisch zu beobachten, welche Welten sich auf, unter oder über den Tischen im Klassenraum auftun; sich vom Umgang mit Dingen her dem Schulalltag zu nähern, kann ebenfalls eine ergiebige Strategie sein, etwa von Papier, Pult oder Pausenbrot aus; Praktiken zu beobachten, etwa das Lesen oder Rechnen, das Betreten des Klassenraums oder die Spielarten, sich zu melden etc., ermöglichen es ebenfalls, »etwas zu sehen«. Die Kamera ist in Händen ethnographischer Beobachter/innen gewissermaßen unwissend und wissend zugleich, denn sie lässt Fokussierungen in einer Art dialogischer Improvisation entstehen: Themen des Feldes und Interessen der Forschenden finden sich. Zu einer solchen ethnographischen Blick- und Bildarbeit gehört zweierlei: Offenheit, um etwas in den Blick geraten zu lassen, was zuvor weder gewusst noch erwartet wurde, und auf der anderen Seite desselben Vorgangs der Einsatz von Wissen und Imagination, um dem, was im Feld wahrzunehmen ist, Gestalt zu verleihen, d. h. um es »zu sehen« und mit der Kamera in den Blick nehmen zu können. Dabei kommen Relevanzen der Forschungsdisziplin, Forschungsinteressen, aktuelle Diskurse ins Spiel. Die Interdependenzen zwischen den sinnasketischen und im nächsten Atemzug sinnstiftenden Strategien lassen sich in der Ter-
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Die Totale kann eine adäquate Kamera-Einstellung für Forschungsfragen sein, die z. B. auf räumliche Arrangements und choreographische Situationsaspekte zielen. Sie thematisiert dann diese Ebene und zugleich viele andere nicht. Mit einer Steigerung an Objektivität hat dies nichts zu tun.
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minologie der »Spielarten des Dokumentierens« (Mohn 2002) beschreiben und können im Rahmen eines prozessualen Forschungsverständnisses in der Zeit gehandhabt werden.5 Beispiel: Stundenweise Schulzeit (Lernkörper)6 Ein Beispiel, bei dem während der Unterrichtsbeobachtung unterschiedliche Blickschneisen entworfen und je nach Situation variiert wurden ist das Video »Stundenweise Schulzeit«. Es verfolgt mit audiovisuellen Mitteln die Frage, woraus der Alltag jugendlicher Schülerinnen und Schüler besteht, während sie Schulzeit verbringen. »Stundenweise Schulzeit« ist keine komplette filmische Dokumentation von Unterrichtsstunden. In den auf wenige Minuten verdichteten und in eine fiktive Abfolge gebrachten sieben Schulstundenporträts bleiben die Lerninhalte und didaktischen Konzepte bewusst im Hintergrund der Kamera-Beobachtung. Stattdessen wird anhand wechselnder Blickschneisen in unterschiedliche atmosphärische Akzente und Mikrothemen des Unterrichtsalltags jugendlicher Schülerinnen und Schüler eingeführt. Aufgrund der Blick- und Bildarbeit beim Filmen war es beim anschließenden Schnitt des Videos (Phase 3) möglich, für jeden der sieben Teile einen eigenen, aus der jeweiligen Situation heraus entwickelten Akzent zu setzen: 1. Stunde Die Schülerinnen und Schüler sollen in Einzelarbeit ein vorgegebenes Thema weiter bearbeiten. Sie sitzen ausnahmsweise nicht an Gruppentischen, sondern in den Reihen des Fachraums Biologie, dürfen sich aber beraten und Materialien holen. »Seid ihr irgendwann am richtigen Arbeiten oder nur am Labern?« mahnt die Lehrerin, die bei Fragen zur Verfügung steht. In dieser Situation entsteht ein entspanntes Nebeneinander von Gesprächen und Schreibhandlungen, Rückfragen und Besuchen, Konzentration und Amüsement. Die Kamera folgt einzelnen Schülern bei ihren Bewegungen im Raum. Die Unterrichtsform bietet den Jugendlichen Ge5
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Starkes Dokumentieren fasst Strategien zusammen, die sich um eine Verzögerung des Sinnstiftens beim Forschen bemühen, um den Gegenstand in tieferer oder ungewohnter Bedeutung in den Blick zu bekommen. Hierein fallen sowohl die prominenten dokumentarfilmischen Konzepte der Offenheit und Leere, wie aber auch sozialwissenschaftliche Strategien blickfreier Datenproduktion durch die Unschuld der Technik. Die Dokumentarische Methode der Interpretation beschreibt eine elementare Praxis blitzschnellen Immer-sofortWissens, über die alltägliche Verständigungsprozesse gerade deshalb gelingen, weil beim Deuten nicht gezögert wird. Wissenschaft, so sehr sie auch ihre Opposition zur Alltagspraxis herauskehrt, kann ohne dokumentarisches Interpretieren niemals gelingen. Anti-Dokumentieren stellt eine Gegenbewegung zum Verbergen der Autorschaft beim Starken Dokumentieren dar, will durch Reflexivität das Dokumentarische dekonstruieren, den wissenschaftlichen Autor wieder in den Blick rücken und in die Verantwortung nehmen, gerät dabei aber in einen Bumerang-Effekt, da sie dabei erneut dokumentiert, belegt und behauptet: So wird Wissenschaft gemacht! Paradoxes Dokumentieren schließlich befasst sich mit intelligenten Wechselspielen und postmodernen Zwischenpositionen, die den Prozess in Bewegung halten, bzw. nicht zum Abschluss kommen lassen. Die Spielarten des Dokumentierens lassen sich in ein Bewegungsmodell methodologischer Registerwechsel überführen, das beim ethnographischen Schreiben und Filmen reflexiv gehandhabt werden kann (siehe Mohn 2002). Mohn in: Mohn/Amann (DVD 2006): Lernkörper: Kamera-Ethnographische Studien zum Schülerjob, produziert im Rahmen des DFG-Projektes Jugendkultur in der Unterrichtssituation, PD. Dr. G. Breidenstein, Zentrum für Schulforschung und Lehrerbildung (ZSL) der Universität Halle-Wittenberg.
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legenheiten, den vorgegebenen Lernstoff zur wechselhaften Interaktion mit anderen zu nutzen. 2. Stunde »Vielleicht haltet ihr mal den Mund dahinten?« Der Tonfall hat gewechselt. Ermahnungen, Warnungen und Drohungen prallen am Publikum ab. Die Jugendlichen führen Repertoires der Distanzierung vor: Angefangen von der genervten Mimik über den demonstrativen Umgang mit Nahrungsmitteln bis hin zur Karikierung des eigenen Unterrichtsbeitrages. Parallele Welten in einem rigiden Frontalunterricht. »Es ist heute die letzte Gelegenheit, eure Note zu verbessern«, mahnt die Lehrkraft. »Ich bin mit meiner Note zufrieden«, hebelt ihn die Schülerin aus. Die Gesichter der Schülerinnen und Schüler vermitteln Eindrücke, die von Gleichgültigkeit bis Genervtheit reichen. Weder der Schüler- noch der Lehrerjob scheint rechte Freude aufkommen zu lassen. 3. Stunde Eine Beobachtung im Luftraum des Klassenzimmers: Im Fokus der Kamerabeobachtung sind die sich meldenden Arme der Schülerinnen und Schüler. Ihre Hände erzählen vom Sich-Melden und Selten-Drankommen, von gedehnter Zeit, erstarrten Gelenken und tanzenden Fingerspitzen, die etwas tun, was zu beobachten bisweilen ähnlich exotisch erscheint, wie etwa die Wortschöpfung: »Hand Lungen«. 4. Stunde Ein Test wird geschrieben. Vor dem Hintergrund mucksmäuschenstill sitzender Körper wird mit Hilfe von Zeitlupen eine subtile Bewegungsform beobachtbar: Das Blickwandern. Blicke bewegen sich durch den Raum an der Grenze zwischen körperlichem Ausdruck und einer subtilen Form sozialer Mikro-Interaktion. Geht es darum, sich in der Testsituation zu verorten, Gedanken schweifen zu lassen oder den Ernst der Lage zu teilen? Kaum ist die Testsituation vorüber, begleiten wieder diverse Aktivitäten den O-Ton der Lehrerin. Doch gegenüber dem Unterrichtsthema »Spannung, Ladung und Energie« scheint der Lernkörper in einem eher energiearmen Zustand zu verharren. Die Stimme der Lehrperson bleibt auf Distanz zu diesem sich eher träge zeigenden Publikum.
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5. Stunde »Eure Überschrift lautet: Skizze mit Hilfe des Gradnetzes.« Im eng abgesteckten Rahmen soll eine Aufgabe erledigt werden. Zugleich spricht die Lehrperson von einem Test für Selbständigkeit und Zuverlässigkeit. Arbeit und Spiel verzahnen sich ineinander. Während nebenbei zwischen zwei Tischgruppen eine regelrechte Poststation entsteht, provoziert der Blick eines Jungen in eine fachfremde Mappe einen Machtkampf zwischen Lehrer und Schüler. Der Lehrer redet vom anderen Ende der Welt – zugleich stößt seine Welt hart auf die der jugendlichen Schüler. Die Kamera beobachtet eine Unterrichtssituation paralleler Welten. 6. Stunde »Ich geb euch Zeit, an den anderen beiden Aufgabenstellungen weiter zu arbeiten. Jeder kümmert sich um sich.« Die Schüler nehmen auf unterschiedliche Weisen den gebotenen Zeitraum wahr, um herum zu gucken, sich auszutauschen, nachzudenken oder zu schreiben. Sie lassen Zeit verstreichen, kommunizieren mit Freunden oder bleiben auf sich und ihre Arbeit konzentriert. Ein Nebeneinander verschiedener Typen und Arbeitsstile gerät in den Blick. Phasen der Anspannung und Entspannung wechseln einander ab. Die Atmosphäre dieser Stunde lässt vermuten, dass die erkennbaren Spielräume bei der Nutzung der Unterrichtszeit für das Ergebnis produktiv sein können. Im Anschluss an die Stunde zeigt sich tatsächlich, dass respektable Ergebnisse zustande kamen – scheinbar nebenbei. 7. Stunde »Verteilt die Rollen und schreibt ein Drehbuch für die jeweilige Szene.« Die Kamera begleitet eine der sich bildenden Arbeitsgruppen. Das sechsköpfige Ensemble gerät in ein hierarchisches Rollengefüge. Aus einem eher desinteressierten Unterrichtsteilnehmer wird überraschend der Energie geladene Macher, während ein Mädchen mit Augen flitzenden Blickbewegungen den Eindruck erweckt, dass ihr Platz im Ensemble unklar ist. Ins Zentrum ihrer Inszenierung stellen die Jugendlichen das Zurechtstylen ihrer Mitschüler, dabei die Grenzen der Peinlichkeit genüsslich umspielend. Zum ersten Mal gewinnen wir den Eindruck, dass ein Unterrichtsthema Interesse und Identifikation bei den Jugendlichen hervorruft und die Chance eröffnet, im schulischen Rahmen etwas selbst zu gestalten. Das 35-minütige Video zusammenhängend zu betrachten, strengt an. Trotz und durch variierende Perspektiven und hochselektive Kamera-Einstellungen entsteht der Eindruck, an einem sieben-stündigen Schultag teilgenommen zu haben. Die während der Situationsteilnahme oder beim späteren Sichten des Materials entworfenen Fokussierungen erzeugen die für den weiteren Forschungsprozess erforderliche Konzentration »auf etwas«, auf Teil-
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aspekte eines Ganzen, das erst durch analytische Rekonstruktion in seiner Komplexität begriffen werden kann. 3
Versuchsanordnungen
Was sind das für »Dokumente«, die beim Filmen audiovisueller Field Notes entstehen und wozu taugen sie? Zunächst dienen die skizzenhaften Videosequenzen nach dem Feldaufenthalt dazu, beim Sichten, Sequenzieren und Arrangieren des Materials den Interpretationsprozess für forschende Blicke, Formulierungsversuche und das Aufwerfen weiterer Fragen zu öffnen. Sie erweisen sich in dieser Phase als flexible Zwitter, sind immer zugleich ein Dokument von und für etwas. Was beim Drehen die Frage nach möglichen Blickschneisen durch die Situation war, wiederholt sich gewissermaßen beim digitalen Videoschnitt: Von wo aus befragt antwortet das Material wie? Es geht um Versuche, die am Material tatsächlich auch scheitern können. So schlug etwa eine Video-Schnittfolge zum Thema Langeweile im Unterricht fehl, da jede der zum Thema ausgewählten Videosequenzen bei genauerem Hinsehen immer etwas anderes als Langeweile zeigte: Müdigkeit, Abwesenheit, abgelenkte Beschäftigung, coole Mimik … Fokussierendes Schneiden wurde zur ethnographischen Erfahrung: Langeweile mit einer Kamera einfangen zu wollen, gleicht dem Tanz um ein schwarzes Loch: Eine Soziologie der Emotionen entzieht sich genau genommen beobachtender Methodologie. Verfahren der Sequenzierung und Montage von audiovisuellem Material sind ein Erkenntnisinstrument, über das performative Praktiken differenziert und verglichen, sowie deren Zusammenhänge erprobt werden können. Nicht immer ist zum Verständnis von Praktiken der gesamte zeitliche Kontext einer Situation maßgeblich. Ausgewählte Praktiken und ihre Spielarten lassen sich auch quer zu unterschiedlichen Zeiten und Räumen untersuchen, vorausgesetzt, sie wurden bei der Erzeugung des Videomaterials fokussiert. 7
3.1 Beispiel: Taktik (Lernkörper)
Gewählte Kamera-Einstellungen bedienen konkrete Forschungsfragen. Ebenso verhält es sich auch mit den Längen bei der Sequenzierung des Materials, die – wie die KameraEinstellungen beim Drehen – sowohl anhand von Rhythmen und Relevanzen des Feldes als auch durch Suchbewegungen und Strategien des Forschens zustande kommen. Für den Versuch etwa, Praktiken jugendlicher Schüler daraufhin zu überprüfen, ob man sie als taktische Praktiken8 interpretieren könnte, wurden Szenen des Umgangs mit Heften und Büchern aus diversen Schulstunden gesammelt, in Sequenzen zerlegt, zu Schnittfolgen montiert und auf diese Weise einer konzentrierten Beobachtung zugänglich. Daraus entstand schließlich das Video »Taktik«, das Szene für Szene Wie-Fragen an den Umgang mit Unterrichtsanforderungen stellt. 7 8
Mohn in: Mohn/Amann (DVD 2006). Zum Begriff »taktische Praktiken« siehe M. De Certeau (1988).
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Solch ein fokussierendes Schneiden hebt eine rekonstruktive Forschung nicht aus den Angeln: Sie findet jedoch innerhalb gewählter Forschungsdesigns statt, d. h. evtl. auch innerhalb recht kleiner Ausschnitte und Sequenzen, dort dann aber genau, tief und im konzentrierten Vergleich zueinander. Neben den experimentellen Möglichkeiten beim Zerlegen und Montieren des Materials ist es von unschätzbarem Wert, dass dem Video die Worte fehlen! Dies eröffnet eben jene Irritation und Ratlosigkeit, genau diese produktive Verzögerung, der es bedarf, um alltäglichem Immer-schon-Wissen zu entkommen und am Sehen arbeiten zu können. Dabei bedarf Kamera-Ethnographie der Sprache: Beobachtende VideoSequenzen evozieren geradezu ein vom Audiovisuellen ausgehendes Reden und Schreiben. 3.2 Beispiel: Trennwände (DVD Handwerk des Lernens)
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Das Video »Trennwände« beruht auf der spontanen Entscheidung, sich eine Weile lang für ein kurioses Arrangement im Rahmen einer Unterrichtsstunde zu interessieren, nämlich dafür, wie die Schulkinder (jahrgangsübergreifende Klasse 4-6 einer Berliner Grundschule) die von der Lehrerin eingeführten, wahlkabinenartig aufgestellten Jogamatten handhaben, die bei Bedarf, zur Förderung individueller Konzentration, auf den Tischen aufgebaut werden. Mit der Kamera werden Varianten im Umgang mit den Matten in den Blick gerückt und beim Sichten des fokussierten Materials fällt auf: In den Praktiken der Kinder werden die Matten zu diesem und jenem. An dieser Stelle setzt beim visuellen Forschen das Reden ein. Die analytische Leistung besteht nun darin, im Dialog mit dem Videomaterial Begriffe und Kategorien zu finden, die helfen, das Material zu erfassen, zu differenzieren, zu begreifen. Längst sind die Matten keine Jogamatten mehr und ebenso wenig entsprechen sie dem von der Lehrerin vorgegebenen Ziel, Interaktion zu unterbinden, also »Trennwände« zu sein. Aus Blicken der Blickenden (Fokussierungsleistung beim Drehen) werden nun Beschreibungen der Beschreibenden (Begriffe, die nicht aus dem Feld stammen). Man könnte 10 die Matten »als …« betrachten… Als was? Je nach Szene, erscheint die Matte als Mauer, Wand und Zaun, als Bauwerk und labile Konstruktion, als Versteck, Abschirmung und Sichtschutz, als Kabine, Büro oder private Zone, als Aufstehhilfe und als ein blaues Ding aus Schaumstoff. Die Suche nach Worten am Bild bringt Metaphern ins Spiel. Während Worte durch Metaphern in Bildräume geraten, vermögen es Metaphern, Bilder in Wortspiele zu verwickeln: Betrachten wir es doch mal »als …«. Den metaphorischen Charakter eines Redens am Bild zu erkennen und durch das Wörtchen »als …« zu markieren, stellt ein reflexives Element im Forschungsprozess zur Verfügung und vielleicht gilt, was Michael B. Buchholz für die Psychotherapie feststellt, auch für ein bildethnographisches Forschen? »Gute Therapien gehen mit einer quantitativen Zunahme metaphorischen Sprechens einher…« (Buchholz 2003, I). 9
Mohn in: Mohn/Wiesemann 2007: Handwerk des Lernens: Kamera-Ethnographische Studien zur verborgenen Kreativität im Klassenzimmer, Teil: Interaktionsspiele mit Dingen. Projekt Lernen lernen in der Grundschule. Handlungsroutinen und Alltagspraxen von Schülerinnen und Schülern, Prof. Dr. Jutta Wiesemann, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Kassel. 10 Michael B. Buchholz (1999) widmet dem »als…« ein ganzes Kapitel und schreibt: »… Ich betone das Wörtchen ›als‹ deshalb, weil daran erkennbar wird, dass hier jeweils sehr großformatige metaphorische Resonanzen gebildet werden. Dass es sich um Metaphern handelt, wird nur dann erkennbar, wenn man das Wörtchen ›als‹ stehen lässt. Wird es beseitigt, dann werden aus Metaphern wissenschaftlich scheinende Definitionen.« Zur Metaphern Analyse siehe auch Buchholz/Kleist 1997 und Buchholz 2003.
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Die publizierten Videoschnittfolgen (Forschungsphase 3) zeigen schließlich späteren Betrachtern Kinder im Umgang mit blauen Matten, die dabei ein- und ausgrenzen, aber mit Vorliebe ein reizvolles Spiel spielen, bei dem sie zur Matte greifen, um sich eine zu umgehende Regel aufzutischen: Um die Ecke herum kommunizieren und sich am verbotenen Ort besuchen. Methodentheoretisch lässt sich eine ethnographische Entdeckungsstrategie, die Bedeutung aus konkreten Handlungszusammenhängen heraus erforscht, z. B. mit dem praxeologischen Sprachspieldenken von Ludwig Wittgenstein fundieren.11 Ethnomethodologische Grundannahmen und das Konzept der dichten Beschreibung nach Clifford Geertz (1983/1987) verfahren in dieser Hinsicht prinzipiell ähnlich. 4
Audiovisuell Publizieren
Welchen Platz können Videos im Rahmen textorientierter Wissenschaft einnehmen? Fallen sie nicht aus dem Rahmen? Wie können Video-Publikationen aussehen? Was als »Forschungsergebnis« akzeptiert wird, variiert zu unterschiedlichen Zeiten und zwischen verschiedenen Fachrichtungen. Es gibt eine ganze Palette an Kriterien und stilistischen Vorlieben, die darüber entscheiden, wie viel etwa an Offenheit, Irritation und Unbestimmtheit oder an Fakten und Beweisen gefordert, toleriert oder abgelehnt wird. Ein »dichtes Zeigen« ist nicht zuletzt daran zu beurteilen, ob filmische Produkte ein Reden und Denken auszulösen vermögen, das soziale Realitäten in ihrer Komplexität verstehen hilft. Wie aber äußert sich der zwischen dem Zeigepotential der Videos und Chancen einer »dichten Rezeption« bestehende Zusammenhang? Mündlich? Gegenüber wem? Schriftlich? Wann? Autor/innen kamera-ethnographischer Studien haben damit begonnen, den Spielraum, den das Sehen und Zeigen dem Reden und Denken eröffnet, in den Produkten selber anzulegen oder dort vorzuführen. Vier Varianten sollen kurz vorgestellt werden: Beispiel: Handwerk des Lernens
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Eine Möglichkeit, Film »zu Wort« kommen zu lassen, ist die Kombination kameraethnographischer Studien mit unterschiedlichen Kommentaren, die begleitend zu den Videos auf der DVD abrufbar sind. Dies erprobt »Handwerk des Lernens«, indem zu den Videos je zwei bis drei verschiedene Kommentartexte angeboten werden. So gibt es etwa im Teil »Interaktionsspiele mit Dingen« zum Video »Pferdchen im Morgenkreis« Folgendes wahlweise zu lesen:
Jutta Wiesemann (Kassel, ethnographische Lernforschung): Jedes Handeln im Kreis ist mit dem Pferdchen in der Hand potentiell im Fokus aller Teilnehmer und damit öffentlich. Das Pferdchen wird zum Spielobjekt des Sprecherwechsels: Rederechte werden verweigert, aufgezwungen, gelangweilt angenommen, verzögert eingefordert und angeboten. Dies wird durch den gewählten Fokus der Kamera auf Hände und Pferdchen und durch 11 B. Griesecke (2005a und b) entwickelt eine methodologisch instruktive Lesart Wittgensteins, die seinen Ansatz für eine ethnographische Empirie geradezu empfiehlt. 12 Mohn/Wiesemann (DVD 2007).
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den Gebrauch von slow motion Effekten beobachtbar. Der Morgenkreis als öffentliche Bühne wird genutzt zur Selbstinszenierung, zur Inszenierung von Paaren, Freundschaften und Rivalitäten. Die Dominanz des Spielerischen in diesem Ritual und mit dem Ritual beeinträchtigt in keiner Weise den reibungslosen Ablauf. Es scheint jedoch das Gleichgewicht zwischen der eigentlichen Aufgabe, nämlich dem Stiften einer Gemeinschaft über die Erzählungen jedes Einzelnen, und dem Subtext der Verfahrenspraxis der Schüler ins Wanken geraten zu sein. Wann haben die Teilnehmer womöglich das Ritual überlebt und zu einem Inszenierungsspiel moduliert?
Heike Schreyer (Berlin, Lehrerin der Klasse): Die Art der Übergabe des Pferdchens sagt mir bei genauem Hinsehen sehr viel über die Stimmung und über die zwischenmenschlichen Kontakte zwischen den Kindern. Leider fehlt mir im Schulalltag während des Morgenkreises die Ruhe, diese Details aufmerksam zu beobachten und daraus Schlüsse zu ziehen, weil ich das Gefühl habe, die ganze Gruppe im Blick haben zu müssen und oft bei Störungen eingreifen oder Kinder ermahnen muss, die den Rednern/Rednerinnen ins Wort fallen. So kriege ich die Feinheiten oft gar nicht mit.
Jürgen Streeck (Austin Texas/USA, Mikroanalyse der Interaktion): Wir können zunächst beobachten, dass der Objekttransfer – wie der Turntransfer – scheitern kann. So wie es einerseits zum overlapping talk kommen kann, kann andererseits das Transferobjekt fehlplatziert werden oder auf eine schon volle Hand stoßen. Die Fehlleistungen, die das System zulässt bzw. produziert, sind dabei für den Turn-Transfer und den Objekt-Transfer nicht analog: beide unterliegen unterschiedlichen strukturellen Erfordernissen. Man könnte eine Parallele darin sehen, dass es für beide Systeme Methoden gibt, Fehlleistungen zu korrigieren oder zu reparieren. Außerdem können wir beobachten, dass das System des Objekt-Transfers manipuliert werden kann, denn in diesen Manipulationen manifestiert sich die soziale Kreativität der Kinder. Die Kinder zeigen in ihren Handlungen, dass ihnen die normative Ordnung geläufig ist, dass ihre eigene, autochthone Organisation aber anders beschaffen ist. Improvisierend kann neue Ordnung geschaffen werden, wenn auch nur für eine Sequenz, wenn z. B. B die Modulation übernimmt oder steigert, die A vorgegeben hat. 13
Nutzer/innen der DVD können wählen, welche Texte sie zu den Videos lesen, welchen Blicken sie folgen oder welche weiteren Perspektiven der Betrachtung sie einnehmen mögen. Damit ist die Vorstellung, es gäbe das eine passende Wort zum Bild, zu den Akten gelegt: Kommentare führen mögliche Perspektiven vor und sind keine letztendlichen, abschließenden Interpretationen. Wie bereits die Kamera-Einstellungen beim Drehen, so ist später auch das Reden und Schreiben am Video eine Angelegenheit mit Perspektive: Von wo aus blicke ich wohin? 4.1 Beispiele: Wechselspiele im Experimentierfeld Kindertheater14 Thema dieser Studie ist die Komplexität des Interaktionsfelds Kindertheater. Anstelle von textuellen Analysen, die als Buchprojekt geplant sind, werden den Videos der DVD Fragen vorangestellt: 13 Siehe hierzu auch J. Streeck (2007). 14 Mohn/Wartemann (DVD 2009).
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Wie wird das Theater zum Theater? In welche Wechselspiele geraten Spieler, Kinder und die erwachsenen Begleitpersonen im Theater für die Allerkleinsten? Wie wird ein Rollenwechsel vom Zuschauer zum Akteur angeregt? Welcher Handlungsspielraum wird den Kindern bei ihrem Bühnenauftritt eröffnet? Wie gestalten sie ihn? Was passiert, wenn sich kleine Zuschauer ganz unerwartet verhalten? Wie gehen die Theatermacher mit der Fragilität der Spielvereinbarungen im Theater für die Allerkleinsten um? Wie und wann endet das Theater? Welche Varianten entstehen von Aufführung zu Aufführung und von Kind zu Kind?
Die DVD liefert durch konzentriertes Hinschauen und analytischen Videoschnitt Impulse zur weiteren Erforschung und Diskussion der Wechselspiele zwischen Kindern und Erwachsenen, in denen sich ein Theater für die Allerkleinsten ereignet. Durch die Frageform der begleitenden Worte ist unmissverständlich markiert, dass sich die Studie als Forschungsfilm versteht: Die Nutzer der Studie sind aufgefordert, Eindrücke auszutauschen, Gesehenes in beschreibende Worte zu fassen, analytische Kategorien zu entwerfen, Zusammenhänge zu ergründen, weiterführende Forschungsfragen aufzuwerfen. Nimmt man Wissenschaft als fortwährenden Prozess – als eine Praxis des Wissen-Schaffens – ernst, dann können kamera-ethnographische Studien sich an anderen Stellen in diese Prozesse einklinken, als dies eine das Forschungsprojekt krönende Monographie tun würde: Sie sind selbst Antriebsmomente der Forschung und gehören insofern nicht ins Archiv der allzu abgeschlossenen Dinge.15 4.2 Beispiel: Standby (Lernkörper)16 Körperliche Anwesenheit mit eingeschränkter persönlicher Präsenz, in den späteren Jahren des Schulbesuchs ein fortwährendes Thema. »Standby« regt dazu an, nicht nur über schuli-
sche Formen der Unterrichtsbeteiligung, sondern auch über wohl organisierte NichtBeteiligung nachzudenken.
15 Bei der Studie »Kinder, Künstler, Instrumente« (Mohn/Hebenstreit-Müller 2007) wird ebenfalls eine Frageform als Rahmung der Videos gewählt. 16 Mohn in: Mohn/Amann (DVD 2006).
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Die experimentell angelegte Collage interessiert sich für Körperhaltungen, in denen der Lernkörper uns Ruhezustände zeigt, die bis zur scheinbaren Leblosigkeit reichen. Ein auf den ersten Eindruck unpassender Text wird an die Bilder herangetragen: Technische Definitionen zum Energiesparmodus von Computern:17 Standby: Stromsparender Bereitschaftszustand von Geräten, die zwar eingeschaltet sind, aber gerade nicht benutzt werden. Der Standby-Modus eines PCs wird verwendet, um den Rechner
vorübergehend auszuschalten und in einen energiesparenden Modus zu versetzen, wobei bei Reaktivierung ein sofortiges Weiterarbeiten möglich sein soll. Prinzipiell funktioniert der Standby-Modus so: Auslösung des Modus durch den Benutzer oder ein Programm, beispielsweise nach einer bestimmten Zeitdauer der Inaktivität. Sind alle Vorbereitungen getroffen, werden die Hardwarekomponenten abgeschaltet. Der PC wirkt äußerlich nun, als sei er komplett aus. (…) Bezüglich der Betriebsbereitschaft unterscheidet man mehrere Stufen der Deaktivierung: Verringerung von Systemressourcen, Standby-Modus, Ruhezustand. Beim Ruhezustand wird der PC in einen stromlosen Zustand versetzt, um später an gleicher Stelle weiterarbeiten zu können. Dabei wird der gesamte Arbeitsspeicherinhalt auf die Festplatte gesichert und danach der Computer heruntergefahren. Im Gegensatz zum Standby-Modus schaltet sich der Computer im Ruhezustand komplett ab, sodass keine weiteren Stromkosten anfallen. (…) Sobald der Nutzer eine Taste drückt, werden die abgeschalteten Komponenten wieder aktiviert. Das Gerät kann auch durch eine Fernbedienung aktiviert werden, ohne dass dabei ein direkter Eingriff am Gerät notwendig würde. Fernbedienungen funktionieren allerdings nur, wenn mindestens der Empfangsstromkreis des Gerätes aktiviert bleibt. Das Gerät muss daher permanent am Stromnetz angeschlossen sein.
Die Bilder lassen erkennen, dass insbesondere in den Frontalsituationen eine durchgängige Präsenz jedes Einzelnen weder möglich ist, noch überhaupt erwartet wird. Die Tonspur bietet eine Metapher an, um körperliche Praxis beschreibbar zu machen. Dies hat mit dichtem Zeigen zu tun: Es entstehen provokative Analogien, die dazu anregen, im Schülerensemble schließlich einen Stromkreis zu entdecken, über den die Schüler das recht-zeitige »Wiedereinschalten« still gestellter Körper kollektiv regeln – wenn sie nur am Netz angeschlossen bleiben. Dies trägt erkennbar zum Funktionieren des Unterrichts bei. Dabei scheint es eine Rolle zu spielen, Schulzeit paarweise zu verbringen, denn selten sind zwei nebeneinander sitzende Schüler gleichzeitig im Standby. So kann einer den anderen durch Berührungen oder unter Einsatz einer Blick-Fernbedienung wecken. An diesem Beispiel entzünden sich regelmäßig Kontroversen: Darf man leibhaftige Schüler mit Computern vergleichen? Kann dies als wissenschaftliche Kommentierung gelten? Darf die Ethnographin Worte finden, die nicht im Sprachgebrauch des Feldes veran-
17 Die Definitionen zum Begriff »Standby« stammen aus www.wikipedia.de.
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kert sind?18 Es ist hilfreich, sich klar darüber zu sein, dass ethnographische Blick- und Bildarbeit gerade nicht auf Situationskopien zielt. Stattdessen wird eine Differenz in Anspruch genommen: erstens zu dem, was man zuvor wusste; zweitens zu den real verlaufenden Situationen; und drittens zu dem, was Situationsteilnehmerinnen und Teilnehmer über Situationen zu erzählen haben. So wie Clifford Geertz betont, Ethnographien seien Beschreibungen der Beschreibenden, sind auch die Blick- und Bildentwürfe filmender Ethnograph/innen in der Situation entstanden und bleiben dennoch Blicke der Blickenden. Diese Position halte ich im Anschluss an die »Krise der ethnographischen Repräsentation«19 für bedeutsam, denn erst, indem ethnographische Autor/innen ihre Blicke, Worte und Stimmen wieder erkennbar ins Spiel bringen, markieren sie dialogfähige, streitbare Positionen. Versuche, mit den Augen des Feldes zu schauen oder eine unangemessene wissenschaftliche Autorität zu kurieren, indem man ausschließlich die Beforschten selbst zu Wort kommen lässt, trägt auf lange Sicht wenig zur Qualität von Forschung bei und noch weniger zu einem Austausch mit den Beforschten auf Augenhöhe. Ein letztes Beispiel der Erprobung von Wort-Bild Bezügen: 4.3 Beispiel: Rhythmisches Ensemble (Zu Tisch in der Kita)20 Unter dreijährige Kinder beim Mittagessen in der Kita: Das Video interpretiert die weitgehend vorsprachliche Tischkommunikation als ein »rhythmisches Ensemble«. Während
Michael B. Buchholz dieses Video aus seiner Perspektive als Psychoanalytiker, Musiker und Professor für Sozialwissenschaft betrachtet und dabei spontan kommentiert, wird er gefilmt. Die Kamera-Ethnographin beobachtet einen Sprechakt. Sie interessiert sich für die Performanz des Redens und die Sprache der Hände, die zunächst im Modus erinnernder Wiederaufführung das Trommeln der Kinder auf der Tischfläche wiederholen und so den Rhythmus der Bilder ins Denken aufnehmen – eine transmodale Rezeption. Dann bauen die Hände Zusammenhänge in die Luft, während er sagt: Wenn man das Verhältnis zu den Erzieherinnen vielleicht als Resonanz beschreiben könnte, könnte man das Verhältnis der Kinder untereinander als Improvisation bezeichnen, wie in einem Jazzensemble – einer spielt eine Melodie, eine kleine Phrase, spielt die an, und die anderen 18 Kamera-Ethnographie gibt nicht vor, mit den Augen des Feldes zu gucken und ist daher auch nicht mit einer Medienpädagogik zu verwechseln, die jedoch zuweilen wunderbar daran anschließen kann. Ethnographischer Kameraeinsatz findet im Rahmen wissenschaftlicher Profession statt. 19 Siehe Clifford (1983/1988); Clifford/Marcus (1986); Berg/Fuchs (1993). 20 Mohn/Hebenstreit-Müller (DVD 2007).
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kommen sofort im Groove und im Swing da mit und übernehmen das sofort und machen etwas daraus. Man könnte sagen, es ist wie eine Jazzband, die sich warm spielt. (…) Wenn eine musikalische Gestalt der Kinder zu Ende geführt ist, dann ist sozusagen der optimale Punkt erreicht, wo die Erzieherinnen eingreifen können, um ihrerseits eine andere Ordnung mit sanften Mitteln anregen zu können.
Als Buchholz später von der transmodalen Kommunikation zwischen Müttern und Säuglingen spricht, haben die Rezipienten seines Kommentars im Video bereits Transmodalität visuell erlebt. Mütter rhythmisieren mit ihren Kindern, was der Daniel Stern den transmodalen Kommunikationsmodus genannt hat. Wenn Kinder klappern mit irgend etwas, dann nimmt die Mutter diesen Rhythmus in der Sprache auf, also in einem anderen Modus – transmodale – aber sie nimmt sozusagen einen Teil aus diesem Modus, nämlich den Rhythmus, und wiederholt das und dann haben beide Spaß miteinander und gleichzeitig wird das Kind mit einem kleinen Schritt auf ein anderes Entwicklungsniveau gezogen.21
Das Reden am Video, in diesem Falle zeigen es die Hände, schlägt unterschiedliche Wege ein: sich durchs Bild hindurch und zurück in die Situation versetzen; vom Bild ausgehend sich an entferntere Orte denken und mit neuen Blicken wieder zurückkehren. Erinnern, nachempfinden, vergegenwärtigen, beschreiben, wiederholen, thematisieren, theoretisieren, begreifen, denken. Während das Video beim dichten Zeigen mit der Metapher »Mittagskonzert« operiert, entwickelt Buchholz das Gesehene im Hinblick auf eine »Musikalität der Pädagogik« weiter. 5
Produktiven Paradoxien Raum geben: Ein Fazit
Dichtes Zeigen beginnt beim Drehen und erzeugt sukzessive die für ein Weiterdenken am Video erforderliche Konzentration »auf etwas«, dass es kontinuierlich zu bestimmen gilt. Kamera-Ethnographie bezog bislang Impulse aus Kulturanthropologie, Soziologie, Molekularbiologie, Philosophie, Tanzwissenschaften, Pädagogik und Psychotherapieforschung.22 Epistemologische Positionen und Kontroversen, Impulse und Differenz-Erfahrungen aus diesen Forschungskontexten fundieren das prozessuale Forschungsverständnis einer mit der Kamera durchgeführten Ethnographie. Zentrale Begriffe, wie »Situation«, »Dokument« und »Wissen« werden dabei selbst zu Prozesskategorien:
»Situationen« können als komplexe dynamische Gebilde verstanden werden, bei denen sich Situationsaspekte überlagern, die ethnographisch immer nur partiell erkundet werden können. Doch erreichen Teilstudien solcher Aspekte oft eine tiefe Aussagekraft über das Ganze. »Dokumente« können als Zwitter gelten, in denen Aspekte des Feldes und Blickstrategien der forschenden Disziplin nicht ohne einander zur Darstellung kommen. Sie sind
21 Vgl. Buchholz (2005). 22 Siehe Mohn (2008).
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Bina Elisabeth Mohn Fragmente eines fortgesetzten Formulierungsbestrebens und dabei stets in die Dynamik von Denkkollektiven verwickelt. Der Datenbegriff gewinnt dabei an Performanz und Reflexivität, wird bildhaft und blickbedingt und beansprucht nun auch eine diesbezügliche bildsprachliche Qualität. Bei der Herstellung solcher Video-Notizen und ihrer weiteren Bearbeitung sind immer wieder sowohl professionelle methodologische Indifferenz (vorläufiger Interpretationsverzicht) als auch ein reflektiertes Forschungsinteresse (interpretative Rahmung) die formenden Faktoren. An die Stelle von Situationsdokumenten treten die materialisierten Blickspuren ethnographischer Forschung, die im gesetzten Rahmen dennoch als Dokumente aus dem Feld erscheinen. Später liefern sie den Betrachtern geschnittener Videos Positionierungsmöglichkeiten eines aufbrechenden Denkens. »Wissen« wird als ein Wissen in Bewegung verstanden, dessen Dynamik forciert werden kann durch kamera-ethnographische Studien und ihren evokativen Charakter.
Anstatt anhand der Macht der Bilder zu behaupten: so sei es, denn das sähe man ja …, geht es bei der Kamera-Ethnographie um einen anderen Gestus: Blick-Positionen werden bezogen und angeboten, die zum Dialog einladen: über das Feld und die Möglichkeiten, es zu erblicken. Literatur Amann, K./Hirschauer, S. (1997): Die Befremdung der eigenen Kultur. Ein Programm. In: K. Amann/S. Hirschauer (Hrsg.) (1997): Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie. Frankfurt a. M., S. 7-52. Berg, E./Fuchs, M. (1993): Phänomenologie der Differenz. Reflexionsstufen ethnographischer Repräsentation. In: Berg, E./Fuchs, M. (Hrsg.) (1993): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Frankfurt a. M., S. 11-108. Buchholz, M. B./v. Kleist, C. (1997): Szenarien des Kontakts. Eine metaphern-analytische Untersuchung stationärer Psychotherapie. Gießen. Buchholz, M. B. (1999): Psychotherapie als Profession. Gießen. Ders. (1996/2003): Metaphern der Kur. Eine qualitative Studie zum psychotherapeutischen Prozess. Gießen. Ders. (2005): Die Geburt der Sprache aus dem Geist der Musik. Evolutionstheoretische Überlegungen zum Verhältnis von Psychoanalyse und Musik. In: Oberhoff, B. (Hrsg.) (2005): Die seelischen Wurzeln der Musik. Gießen, S. 87-122. Clifford, J. (1983/1988): Über ethnographische Autorität (On Ethnographic Authority). In: Trickster 16: Flahertys Erben. Die Stunde der Ethnofilmer. München, S. 4-35. Clifford, J./Marcus, G. (Hrsg.) (1986): Writing Culture. The poetics and politics of ethnography. Berkeley u. Los Angeles: University of California Press. Geertz, C. (1983/1987): Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a. M. Ders. (1990): Die Künstlichen Wilden. Anthropologen als Schriftsteller. München, Wien: Hanser. Ursprünglich 1988: Works and Lives. The Anthropologist as Author. Stanford: Stanford University Press. De Certeau, M. (1988): Kunst des Handelns. Berlin, S. 21-24. Griesecke, B. (2005a): »Essayismus als versuchendes Schreiben. Musil, Emerson und Wittgenstein« In: Braungart, W./Kauffmann, K. (Hrsg.) (2005): Essayismus um 1900. Heidelberg, S. 157-175.
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Dies. (2005b): »Am Beispiel ›Versuch‹. Warum Wittgensteins Philosophie die Kulturgeschichte der Wissenschaften herausfordern kann« In: Weigel, S./Barck, K. (Hrsg.) (2005): »fülle der combination«, Literaturforschung und Wissenschaftsgeschichte, Reihe Trajekte. München, S. 267-291. Hirschauer, S. (2001): Ethnographisches Schreiben und die Schweigsamkeit des Sozialen. Zu einer Methodologie der Beschreibung. In: Zeitschrift für Soziologie, 30, 6, S. 429-451. Mohn, E./Amann, K. (1998): Forschung mit der Kamera. In: Anthropolitan: Visuelle Anthropologie. Mitteilungsblatt GeFKA, 6, S. 4-20. Mohn, E. (2002): Filming Culture. Spielarten des Dokumentierens nach der Repräsentationskrise. Stuttgart. Dies. (2008a): Die Kunst des dichten Zeigens: Aus der Praxis kamera-ethnographischer Blickentwürfe. In: Binder, B./Neuland-Kitzerow, D./Noack, K. (Hrsg.) (2008): Kunst und Ethnographie: Zum Verhältnis von visueller Kultur und ethnographischem Arbeiten. Berliner Blätter 46/2008, S. 61-72. Dies. (2008b): Im Denkstilvergleich entstanden: Die Kamera-Ethnographie, in: Graf, E. O./Griesecke, B. (Hrsg.) (2008): Ludwik Flecks vergleichende Erkenntnistheorie. Fleck Studien, Bd. 1, S. 211-234. Streeck, J. (2007): Hände, Handeln, Händel. In: Mohn, B. E./Wiesemann, J.: Begleitpublikation der DVD Handwerk des Lernens.
Kamera-Ethnographische Video-DVDs Mohn, E./Amann, K. (2006): Lernkörper. Kamera-Ethnographische Studien zum Schülerjob. Göttingen. Mohn, B. E./Wiesemann, J. (2007): Handwerk des Lernens. Kamera-Ethnographische Studien zur verborgenen Kreativität im Klassenzimmer. Göttingen. Mohn, B. E./Hebenstreit-Müller, S. (2007): Kindern auf der Spur. Kita-Pädagogik als Blickschule. Kamera-Ethnographische Studien 1 des Pestalozzi-Fröbel-Hauses Berlin. Göttingen. Mohn, B. E./Wartemann, G. (2009): WECHSELSPIELE im Experimentierfeld Kindertheater. Reihe Kamera-Ethnographische Studien. Göttingen.
Gefrorene Momente des Geschehens Feldvignetten aus der Kinder- und Jugendarbeit Marc Schulz
Der pädagogischen Ethnographie wird seit einigen Jahren ein zunehmendes wissenschaftliches Interesse entgegengebracht: Zwar hat sie, gerade innerhalb der insgesamt eher quantitativ angelegten Schulforschung, nach wie vor einen randständigen Status. Auch im Rahmen der disziplinären Beschäftigung mit der außerschulischen Kinder- und Jugendarbeit gibt es nach wie vor nur wenige Studien, die Ethnographie als Feldzugang nutzen. Dennoch ist die ethnographische Forschung als »verstehender« Ansatz gleich zweifach in den erziehungswissenschaftlichen Diskursen zu finden: Einerseits beschreibt sie einen sozialwissenschaftlichen Forschungszugang, der im Sinne eines lebensweltlichen Verstehens jugendliche und erwachsene Praktiken innerhalb der pädagogischen Institutionen rekonstruieren will (vgl. Cloos u. a. 2007; Breidenstein 2006). Andererseits versteht sie sich als eine berufliche Grundkompetenz, die pädagogischen Fachkräften die Chance bietet, sich von ihrem Feld immer wieder neu befremden zu lassen und eine reflexive Haltung zur eigenen pädagogischen Praxis zu entwickeln (vgl. Müller/Schulz 2007; Helsper 2001). Sowohl die Forschungszugänge als auch die Praxisreflexionen basieren auf der reflexiven Analyse von zumeist schriftlich fixierten Beobachtungen. Jedoch fehlen paradoxerweise Hinweise auf die Art der Literarisierung von Beobachtungen weitgehend: Es wird zwar festgestellt, dass die Art der schriftlichen Dokumentation wichtig sei, der Herstellungsprozess des Texts selbst bleibt hingegen meist ausgeblendet. Vertiefende Hinweise zu Textproduktionen und deren Schwierigkeiten finden sich in den kulturwissenschaftlichen Disziplinen, die jedoch durch die Verschiedenheit der Zugänge und Forschungsfragen nicht einfach auf die pädagogische Ethnographie zu übertragen sind. Innerhalb der Forschungsgruppen »Evaluation von Bildungsprozessen in der Jugendarbeit« (vgl. Müller/Schmidt/Schulz 2005) und »Jugendliche Genderinszenierungen als Bildungsgelegenheiten in der Offenen Jugendarbeit« (vgl. Rose/Schulz 2007) haben wir eine Form der Literarisierung gewählt, die wir als Feldvignette bezeichnen. Sie unterscheidet sich von den innerhalb der Sozialpädagogik bekannten Fallvignetten erheblich, da sie nicht individuelle Fälle von Jugendlichen rekonstruiert, sondern vielmehr soziale Situationen in Erzählungen verdichtet, in denen der Sinnzusammenhang des Feldes sichtbar wird. Wie diese Feldvignetten, die als kleine Alltagserzählungen aufgebaut sind, als reflexive Schreibübungen und -produkte entwickelt wurden und welcher Nutzen sowohl für pädagogische Aus- und Weiterbildung als auch für die Praxisforschung daraus gezogen werden kann, wird im Folgenden vorgestellt. Mit der Gewissheit, dass verschriftlichte Beobachtungen immer verdichtete und bereits interpretierte Geschichten sind und nur im besten Fall zu »dichten Beschreibungen« werden, beschreibt der Beitrag den Übergang von der teilnehmenden Beobachtung hin zur atmosphärischen Beschreibung des jugendarbeiterischen Alltags in Feldvignetten.
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Marc Schulz Das Durcheinander beim Beobachten und Aufschreiben
Wie voraussetzungsvoll der Schritt vom Im-Feld-Beobachten hin zur Erstellung eines Feldprotokolls und eines ethnographischen Texts ist, ist immer wieder in verschiedenen Situationen erfahrbar: Sei es bei der Einführung einer noch unerfahrenen Feldforscherin im Forschungsprojekt, einem Workshop mit Fachkräften aus der Kinder- und Jugendarbeit oder einem Seminar mit Studierenden – beim Schritt, eine Szene aus ihrem pädagogischen Alltag schriftlich zu fixieren, kommt immer wieder die Frage auf, was denn beim Aufschreiben wichtig sei. Auch wenn es sich hierbei um eine auf ihre Praxis bezogene Selbstbeobachtung handelt, stellen sich folgende Fragen für das ethnographische Schreiben grundlegend: Was ist wichtig? Wie protokolliere ich Beobachtetes? Und: Wo beginnt und wo endet eine Szene? Exemplarisch an meinen eigenen Beobachtungstexten versuche ich nachzuzeichnen, wie wir (vgl. Müller/Schmidt/Schulz 2005; Rose/Schulz 2007) das von uns in der Kinderund Jugendarbeit Beobachtete in Sprache transformierten und mit dem Text eine besondere Form des Blicks literarisierten: Der Fokus ist, die Beobachtungen zu atmosphärischen Feldvignetten einzufrieren und »objektive« Daten des Geschehens zu lebenden Collagen zu arrangieren – im Grunde genommen eine Paradoxie. Dabei gehe ich chronologisch vor, indem die Beschreibung der Herangehensweise mit dem Einstieg in ein ethnographisches Forschungsprojekt zur Jugendarbeit beginnt. Die forscherische Zugangshaltung lässt sich über folgende drei einschneidende Momente nachzeichnen, mit denen ForscherInnen beim Zugang in ein Feld konfrontiert sind:
Vor dem ersten Feldaufenthalt: Als teilnehmender Beobachter muss ich so tun, als ob ich alles nicht kennen, mich aber grundsätzlich interessieren würde. Diese seitens der einschlägigen Fachliteratur empfohlene Haltung der »künstliche[n] Fremdheit« (Amann/Hirschauer 1997, S. 27 f.) bzw. »Attitüde der künstlichen Dummheit« (Hitzler 1986, S. 53 f.) ist Garant für die Dokumentation des auch vermeintlich bereits Bekannten. Der erste Feldaufenthalt: Ich beobachte alles Mögliche und protokolliere viel. Einerseits habe ich den Eindruck, dass das, was ich beobachte, manchmal langweilig ist. Dann beschleicht mich das Gefühl, lieber nach Hause gehen zu wollen. Andererseits stelle ich fest, wie viel in wenigen Augenblicken passiert und ich muss mich sehr anstrengen, mir möglichst viel vom beobachteten Geschehen zu merken. Zurück am Schreibtisch: Die persönlichen Aufzeichnungen können nie alle Geschehnisse des Feldes wiedergeben. Trotzdem versuche ich umgehend nach den Beobachtungstagen, möglichst detailliert und ausführlich alles festzuhalten, was ich beobachtet und in meinen Notizen protokolliert habe. Die Annahme ist, dass dies besser für die Qualität meiner Daten wäre.
Schon bei den ersten schriftlichen Protokollen stellte sich folgendes Dilemma heraus: Das methodenbasierte Wissen, wie man Beobachtungen anstellt und anschließend Texte verfasst, bleibt abstrakt und wenig hilfreich, wenn ich selbst Beobachtungen verschriftlichen soll. Der ethnographische Zugang scheint nämlich durch die körperlich-soziale Verstrickung der Beobachtenden verbunden mit der Fragestellung an das Feld mehr abzuverlangen
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als ein Erfahrungsbericht: Nicht aus den zufälligen Erlebnissen werden nachträglich Texte verfasst, sondern die Forschenden begeben sich mit dem Vorhaben ins Forschungsfeld, Geschichten zu erleben, die sie vertextlichen sollen. Dies klingt zwar auf den ersten Blick banal, entwickelt allerdings im Feld eine eigene Wirklichkeitssphäre, verdichtet in der Frage, die die ständige Aufmerksamkeit des Forschenden provoziert: Wann und wo beginnt eine (interessante) Geschichte? Zu Beginn der Feldforschungsphasen legten wir fest, es möglichst den jeweiligen Beobachtenden zu überlassen, wie breit das Beobachtungsprotokoll textlich angelegt und ausformuliert wird. Diese Beobachtungsprotokolle wurden entweder mündlich oder schriftlich von der Forschungsgruppe kommentiert und an die Schreibenden Rückfragen zu Beobachtungslücken gestellt, deren Antworten dann in eine neue Textfassung einflossen. So stellte die Texterstellung gleich auf mehreren Ebenen Herausforderungen dar: Zum einen verlangt sie eine situative und reflexive Abwägung ab, welche Details in der Gesamtkomposition einer verschriftlichten Beobachtungssituation zum Tragen kommen. Dies stellt gewissermaßen die handwerkliche und erlernbare Seite der ethnographischen Schreibarbeit dar. Im Zuge der fortlaufenden Schreibpraxis und der Diskussion darüber verdeutlichen sich immer wieder die eigenen blinden Flecke, sprachliche Ungenauigkeiten oder die eigene Abwehrhaltung gegenüber dem, was beschrieben werden soll. Die produzierten Texte sind anfänglich meist »dünne Beschreibungen« (vgl. Geertz 1983), die zwar darstellen, was geschieht, aber dennoch keine atmosphärische Dichte erzeugen. Gerade weil die Texte den Anspruch haben, für externe Lesende in irgendeiner Weise les- und nachvollziehbar zu sein, stellen sich einige Folgeprobleme bei der Erstellung der Protokolle. Einige unserer textbezogenen Diskussionsfragen waren:
Was beschreibe ich nun genau, wenn ich Personen in Situationen erfasse? Wann werden welche Merkmale wichtig? Wie gehe ich mit meinem Kontextwissen um, welches sich zum einen aus anderen Feldprodukten wie Gesprächen mit anderen Feldteilnehmenden erschließt und zum anderen durch meinen theoretischen Wissensfundus gerahmt wird? Wie gehe ich mit Parallelgeschichten um, die zeitgleich, aber eher miteinander unverbunden passiert sind und dokumentiert wurden? Wie fange ich Atmosphären ein, die sprachlich nur schwer zu fassen sind, in den Aufzeichnungen als Subtext mitlaufen, aber nicht explizit werden? Welche Abkürzungen mache ich beim Schreiben, ohne diese wahrzunehmen? Was will und kann ich nicht beschreiben, weil es gegen meine eigenen Wertevorstellungen verstößt?
Zum anderen fordert die Textarbeit die Schreibenden heraus, eigene Beschreibungsgrenzen wahrzunehmen und vielleicht auch zu überschreiten. Denn die Vertextlichung mancher jugendlicher Interaktionen kann auch die Schamgrenzen der Forschenden verletzen. Beispielsweise wurden innerhalb unseres Projekts »Jugendliche Genderinszenierungen als Bildungsgelegenheiten in der Offenen Jugendarbeit« (vgl. Rose/Schulz 2007) auch die ersten Beobachtungsprotokolle einer studentischen Mitarbeiterin diskutiert. Hier fiel uns auf, dass ihre Texte, gerade wenn sie die jugendliche Thematisierung gewisser Sexualpraxen beschrieb, sprachlich distanzierter und dadurch auch ungelenker wurden. Mit dieser
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ersten Sensibilisierung fiel es uns bei den Texten der anderen Forschenden gleichfalls auf, dass sie Interaktionsthemen wie Sexualität, Gewalt oder Drogen mit und durch ihre Sprachauswahl distanzieren und neutralisieren. 2
Feldvignetten: Sortierung und Reflexion des Erlebten
Das Verständnis, dass das ethnographische Schreiben zugleich auch ein literarisches Experiment und Prozess ist (vgl. u. a. Geertz 1983; Fichte 1974), regte uns zu verschiedenen Suchstrategien beim Verfassen der Feldvignetten an. Formale Schreibexperimente, teils von Kolleginnen und Kollegen aus der Volkskunde und Ethnologie angeregt, waren beispielsweise der Wechsel von Präsensform zum Perfekt, um die besondere emotionale Nähe zum Erzählten, die durch die grammatikalische »Vergegenwärtigung« zum Ausdruck gebracht wird, abzuschwächen; oder die Chronologisierung der Beobachtungen, die die Gleichzeitigkeit von Ereignissen wiedergeben kann. Als besonders produktives Verfahren erwies sich die Komposition von kleinen Alltagserzählungen. Es stellte einen Lösungsversuch der zuvor beschriebenen Probleme dar, da es eine Verdichtung der protokollierten Feldbesuche durch die klare Gestaltung des Materials ermöglicht: Es wurden klare Anfangs- und Schlusspunkte im Text gesetzt, während nicht relevante Informationen herausgenommen wurden. Exemplarisch dafür wird im Folgenden eine im Projekt »Jugendliche Genderinszenierungen als Bildungsgelegenheiten in der Offenen Jugendarbeit« (vgl. Rose/Schulz 2007) entstandene Feldvignette zitiert. 2.1 Feldvignette »Zigaretten schnorren« »(Im Offenen Bereich) Meine Kollegin Susanne, die 14jährige Francesca und ich (Forscher) sitzen auf den Sofas vor dem Tresen und unterhalten uns. Francesca sitzt direkt neben mir, auf dem anderen Sofa links neben ihr sitzt Susanne. Ilgit, ein 15jähriger Junge, kommt gemächlich auf uns zu und geht Richtung Billardtisch. Francesca ruft ihn zu sich und er stoppt auf ihrer Höhe. Sie flüstert etwas, während er sich über sie beugt, aber nichts sagt. Dann flüstert sie noch mal etwas. Ich höre es leise – sie schnorrt ihn um eine Zigarette an. Ilgit beugt sich zurück, grinst sie an und geht sehr langsam in einem Wiegeschritt weiter, während Francesca ruft ›Ey, bitte!‹ Ilgit dreht sich, einen Meter von uns weg, um, grinst sie an, während sie ihn wiederholt bittet. Da greift er sich von außen an seine rechte Hosentasche, wo sich für mich klar sichtbar die Form einer Zigarettenschachtel herausbeult und zieht von außen zwei Mal daran und grinst. Sie sagt in einem bettelnden Ton ›Ey, komm.‹ Ilgit, zwischenzeitlich einen Schritt weiter gegangen, dreht sich wieder zu ihr um, fasst sich in seinen Schritt, zieht deutlich sein Gemächt zwei Mal nach oben, leckt sich mit seiner Zunge über die Lippen, grinst, dreht sich um und schlendert weiter. Francesca sagt nichts mehr und macht einen Schmollmund. Einige Momente später steht sie mit einem ›Tschüüüss‹ auf. Susanne und ich bleiben sitzen.«
Ausgehend vom Rohmaterial wurde auf die genaue Beschreibung der kompletten Rahmensituation verzichtet: Aus dem gesamten Beobachtungsprotokoll geht hervor, dass am Tre-
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sen und auch sonst im sogenannten Offenen Bereich1 keine Jugendlichen sich zum Zeitpunkt der Beobachtung aufhielten, dass also eine für die Jugendarbeit relativ ruhige Atmosphäre vorherrscht. Zudem wurde ebenfalls darauf verzichtet, die Herstellung der Gesprächssituation zu beschreiben. Wieso sich beide Forschenden nun mit einer Jugendlichen in die Situation eines Gesprächs begeben, wie die Sitzkonstellation entsteht usw., bleibt unberücksichtigt. Gleichfalls wird das Gesprächsthema zwischen den Erwachsenen und dem Mädchen nicht aufgenommen. Im Beobachtungsprotokoll wird eine Gesprächssituation zum Thema Berufsaussichten in sozialen Berufen beschrieben. Das Mädchen nutzte das Expertenwissen der Forschenden und stellte damit die Rahmung einer relativ intimen Gesprächssituation auf dem Sofa des Jugendhauses her. Bereits die körperliche Anordnung der miteinander Sprechenden schließt die Situation nach außen hin ab. Dieses körperliche Arrangement wird zum Ausgangspunkt der Feldvignette: Ein Junge kommt, scheinbar zufällig, auf die auf dem Sofa sitzenden Personen zu und erweckt den Eindruck, vorbei gehen zu wollen. Dabei wird er durch das Mädchen gestoppt. 2.2 Strukturierung des Texts Ethnographische Beobachtungen nehmen eine komplexe Vielfalt an miteinander verwobenen oder parallel verlaufenden Handlungsstrukturen in den Blick, die zum einen im Sinne des Performanzdiskurses selbstreferentiell sein können und zum anderen im Sinne einer semiotischen Perspektive auf Bedeutungszusammenhänge verweisen können, die nicht immer seitens der Feldforschenden verstanden werden (vgl. Fischer-Lichte/Fleig 2000; Wulf u. a. 2001; Fischer-Lichte 2004). Durch den forscherischen Blick strukturiert der Erzähler das ungeordnete Material: Der Fokus des Blicks rahmt das Setting und die Personen in ihren Handlungen. Zugleich wird die Szene als ein gemeinsamer Herstellungsprozess explizit markiert, indem die Arbeitsteiligkeit der in der Szene interagierenden Personen beschrieben wird. In der vorliegenden Vignette wird nicht das Sofagespräch zwischen den Erwachsenen und dem Mädchen fokussiert, auch wenn dies die nachfolgende Situation rahmt. Vielmehr wird die Interaktion der beiden Jugendlichen erzählerisch zum Thema gemacht. Um die szenische Atmosphäre einfangen zu können, wird wiederum abgewogen, welchen Grad an Detailtreue die einzelnen Elemente der Szene bekommen. Weder soll die Feldvignette in ihrer Detailfülle strukturlos noch geglättet wirken. Nach dem ersten Schritt der Szenenprotokollierung, die die Übersetzung des Wahrgenommenen in Sprache darstellt, wird der Text im Sinne einer »thick description« verdichtet, ohne etwaige Lücken erzählerisch zu schließen: In der beschriebenen Feldvignette ist trotz des erzählerischen Aufbaus die Diskontinuität jugendlicher Praktiken erkennbar. Die beiden Rahmenwechsel – die Hinwendung des Mädchens zum Jungen und ihr spontaner Abschied – bleiben erhalten. Der Text selbst wird so zu einer sprachlichen Annäherung an den zu erforschenden Bereich und versucht, das jugendliche Oszillieren zwischen verbaler und non-verbaler Interaktion genauer zu reflektieren.
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Der Offene Bereich bietet auf meist großer Fläche verschiedene Freizeit- und Versorgungsmöglichkeiten wie Billard- und Kickertische, Sofas, Musikanlagen oder eine Theke, um sich mit Getränken und kleinen Speisen versorgen zu können. Er stellt sozusagen den Marktplatz der Einrichtung dar.
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Typisch für die Szenenkomposition der Feldvignette ist, dass sie einen klaren Anfang und ein klares Ende setzt und dadurch in sich als kleine Erzählung geschlossen wirkt. Zwischen dem Anfang und Ende geht es um etwas, was dem Autor für die Dichtheit der Szene interessant erscheint: Das Mädchen schert aus der Interaktion mit den Erwachsenen aus, um Kontakt mit einem vorbeigehenden Jungen aufzunehmen. Der Grund der Kontaktaufnahme und der Umgang damit werden zur Pointe der Vignette und explizieren den Fokus, den die Jugendlichen dabei anbieten. Durch den Altersverweis wird die Information gegeben, dass es in Verbindung mit Zigaretten um das Thema Grenzüberschreitung geht: Beide jugendliche Protagonisten sind unter 16 Jahre und dürfen daher nicht rauchen. Die Information über das Alter der Jugendlichen liefert einen wichtigen Lese- bzw. Interpretationshinweis, sodass das Flüstern der Jugendlichen als sinnhaft erscheint, weil das laute Unterhalten über Zigaretten eine Provokation der Beobachtenden darstellen würde. Zugleich bietet der Text an, die Perspektive der beiden Forschenden genauer zu betrachten: Das Thema Zigarettenaustausch ist zwar der Anlass für die Herstellung der jugendlichen Interaktion, jedoch werden die jugendlichen Gesten genauer beschrieben, da dieser Teil der Interaktion die Aufmerksamkeit der Forschenden herstellt. Die wiederholten nonverbalen Gesten des Jungen eröffnen sowohl das Auftaktthema des »Zigarettenschnorrens« als auch die Thematisierung von Körperlichkeit, indem sie ähnlich sind, aber an jeweils anderen Körperstellen wiederholt werden. Sie thematisieren und dethematisieren das vordergründige Thema des verbotenen Rauchens. Darin spiegelt sich auch die »praktische Vertrautheit« gegenüber dem Feld: Dies findet sich in der Einfädelung der Forschenden in das Setting – hier das Abhängen mit einer Jugendlichen auf Sofas. Zugleich findet sich diese Vertrautheit im Wahrnehmen der Doppeldeutigkeit der Interaktion wieder und verweist damit auf den zunächst verstandenen Sinngehalt der Szene. Sie wird in den sprachlichen Beschreibungen der beobachteten Situationen reflektiert. Durch die eigentätige Komposition von Szenen materialisiert sich, was Forschende im pädagogischen Feld beobachten und beschreiben – und was nicht. Die textuale Art der Szenenkomposition wiederum reflektiert, dass Sprache nicht einfach die Wirklichkeit abbildet. Die so entstandenen Feldvignetten dokumentieren narrativ kleinteilig Geschehnisse in der Jugendarbeit. Sie bilden dabei jedoch keineswegs die Realität ihres Gegenstands objektiv ab, sondern konstruieren, wie alle empirischen Erhebungsverfahren, diese und machen dies zugleich mit der Erzählform transparent. »Das empirische Material besteht (…) weniger aus vom Beobachter unabhängigen ›Daten‹, als vielmehr aus subjektiven Verdichtungen des Beobachteten« (Kelle 2004, S. 644). Die Feldvignetten lassen durch absichtsvoll geformte, sprachliche Ästhetisierungen den Gegenstand der Darstellung in spezifischer Weise erst erstehen: Es werden Strukturierungen und Verdichtungen vorgenommen, Zusammenhänge, Zäsuren, Spannungsbögen und Pointen geformt. Die grammatikalische Präsensform als Stilmittel und die dadurch erzeugte Vergegenwärtigung sind als eine Literarisierung eines beobachtenden und spürenden Blicks bildhafter und gegenwärtiger. Sie werden als kleine Erzählungen anschaulich und repräsentieren Strukturen eines Geschehens im pädagogischen Feld. Sie suggerieren nicht, dass sie »objektive Realität« als einen Gegenstand abbilden können, sondern sie bieten, angelehnt an Clifford Geertz, Blicke auf die sogenannten Tatsachen als etwas Gemachtes und Hergestelltes. Die Feldvignetten sind als Angebote eines speziellen Blicks also selbst immer schon konstruierend und performativ.
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Grenzen und Chancen von Feldvignetten
Die auf diese Weise in Form von Feldvignetten vorgenommenen Konstruktionen können jedoch auch problematisch sein: Die Szenen, die sich den Feldforschenden präsentieren, bestehen aus verschiedenen Einzelteilen, die von ihnen zusammengesetzt werden müssen. In der vorliegenden Szene ist es das räumliche Arrangement, die Feldforschenden selbst und die beiden Jugendlichen. Die Art und Weise, wie diese Bildteile in der Szenenbeschreibung angeordnet werden, legen eine spezifische Bedeutung der Szene bereits an: Das intergenerative Gespräch wird zugunsten der Peerinteraktion ausgeblendet. Damit wird der Wahrnehmungsfokus auf die Peerkonstellation gerichtet. Die Schilderung der gestischen und verbalen Peerinteraktion erzeugt in ihrer Formulierung selbst schon Bedeutungen. Es geht nicht nur um den möglichen Austausch von Zigaretten, sondern unter anderem auch um Körperlichkeit. Der Text zeigt exemplarisch, wie in den Erzählungen bereits textimmanent die Bedeutungen des Wahrgenommenen mitkonstruiert und Fremdlesenden als Gewissheit mitgeteilt werden. Die gemeinsame Diskussion der Texte in den Forschungsgruppen muss diese Bedeutungszuschreibungen mit reflektieren: Durch die Verdichtung als literarische Gestaltung können sich Bedeutungszuschreibungen ergeben, die in der Beobachtung nicht so wahrgenommen wurden. Die Feldvignetten können dann einen Bedeutungssog entwickeln, dem 2 man sich kaum entziehen kann. Hilfreich ist für die Erstellung von Feldvignetten die Praxis, gerade mit den situationsrahmenden Eingangssätzen zu experimentieren, indem jene reformuliert werden. Da jene die spezifischen Rahmungen setzen, kann so überprüft werden, inwiefern sie die Situation vereindeutigen und Interpretationen kanalisieren. Gerade im Rahmen von Workshops mit Studierenden oder pädagogischen Fachkräften, für die die Erstellung von Beobachtungstexten konstitutiv ist, hatte sich dieser Umgang mit Feldvignetten als besonders produktiv gezeigt: Durch die Mitkonstruktion von Bedeutungen innerhalb des Wahrgenommenen wurden so in der Textdiskussion eigene Blick- und Deutungspraxen transparent, die das eigene pädagogische Handeln rahmen. Sie können, auch auf die Forschungspraxis zurück übertragen, als Strategien der Objektivierung von Texten genutzt werden. Zugleich werden die Konstruktionen immer dann problematisch, wenn sie versuchen, mit den Beobachtungen einen Sinn zu erzeugen, der so in der beobachteten Szene nicht zu finden war: In erzählten und geschriebenen Texten ist immer wieder zu beobachten, dass zur Reduktion von Irritationen auch emergente Situationen in einen sinnhaften Gesamtkontext gestellt werden, sodass Brüche in der Beobachtung geglättet und geschlossen werden (vgl. den Gestaltschließungszwang bei Schütze 1984). Dieses Wahrnehmen und Beschreiben von erfahrenen Irritationen und Brüchen als Schreibkultur zu etablieren, ist nicht einfach. Exemplarisch dafür steht eine Rückmeldung aus einem Workshop für pädagogische Fachkräfte. Dort wurde das Beschreiben von selbst erfahrener Diskontinuität und Brüchen als eine Relativierung des eigenen Pädagogenbilds bezeichnet, da pädagogische Deutungshoheiten und die situationssteuernden Handlungsmuster in Frage gestellt werden. Es fokus2
Doch dies ist nicht ein ausschließliches Problem von textbasierten Produkten, denn auch in anderen Medien wie etwa Video- oder Tonaufzeichnungen vermischen sich immer Dokumentation und Bedeutungskonstruktion. Jedes Medium formt »Realität« durch Auswahl und Anordnung des Gegenstands und die Ausrichtung des Fokus mit.
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siert Fachkräfte nicht (mehr) als aktive und aktivierende Kräfte innerhalb des Feldes. Zudem thematisiert es das Nichtverstehen der Situationen im eigenen pädagogischen Feld. Da landläufig pädagogische Professionalität auch darin gesehen wird, jugendliche Interaktionen grundsätzlich zu verstehen, gefährdet die schriftliche Fixierung des Nicht-Verstehens den professionellen Status. Es kann als mangelnde fachliche Kompetenz interpretiert werden. Dies kann zugleich analog auch auf der Forschungsebene gelesen werden: Die erstellten Feldvignetten materialisieren das Verstehen und Nicht-Verstehen der sozialen Situation, die der einzelne Feldforschende beschreibt. Als eine weitere Schwäche der Feldvignetten könnte ausgelegt werden, dass jene selbst einen anderen zeitlichen Horizont als die Echtzeit der Szene eröffnet. Dies kann zu paradoxen Erfahrungen führen: Dichte Beschreibungen erzeugen den Eindruck, dass Szenen als wesentlich länger und in ihrer Bedeutsamkeit durch die Fremdlesenden intensiver empfunden werden, als sie in der Beobachtung waren. Die schnellen Wechsel innerhalb der Interaktionen haben wir deshalb versucht, sprachlich zu präzisieren. Wie bereits mehrfach angedeutet wurde, sind jedoch die Potentiale, die sich im Umgang mit den Feldvignetten ergaben, überraschend: Generell könnte man den Feldvignetten unterstellen, dass sie durch die klare Gestaltung per se Interpretationszugänge kanalisieren. Jedoch stellte sich erstens heraus, dass deren Deutungsmöglichkeiten in verschiedenen Fachkontexten breit angelegt sind. Dazu möchte ich nochmals auf die Feldvignette »Zigaretten schnorren« zurückgreifen. Jene konnte in drei verschiedenen Diskussionskontexten vorgestellt und gemeinsam interpretiert werden: Zum Ersten auf einem Workshop für Fachkräfte aus der Jugendarbeit, in dem der Zusammenhang von Jugendarbeit und Bildung thematisiert wurde, zum Zweiten im Rahmen einer genderspezifischen Fachtagung mit Hochschulkolleginnen und -kollegen und zum Dritten im Rahmen eines Seminars für Sozialpädagogikstudierende zum Alltag von Jugendlichen. In allen drei Kontexten wurde mit den jeweilig unterschiedlichen fachlichen Schwerpunkten die vorliegende Feldvignette anders interpretiert: Im »Genderkontext« wurde mehr auf die Konstruktion von Geschlecht durch die Beobachtenden und innerhalb der jugendlichen Interaktion Bezug genommen, während die Fachkräfte der Jugendarbeit mehr auf die Thematik der Grenzüberschreitungen und die sich daraus ergebenden Potentiale für die Bildungsarbeit fokussierten. Das studentische Seminar ergänzte die Feldvignette noch durch eigenes, aus Beobachtungen gewonnenes Kontextwissen und erweiterte so den Blick auf jugendkulturelle Mikrorituale. Zum Zweiten zeigte sich eine weitere Chance durch den Einsatz von Feldvignetten im Rahmen der Diskussion mit der pädagogischen Fachpraxis. Die formale Nähe zu bereits bekannten Erzählformen ergab eine leichtere Zugänglichkeit der Feldvignetten. Gerade in Zusammenhang mit der Interpretations- und Diskussionskultur pädagogischer Fachkräfte konnte in verschiedenen Fort- und Weiterbildungskontexten festgestellt werden, dass mit Fallvignetten gearbeitet wird. Jene werden zwar selten schriftlich ausführlich fixiert, jedoch sind sie als eine orale Praxis vorhanden. Die formale Nähe der Feld- zu den bekannten Fallvignetten ermöglichte daher immer wieder andere Verstehenszugänge: Die Erfahrung der Differenz, mit den Feldvignetten nicht einzelne Fälle, sondern soziale Situationen zu rekonstruieren, erweiterte den fachlich-professionellen Reflexionshorizont. Die sozialen Situationen mit und ohne den individuell-biographischen Hintergrund der einzelnen Akteurinnen und Akteure zu diskutieren, beinhaltet auch die Chance, Strukturen und Muster des pädagogischen Felds zu verstehen. Die Feldvignetten sind somit auch als exemplarische
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»Blickschneisen« (vgl. Mohn in diesem Band) aus der Praxisforschung für die pädagogische Fachpraxis zu interpretieren. Literatur Amann, K./Hirschauer, S. (1997): Die Befremdung der eigenen Kultur. Ein Programm. In: Hirschauer, S./Amann, K. (Hrsg.) (1997): Die Befremdung der eigenen Kultur. Frankfurt a. M., S. 7-52. Breidenstein, G. (2006): Teilnahme am Unterricht. Ethnographische Studien zum Schülerjob. Wiesbaden. Cloos, P./Köngeter, S./Müller, B./Thole, W. (2007): Die Pädagogik der Kinder- und Jugendarbeit. Wiesbaden. Fichte, H. (1974): Versuch über die Pubertät. Hamburg. Fischer-Lichte, E./Fleig, A. (Hrsg.) (2000): Körper-Inszenierungen. Präsenz und kultureller Wandel. Tübingen. Fischer-Lichte, E. (2004): Ästhetik des Performativen. Frankfurt a. M. Helsper, W. (2001): Praxis und Reflexion – die Notwendigkeit einer »doppelten Professionalisierung« des Lehrers. In: Forschen lernen, 1. Jg. (2001), Heft 3, S. 7-15. Hitzler, R. (1986): Die Attitüde der künstlichen Dummheit. In: Sozialwissenschaftliche Informationen (SOWI), Heft 3, S. 53-59. Geertz, C. (1983): Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a. M. Kelle, H. (2004): Ethnografische Ansätze. In: Glaser, E. u. a. (Hrsg.) (2004): Handbuch Gender und Erziehungswissenschaft. Bad Heilbrunn, S. 636-650. Müller, B./Schmidt, S./Schulz, M. (2005): Wahrnehmen können. Informelle Bildung und Jugendarbeit. Freiburg i. Br. Müller, B./Schulz, M. (2007): Von der Beobachtung zur Handlung – und umgekehrt: »Wahrnehmen können« als konzeptioneller Sockel im Alltag der Kinder- und Jugendarbeit. In: Deinet, U./Sturzenhecker, B. (Hrsg.) (2007): Konzeptentwicklung in der Kinder- und Jugendarbeit. Reflexionen und Arbeitshilfen für die Praxis. Weinheim u. München, S. 96-110. Rose, L./Schulz, M. (2007): Gender-Inszenierungen. Jugendliche im pädagogischen Alltag. Königstein i. T. Schütze, F. (1984): Kognitive Figuren des autobiografischen Stegreiferzählens. In: Kohli, M./Robert, G. (Hrsg.) (1984): Biographie und soziale Wirklichkeit. Neue Beiträge und Forschungsperspektiven. Stuttgart, S. 78-117. Wulf, C. u. a. (2001): Das Soziale als Ritual. Zur performativen Bildung von Gemeinschaften. Opladen.
Narrative Beobachtungsprotokolle Konstruktion, Rekonstruktion und Verwendung Peter Cloos
Über das Schreiben von Beobachtungsprotokollen lässt sich nur sinnvoll nachdenken, wenn der gesamte Prozess ihrer Produktion, ihrer anschließenden Weiterverarbeitung und Interpretation sowie ihrer Verwendung im ethnographischen Endprodukt in den Blick genommen wird. Die ethnographische Methodenliteratur thematisiert jedoch kaum die Gesamtheit des Prozesses, sondern konzentriert sich weitgehend auf die Frage, wie Beobachtungsprotokolle zu verfassen sind. Diese Frage scheint methodisch leicht handhabbar und kann als handwerklicher Aspekt einer ansonsten komplexen Forschungsstrategie schnell abgehandelt werden. So finden sich in der Methodenliteratur immer wieder praktische Tipps und Ratschläge zum Verfassen von Beobachtungsprotokollen. Demgegenüber erscheint der Gesamtprozess des ethnographischen Schreibens als eine Kunstlehre, die methodisch kaum zu operationalisieren ist. Dabei wird festgestellt, dass die Ethnographie sich von anderen Forschungsstrategien durch einen weniger methodisch strengen Umgang mit den gewonnenen »Daten« unterscheide. Vielmehr gestalte sie sich als eine »vielschichtige Schreibpraxis (…). Wenn quantitative Sozialforscher primär als ›exakte‹ Rechner erscheinen, und Biografieforscher und Konversationsanalytiker vor allem als gründliche ›Leser‹, dann kann man Ethnographen als extensive ›Schreiber‹ charakterisieren« (Amann/Hirschauer 1997, S. 29). Der wesentliche Unterschied zu anderen Forschungsstrategien scheint zu sein, dass im Rahmen ethnographischer Forschungsstrategien erstens Datenerhebung und Dateninterpretation weniger streng voneinander getrennt werden und zweitens der größere Teil der EthnographInnen sich nicht auf die Protokolle und Feldnotizen als fertige Transkriptionen einer erlebten Praxis verlassen, die es anschließend »nur noch« zu interpretieren gilt. Die vielschichtige Schreibpraxis bringt stattdessen vielfältige Texte hervor, die durch neue Erfahrungen und Texte ergänzt, moduliert, neu sortiert, reformuliert oder auch vernichtet werden können und abschließend in einer dichten, ethnographischen Beschreibung münden. Im ersten Teil des Beitrages resümiere ich, auf welche Weise Protokolle Teilnehmender Beobachtungen im ethnographischen Bericht Verwendung finden. Hierbei gehe ich von der These aus, dass die Entscheidung für spezifische Konstruktionsweisen von Protokollen Teilnehmender Beobachtungen nur vor dem Hintergrund des gesamten Forschungsprozesses geschehen kann, weil ihre Konstruktion davon abhängig ist, wie sie für den Erkenntnisprozess genutzt und im ethnographischen Bericht präsentiert werden (sollen). Anschließend fasse ich zweitens zusammen, wie das Erstellen von Beobachtungsprotokollen in der ethnographischen Methodenliteratur beschrieben und reflektiert wird. Der dritte Teil widmet sich forschungspraktischen Erfahrungen mit Beobachtungsprotokollen aus zwei Forschungsprojekten. Hier unterbreite ich den Vorschlag, Protokolle Teilnehmender Beobachtungen als »talking fieldnotes« zu konzeptionalisieren. Als talking fieldnotes werden hier Feldprotokolle als rekonstruierbare Narrationen von FeldforscherInnen über ihre Erfahrun-
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gen mit und ihre Einsozialisation in ein Forschungsfeld beschrieben, die zentrales Element des ethnographischen Berichtes sind.
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Präsentieren: Das Protokoll im ethnographischen Bericht
Wie die vielfältige Schreibpraxis von EthnographInnen tatsächlich vollzogen wird, ist im deutschsprachigen Raum kaum Thema methodischer Überlegungen, auch wenn mit dem ausführlichen Sammelband von Roger Sanjek (2001) und der Monographie von Robert M. Emerson, Rachel I. Fretz und Linda L. Shaw umfangreiche Studien zum Thema vorliegen. Zusammenfassend stellen jedoch auch letztgenannte AutorInnen fest: »In sum, ethnographers have failed to closely examine the process of writing fieldnotes« (Emerson/Fretz/Shaw 1995, S. X f.).1 Auch in ethnographischen Forschungsberichten erfährt man selten etwas über diesen komplexen Produktions- und Rekonstruktionsprozess. Dies ist umso bemerkenswerter, weil davon auszugehen ist, dass Protokolle Teilnehmender Beobachtungen immer auch in Hinblick auf ihre Verwendung (im ethnographischen Bericht, in einer Forschungswerkstatt o. ä.) und für eine spezifische Leserschaft geschrieben werden (vgl. Emerson/Fretz/Shaw 1995). Letztendlich gibt die Verwendung von Beobachtungsprotokollen im ethnographischen Bericht darüber Auskunft, wie das Verhältnis von Authentizität und Strukturiertheit (vgl. Flick 1991), von Kunstlehre und methodischer Festlegung im Forschungsprozess austariert wird. Dies berücksichtigend, lohnt sich ein kurzer Blick darauf, wie Feldprotokolle in ethnographischen Forschungsberichten verwendet werden. Hier findet sich eine durchaus vielfältige Praxis des Umgangs und der Präsentation von Feldprotokollen, die andeuten, dass diesen im Forschungsprozess eine sehr unterschiedliche Stellung und Funktion zugesprochen wird:
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In einem Großteil ethnographischer Studien tauchen Auszüge aus Beobachtungsprotokollen gar nicht auf. Sie sind die weitgehend unsichtbare und intersubjektiv nicht nachvollziehbare Grundlage für die Erstellung einer dichten Beschreibung. Werden in den ethnographischen Berichten jedoch Auszüge aus Protokollen abgedruckt, vermitteln sie zuweilen den Eindruck kleiner literarischer Blüten, die das ethnographische Werk mit seiner schwerfälligen Wissenschaftssprache »auffrischen« sollen. Sie erscheinen als kleine opake Kunststücke, an denen lange geschliffen wurde und die sich weit vom »Originaltext« entfernt haben. Sie dienen zur Untermauerung der literarischen Qualitäten der EthnographInnen oder zur illustrativen Einführung in das Beobachtungsfeld. Sie können als Stilmittel ethnographischer Schreibkunst auf unterschiedliche Weise verwendet werden. Seltener befinden sich »originale« Beobachtungsprotokolle – wie bei Maya Nadig (1984) im Anhang –, fast gänzlich abgedruckt, ohne dass sie einer detaillierten Interpretation unterzogen werden. In dieser Form wird versucht, fremde kulturelle Repräsentationen abzubilden und ihnen eine Stimme zu geben. Dies im Gegensatz zu methodischen und methodologischen Überlegungen zum Verfassen eines ethnographischen Berichtes. Hier liegen relativ viele Überlegungen vor (vgl. u. a. Atkinson 1990; Reichertz 1992; Wolff 1986).
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Andere ethnographische Studien distanzieren sich davon, Beobachtungsprotokolle auch als literarische Stilmittel zu verwenden und bevorzugen einen eher nüchternen Umgang. Die im Text eingebundenen Feldprotokolle dienen eher dazu, die Plausibilität der dichten Beschreibungen zu erhöhen, haben den Status eines Beleges, eines Beispieles oder dienen – wie in anderen qualitativen Forschungsberichten – der Rekonstruktion des beobachteten Geschehens Zug um Zug. Insgesamt stellen jedoch Auszüge aus Beobachtungsprotokollen selten einen im ethnographischen Forschungsbericht transparent werdenden Ausgangspunkt der nachfolgenden empirischen Rekonstruktionen dar – so wie das z. B. in biographietheoretischen Studien üblich ist.
Überspitzt formuliert, bewegt sich Ethnographie zwischen den Polen eines die Schreibkunst favorisierenden Umgangs mit Feldprotokollen und einer – wie Jürgen Zinnecker (2000) es nennt – szientifischen Position, die ihre wissenschaftliche Güte eben an einen vermeintlich naturwissenschaftlichen stillosen Stil (vgl. Reichertz 1992) anlehnt. Nüchterner formuliert, schwankt Ethnographie zwischen einer extensiv schreibenden und einer eher rekonstruktiven Logik – die das Protokoll als zu interpretierendes Ausgangsmaterial präsentiert (vgl. Rosenthal 2005). Im Rahmen der Erziehungswissenschaft wird hier mit ähnlichen Argumenten eine ganz andere Bewertung der Positionen erzielt. Ethnographie sei entweder erziehungswissenschaftlich angelegt und würde damit stärker einer sozialwissenschaftlichen und rekonstruktiven Logik folgen oder sei stärker pädagogisch ausgerichtet, würde stärker journalistisch und weniger methodisch streng vorgehen und die Erziehungswirklichkeit eher normativ betrachten (vgl. Hünersdorf 2008). Solche Polarisierungen zeigen zwar grob ein Spektrum zur Unterscheidung von ethnographischen Positionen innerhalb der Erziehungswissenschaft auf, angesichts der Diskurse in der Folge der sogenannten Krise der Repräsentation (vgl. Berg/Fuchs 1993) müssen die Umgangsweisen mit Protokollen Teilnehmender Beobachtungen im ethnographischen Bericht jedoch wesentlich differenzierter betrachtet werden. Hilfreich sind hier die Überlegungen von Elisabeth Mohn (2002) zu den Spielarten des Dokumentierens. Dabei unterscheidet sie erstens zwischen einem starken Dokumentieren, bei dem es darum geht, »alltagspraktisches Wissen durch Interpretationsverzicht zu überbieten« (ebd., S. 25), und zweitens einem Anti-Dokumentieren, bei dem anstelle »der Zurückhaltung der AutorIn (…) ihr Eingreifen und Gestalten vor Augen geführt werden« soll (ebd., S. 68). Drittens würden beim paradoxen Dokumentieren »pragmatische Lösungen gefunden« (ebd., S. 125), um beide genannten Varianten gleichzeitig zuzulassen. Sie kommt aber zu dem Schluss, dass weder eine evolutionistische Aufreihung dieser Spielarten noch eine einfache Gegenüberstellung Sinn ergeben würden. Vielmehr müsste den Begriffen und Konzepten der Status von Zwischengliedern zugewiesen werden, damit vielfältige Varianten sichtbar gemacht und »Familienähnlichkeiten« (ebd., S. 199) entworfen werden könnten: »Da gibt es Konzepte des Dokumentierens, bei denen Interpretationsverzicht gefordert wird und es gibt welche, bei denen Interpretationsaufwand von Bedeutung ist. Es gibt Zwischenglieder, bei denen Interpretieren und Dokumentieren untrennbar sind, sich abwechseln oder bei denen alles beides vermieden werden soll« (ebd., S. 199 f.). Hiervon ausgehend, entwickelt sie schließlich viertens ein Konzept des instrumentellen Dokumentierens, bei dem ein methodisch kontrolliertes und an den Phasen des Forschungsprozesses orientiertes Wechselspiel zwischen den Spielarten erfolgt.
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Peter Cloos Konstruieren: Anmerkungen zu Manuals von Beobachtungsprotokollen
Insgesamt sind in der deutschsprachigen Literatur nur wenige Hinweise zu finden, wie Beobachtungsprotokolle zu schreiben sind (vgl. Lüders 2000, S. 398). Zudem überwiegen hier knappe Anweisungen in Form von Manuals. Diese dienen vorwiegend dazu, nicht geübten EthnographInnen zu erklären, wie Protokolle zu verfassen sind. Dies überschreitet zwar den Standpunkt, das Schreiben von Beobachtungsprotokollen sei als ein von »Gott gegebenes Talent« und als eine an die Forschenden gebundene, kaum lehrbare Kunst aufzufassen (vgl. Emerson/Fretz/Shaw 1995, S. XI). Der Prozess des Schreibens wird dabei jedoch methodisch und methodologisch kaum aufgearbeitet. Dies mag verwundern, gelten Beobachtungsprotokolle doch als eines der wichtigsten Arbeitsmaterialien der EthnographInnen (vgl. Hildenbrand 1984, S. 10). Protokollieren gilt als »Brücke zwischen der Arbeit des Ethnographen als aktiv Beobachtendem und Teilnehmendem im Feld auf der einen und seiner Arbeit als Analysierendem auf der anderen Seite« (ebd., S. 11). Die Anweisungen beantworten z. B. die Frage, zu welchem Zeitpunkt Protokolle geschrieben werden sollen, was darin enthalten sein soll, welches Schreibgerät am besten verwendet werden sollte. So schreibt Roland Girtler: »Die für die Auswertung notwendigen Protokolle verfasse ich der Klarheit und Übersichtlichkeit halber mit der Schreibmaschine. Ich lasse dabei einen 2 bis 3 cm breiten Rand, auf dem ich die für mich wichtigen Aspekte festhalte« (Girtler 2001, S. 142 f.). Bruno Hildenbrand (1984, S. 14) hält fest: »Für das Schreiben der Beobachtungsprotokolle sollte man sich genügend Zeit nehmen«. Das von Bogdan und Taylor (1975) vorgeschlagene Verhältnis von Beobachtungs- und Ausarbeitungszeit von 1 zu 6 hält er jedoch für zu starr. Zuweilen erscheint es so, als sollte hier dem Vorwurf der Subjektivität von Beobachtungsprotokollen durch einen hohen Grad der Formalisierung entgegengetreten werden. Damit Beobachtungsprotokolle einen hohen Grad an Verlässlichkeit für die Analyse aufweisen, werden u. a. folgende Regeln genannt:
Auch wenn in Beobachtungsprotokollen nie Vollständigkeit erreicht werden kann, versuchen diese, möglichst ausgiebig und in zeitlicher Reihenfolge das Beobachtete zu beschreiben. »Dazu gehören Dinge wie etwa: wer und wie viele anwesend waren, die konkrete Beschaffenheit des Ortes, wer was zu wem gesagt hat, wer sich wie bewegte, und eine allgemeine Charakterisierung der Ereignisabfolge« (Lofland 1979, S. 110 f.). In Beobachtungsprotokollen sollte gekennzeichnet sein, wie hoch der Grad der Präzision der Erinnerung ist. Vorgeschlagen wird, dass exakte oder sinngemäße Wiedergaben sowie »unsichere« Daten gekennzeichnet werden sollten (vgl. Lofland 1979). Beobachtungsprotokolle beinhalten »laufende Beschreibungen«, »Besonderheiten«, »vorher Vergessenes, an das man sich jetzt erinnert«, »analytische Ideen und Schlussfolgerungen«, »persönliche Eindrücke und Gefühle« und »Notizen zur weitergehenden Information« (ebd., S. 114 ff.; i. O. kursiv). Hildenbrand (1984, S. 13 f.) unterscheidet dementsprechend zwischen Beobachtungsnotizen, methodischen und theoretischen Notizen, die im Text unterschiedlich gekennzeichnet werden müssen. Nach Siegfried Lamneks (1993) Vorschlägen sollen die Folgen, das Mittel sowie das auslösende Ereignis und der Anreiz der Interaktion sowie die teilnehmenden Personen
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im Protokoll festgehalten werden. Er weist darauf hin, dass Normen und Schranken der Interaktion sowie Regelmäßigkeiten und Wiederholungen von Handlungen ebenfalls protokolliert werden sollen. Der Zusammenhang der Situation, deren Zeitdauer, bedeutsame Unterlassungen und Abweichungen von der Regelhaftigkeit sowie Widersprüchlichkeiten im Interaktionsprozess seien wichtige Daten, die unbedingt beobachtet und gesammelt werden müssten (vgl. ebd., S. 300). Solche Formalisierungen des Beobachtungsprotokolls erscheinen im Sinne der Spielart des starken Dokumentierens (vgl. Mohn 2002) als eine Strategie der Objektivierung der Daten. Es wird dabei suggeriert, als könnten Protokolle ein Abbild oder Abziehbild des Beobachteten liefern. Im Rahmen der Manuals zum Protokollieren im Feld wird kaum reflektiert, dass Beobachtungsprotokolle weniger ein Abbild des Beobachteten als die Deutung des Beobachteten durch Selektion, Interpretation etc. darstellen. Emerson, Fretz und Shaw (1995, S. 16) stellen dazu fest: »Fieldnotes do more than record observation. (…) Rather, such writing is an interpretative process«. Beobachtungsprotokolle konstruieren »a way of life through the very writing choices the ethnographer makes and the stories she tells« (ebd.). Sie sind damit interpretierte Deutungen, weil sie den Deutungen der FeldteilnehmerInnen weitere hinzufügen. Hieran anschließend fassen Emerson, Fretz und Shaw (1995) ethnographisches Schreiben als »cultural translation«, »textualization« oder als »narrating«.
Ethnographisches Schreiben als »cultural translation« macht die Kultur einer Ethnie einer anderen verständlich. Da Ethnographien vorwiegend von der wissenschaftlichen community gelesen werden, bedeutet dies auch die Übersetzung des Alltagswissens in das wissenschaftliche Sprachspiel. Als »textualization« ist ethnographisches Schreiben sprachliches Übersetzen von Erfahrung. Es ist auch textliches Explizieren von Wissen, was den TeilnehmerInnen des Feldes nicht direkt verfügbar ist – »weder in Handlungssituationen, und erst recht nicht auf vages Nachfragen hin (…), weil sie es im Modus des Selbstverständlichen und der eingekörperten Routine haben. Somit sichert die in situ-Anwesenheit einer Ethnographin gerade nicht vorrangig die Möglichkeit, die Welt der anderen mit ihren Augen zu sehen, sondern diese Weltsichten als ihre gelebte Praxis zu erkennen« (Amann/Hirschauer 1997, S. 24). Als »narrating« ist das Verfassen von Beobachtungsprotokollen, der Bericht von FeldforscherInnen über das im Feld Erlebte, zu bezeichnen. Hildenbrand (1984) schlägt in diesem Sinne vor, dass das Beobachtete möglichst konkret, ohne wissenschaftlich orientierte Kondensierungen und Generalisierungen, nah am Sprachgebrauch der Erzählenden und im Kontext des Erlebten fixiert werden sollte.
Diese Unterscheidungen lassen sich mehr oder weniger deutlich auf die oben dargestellten Varianten des Dokumentierens beziehen. Während die »cultural translation« eher als Form des starken Dokumentierens zu verstehen ist, bei der die EthnographInnen die Rolle der bloßen Übersetzung bei zurückhaltender Interpretationsleistung übernehmen, reflektiert »textualization«, dass die starke Dokumentation noch nicht gewährleistet, dass der von den FeldteilnehmerInnen nicht explizierbare immanente Sinngehalt adäquat entschlüsselt wird. Demgegenüber steht das »narrating« in der Gefahr, entweder als Anti-Dokumentation stär-
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ker auf eine reine Erzählung von der Erfahrung der EthnographInnen reduziert zu werden oder als starke Dokumentation als eine Erzählung des Feldes zu gelten. Dies gilt solange, wie die Strategie des »narrating« nicht in ihren Dokumentationsvarianten auf die Forschungsphasen bezogen wird.
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Forschungspraxis: Die formale Struktur narrativer Beobachtungsprotokolle
Im Rahmen zweier Forschungsprojekte wurde ein Protokollierungsverfahren entwickelt, das in besonderer Weise das oben genannte »narrating« beachtet.2 Unser Protokollierungsverfahren wurde auf die jeweiligen Beobachtungsfelder, die Forschungsfragen und Forschungsbedingungen abgestimmt. So wurden in den Forschungsprojekten jeweils relativ kurze Feldaufenthalte von zehn bis zwanzig Tagen durchgeführt, an die sich mit nur kurzen Unterbrechungen weitere Feldphasen anschlossen. Somit konnten die Feldbeobachtungen in der Regel nicht durch längere Phasen des Rückzugs unterbrochen werden, um durch ausführliche Rekonstruktionsleistungen den weiteren Forschungsprozess reflexiv zu steuern.3 Mit anderen Worten: Die Phasen der Felderhebung und der ausführlichen Datenrekonstruktionen waren in der Regel weitgehend voneinander getrennt. Dies hatte zur Folge, dass nachträgliche Fokussierungen durch weitere Teilnehmende Beobachtungen auf Basis von ersten Rekonstruktionen nur vereinzelt vorgenommen werden konnten. Es konnte sich auch nicht darauf verlassen werden, dass durch Nacherhebungen die im Rekonstruktionsprozess sichtbar werdenden Lücken der Teilnehmenden Beobachtungen geschlossen werden. Für die Erstellung von Protokollen Teilnehmender Beobachtungen bedeutete dies erstens, dass hier möglichst viel des Beobachteten und Erinnerten sprachlich zu fixieren war. Sie sollten so ausführlich wie möglich Beschreibungen und Erzählungen zum Feld liefern. Zweitens war es nötig, den Prozess des Protokollierens möglichst schnell abzuschließen: Nachbearbeitungen, Vervollständigungen, Literarisierungen wurden kaum vorgenommen. Das Schreiben von ausführlichen Memos, die ausgiebige Erstellung von theoretischen Notizen und Reflexionen wurden aus der Textproduktion von Beobachtungsprotokollen zwar nicht gänzlich, aber weitgehend ausgeklammert. Die Bedingungen des Forschungsprozesses berücksichtigend, etablierten sich folgende Schritte der Erstellung von Protokollen Teilnehmender Beobachtungen: (1) Feldnotizen: Während der einzelnen Beobachtungstage zogen sich die ForscherInnen mehrere Male am Tag kurz zurück, um Notizen erstellen zu können. Wenn ein gewisses Maß an Vertrautheit mit dem Feld erlangt wurde, erstellten sie diese im direkten Vollzug der Teilnehmenden Beobachtungen. Die Notizen konzentrierten sich u. a. auf den Ablauf der Ereignisse, auf besondere Erlebnisse, sie fixierten Native Codes oder die Eckpunk2
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Ich beziehe mich hierbei auf mein abgeschlossenes Dissertationsprojekt zur Ethnographie sozialpädagogischer Organisationskulturen (vgl. Cloos 2007) und auf das DFG-Forschungsprojekt zu den Konstitutionsbedingungen und der Performativität sozialpädagogischen Handelns in der Kinder- und Jugendarbeit, das gemeinsam mit Stefan Köngeter, Burkhard Müller und Werner Thole an den Universitäten Kassel und Hildesheim durchgeführt wurde (vgl. Cloos u. a. 2009). Allerdings wurde in einem der beiden Projekte nach einer intensiven Feldphase und der sich anschließenden ersten Rekonstruktionsarbeit eine zweite, kürzere Erhebungsphase möglich, in der vertiefende und ergänzende Beobachtungen vorgenommen wurden.
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te eines beobachteten Handlungsablaufes. Kurze Stichworte dienten hier zumeist als Hinweise zur Konservierung der Erinnerung. Wurden Notizen im direkten Vollzug der Teilnehmenden Beobachtungen erstellt, ermöglichten sie u. a. auch die Mitschrift kleinerer Interaktionssequenzen. Dies war jedoch nur bedingt möglich: Das Forschungsdesign einerseits und das Beobachtungsfeld der Kinder- und Jugendarbeit andererseits forderten die BeobachterInnen wider einer Eckensteherethnographie ständig zur Teilnahme heraus (vgl. Cloos 2008). (2) Erzählend protokollieren: Im direkten Anschluss an die Teilnehmenden Beobachtungen wurden ausführliche Protokolle auf Diktiergerät gesprochen. Dabei waren die Feldnotizen eine wichtige, aber nicht hinreichende Basis zur Absicherung des Erinnerten. Ein großer Teil der Protokolle folgte dem Erinnerungsstrom, ohne dass auf Feldnotizen zurückgegriffen werden konnte. Die Protokolle gehören in diesem Sinne weitgehend der Gattung »Stegreiferzählung« an. Sie enthalten jedoch auch weitere Textformen: Es wurde auch festgehalten, welche Daten in folgenden Beobachtungen noch erhoben werden müssen und auf welche Situationen der Aufmerksamkeitshorizont gerichtet werden soll. Es wurde notiert, welche Fragen an die FeldteilnehmerInnen gestellt werden sollen. Es wurden u. a. auch Überlegungen zu der eigenen Rolle als FeldforscherIn, zu den Vereinnahmungsstrategien des Feldes, zu der Eröffnung von Zugangsmöglichkeiten, zum Maß an Vertrautheit mit dem Feld und zu dem methodischen Vorgehen bei der Datenerhebung erfasst. Außerdem enthalten die Protokolle Beschreibungen und Charakterisierungen der FeldteilnehmerInnen und der vorgefundenen räumlichen Bedingungen. Die Protokollierungen eines mehrstündigen Feldaufenthaltes nahmen daher jeweils mehrere Stunden in Anspruch. (3) Transkription: Die audiodigital fixierten Protokolle wurden annähernd wortgetreu transkribiert, wobei Pausen, Wortwiederholungen, Mundart, Stottern etc. – und andere Transkriptionsweisen, die bei der Transkription von Interviews üblich sind – nicht erhalten blieben. Dies wurde nicht in den Rekonstruktionsprozess einbezogen. Auf diese Weise entstanden Protokolle von zum Teil mehr als dreißig Seiten pro Beobachtungstag. (4) Überarbeitung: Im Anschluss an die Transkription der Protokolle, wurden diese 4 systematisch nach Themen und dem sequentiellen Ablauf des Geschehenen sortiert. Dabei wurde versucht, die narrative Struktur der einzelnen größeren Erzählbögen möglichst wenig zu verändern. Zusätzlich wurden die einzelnen Abschnitte mit Überschriften versehen, die das Sichten der Protokolle erleichterten. Außerdem wurde von den EthnographInnen nachträglich Erinnertes eingefügt, insbesondere dann, wenn Lücken des Protokolls auffielen und intersubjektive Verstehbarkeit nicht gewährleistet war. Die Veränderungen wurden jedoch gesondert gekennzeichnet. So blieben sie auch für den späteren Rekonstruktionsprozess als Datum erhalten. Ziel der Überarbeitung war nicht die Literarisierung und theoretische Verdichtung des Textes. Ziel war es, eine annähernd intersubjektiv nachvollziehbare, dichte, sequentiell geordnete Erzählung über das Erlebte zu erhalten (vgl. Geertz 1983). Im Laufe des Forschungsprozesses erwies es sich als sinnvoll, das Protokollierungsverfahren zu variieren: (5) Gegenseitiges Erzählen: Ergänzend wurden Teilnehmende Beobachtungen zu zweit durchgeführt, mit dem Ziel, die von einer Forscherin bzw. einem Forscher entwickelte Perspektive auf das Feld durch eine zweite Perspektive kontrastieren zu können. Dies 4
Die transkribierten Tonbandprotokolle blieben jedoch ebenfalls unsortiert erhalten, damit auch der ursprüngliche Erinnerungsfluss zum Gegenstand der Interpretation werden konnte.
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erschien auch unter Gendergesichtspunkten als sinnvoll. Hierüber konnte eine abweichende Gattung von Protokollen erstellt werden. Auch wenn hier das gegenseitige Erzählen des Beobachteten und Erlebten im Vordergrund stand, ging es immer wieder erstens um die gegenseitige Ergänzung, zweitens um die Kontrastierung und drittens um den Abgleich verschiedener Perspektiven auf das Feld und somit um die Etablierung eines gemeinsamen Erfahrungsraumes und die Reflexionen des eigenen Beobachterstandpunktes. (6) Ergänzung durch registrierende Daten: Die Protokolle wurden durch Transkriptionen von registrierenden Daten ergänzt. In das Protokoll wurden audio-digitale Aufzeichnungen des direkten Interaktionsgeschehens eingearbeitet, wenn sie vorhanden und der Mitschnitt möglich war und sie darüber hinaus besonders interessant erschienen. Dies geschah mit dem Ziel, dem Rekonstruktionsprozess Daten zur Verfügung zu stellen, bei denen die natürliche sequentielle Geordnetheit des Interaktionsgeschehens weitgehend erhalten bleibt. Registrierende Audioaufnahmen sind jedoch insoweit lückenhaft, als sie – so Stefan Hirschauer (2002, S. 40) – die schweigenden Dimensionen des Sozialen nicht abbilden können.
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Talking Fieldnotes
Talking fieldnotes (vgl. Emerson/Fretz/Shaw 1995, S. 41) können unter Beibehaltung einer narrativen Struktur quasi als Reaktion der EthnographInnen auf den Erzählstimulus: »Erzähle mir von deinen Erfahrungen und Erlebnissen deiner Feldbeobachtungen heute« betrachtet werden. Sie sind eine Erzählung über das, was die FeldforscherInnen während ihrer Feldteilnahmen erlebt, gesehen, gehört und gefühlt haben. Sie hangeln sich – dem Erinnerungsstrom folgend – von Situation zu Situation. Sie folgen in weiten Teilen den kognitiven Mustern von Stegreiferzählungen (vgl. Schütze 1984) und sind erzählstrukturell mal mehr und mal weniger Beschreibung, Erzählung oder auch Argumentation. Beobachtungsprotokolle als Talking Fieldnotes sind somit auch Erzählungen darüber, wie FeldforscherInnen Geschichte im Feld erlangen. In diesem Sinne berichten sie vom Enkulturationsprozess von FeldforscherInnen, die den Status eines Fremden, der strukturell nicht dazu gehört, nicht überwinden können (vgl. Kalthoff 1997, S. 240). Sie sind somit erstens Erzählungen darüber, wie Fremdes allmählich vertraut wird. Sie zeigen zweitens auf, wie sich das Feld in das Protokoll einschreibt, wie die ForscherInnen, ohne dass sie es merken, Feldregeln übernommen haben. Jedoch: Der »storytelling mode« (Emerson/Fretz/Shaw 1995, S. 16) des Protokollierens entspricht weder dem alltäglichen, mit Spannungsbögen versehenen oder anekdotenhaften Erzählen im Alltag, noch den belehrenden Reiseberichten über fremde Welten. Beobachtungsprotokolle – so schreibt Lofland (1979, S. 118) treffend – »sind insofern den frühen Filmen von Andy Warhol sehr ähnlich. Sie sind weitgehend alltäglich, ereignislos und stumpfsinnig«. Sie haben einen »Warhol-Beigeschmack« (ebd., i. O. kursiv). Wenn Warhol stundenlang ohne Schnitt und Dramatik ein Hochhaus zeigt, dann folgt er so wenig wie die narrativen Protokolle dem Kondensierungszwang. Unsere Protokolle sind – in Anlehnung an Klaus Amann und Stefan Hirschauer (1997) formuliert – befremdete Erzählungen. Befremdung geschieht dadurch, dass unter Umgehung des Kondensierungszwanges das alltägliche, beobachtete Geschehen in die Länge gezogen wird. Jedes
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noch so kleine Detail, das aus Kondensierungsgründen in Stegreiferzählungen weggelassen würde, wird erzählt. Die von uns aufgezeichneten Protokolle Teilnehmender Beobachtungen sind auf zweifache Weise sequentiell geordnet: Zum einen folgen sie der erzählstrukturellen Ordnung, die durch die EthnographInnen als ErzählerInnen hergestellt werden. Zum anderen versuchen sie, die im Beobachtungsfeld vorzufindende sequentielle Ordnung wiederzugeben. Welche Vorteile können aufgeführt werden, Teilnehmende Beobachtungen nicht sofort schriftlich zu fixieren, sondern zunächst auf Band zu sprechen, dabei narrativ zu konzeptionalisieren und anschließend zu transkribieren?
Beobachtungsprotokolle als Stegreiferzählungen entziehen sich – auch wenn Gestaltschließungszwänge durchaus wirksam werden – literarischen Mustern der Geschlossenheit. Sie bleiben episodenhaft und fragmentarisch, widersprüchlich in ihren Aussagen und verdecken nachträglich nicht die bestehenden Beobachtungslücken. Beobachtungsprotokolle auf Band zu sprechen, verhindert, dass diese so dicht angelegt werden, als könnten sie bereits für sich sprechen und man so tun, als sei mit ihnen abschließend das gesagt, worauf es ankommt. Sie vermitteln nicht, dass der Interpretationsprozess schon weitgehend abgeschlossen ist und transportieren nicht die »Idee der kulturellen Geschlossenheit« (Wolff 1986, S. 339). Die Erhaltung einer narrativen Struktur verhindert solche Objektivierungsversuche. Narrative Beobachtungsprotokolle entziehen sich einem naturalistischen Verständnis von Ethnographien, einer ethnographischen Autorität. Hier tritt kein »allgegenwärtiger, wissender aber unbeteiligter Erzähler auf« (Wolff 1986, S. 339). Die Standpunkte der ethnographischen BetrachterInnen und ihre Erfahrungen bleiben erhalten und rekonstruierbar. Auf diese Weise entziehen sich talking fieldnotes der Illusion, ein Beobachtungsprotokoll könne im Sinne des starken Dokumentierens mit stillosem Stil, wertneutral und wahrheitsgetreu die Fakten zur beobachteten Wirklichkeit wiedergeben. Das Konzept der narrativen Beobachtungsprotokolle schlägt auch nicht vor, die Erfahrungen, Urteile, Einschätzungen der BeobachterInnen aus Feldbeschreibungen zu verbannen, ihnen einen gesonderten Platz im Protokoll zuzuweisen oder ins Feldtagebuch zu verschieben. Auch wird hier nicht der Position eines Anti-Dokumentierens gefolgt, die im Extremfall behauptet, das Protokoll könne nur die Erfahrungen der BeobachterInnen und nicht auch Daten zum beobachteten Feld generieren. Somit pendeln solche Beobachtungsprotokolle zwischen den oben beschriebenen Varianten des Dokumentierens hin und her, ohne sich zunächst auf eine Dokumentationsweise festzulegen. Die jeweilige Dokumentationsform der Protokollantin bzw. des Protokollanten – sei es das starke, anti- oder paradoxe Dokumentieren – und die damit verbundenen Herstellungsweisen des Feldes bleiben somit rekonstruierbar. Talking fieldnotes trennen formal den Prozess des Erzählens von dem der Rekonstruktion. Sie beachten dabei auf besondere Weise, dass die Erstellung des Protokolls bereits eine besondere (Re-)Konstruktionsleistung darstellt. Mit dem Ende der Narration endet der Konstruktionsprozess der EthnographInnen von dem, was sie erfahren haben. Nun kann der Rekonstruktionsprozess beginnen, der anderen kommunikativen Regeln folgt und anderer Formen methodischer Kontrolle bedarf.
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Durch die Maßgabe, die Konstruktionsweisen von Protokoll und ProtokollantInnen im Anschluss zu rekonstruieren und sowohl Protokoll als auch Rekonstruktion im ethnographischen Bericht zumindest auszugsweise und verdichtet zu dokumentieren, wird ein methodisch reflektiertes, instrumentelles Wechselspiel zwischen den Spielarten des Dokumentierens geschaffen. Hierüber werden die Fiktionen bearbeitet, das Dokumentieren könne erstens von der Interpretation getrennt werden und zweitens eine eingreifende und gestaltende AutorInnenschaft diese Fiktion aufheben (vgl. Mohn 2002). Zentral beim Konzept der talking fieldnotes als Narrationen von FeldforscherInnen über ihre Erfahrungen mit und ihre Einsozialisation in ein Forschungsfeld ist, dass hierüber die Konstruktionsleistungen der EthnographInnen im gesamten Forschungsprozess rekonstruiert und intersubjektiv nachvollzogen werden können. Sie schränken die Autorität der ethnographischen Konstrukteure ein, indem sie zum Anlass für Rekonstruktionen in der Forschergruppe werden und im ethnographischen Forschungsbericht den Rekonstruktionsprozess nachvollziehbar werden lassen. Auf diese Weise werden die EthnographInnen nicht nur zu extensiven SchreiberInnen, sondern auch zu gründlichen LeserInnen (Rekonstrukteuren) (vgl. Amann/Hirschauer 1997, S. 29) ihrer narrativen Feldprotokolle.
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Zur Bedeutung ethnographischer Beobachtungen für die Biographieforschung Ulrike Loch
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Methodisches Selbstverständnis von Ethnographie und Biographieforschung
Ethnographie als qualitative Forschungsrichtung ist ihrem Selbstverständnis nach methodenplural angelegt. Beispielsweise definiert Christian Lüders (2000, S. 389) die teilnehmende Beobachtung »als eine flexible, methodenplurale kontextbezogene Strategie, die ganz unterschiedliche Verfahren beinhalten kann«. Klaus Amann und Stefan Hirschauer (1997, S. 16) schreiben: »Es werden vielfältige Dokumente gesammelt und erzeugt: von den Teilnehmern erstellte Artefakte, diverse Schriftstücke, Interviewdokumente, Konversationsmitschnitte, Videotakes. Solche Dokumente können sich in einem Datenkorpus wechselseitig interpretieren und kontrollieren. Aber auch wenn nur einzelne Abschöpfungsverfahren eingesetzt werden, ist das, was sie zur Ethnographie macht, ihre Einbettung in den Kontext einer andauernden teilnehmenden Beobachtung«. Mit anderen Worten: Die Ethnographie wird als qualitative Forschungsstrategie verstanden, die nicht über ein methodisches Verfahren definiert wird, sondern deren methodische Ausrichtung sich am Gegenstand orientieren soll (vgl. Amann/Hirschauer 1997; Hirschauer 2002). Gemeinsam ist ethnographischen Studien, dass ihre Ergebnisse auf teilnehmenden Beobachtungen beruhen, welchen eine Gleichzeitigkeit des Ablaufs des zu untersuchenden Geschehens und dessen Beobachtung durch die jeweiligen ForscherInnen zugrunde liegt. Im Unterschied zur Ethnographie schien die (sozialwissenschaftliche und die erziehungswissenschaftliche) Biographieforschung über eine lange Phase hinweg – jedenfalls per Zuschreibung und auch bei Betrachtung der Mehrzahl der biographietheoretischen Veröffentlichungen – an Interviews als einziges Erhebungsverfahren gebunden gewesen zu sein. Zum anderen findet sich die Triangulationen von Erhebungsmethoden bereits in den Pionierarbeiten von Wilhelm Thomas und Florian Znaniecki aus den 1920er Jahren (vgl. Fischer-Rosenthal 1995). Ein genauer Blick in die Methodendesigns biographietheoretischer Studien zeigt jedoch zum einen, dass hinter dieser Vereinheitlichung eine sehr unter1 schiedliche Interviewpraxis liegt. Am Gegenstand ausgerichtete Studien führten in den vergangenen Jahrzehnten zur Weiterentwicklung der Interviewmethoden in unterschiedlichen Feldern. So wurde das Spektrum der Erhebungsmethoden innerhalb der narrativen Interviewpraxis zum einen um Genogramme, Familiengespräche und Familienskulpturen erweitert.2 Zum anderen werden Archivdokumente, autobiographische Zeugnisse, Briefe, 1
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Auch unter der Bezeichnung »narratives Interview« werden in jüngster Zeit unterschiedliche Erhebungsmethoden subsumiert. Es finden sich darunter offene Interviews, wie sie von Fritz Schütze (1976, 1983) in der Sozialforschung etabliert wurden, sowie teilstrukturierte Interviews mit erzählgenerierenden Fragen (vgl. z. B. Schweppe 2003). Siehe in Bezug auf Familiengespräche und Genogramme beispielsweise Bruno Hildenbrand (1999) sowie für die Triangulation von Familiengesprächen und narrativen Interviews mit Familienskulpturen und Genogrammen Gabriele Rosenthal (1997).
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Fotographien und/oder Videoaufzeichnungen der InterviewpartnerInnen in die Auswertung einbezogen. Auch das Schreiben von Protokollen zum Verlauf der Kontakte zu den InterviewpartnerInnen gehört zur Alltagspraxis in vielen Forschungssettings, ohne dass dies Bestandteil der Veröffentlichungen wird. In meiner Studie über Gewalt in Familien, auf der die folgenden Ausführungen basieren, wurden alle hier aufgezählten Materialien verwendet. Die methodische Ausrichtung orientierte sich jeweils an den konkreten Fällen, den zugänglichen Daten und an dem für das Erkenntnisinteresse zu erwartenden Gewinn (vgl. Loch 2006). Mit anderen Worten: Auch in der Biographieforschung findet sich jene am Gegenstand orientierte Methodenvielfalt, so wie dies Amann und Hirschauer (1997) für die Ethnographie beschreiben. Die in der Biographieforschung verwendeten Daten unterscheiden sich je nach Forschungsgegenstand und Fragestellung sehr. Diese Erhebungspraxis ist in Bezug auf die Biographieforschung jedoch weniger bekannt, da hier eher die Gemeinsamkeit fokussiert wird: nämlich (narrativ-)biographische Interviews. Erst in neuerer Zeit stoßen methodische und methodologische Überlegungen zur Verknüpfung von Biographieforschung mit anderen qualitativen Methoden und Forschungsrichtungen, wie z. B. der Ethnographie, auf ein breiteres Interesse und werden auf Tagungen und in Veröffentlichungen thematisiert (vgl. Völter u. a. 2005).
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Situationen im Blick von Ethnographie und Biographieforschung
Bettina Dausien und Helga Kelle (2005, S. 209) arbeiten als Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Biographieforschung und Ethnographie heraus, dass beide Forschungsrichtungen »in Hinblick auf ihre empirische Gegenstandskonstruktion durch spezifische Text-Kontext-Relationen beschrieben und unterschieden werden« können. Mit TextKontext-Relationen meinen die beiden Autorinnen, dass die Biographieforschung in der Regel eine Lebensgeschichte in den Mittelpunkt stellt, während sich der Text der Ethnographie auf ein situiertes Interaktionsgeschehen, insbesondere auf die Interaktionsordnung, bezieht.3 Aber Biographieforschung und Ethnographie »überschneiden sich auch und können zur wechselseitigen Kontextualisierung und, nicht zuletzt, als Herausforderung genutzt werden, [um] die ›Schnittstellen‹ zwischen situierter Praxis und biographischer Strukturbildung theoretisch zu reflektieren. Geschichten werden in Situationen erzählt, aber Situationen haben auch ihre Geschichte(n)« (Dausien/Kelle 2005, S. 209). Ethnographische Studien machen sich die Verknüpfung von Geschichte(n) und Situationen zunutze, indem in längeren Feldaufenthalten auch biographische Interviews geführt werden.4 Für ethnographische Forschungen können Fragen nach der interaktiven Konstruktion von Lebensgeschichten (vgl. Dausien/Kelle 2005) oder nach der biographischen Struk3
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Bettina Dausien und Helga Kelle (2005, S. 201) führen dazu weiter aus: »Im Zentrum des ethnographischen Interesses steht, ganz im Sinne Goffmans, die Analyse der Interaktionsordnung, die im je konkreten ›Text‹ eines situierten Interaktionsgeschehens reproduziert bzw. variiert wird. Für die Biographieforschung, die üblicherweise den ›Text‹ einer individuellen Lebensgeschichte in den Mittelpunkt stellt und damit ein anderes Text-Kontext-Verhältnis konstruiert, bedeutet diese Sicht eine Provokation«. Aus der Perspektive der Biographieforschung geht es um Erfahrungsaufschichtung und die mit den Erfahrungen verbundenen Sinnkonstruktionen, insbesondere wenn zwischen erlebter und erzählter Lebensgeschichte unterschieden wird (vgl. Rosenthal 1995). Vgl. hierzu beispielsweise die Studie von Peter Cloos (2007).
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turierung von Interaktionen im Feld interessant sein. Von Seiten der Biographieforschung war es insbesondere Fritz Schütze (1994), der auf den Gewinn der ethnographischen Erkenntnishaltung für biographische Forschungen und professionelle Handlungspraxen verwies (siehe auch Alheit 2001; Loch/Schulze 2002). Die ethnographische Erkenntnishaltung, welche auf die Befremdung der scheinbar vertrauten sozialen Umgebung abzielt, stellt eine grundlegende Voraussetzung zur Annäherung an (situationsgebundene) Sinnkonstruktionen von GesprächspartnerInnen dar. Zur Einnahme dieser Haltung, auch im Analyseprozess, bedarf es ethnographischer Aufzeichnungen über den Interviewprozess, die nur selten in biographietheoretischen Veröffentlichungen erwähnt werden.
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Ethnographische Daten in der Biographieforschung
Das Verstehen der Situationsgebundenheit von Sinnkonstruktionen sowie deren biographischer Aufschichtung werden durch die Analyse der Interaktionen zwischen Interviewten und InterviewerInnen möglich. Datengrundlage hierfür bilden so genannte Memos. In diesen Memos werden die Kontakte zu potentiellen InterviewpartnerInnen ab der Kontaktaufnahme protokolliert. Dies gilt sowohl für Kontakte, aus denen Interviews hervorgegangen sind, als auch für gescheiterte Kontaktaufnahmen, wie im Folgenden ausgeführt wird. 3.1 Zur Funktion von Memos von gescheiterten Kontaktaufnahmen Gescheiterte Feldzugänge können sehr aufschlussreich sein in Bezug auf den Forschungsgegenstand. Aus diesem Grund werden auch Erstkontakte zu potentiellen InterviewpartnerInnen protokolliert, aus denen keine Interviews hervorgegangen sind. Einerseits ermöglicht die Analyse der Interaktion von gescheiterten Kontaktaufnahmen zu verstehen, inwieweit es Veränderungen im Modus der Kontaktaufnahmen von Seiten der Forschenden bedarf, um Zugang zum Feld zu bekommen. Zum anderen sagt es viel über ein Feld aus, wenn beispielsweise ein Mensch anruft und sich zu einem Interview bereit erklärt, dabei aber auf die Anonymität eines Telefoninterviews besteht. In meinem Sample – ich suchte InterviewpartnerInnen mit sexualisierten Gewalterfahrungen – kamen diese und ähnliche Anfragen ausschließlich von Männern. Hier deuten sich gesellschaftlich relevante Unterschiede zwischen den Geschlechtern im Umgang mit erlittenen sexualisierten Gewalterfahrungen an, wie die Rekonstruktion der Memos ergab.5 Wenn ich eine größere Anzahl in der Kindheit durch sexualisierte Gewalt traumatisierter Männer hätte interviewen wollen, wäre eine Modifikation des Feldzugangs notwendig gewesen. Wahrscheinlich hätte ich mich zunächst auf Telefoninterviews einlassen müssen, um hierüber ausreichend Vertrauen aufzubauen, sodass zu einem späteren Zeitpunkt vis-a-vis-Interviews möglich geworden wären. Ich habe mich aus forschungspragmatischen Gründen jedoch zur Veränderung des Samples entschieden und mich auf Interviews mit traumatisierten Frauen konzentriert.
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Zu den Unterschieden zwischen den Geschlechtern im Umgang mit erlittenen sexualisierten Gewalterlebnissen in der Kindheit siehe Silke Gahleitner (2005) sowie Gahleitner, S./Lenz, H.- J./Oestreich, J. (2007).
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3.2 Memos über Kontakte, aus denen Interviews hervorgegangen sind Bei gelingenden Kontaktaufnahmen wird in den Memos der Verlauf der Kontakte zu den InterviewpartnerInnen während einer Studie aufgeschrieben. Die Memos enthalten in chronologischer Reihenfolge: c.
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Kontaktdaten, u. a. Informationen über das Zustandekommen des Erstkontaktes und eventuelles Vorwissen über die InterviewpartnerInnen, sofern der Kontakt über persönliche Vermittlung stattfindet (Schneeballsystem). Letzteres soll verhindern, dass unintendiert Fremdbilder auf die InterviewpartnerInnen übernommen werden. Es folgen Protokolle von den Erstkontakten am Telefon. Diese Gespräche werden in der Regel unmittelbar nach dem Telefonat möglichst in sequentieller Abfolge protokolliert. Weiterhin werden die Interviewsituationen protokolliert, d. h. die Kontakte bis zum Beginn der Interviewaufzeichnung, die Pausen sowie die Gesprächssituation(en) nach Abschalten des Aufnahmegerätes. Hierzu zählen auch Seitengespräche mit Familienangehörigen, MitbewohnerInnen und/oder BesucherInnen. Auch hierbei gilt es, im sequentiellen Ablauf des Geschehens zu bleiben. Ferner werden Gedanken und Beobachtungen während des Interviews, Beschreibungen der Wohnungen sowie die Befindlichkeit der Interviewerin notiert. Die Protokolle enthalten bereits erste Hypothesen zum Fall und Überlegungen zum Vorgehen bei Nachfrageinterviews und/oder bei der Auswertung. Diese Protokolle werden in der Regel unmittelbar nach den Interviews auf Papier geschrieben und in den darauffolgenden Tagen in den Computer übertragen. Dabei erfahren sie in der Regel Ergänzungen, die als solche markiert werden. Mit den InterviewpartnerInnen wird nach Möglichkeit vereinbart, in den folgenden Tagen zu telefonieren und nachzufragen, wie sie das Interview mit Abstand erlebt haben. Auch diese Gespräche und die darauf basierenden Hypothesen werden protokolliert. Ferner enthalten die Memos Kopien bzw. Abschriften von Briefen und E-Mails, die mit den InterviewpartnerInnen ausgetauscht wurden. Anlass sind von den Interviewten zur Verfügung gestellte Fotos, Briefe, Videos und Tagebucheinträge sowie Adressen von Familienangehörigen, FreundInnen und Bekannten, die sich ebenfalls zu Interviews bereit erklärt haben.
Mit dieser detaillierten Aufzählung soll verdeutlicht werden, dass im Prozess der Biographieforschung sehr viele ethnographische Daten entstehen, wenn die Interaktionen und die soziale Umgebung mit in die Erhebung einbezogen werden. Die in den Memos enthaltenen ethnographischen Daten dienen in der Erhebungsphase zur Vorbereitung weiterer Kontaktaufnahmen. In der Phase der Interviewführung geben sie Hinweise für erzählgenerierende Nachfragen, soweit Nachfrageinterviews geführt werden. Bei der Auswertung sensibilisieren sie für fallbezogene Themen- und Fragestellungen. Dies wird im Folgenden an einem Beispiel illustriert.
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Fallbeispiel
Das folgende Fallbeispiel wurde meiner Studie entnommen, für die ich Töchter aus nationalsozialistischen Familien interviewte, die in der Kindheit durch sexualisierte Gewalt traumatisiert wurden. Die Kontakte zu den InterviewpartnerInnen kamen im Wesentlichen über zwei Wege zustande: zum einen über Zeitungsannoncen, in denen ich GesprächspartnerInnen suchte, die in der Kindheit sexualisierte Gewalt durch Familienangehörige erlitten und zum anderen über Selbsthilfegruppen und Tagungen, die sich mit der tradierten nationalsozialistischen Vergangenheit beschäftigen. In beiden Zugängen fragte ich nach lebensund familiengeschichtlichen Interviews mit Frauen, die sexualisierte Gewalt in der Kindheit erlitten haben. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Zugängen ist, dass bei der zweiten Variante die Angefragten von sich aus den Zusammenhang zwischen Familiengeschichte und Nationalsozialismus herstellen. Somit war das Thema Nationalsozialismus bereits in den ersten Kontaktaufnahmen präsent. Es zeigte sich deutlich, wie der Feldzugang und die damit verbundenen Vorabinformationen – also der Text der Zeitungsannoncen sowie meine schriftlichen Anfragen bei Gruppen, die sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit beschäftigen – die Selbstpräsentation der GesprächspartnerInnen bei den ersten Kontaktaufnahmen mitbestimmten. Soweit Interviews zustande kamen, fanden in der Regel zwei bis drei mehrstündige Interviews sowie mehrere Telefonkontakte statt. Auf eines der während des Forschungsprozesses angefertigten Memos und dessen Bedeutung im Verlauf der biographischen Fallrekonstruktion möchte ich im Folgenden eingehen. 6 Sabine Bergner (*1947) nahm Kontakt zu mir auf, nachdem auf einem Treffen einer Begegnungsgruppe von Juden/Jüdinnen und Nichtjuden/Nichtjüdinnen das Forschungsprojekt vorgestellt worden war. Im ersten Telefongespräch teilte Sabine Bergner – wie im folgenden Auszug aus dem im Anschluss an das Telefonat geschriebenen Memo notiert – mit: »Sie habe in diesem Jahr eine Gruppenreise nach Auschwitz gemacht. Ein Mann berichtete dort über sexualisierte Übergriffe durch das Wachpersonal auf die Gefangenen, dadurch konnte sie zum ersten Mal den Gedanken zulassen, dass es sexuelle Gewalt durch die Nationalsozialisten gegeben hat«. Im Anschluss daran sagte sie – für mich sehr unvermittelt und irritierend – ihre Eltern seien »keine richtigen Nazis« gewesen. Im Folgenden wird dargelegt, welche Bedeutung diesem Satz auf der Ebene des situativen Interaktionsgeschehens und der narrativen Gesprächsführung (1), der (Familien-) Biographie (2) und der Kontrastierung bzw. der Fallrekonstruktion (3) zukommt. (1) Ebene des situativen Interaktionsgeschehens: Wird der Satz – ihre Eltern seien »keine richtigen Nazis« gewesen – auf der Ebene des Interaktionsgeschehens fokussiert, so beinhaltet er die Mitteilung, sie sei keine richtige Nazi-Tochter. In der ersten persönlichen Begegnung führte diese Intention – nicht als Tochter von richtigen Nazis gesehen zu werden – zu einer Interaktionsgestaltung, in der Sabine Bergner von Beginn an – und im Laufe der Interaktionen außerhalb der Tonaufzeichnungen zunehmend offener – die Interviewerin mit ihrer langjährigen, ca. zwanzig Jahre jüngeren Freundin verglich. Sabine Bergners ehemalige Lebensgefährtin und die Interviewerin sind ungefähr gleichaltrig, wie Sabine Bergner nach Erfragung des Geburtsjahres der Interviewerin mitteilte. Für Sabine Bergner boten die gemeinsame Geschlechtszugehörigkeit sowie der Altersunterschied zwischen ihr 6
Name sowie weitere persönlichen Angaben wurden anonymisiert; vgl. zur ausführlichen Falldarstellung Ulrike Loch (2006, S. 156-197).
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und der Interviewerin die Möglichkeit einer Interaktionsgestaltung, in der sie sich als erfahrene Lesbe präsentieren konnte. Damit standen die Orientierung an der Gegenwart, insbesondere die Geschlechtszugehörigkeit und die sexuelle Orientierung, im Vordergrund des Interaktionsgeschehens. Mit dieser Inszenierung – die Interviewte ist Drehbuchautorin – konnte sie es zeitweise vermeiden, über die »Geschichte ihrer Eltern« zu sprechen. Das Erzählen der »Geschichte der Eltern« fiel ihr sehr schwer, wie sie wiederholt betonte. Das Interview fand im Arbeitszimmer der Interviewten statt. Sabine Bergner nahm halb liegend auf einer Matratze Platz – mangels Alternativen saß ich am anderen Matratzenende. Ermöglicht wurde diese Interviewgestaltung durch den methodischen Ansatz, den Interviewten einen möglichst großen Raum zur Selbstpräsentation zu überlassen. Sabine Bergner sprach in dem Interview viel über ihre Eltern. Dabei präsentierte sie ihre Familiengeschichte so diffus, dass ich nach dem Interview nicht wusste, ob sie Tochter einer nationalsozialistischen Opfer-, Täter- oder Mitläuferfamilie ist. Umso erstaunter war ich am Ende des Gesprächs von ihrer Verunsicherung, die sie wie folgt mitteilte: »Es klingt vielleicht n bisschen so als hätt ich meine Eltern so schlecht gemacht ne das möcht ich auch nich«. Auf der Ebene des Interaktionsgeschehens lässt sich diese Verunsicherung weniger aus ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung erklären, denn hier schützte sie ihre Eltern sehr. Ihre Verunsicherung erklärt sich aus meinen Interventionen. Während Sabine Bergner mir gleich zur Begrüßung das »du« angeboten hatte und mich durchgehend duzte, schuf ich mit meinen Fragen immer wieder Distanz, indem ich sie kontinuierlich siezte. Wenn ich es rechtzeitig bemerkte, korrigierte ich mich. Ich hatte in dieser Interviewsituation durchgehend ein Nähe-Distanz-Problem, da ich Sabine Bergner ausschließlich als Interviewpartnerin sehen wollte, die mir ihre Lebens- und Familiengeschichte erzählt. Ich wollte intuitiv nicht in die Gestaltung ihrer intimen (gleichgeschlechtlichen) Beziehungen hineingezogen werden bzw. in eine Interaktion, die Parallelen zu einer sexuell ausgerichteten Frauenbeziehung enthält. Im Unterschied zur Interviewerin gewann Sabine Bergner über die vorgenommene Parallelisierung von Freundin und Interviewerin in der persönlichen Begegnung Sicherheit. Sie konnte hierüber die Interaktion strukturieren und gleichzeitig in der Gegenwart verorten. Dies ermöglichte ihr, das Erzählen einer Familiengeschichte aus der Gegenwart. Die Einbindung der Interviewerin in die Beziehungsdynamik kann dabei als ein Versuch interpretiert werden, diese darüber auch in die Perspektive der Interviewten auf die »Geschichte ihrer Eltern« einzubeziehen. Aus Sabine Bergners Perspektive ist ihre Aussage, ihre Eltern seien »keine richtigen Nazis«, unhinterfragbar. In einer biographietheoretischen Studie stellt sich im Anschluss an den Satz, die Eltern seien »keine richtigen Nazis« gewesen, in besonderer Weise die Frage nach der Familiengeschichte. Noch während ich das Aufnahmegerät aufbaute, wiederholte Sabine Bergner diesen Satz. Er hatte in der ersten persönlichen Begegnung den Charakter einer Regieanweisung zum Verstehen ihrer Lebens- und Familiegeschichte. Der Satz bestimmt ihre Perspektive auf ihre Familie so zentral, dass sie ihn auch im Interview wiederholte. (2) Ebene der (Familien-)Biographie: Für die biographische Analyse des Interviews stellen sich die Fragen, woraus die Biographin die Unterscheidung zwischen richtigen und keinen richtigen Nazis ableitet, warum sie die Eltern als »keine richtigen Nazis« präsentiert und was sie mit dieser Unterscheidung vermitteln möchte. Wie die Fallrekonstruktion ergab, unterscheidet Sabine Bergner zwischen »Nazis« und »keinen richtigen Nazis« abhängig davon, ob sie Parteimitglieder waren oder nicht. Familienbiographisch sind über Sabine
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Bergners Konstruktion – »Nazis« sind diejenigen, die der nationalsozialistischen Partei (NSDAP) angehörten – ihre Eltern »keine richtigen Nazis«. Denn ihre Mutter war nicht in der NSDAP und Sabine Bergner weiß nichts über die Parteizugehörigkeit des Vaters.7 Mit dieser Konstruktion versucht Sabine Bergner, sich lebensgeschichtlich vor den belastenden Auswirkungen der Familienvergangenheit zu schützen. Sie schämt sich für die nationalsozialistische Vergangenheit der Eltern, über die sie viel weiß: Ihre Mutter war Maidenführerin im Reichsarbeitsdienst (RAD). Diese Führerinnenschaft kann Sabine Bergner entsprechend der dominanten gesellschaftlichen Sprachcodes als unpolitische Arbeit für Mädchen darstellen. Anschaulicher formuliert: Wenn Sabine Bergner über die Aufgaben ihrer Mutter beim RAD spricht, so wirkt dies, als sei die Mutter für die Freizeitgestaltung der Mädchen und jungen Frauen zuständig gewesen. Beim Vater gestaltet sich eine entpolitisierende Darstellung schwieriger. Auch wenn Sabine Bergner nicht alle Stationen seiner nationalsozialistischen Vergangenheit kennt, so weiß sie doch von seinem Berufsverbot nach 1945 sowie von seinen Reisen nach Osteuropa vor 1945. Während der Kriegsjahre bereitete der Vater im Auftrag einer Reichsbehörde den »Verkauf« osteuropäischer Unternehmen an deutsche Interessenten vor. Die damit einhergehende Ghettoisierung sowie die Ermordung der jüdischen Bevölkerung in Osteuropa bejahte er in seinen Briefen an die Familie, die Sabine Bergner besitzt und von denen sie mir Kopien zur Verfügung stellte. Diesen Teil der Familienvergangenheit vernebelt Sabine Bergner über die Konstruktion, ihre Eltern seien »keine richtigen Nazis«. Ihr gelingt darüber das Präsentieren einer Familienbiographie, die anschlussfähig ist an den kollektiv geteilten Mythos der Nichtwissenden und MitläuferInnen, der nach 1945 die Integration von TäterInnen, MitläuferInnen und ZuschauerInnen in die alte Bundesrepublik ermöglichte (vgl. Bude 1999). (3) Ebene der Kontrastierung bzw. der Fallrekonstruktion: Die Auswertungsergebnisse der Memos einerseits sowie die Ergebnisse der Analyse der biographischen Erzählung andererseits und deren Kontrastierung zeigen, dass sowohl die lebensgeschichtliche Erzählung als auch die Gestaltung der Interaktion von Sabine Bergners Wissen, Tochter nationalsozialistischer Eltern zu sein, bestimmt wird. Dieses Wissen ist verbunden mit Schamgefühlen, wie sie viele Nachkommen von nationalsozialistischen TäterInnen und MitläuferInnen in sich tragen. Sabine Bergner versucht in ihrem Leben diesen Schamgefühlen zu entgehen, indem sie sich eine Perspektive auf ihre Eltern konstruiert, in der sie diese als »keine richtigen Nazis« darstellen kann. Würde sie die Zugehörigkeit zur SA oder zum RAD anstelle der Parteizugehörigkeit als Kriterium wählen, könnte sie nicht sagen, ihre Eltern seien »keine richtigen Nazis« gewesen. Sabine Bergner verfügt darüber hinaus über – situativ gebundene – unterschiedliche Muster, dieses schamgebundene Wissen über die nationalsozialistische Vergangenheit ihrer Eltern auszugrenzen. Dies kann – wie in der Begegnung mit der Interviewerin – die Betonung eines anderen Lebensbereiches sein – wie die Präsentation ihrer lesbischen Identität in der Interaktion mit der Interviewerin – und/oder der Rückgriff auf kollektive Sprachcodes, in welchen die Kollektivgeschichte im Nationalsozialismus verharmlost wird. Gleichzeitig 7
Die Archivanfrage ergab, dass der Vater 1931/32 für einige Monate NSDAP-Mitglied war. Auch nach seinem Austritt orientierte er sich weiter im deutschnationalen Spektrum, so wurde er 1932 Mitglied im Stahlhelm. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 wechselte er in die SA (Sturmabteilung), der er bis 1935 angehörte.
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zeigt sich bei der Betrachtung der Interaktion, dass diese auch durch zeitlich spätere lebensgeschichtliche Erfahrungen mitgestaltet wird. Denn ich wurde als Interviewerin nicht pauschal als potentielle Lesbe wahrgenommen. Vielmehr verglich mich Sabine Bergner aufgrund meines Alters konkret mit ihrer ehemaligen Lebensgefährtin. Mit dieser Partnerin lebte sie eine Beziehung, die von wechselseitigen Grenzüberschreitungen durchzogen war, was u. a. eine Folge der erlittenen Gewalterfahrungen in der Kindheit ist. Das Wahrnehmen von diffusen Grenzüberschreitungen war bei mir in der Interaktion vorhanden, weshalb ich intuitiv über Sprache immer wieder Distanz herstellte. Den Zusammenhang zwischen der von mir in der Interaktion wahrgenommenen Grenzüberschreitung und Sabines Bergners Lebensgeschichte verstand ich jedoch erst nach der Fallrekonstruktion, d. h. nach der Kontrastierung der Ergebnisse der getrennten Auswertung der Memos und der Interviews.
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Fazit
Mit dem Fallbeispiel hoffe ich gezeigt zu haben, dass sich der Horizont des Verstehens von Lebensgeschichten und den dort innewohnenden Sinnkonstruktionen erweitert, wenn Erkenntnisse aus ethnographischen Datenauswertungen in den Prozess der biographischen Datenerhebung und Analyse einbezogen werden. Pointiert formuliert, sensibilisiert die ethnographische Perspektive die Biographieforschung für die jeweils gegenwärtige Praxis und die darin innewohnenden Interaktion(sordnung)en. Ein weiterer Gewinn dieses Vorgehens ist die wechselseitige Kontrolle der erhobenen Daten, so wie dies Klaus Amann und Stefan Hirschauer (1997) für die in der Ethnographie praktizierten Datentriangulation beschreiben, welche in biographischen Fallrekonstruktionen im Prozess der Kontrastierung der Ergebnisse der einzelnen Auswertungsschritte genutzt werden kann. Denn so wie Bettina Dausien und Helga Kelle (2005) anhand ethnographischer Daten bzw. für die Ethnographie zeigen, dass Situationen auf Lebensgeschichten verweisen, so kann umgekehrt für die Biographieforschung herausgestellt werden: Lebensgeschichten werden in Situationen erzählt. Sie sind in ihrer Entstehung immer an die Lebenserfahrungen der Sprechenden und an die konkreten Interaktionen bzw. Situationen gebunden, die sie hervorbringen.8 Mit Blick auf das Fallbeispiel kann ergänzt werden: Strukturierend für Situationen wie auch für biographische Erzählungen sind Prozesse der Aushandlung von Generation, Geschlecht (doing gender)9 und der sexuellen Orientierung.
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8 9
Dies veranschaulichen Analysen bilingualer Interviewsequenzen eindrücklich (vgl. Schulze 2006 a, b). Siehe hierzu Dausien (1999) sowie Breidenstein/Kelle (1998).
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4. Produktionsweisen von Wissen, Befremdung, Rekonstruktion, Verständigung
Einen neuen Blick auf schulischen Unterricht entwickeln: Strategien der Befremdung Georg Breidenstein
Ich steige mit einer kleinen Feldnotiz ein, die sich ganz gut auf den Titel des Bandes beziehen lässt. Als »unsicheres Terrain« erweist sich hier die Situation der Feldforschung selbst: Dann kommt endlich Michael, wir rauchen zusammen und palavern noch ein bissel, ich fühle mich ziemlich unsicher in diesem Gelände, orientierungslos. Michael hat mir draußen noch erzählt, dass wir jetzt bei einer Lehrerin zuschauen wollen, die noch nichts davon weiß. Ich denke mir, dass das wohl eine echt ungünstige Konstellation ist, ich zumindest wollte in so einem Moment nicht an ihrer Stelle sein. Wer sagt denn schließlich NEIN in solch einem Moment und verweigert seine, ihre in diesem Fall, Dienste der Wissenschaft? (Kerstin Jergus)
Dieser kleine Ausschnitt beschreibt die Einführung einer neuen Forscherin in das Feld, das einem anderen Ethnographen, Michael Meier, schon vertraut ist. Der Hintergrund besteht in einem Forschungsprojekt, das über drei Jahre hinweg »Jugendkultur in der Unterrichtssituation« in zwei verschiedenen Schulklassen beobachtet und analysiert hat.1 Die neue Ethnographin, Kerstin Jergus, hält sich zunächst an dem vertrauten und Gemeinschaft stiftenden Ritual des »Palaverns« und Rauchens mit dem Kollegen fest. Die in der Feldnotiz angesprochene »Orientierungslosigkeit im Gelände« stellt eine Metapher für die noch ungeklärten Beziehungen zu den Teilnehmerinnen im Feld dar. Sie meint aber auch – ganz wörtlich – fehlende Ortskenntnis: Die ersten Tage in einer neuen Schule bestehen immer aus dem Suchen des richtigen Raumes, aus Erkundigungen nach dem Sekretariat oder der Toilette und dem bangen Hoffen, dass diejenigen, mit denen man sich in der Hektik des Schulalltages verabredet hat, sich dessen auch erinnern würden. Im vorliegenden Fall ist der Zugang eigentlich schon etabliert. Michael Meier gehört zum Alltag »seiner« Klasse, er kann kommen und dabei sein, auch ohne sich vorher anzukündigen. Die neue Feldforscherin hat aber noch ein sehr waches Empfinden dafür, welche Zumutung die Forschung für die Teilnehmerinnen im Feld bedeuten kann: Eine Lehrerin kann sich dem Anliegen einer erziehungswissenschaftlichen Unterrichtsforschung kaum prinzipiell verweigern – sie würde sich dem Verdacht aussetzen, dass ihr Unterricht der Beobachtung durch Außenstehende nicht standhält. Andererseits ist die Anwesenheit »Dritter« außer der Schulklasse und der Lehrerin zumindest in der deutschen Unterrichtskultur eher selten und ungewohnt. Die Tür des Klassenraums ist während des Unterrichts geschlossen, und was dort drinnen passiert, dringt höchstens in Form von Geräuschfetzen nach außen. Schulischer Unterricht ist ein merkwürdiges Zwitterwesen zwischen öffentlich veranstalteter und verantworteter und einer letztlich sehr persönlichen und involvierenden Praxis – jedenfalls auf Seiten der Lehrerin. Anhand der artikulierten Skrupel der Feldfor1
Dieses ethnographische Projekt wurde von der DFG finanziert und von 2001 bis 2005 unter meiner Leitung am Zentrum für Schulforschung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg durchgeführt (vgl. Breidenstein 2006).
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scherin lässt sich also über die Besonderheiten der Situation nachdenken, die zu beobachten sie sich anschickt. Jedes »Feld« ist nicht zuletzt durch seine spezifische Exklusivität, durch seine Zugangsbarrieren und durch die Bedingungen des Zugelassen-Werdens bzw. Sichzugehörig-Fühlens gekennzeichnet (vgl. auch Kalthoff 1997). Die Beobachtung der ersten Schritte einer Ethnographin im Feld der Schule bilden einen Einstieg, um im Folgenden etwas genauer auf methodologische und methodische Probleme der Ethnographie im Rahmen von Unterrichtsforschung einzugehen. Die Metapher vom »unsicheren Terrain«, die diesem Band den Titel gibt, kann ja nicht nur auf die konkrete Situation der Feldforschung bezogen werden, sondern auch auf den methodologischen Status der Ethnographie als Forschungsstrategie und auf zu diskutierende Fragen im Bereich des methodischen Vorgehens. Die Ethnographie wird seit einigen Jahren im Spektrum der Methoden der qualitativen Sozialforschung zunehmend anerkannt. Das heißt zugleich, dass sie als eine solche, als »Methode«, dort einsortiert wird. Die »Ethnographie« bekommt ein eigenes Kapitel im Handbuch der Qualitativen Methoden und auf dem jährlichen bundesweiten Workshop zu qualitativen Methoden findet eine Arbeitsgruppe zu »Ethnographie und Kulturanalyse« statt. Über diese Form der Anerkennung könnte man sich freuen, als jemand, der sich als ethnographischer Forscher versteht. Andererseits wird bei genauerem Hinsehen schnell deutlich, dass die Ethnographie nicht so recht hineinpassen will in die zu beobachtenden Sortierungs- und Kanonisierungsbemühungen im Bereich der qualitativen Sozialforschung. Ethnographische Forschung sperrt sich gegenüber einem Methodenbegriff i. S. eines angebbaren Verfahrens, das man als solches zur Anwendung bringen könnte (vgl. Breidenstein 2007). Ethnographische Feldforschung erfordert zunächst und vor allem Anpassungsfähigkeit und Flexibilität. Jedes Feld stellt spezifische Anforderungen an den Feldzugang, jedes Feld ermöglicht andere Formen der Beobachtung und Befragung, jedes Feld erfordert spezifische methodische Vorgehensweisen. Mit Amann und Hirschauer (1997, S. 17) lässt sich für die Ethnographie sogar die »Befreiung von jenen Methodenzwängen« fordern, »die den unmittelbaren persönlichen Kontakt zu sozialem Geschehen behindern«. Gegenüber einem Methodenbegriff, wie er zumindest die deutsche Diskussion dominiert, ist also eine gewisse Skepsis geboten und darauf zu insistieren, dass die Ethnographie eher als eine komplexe und variable Forschungsstrategie denn als eine »Methode« im engeren Sinne verstanden wird. Ein solches Verständnis von Ethnographie ist übrigens im angelsächsischen Sprachraum gerade im Bereich der Schul- und Unterrichtsforschung viel etablierter und selbstverständlicher als in Deutschland2. Ich werde im Folgenden vor allem auf die Ethnographie als Strategie der Befremdung des allzu Vertrauten eingehen, weil das mit Blick auf das in Rede stehende Feld, schulischen Unterricht, die entscheidende Herausforderung ethnographischer Forschung zu sein scheint. Abschließend möchte ich – ganz knapp – zur Veranschaulichung ein ethnographisches Projekt skizzieren, das sich der Analyse der Praxis schulischer Leistungsbewertung widmet.
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Dies dokumentiert sich u. a. in entsprechenden Lehrbüchern (Hammersley/Atkinson 1995; Delamont 2002) oder etwa in der neuen Zeitschrift »Ethnography and Education« bei Routledge.
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Ethnographische Forschung als Befremdung des allzu Vertrauten
In ihrem Herkunftskontext, der Ethnologie oder Kulturanthropologie, steht die Ethnographie nach wie vor für die wissenschaftliche Erkundung und Beschreibung fremder Welten. In der methodologischen Diskussion geht es dementsprechend um Probleme des »Fremdverstehens«: die Entschlüsselung oder Entzifferung unbekannter Kulturen, bzw. um das Verständlichmachen des Fremden im Medium des Eigenen – die »Übersetzung«. Daraus ergeben sich all die nicht einfachen Probleme ethnographischer Autorität und Autorenschaft (vgl. Berg/Fuchs 1993). Demgegenüber hat es die soziologische Ethnographie immer auch mit dem Problem der Herstellung von Fremdheit zu tun. Fremdheit ist hier nicht Ausgangspunkt, sondern gewissermaßen Ziel, oder zumindest Durchgangsstation des Forschungsprozesses. Ich beziehe mich mit den folgenden Überlegungen auf den inzwischen schon fast »klassisch« zu nennenden Artikel von Klaus Amann und Stefan Hirschauer (1997), in dem sie die »Befremdung der eigenen Kultur« als Programm einer soziologischen Ethnographie herausstellen. Auch soziologische ethnographische Forschung bezieht sich oft auf die Erkundung fremder Welten, es gibt Feldforschung in durchaus »exotischen« Subkulturen inmitten der eigenen Gesellschaft (etwa die Szene der Graffiti-Sprayer in Berlin oder arbeitslose Väter in Halle-Neustadt). Dies sind natürlich nicht Szenerien, die an sich »fremd« wären, aber immerhin sind sie sozialwissenschaftlich noch relativ unerschlossen, so dass man innerhalb der Soziologie oder der Erziehungswissenschaften Neues und Interessantes darüber berichten kann.3 Dies ist bei schulischem Unterricht grundlegend anders. Schulunterricht ist möglicherweise die soziale Situation, die uns am vertrautesten überhaupt« ist: Wir haben alle mindestens 12 oder 13 Jahre »die Schulbank gedrückt und verfügen alle über mindestens 15000 Stunden eigene Erfahrung in diesem Feld. Was gäbe es dort noch Neues zu entdecken? Die Schule ist zudem vermutlich dasjenige Feld sozialer Praxis, das die meisten Selbstbeschreibungen, auch wissenschaftlicher Art, produziert: Was die Schule ist und was sie will und wie sie funktioniert ist in pädagogischen Schriften, in Lehrbüchern, in Berichten aus dem schulischen Alltag, in Schulprogrammen und Untersuchungen hundert- und tausendfach beschrieben. Was ließe sich darüber noch Neues sagen? Wir haben es also im Feld der Unterrichtsforschung mit einem zweifachen sehr starken Bias auf Vertrautheit und Bekanntheit zu tun, demgegenüber ethnographische Forschung kaum als Erkundung einer fremden Welt gelten kann. Es gibt zwar auch in der Unterrichtssituation immer wieder fremde Welten zu entdecken, insbesondere wenn man auf Phänomene der Peer- und Jugendkultur fokussiert. Aber die Hauptaufgabe einer Ethnographie schulischen Unterrichts liegt darin, das, was alle kennen, mit neuen Augen zu betrachten, es muss darum gehen, das, was uns selbstverständlich ist, auf Distanz zu bringen, um es erst dadurch in neuer Weise der sozialwissenschaftlichen Analyse zu erschließen. Entscheidend für die Ethnographie des Unterrichts ist also die Differenz zwischen Teilnehmer- und Beobachterverstehen. Ethnographische Forschung muss sich daran bewähren, dass sie Neues über das scheinbar Vertraute zu sagen hat. Dies impliziert ein Verständnis von den Potenzialen sozialwissenschaftlicher Analyse, das die Ethnographie durchaus mit anderen anspruchsvollen Methodologien qualitativer Sozialforschung teilt: Einerseits 3
Vgl. Katz (2001), der »Ethnography´s warrants« diskutiert und systematisiert.
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knüpft die Analyse an das alltägliche Interpretieren und Verstehen an, das die soziale Praxis selbst kennzeichnet, andererseits beansprucht sie über das alltägliche Verstehen und Beobachten hinaus zu gelangen.4 Es ist also nach Strategien für die Herstellung von Fremdheit – oder analytischer Distanz – für den ethnographischen Forschungsprozess zu fragen. Ich möchte im Folgenden vier grundlegende Strategien der Befremdung ansprechen.
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Die Etablierung und Nutzung der Beobachterrolle
Die Praxis des weitgehend handlungsentlasteten Beobachtens ist die erste und vielleicht schon entscheidende Differenz zwischen dem Ethnographen und anderen Teilnehmern der Unterrichtssituation. Auch die Lehrerin beobachtet selbstverständlich permanent, was im Klassenzimmer passiert, wie die Schüler reagieren, wer was tut etc. Aber sie beobachtet mit der Maßgabe zu handeln, die Situation zu managen, für den Fortgang des Unterrichts zu sorgen und nach Möglichkeit bestimmte Ziele zu erreichen. Auch die Schüler beobachten das Geschehen und verfolgen damit i. d. R. ebenfalls strategische Ziele: sich selbst ins rechte Licht zu rücken, eine Nische für verdeckte Nebentätigkeiten zu finden, den Blick der Angebeteten zu erhaschen etc. Die Ethnographin beobachtet das Unterrichtsgeschehen mit dem einzigen Interesse der Beschreibung, mit dem Ziel einer möglichst präzisen, übersichtlichen und verallgemeinerungsfähigen Beschreibung. Die Etablierung einer solchen neutralen, jenseits der Lehrer- und der Schülerrolle angesiedelten Beobachterrolle im Unterricht ist nicht ganz einfach, insofern sie normalerweise nicht vorgesehen ist und von manchen Lehrpersonen auch als bedrohlich empfunden wird. Ist der Zugang aber erreicht und das Vertrauen der Teilnehmer gewonnen, dann lässt sich in der Unterrichtssituation unauffällig und unaufdringlich beobachten. Auch permanentes Mitschreiben ist unproblematisch, denn es ähnelt dem Tun der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Dabei setzt die ethnographische Unterrichtsforschung auf den menschlichen und in diesem Sinne auch teilnehmenden Beobachter. Große Teile der Unterrichtsforschung werden bekanntlich mittels technischer Aufzeichnung der Unterrichtskommunikation betrieben, mittels Audio- oder Videomitschnitt. Die technische Aufzeichnung ist dem menschlichen Beobachter natürlich in mancher Hinsicht überlegen, in anderer Beziehung jedoch auch unterlegen. Denn nur der menschliche Beobachter selektiert und interpretiert seine Wahrnehmungen und kann demzufolge auch die eigenen Selektionsleistungen und Interpretationen beobachten und dabei etwas über die Interpretation, die die Teilnahme an der Situation erfordert, und die Selektionen, die sie nahe legt, erfahren. – Konkret: Nur wer selbst unterschiedliche Plätze im Klassenzimmer ausprobiert, kann über die unterschiedlichen Qualitäten dieser Sitzplätze berichten. Wer selbst sein Blickverhalten während einer Klassenarbeit zu kontrollieren hat, lernt etwas über die Bedeutsamkeit der Blicke in dieser Situation. Auch zum Beispiel der Hinweis auf die Exklusivität der Unterrichtssituation, auf die Empfindlichkeit gegenüber »Eindringlingen«, die oben diskutiert wurde, war nur den Notizen der teilnehmenden und in diesem Fall sich selbst beobachtenden Ethnographin zu
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Dafür wird auch in anderen Methodologien im Forschungsprozess systematisch »Fremdheit« erzeugt: in der »objektiven Hermeneutik« etwa durch die Etablierung einer Haltung »künstlicher Naivität« in der Interpretation oder in der »dokumentarischen Analyse« durch die Suche nach »Gegenhorizonten«.
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entnehmen, ein technischer Aufzeichnungsapparat ist zu solcherart Empfindungen und Skrupeln nicht in der Lage. Das entscheidende Qualitätsmerkmal im Rahmen dieser Strategie ist die Intensität der Beobachtungen und das meint nicht zuletzt die Langfristigkeit der Teilnahme. Manche Details der beforschten sozialen Praxis entdeckt man erst nach einiger Zeit, auch Entwicklungen und Variationen erschließen sich oft erst der kontinuierlichen Beobachtung. Schließlich erfordert auch der produktive Feldzugang selbst schon Zeit: Zeit, in der man das Vertrauen der Teilnehmer gewinnen und konstruktive Forschungsbeziehungen gestalten kann. Hier ist noch das weit verbreitete Missverständnis anzusprechen, das die teilnehmende Beobachtung ausschließlich als die Erhebungsmethode der Ethnographie begreift. Der Feldaufenthalt und die teilnehmende Beobachtung des interessierenden Geschehens vor Ort ist zwar tatsächlich als der Kern ethnographischer Forschung anzusehen, doch diese Phase als »Datenerhebung« zu verstehen, ist zu kurz gegriffen. Im Feld und während der Beobachtung finden entscheidende Schritte des Verstehens und der Analyse statt. Ethnographische Analyse ist auf keinen Fall mit der nachträglichen Auswertung von Daten gleichzusetzen, sondern muss im Feld anfangen und die situativen Interpretationen und Reflexionen der Feldforscherin einbeziehen.
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Verschriftlichung
Der Forschungsprozess der Ethnographie besteht wesentlich darin, unterschiedliche Schreibstrategien zu entwickeln und zu kombinieren (vgl. dazu Emerson/Fretz/Shaw 1995). Die Praxis extensiver Verschriftlichung macht die zweite grundlegende Differenz zwischen dem Ethnographen und den Mitgliedern der beforschten Kultur aus. Das Schreiben zwingt zur Explikation: Was man in der Situation vielleicht nur intuitiv oder »praktisch« verstanden hat, trachtet das Protokoll zu verbalisieren. Die Verschriftlichung des beobachteten Geschehens ermöglicht aber auch in anderer Hinsicht die Befremdung. Das Protokoll der Szene oder das Transkript des Interviews kann man beliebig oft und beliebig genau und langsam lesen. Man kann das verschriftlichte Geschehen gewissermaßen in Zeitlupe betrachten oder unter das Mikroskop legen. – Man erfährt schnell, welche ungeheure Befremdung von dem Transkript eines beliebigen Alltagsgespräches ausgeht. Die Verschriftlichung der Beobachtung ermöglicht, kurz gesagt, die Auswertung und Analyse. Beobachtungen werden in »Daten« verwandelt. Beobachtungsprotokolle kann man kodieren, zerschneiden, neu arrangieren, man kann sie den verschiedensten Prozeduren qualitativer Datenanalyse unterwerfen und sich dadurch in ein neues, distanziertes und »fremdes« Verhältnis zu dem vertrauten Geschehen setzen. Allerdings ist auch hier darauf aufmerksam zu machen, dass die Ethnographie nicht jenem Methodenverständnis folgt, das von der korrekten und gewissenhaften Anwendung eines Verfahrens die Erzeugung »gültiger« Ergebnisse erwartet. Man braucht zwar auch im ethnographischen Forschungsprozess Methoden der »Datenanalyse«, aber wesentlich in heuristischer Funktion – um neue Ideen zu entwickeln. Auswertungsmethoden dienen der Distanzierung von den Felderfahrungen, der Systematisierung und Sortierung von Beobachtungen und auch der Erschließung immanenter Gehalte, etwa der Ablauflogik be-
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stimmter Praktiken. Auswertungsverfahren kommen durchaus zentrale Funktionen im Forschungsprozess zu – aber sie vermögen nicht die »Beweislast« für die Richtigkeit von Ergebnissen zu tragen.5 Das Qualitätskriterium im Rahmen der Strategie der Verschriftlichung liegt einerseits in der Ausführlichkeit und Detaillierung des Schreibens und andererseits in der Reflexion und zunehmenden Fokussierung und analytischen »Verdichtung« des Schreibens. Das Schreiben leistet nicht nur die Versprachlichung der Beobachtungen, sondern auch deren analytische Durchdringung. Die Be-Schreibung führt möglichst nah heran an das interessierende Geschehen, macht es nachvollziehbar und versetzt die Leserin geradezu hinein in die Szene und das Feld, andererseits sind entscheidende Prozesse der Distanzierung und Analyse unmittelbar an den Akt des Schreibens geknüpft. Auch für die Weiterführung des Forschungsprozesses und die Entwicklung der Analyse in Form von »analytical notes« oder »Memos« kommt es auf eine Praxis extensiven Schreibens an. Ideen, Interpretationen und begriffliche Entscheidungen müssen verschriftlicht werden, um sie im Verlauf der Forschung weiter prozessieren zu können.
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Die systematische Unterbrechung des Feldaufenthaltes
In der Ethnologie gibt es nach wie vor den Standard, dass zumindest die erste große Feldforschung des Neulings auf mindestens einem Jahr Feldaufenthalt beruht. Auch in der Ethnographie schulischen Unterrichts ist das Schuljahr zunächst eine nahe liegende Einheit für die Dauer der Beobachtungen, insofern man damit eine »natürliche« Zeiteinheit des Feldes für die Strukturierung des Forschungsprozesses nutzt und außerdem den Ablauf des Schuljahres mit seinen verschiedenen Phasen und Höhepunkten in den Blick bekommt. Bewährt hat sich in eigenen Projekten aber auch die Zerlegung des Feldaufenthaltes in drei oder vier Teile, wie die folgende schematische Darstellung des Forschungsprozesses zeigt (Breidenstein 2006, S. 30):6
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Oktober - Dezember 2001: Erste Erhebungsphase: Feldzugang und offene Beobachtung Januar - März 2002: Erste Auswertungsphase: Erste Sichtung und Auseinandersetzung mit dem Material, Kodierung März - Juni 2002: Zweite Erhebungsphase: Fokussierte Beobachtungen, Gruppendiskussion und Videographie Juli - Januar 2003: Zweite Auswertungsphase: Ausarbeitung erster Einzelstudien Februar - Mai 2003: Dritte Erhebungsphase: Spezifizierte Beobachtungen und Einzelinterviews Juni - April 2004: Dritte Auswertungsphase. Codierung und Beginn der Ausarbeitung der Ethnographie Darin unterscheidet sich die Methodologie der Ethnographie m. E. von anderen methodologischen Ansätzen innerhalb der qualitativen Sozialforschung wie etwa der »Objektiven Hermeneutik« oder der »Dokumentarischen Analyse«. Eine ähnliche Untersuchungsanlage hat sich auch schon in dem Bielefelder Projekt zur Ethnographie der Geschlechterunterscheidung in der Schulklasse bewährt (Breidenstein/Kelle 1998).
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April 2004: Vierte Erhebungsphase, Videographie und einzelne Beobachtungen Mai 2004 - Mai 2005: Fortsetzung der Auswertungen
Nach einer ersten Feldphase von zwei bis drei Monaten ziehen wir uns zurück aus dem Feld, um uns ersten Auswertungen und Reflexionen zu widmen. Auch das ist eine Form, die im Feld gewonnene Vertrautheit systematisch der Befremdung auszusetzen. Denn zurück am universitären Schreibtisch muss nach Mitteln gesucht werden, wie die Beobachtungen in den universitären, den disziplinären Diskurs eingebracht werden können. Es müssen geeignete Begriffe und theoretische Perspektiven gefunden werden, die den Anforderungen an Systematisierung und Verallgemeinerung entsprechen, die der wissenschaftliche Diskurs stellt. In dieser Hinsicht liegt das Qualitätskriterium in der aktiven Gestaltung des Forschungsprozesses, das heißt in der zunehmenden Fokussierung der Beobachtungen, und zwar einer Fokussierung, die durch die fortschreitende Analyse geleitet wird. Der Wechsel von Erhebungs- und Auswertungsphasen, der den für jede qualitative Forschung entscheidenden Prozess des »theoretical sampling« (Glaser und Strauss) wirkungsvoll unterstützt, ist nicht immer möglich, aber in Projekten der Schul- und Unterrichtsforschung in der Regel durchaus zu realisieren, insofern das Feld der Untersuchung erhalten bleibt und man meist »zurückkehren« kann in die Schule für neue Beobachtungen.
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Theoretische Perspektive
Es ist ja ein nicht selten anzutreffendes Missverständnis, dass die qualitative Forschung von theoretischen Vorannahmen und Kategorien freizuhalten sei. Das stimmt zwar, was gegenstandsbezogene Hypothesen, Erklärungen oder gar Bewertungen betrifft, die die Unvoreingenommenheit der Beobachtung einschränken würden. Was jedoch davon zu unterscheiden ist und in seiner Bedeutsamkeit oft unterschätzt wird, ist die grundlagentheoretische Arbeit an der Bestimmung dessen, was überhaupt der Gegenstandsbereich der Untersuchung sein soll. Für meine Forschungen zur Unterrichtssituation beziehe ich mich auf aktuelle Bemühungen um eine »Theorie sozialer Praktiken« (Schatzki u. a. 2001; Reckwitz 2003, Reckwitz 2006). Diese ermöglichen eine sehr spezifische und vom Alltagsverständnis deutlich differente Perspektive der Untersuchung. Das Soziale wird in praxistheoretischen Ansätzen nicht mehr wie in klassischen Handlungstheorien in normativen Orientierungen oder wie in »rational choice«-Ansätzen in Entscheidungen der Handelnden angenommen. Stattdessen wird es in den alltäglichen sozialen Praktiken selbst verortet, die durch praktisches Wissen und praktisches Können bestimmt sind. Eine Praktik ist also die kleinste Einheit des Sozialen und als routinisierter »nexus of doings and sayings« (Schatzki 1996, S. 89) zu verstehen. Mit der Akzentuierung von Praktiken löst sich der Blick von den »Akteuren«. Es geht nicht um die Frage, wer welche Praktiken »ausführt« – sondern umgekehrt darum, wer oder was in die spezifische Praktik involviert ist. Menschliche Körper, aber auch Artefakte werden als »Partizipanden« von Praktiken thematisiert (Hirschauer 2004). Praktiken befinden sich nicht »hinter« oder »unter« den Phänomenen, sondern sie liegen an der Oberfläche, sie sind als solche öffentlich und beobachtbar. Die Praxisanalyse richtet sich weniger auf die
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hermeneutische Entschlüsselung von Sinn und Bedeutung, als auf die beobachtende Entdeckung der Praktiken. Praktiken sind in der Vielgestaltigkeit des alltäglichen Geschehens zuallererst als solche zu identifizieren, um sie der Analyse zu erschließen. Eine methodologische Konsequenz der praxistheoretischen Perspektive liegt in der Beschränkung auf die Situation, auf den Kontext, in dem die beobachteten Praktiken stattfinden. Im Fall unserer Forschung meint das den Versuch, das in der Unterrichtssituation beobachtbare Geschehen aus sich und aus der Logik der situativen Bedingungen heraus zu verstehen und auf Erklärungen zu verzichten, die etwa auf »gesellschaftliche Bedingungen« von Schule oder auf »biographische Prägungen« der Beteiligten zurückgreifen würden – wie sie nicht selten auch von den Teilnehmern bemüht werden. Eine solche Beschränkung auf die Mikroebene ist umstritten (vgl. Hammersley 2006), sie erweist sich aber als Gewinn bringend – zumindest als vorläufige, heuristische Strategie. Die praxistheoretische Perspektive, die die Performanz des unterrichtlichen Alltages, den situativen und praktischen Vollzug von Unterricht in den Blick rückt, stellt eine wirkungsvolle Verschiebung gegenüber der gebräuchlichen Perspektive auf Unterricht dar. Denn diese sieht in der Regel handelnde Akteure und ihre Motive. Wie groß die Befremdung ist, die ein praxistheoretischer Blick auslösen kann, zeigt sich bisweilen anhand von Reaktionen aus dem Zusammenhang der Schulpädagogik, die mit einer Beobachtung, die nicht primär die handelnden Akteure in den Blick nimmt und nicht nach der Verbesserung von Unterricht fragt, manchmal wenig anfangen können (vgl. auch Breidenstein 2008). Die Differenz zum Verständnis der Teilnehmer und deren Alltagstheorien stellt aber im Bereich dieser vierten Strategie – der Befremdung aufgrund von theoretischen Perspektiven – das Qualitätskriterium der Ethnographie dar.
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Ein Beispiel aus der Ethnographie des Unterrichts: die Entdeckung des Eigenlebens der Zensuren
Ich will abschließend die Idee einer ethnographischen Befremdung der Selbstverständlichkeiten schulischen Unterrichts anhand eines kleinen Beispiels aus unserer Forschungspraxis noch ein wenig veranschaulichen (ausführlicher in: Breidenstein 2006, S. 225 ff.). In der folgenden kurzen Szene wird ein Test zurückgegeben und die Schülerinnen und Schüler erfahren ihre Zensur. Die Szene ist an Banalität kaum zu überbieten, eine solche Rückgabe eines Tests oder einer Klassenarbeit kommt im gymnasialen Schulalltag fast täglich vor. Und auch die Bedeutung von Zensuren, nach der ich fragen will, meinen wir zu kennen. Zensuren dienen einerseits dazu, so sagt man, Schüler nach Leistung zu sortieren, letztlich damit die Schule der »Selektionsfunktion« entsprechen könne, die sie für die Gesellschaft erfülle. Zensuren dienen außerdem dazu, so nimmt man an, Schüler zu Anstrengung und Leistung zu motivieren (z. B. Ziegenspeck 1999; Tillmann/Vollstädt 2000). In der folgenden Szene jedoch wird deutlich, dass diese beiden Funktionen, die der Zensur zugeschrieben werden – die »gesellschaftliche« und die »pädagogische« – ihre Bedeutung und Handhabung im Unterrichtsalltag keineswegs zu erklären vermögen. Dokumentiert ist die Rückgabe eines Tests im siebten Schuljahr: Vor Beginn der Stunde ist es unruhig. Die Mädchen fragen sich, ob sie heute wohl den Test zurückgibt. Es klingelt, die Lehrerin fängt an und entschuldigt sich zunächst für ein kaputtes Gerät,
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weshalb irgendein Versuch heute nicht möglich sei. – Also gibt es den Test doch nicht, murmelt jemand. – Doch die Lehrerin fährt fort: »Ich gebe euch als allererstes die Tests zurück.« (weitverbreitetes Stöhnen) »Bei diesen Tests hab ich mich bei zwei Fragen echt gefragt, wozu ham wir vorher eigentlich Physik gemacht.« (vereinzelte Lacher) Als klar wird, dass heute doch der Test zurückgegeben wird, sagt Helena spontan: »Ich hab ne Fünf.« Während dieser Eingangsszene schauen die beiden Mädchen, auf die ich mich konzentriere, gebannt nach vorne zur Lehrerin. Nur einmal zwischendurch wenden sie sich einander zu und schauen sich fragend an. Fabienne meldet sich zweimal bei der folgenden Besprechung des Tests ohne dranzukommen. Dann teilt die Lehrerin die Tests aus. Bei beiden Mädchen der gleiche Ablauf, als sie ihren Test bekommen: Erst die Vorderseite betrachten, schauen was falsch war, was angestrichen ist, dann kurzes Verzögern – die Spannung nochmal erhöhen – dann umdrehen und auf die Note am unteren Ende dessen, was man selbst geschrieben hat, schauen. Beide haben eine Eins! Helena sagt: »Volle Punktzahl. Ätsch!« Dann fügt Helena hinzu: »Ist das nicht schön?« Fabienne meint: »Ich bin stolz auf dich!«
In dieser Szene wird die Rückgabe des Tests geradezu zelebriert. Obgleich in unterschiedlichen Rollen, arbeiten die Beteiligten, die Schülerinnen und die Lehrerin in der Inszenierung dieses Schauspiels eng zusammen. Zunächst steht die zugleich bange und erwartungsvolle Frage im Raum, ob die Rückgabe heute wohl stattfindet. Die Frage erzeugt einen eigenen Kitzel und verleiht der Situation eine gewisse Spannung. Die Lehrerin zögert die Auflösung dieser Spannung hinaus, indem sie zunächst von etwas anderem spricht (einem kaputten Gerät) und erst dann, das Transkript vermerkt die besondere Betonung in ihrer Stimmführung, die Rückgabe ankündigt. Die Klasse (der Chor) reagiert mit Stöhnen, nun weiß man, das Ereignis der Rückgabe wird unweigerlich heute stattfinden, die Erwartungen richten sich auf das Ergebnis – und zwar v. a. im Sinne einer Strategie der »Enttäuschungsvermeidung« auf das Risiko eines schlechten Ergebnisses. Die Lehrerin erhöht weiter die Spannung und nährt die unguten Ahnungen, indem sie sich in Andeutungen ergeht und eine Frage anspricht, die kaum jemand zu beantworten wusste. Das Protokoll fokussiert dann auf Helena und ihre Reaktionen, wobei Helena zu denjenigen gehört, die regelmäßig gute Noten erhalten und eigentlich nichts zu befürchten haben. Dennoch prognostiziert sie: »Ich hab ne Fünf«. Ist das Koketterie oder liegt ein besonderer Reiz in der Imagination des Schreckens? Das volle Auskosten der Situation motiviert auch das Verhalten der Mädchen als sie ihren Test dann (endlich) in Händen halten: die Betrachtung der Anstreichungen, zunächst ohne sich über die Note zu vergewissern – ein weiteres retardierendes Moment in der Inszenierung des Dramas. Dann erst die Auflösung und die (gemeinsame) Entspannung im »Happy End«. Was geht hier vor sich? Rechtfertigt die Zensur in einem Physiktest tatsächlich eine solche Dramaturgie? Oder ist es umgekehrt die Praxis ihrer Handhabung, die Inszenierung ihres »Auftritts«, die der Zensur ihre Bedeutsamkeit verleiht? Beobachten lassen sich verschiedene Praktiken der Rückgabe von Arbeiten und der Bekanntgabe von Noten, die von barocken Predigten bis hin zu Bemühungen um nüchterne Sachlichkeit reichen und stark mit dem persönlichen Stil der jeweiligen Lehrperson verknüpft scheinen. Über die verschiedenen Inszenierungsstile hinweg jedoch lassen sich übergreifende Elemente einer Ritualisierung ausmachen und eine Ablaufstruktur, die aus mehreren Phasen besteht und insgesamt auf einen präzisen Spannungsbogen hinausläuft. Eine andere Praktik besteht darin, zunächst den »Klassenspiegel« bekannt zu geben, diesen
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z. B. in Form einer Tabelle an die Tafel zu schreiben. – Diese Variante eröffnet der Spekulation besondere Möglichkeiten. Die Prognosen richten sich nicht nur auf das eigene Ergebnis, sondern man kann auch z. B. versuchen zu erraten, wer wohl die Einsen hat und wer die Fünfen, wenn welche dabei sind. Die Inszenierungen unterscheiden sich, aber die Grundregeln der Dramaturgie bleiben erkennbar (vgl. auch Roch 2007). In diesen Beobachtungen aus dem schulischen Alltag ist der offizielle Zweck der Zensuren kaum noch erkennbar. Stattdessen drängt sich der Eindruck auf, dass sich die alltägliche Praxis des Erteilens, aber auch des Entgegennehmens, Sammelns und Verrechnens von Noten gegenüber ihren ursprünglichen »Funktionen« weitgehend verselbständigt! Verselbständigung heißt: Die alltägliche Praxis des Prozessierens schulischer Noten bezieht sich nicht auf von ihr zu unterscheidende Aufgaben oder Funktionen, sondern weitgehend auf sich selbst. Es ginge dann weniger um das, wofür Noten stehen (»Leistungen«) oder was sie ermöglichen (»Berechtigungen«), sondern um die Note an sich. Die Beteiligten, Lehrpersonen und Schüler, erscheinen eingebunden in die Inszenierung der Bedeutsamkeit 7 von Zensuren in den Praktiken des Schulalltages. Das heißt, es kommt darauf an, sich auch über eine so banale Szene, wie die Rückgabe eines Physiktests zu wundern und diese als seltsames Ereignis einer eigenartigen Praxis zu untersuchen, die eine Reihe von Zahlen im Zentrum schulischer Kommunikation etabliert. Immer wieder geht es darum, die berühmte Ausgangsfrage ethnographischer Forschung zu mobilisieren: »What the hell is going on here?« (Geertz 1983).
Literatur Amann, K./Hirschauer, S. (1997): Die Befremdung der eigenen Kultur. Ein Programm. In: Hirschauer, S./Amann, K. (Hrsg.) (1997): Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie. Frankfurt a. M., S. 7-52. Berg, E./Fuchs, M. (1993): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Frankfurt a. M. Breidenstein, G. (2006): Teilnahme am Unterricht. Ethnographische Studien zum Schülerjob. Wiesbaden. Breidenstein, G. (2007): Gegen eine Verselbständigung von »Methoden« in qualitativer Sozialforschung. In: Erwägen Wissen Ethik (EWE), 18. Jg. (2007), Nr. 2, S. 211-213. Breidenstein, G. (2008): Schulunterricht als Gegenstand ethnographischer Forschung. In: Hünersdorf, B./Maeder, C./Müller, B. (Hrsg.) (2008): Ethnographie und Erziehungswissenschaft: Methodologische Reflexionen und empirische Annäherungen. Weinheim u. München, S. 107-120. Breidenstein, G./Kelle, H. (1998): Geschlechteralltag in der Schulklasse. Ethnographische Studien zur Gleichaltrigenkultur. Weinheim u. München.
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Diese Überlegung hat sich mir im Laufe des angesprochenen Projektes zur Ethnographie der Schülerperspektive auf Unterricht aufgedrängt – ich habe sie unter dem Titel »Eigenleben der Zensuren« in meiner Monographie zur Ethnographie des Schülerjobs ausgeführt (Breidenstein 2006, S. 225 ff.). Derzeit verfolgen wir die These von der Verselbständigung der Praxis der Leistungsbewertung im Rahmen eines neuen Forschungsprojektes genauer. Das Projekt wird von der DFG finanziert und läuft seit 2005 am Zentrum für Schulforschung in Halle. Wissenschaftliche Mitarbeiter sind Michael Meier und Katrin Zaborowski. Wir verstehen auch diesmal unser Vorgehen als »ethnographisch« und beobachten die Praktiken, Rituale und Überzeugungen, die sich um die Schulnote ranken (vgl. Breidenstein/Meier/Zaborowski 2007).
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Breidenstein, G./Meier, M./Zaborowski, K. (2007): Die Zeugnisausgabe zwischen Selektion und Vergemeinschaftung. Beobachtungen in einer Gymnasial- und einer Sekundarschulklasse. In: Zeitschrift für Pädagogik, Heft 4, S. 522-534. Delamont, S. (2002): Fieldwork in Educational Settings. London u. New York: Routledge. Emerson, R. M./Fretz, R. I./Shaw, L. L. (1995): Writing Ethnographic Fieldnotes. Chicago u. London: University of Chicago Press. Geertz, Clifford (1983): Dichte Beschreibung. Frankfurt a. M. Hammersley, M. (2006): Ethnography: problems and prospects. In: Ethnography and Education Vol. 1/1, pp. 3-14. Hammersley, M./Atkinson, P. (1995): Ethnography. Principles in Practice. London u. New York: Routledge. Hirschauer, S. (2004): Praktiken und ihre Körper. Über materielle Partizipanden des Tuns. In: Hörning, K. H./Reuter, J. (Hrsg.) (2004): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. Bielefeld. Kalthoff, H. (1997): Fremdenrepräsentationen. Über ethnographisches Arbeiten in exklusiven Internatsschulen. In: Hirschauer, S./Amann, K. (Hrsg.) (1997): Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie. Frankfurt a. M., S. 240-266. Katz, J. (2001): Ethnography’s warrants. In: Ethnography Vol. 1 [The nature of ethnography]. London: Sage Publications Ltd., S. 323-348. Reckwitz, A. (2003): Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive. In: Zeitschrift für Soziologie (32). Heft 4, S. 282-301. Reckwitz, A. (2000/2006): Die Transformation der Kulturtheorien. Weilerswist. Roch, A. (2007): Zur Erzeugung und Wirksamkeit von Schülerpräsenz. Eine ritualtheoretische Betrachtung von Notenbekanntgaben. In: Ittel, A./Stecher, L. (Hrsg.) (2007): Jahrbuch Jugendforschung. Wiesbaden, S. 181-206. Schatzki, T. R. (1996): Social Practices. A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social. Cambridge: Cambridge University Press. Schatzki, T. R./Knorr-Cetina, K./Savigny, E. v. (eds.) (2001): The practice turn in contemporary theory. London u. New York: Routledge. Tillmann, K.-J./Vollstädt, W. (2000): Funktionen der Leistungsbewertung. Eine Bestandsaufnahme. In: Beutel, S.-I./Vollstädt, W. (Hrsg.) (2000): Leistung ermitteln und bewerten. Hamburg, S. 27-38. Ziegenspeck, J. W. (1999): Handbuch Zensur und Zeugnis in der Schule. Bad Heilbrunn.
Mikroanalytische Rekonstruktion von Protokollen der teilnehmenden Beobachtung Bettina Hünersdorf
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Einleitung
Systemtheorie wird gerade in der (Sozial-)Pädagogik nicht als empirisch, sondern vielmehr als theorielastig wahrgenommen. Aus systemtheoretischer Perspektive handelt es sich dabei um ein Missverständnis: Die Systemtheorie muss empirisch arbeiten, weil sie sich schon selbst als empirische Lösung eines theoretischen Problems versteht (vgl. Nassehi 1998). Systemtheorie konkret an qualitative Sozialforschung anzuschließen ist ein Versuch, der in den letzten Jahren von Schneider (1995), Nassehi (1995, 1997), Nassehi/Saake (2002) und Vogd (2005) durchgeführt wurde. Dabei wird immer wieder auf die Bedeutung der Verfahren hingewiesen, die in der rekonstruktiven Sozialforschung en vogue sind. Ausgangspunkt für dieses Passungsverhältnis bildet die Grundannahme der Systemtheorie, dass Kommunikation an Kommunikation anschließt und dies durch eine Sequenzanalyse rekonstruiert werden kann. Welches Verfahren rekonstruktiver Sozialforschung nun aber besonders anschlussfähig ist, wird unterschiedlich beantwortet: Schneider (1995) bedient sich der Objektiven Hermeneutik als Methode, ohne den methodologischen Implikationen der Objektiven Hermeneutik zu folgen; Nassehi (1995) übernimmt die Methode des narrativen Interviews von Schütze (1983) und variiert dieses methodologisch und methodisch, sofern es zu den Prämissen der Systemtheorie in Widerspruch steht; Vogd (2005) hingegen bezieht sich auf die dokumentarische Methode, um die Systemtheorie empirisch anschlussfä1 hig zu machen. Keine der daran anschließenden Forschungsprojekte erheben aber den Anspruch, einen Beitrag zur ethnographischen Forschung zu leisten. Hingegen sehen Jochen Kade und Wolfgang Seitter (2001, 2007) Möglichkeiten, systemtheoretische Überlegungen mit den Verfahren rekonstruktiver Sozialforschung zu verbinden und sie für ihr ethnographisches Forschungsprojekt nutzbar zu machen. Dieses Interesse verfolgen sie eher pragmatisch, anstatt systematisch methodologische Überlegungen anzustellen und explizit ein eigenes methodisches Verfahren zu entwickeln. Dennoch laufen einige methodische Implikationen auf das hinaus, was im Folgenden als systemtheoretisches Verfahren für ethnographische Forschung dargestellt wird. Es wird der Versuch unternommen, den Beitrag der Systemtheorie zur (sozialpädagogischen) Ethnographieforschung auszuloten und das sich aus diesen methodologischen Überlegungen ergebende Verfahren in der Anwendung eines Forschungsprojektes mit dem Titel »Ethnographische Forschung im Altenpflegeheim. Eine sozialpädagogische Perspektive« zu explizieren. Ich werde an dem Beispiel der Analyse eines Protokolls exemplarisch 1
Ich möchte an dieser Stelle nicht reflektieren, warum welche Methode rekonstruktiver Sozialforschung möglicherweise an die Systemtheorie besser anschlussfähig sei, sondern nur darauf hinweisen, dass diese Diskussion ausführlich bei Vogd (2006) und Nassehi/Saake (2002) geführt wird.
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zeigen, wie die Methode für die Auswertung gewinnbringend verwendet werden kann. Inhaltlich wird dabei versucht, Antworten auf die Fragen zu geben, wie ein Aufenthaltsraum in einem Altenpflegeheim als sozialer Ort konstituiert wird und was für Personen in der Kommunikation erzeugt werden (vgl. Nassehi 1997, S. 159).
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Der Beitrag der Systemtheorie zur sozialpädagogischen Ethnographieforschung
Ethnographische Forschung zeichnet sich durch teilnehmende Beobachtung aus. Wie Protokolle teilnehmender Beobachtung aus systemtheoretischer Perspektive ausgewertet werden können, kann durch vier Perspektiven, die die Rekonstruktion geleitet haben, näher erläutern werden: 1. Reflexion über den Standpunkt der Beobachtung; 2. Kontextbezogenheit und multiple Perspektiven; 3. Sachbezogener Vergleich; 4. Konfiguration des Schreibprozesses (vgl. Teervoren 2006, S. 42). 2.1 Reflexion über den Standpunkt der Beobachtung In der Systemtheorie wird davon ausgegangen, dass soziale Realität keine Faktizität sei, sondern ForscherInnen immer eine bestimmte Perspektive haben, was zugleich bedeutet, dass eine Mehrheit von Beschreibungen möglich ist (vgl. Nassehi 1998). Der Selbstbezug stiftet dazu an, der Kontingenz der eigenen Beobachtung als Kontingenz der eigenen (und damit jeglicher) Beobachtung ansichtig zu werden (vgl. Nassehi 1998, S. 202). Interessant ist vor allem, wie ForscherInnen von den anderen FeldteilnehmerInnen »als Bestandteil eines virtuellen Publikums in eine virtuelle Welt eingepasst« werden (Nassehi/Saake 2002, S. 77). Diese Situation lässt sich nicht kontrollieren, da es »die Kommunikation selbst ist, die die beiden Rollen des Forschers und des Beforschten konstituiert und in deren Möglichkeitsraum diese erscheinen« (Nassehi/Saake 2002, S. 77). Kommunikative Prozesse bleiben somit immer an einen blinden Fleck gebunden und können daher nur im Nachhinein beobachtet werden. Wer »Interaktion interpretierend beobachtet, arbeitet heraus, wie die für das kommunikative Geschehen zunächst blinde Dynamik je ereignishaft zu neuen Strukturformen, Thematisierungsebenen und Brüchen, zu logischen Verkettungen, Aus- und Einblendungen, zu parallel laufenden Geschichten und je aktuell werdenden Erwartungserwartungen des kommunikativen Geschehens kommt« (Nassehi 1997, S. 166). Der »beobachtende Nachvollzug der internen Verstehensstruktur von Texten« (ebd., S. 154) zeigt die latenten Sinnstrukturen auf, die in dem kommunikativen Geschehen wirksam sind und die über die Intentionen der Akteure hinausgehen. In der funktionalistischen Analyse wird die Frage beantwortet, welche Funktion die Aussagen für den Text haben, »für welches Problem dient eine solche Aussage als Problemlösung« (Nassehi 1995, S. 123), welche Bewältigungsform der Krisen stellt sich in den Aussagen dar (vgl. ebd., S. 126)? Damit wird der intentionale Gehalt einer Aussage überschritten. Das Bezugsproblem kann wirksam sein, ohne dass es den Personen in der Interaktion bewusst ist (vgl. ebd., S. 123). Im Vordergrund steht die Eigenselektivität, die sich
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durch eine »strukturelle Anschlusslogik und die rekursive Figur von Problem und Problemlösung« (vgl. ebd., S. 350) vollzieht. 2.2 Kontextbezogenheit und Multiperspektivität In der Analyse wird danach gefragt, wie das Thema (die Bewältigungsform) in die Kontexte/Kontexturen2 eingepasst ist, wie es über diese seine Bedeutung gewinnt und welche Auskunft es über sie gibt (vgl. Nassehi/Saake 2002, S. 82). Es wird angenommen, dass die zweiwertige Logik im Sinne von helfen/nicht-helfen empirisch evident ist, dass sie jedoch von einem anderen Horizont aus gesehen, als andere systemische Kontextur, wie z. B. familiäre Kommunikation, die auf dem »Liebescode« basiert, erscheinen können (vgl. Kade/Seitter 2001; Vogd 2005). Um zu erkennen, welche systemische Kontextur wirksam ist, wird eine strukturelle Inhaltsanalyse durchgeführt. Strukturelle Inhaltsanalyse bedeutet, dass thematische Felder gegeneinander abgegrenzt und miteinander in Beziehung gesetzt werden. »Das Thema als klar definierbare Textgröße enthält Verweisungen auf andere explizite Themen der Gesamterzählung oder auf implizite Themen, die textüberschreitend in pragmatischer Reflexion der alltagsweltlichen Kontexte (…) erschlossen werden können. Einzelthemen sind so Elemente eines ›thematischen Feldes‹« (Fischer 1986, S. 359). Sie tragen im Kontext einer ethnographischen Erzählung zu einer Gesamtkonstruktion bei, dadurch dass jedes Thema als sinnhafter Ausschnitt sachlich oder temporal auf andere Ausschnitte bezogen werden kann (vgl. Nassehi 1997, S. 107), ohne dass verschiedene Beobachtungsperspektiven gegeneinander ausgespielt werden müssen. Im Gegenteil: Die Multidimensionalität kann durch die strukturelle Inhaltsanalyse sichtbar gemacht werden.3 Darüber hinaus geht es um eine analytische Abstraktion, indem die sequenzialisierte Geschichte zu einem Ganzen geformt wird. Es müssen Verlaufskurven herausgearbeitet, Interdependenzen zwischen einzelnen Abschnitten entdeckt, dominante Stränge von Nebenschauplätzen unterschieden und Detaillierungssequenzen in die Gesamtstruktur der Erzählung eingebaut werden (vgl. Nassehi 1995, S. 107). 2.3 Der sachbezogene Vergleich als Grundlage ethnographischer Analyse Es geht darüber hinaus auch darum, Einzelfälle im Rahmen der Rekonstruktion zu vergleichen. Dabei stellt sich die Frage, nach welchen Unterscheidungen die Einzelfälle zu beobachten sind. Entscheidungskriterium kann nur die Sachhaltigkeit im Hinblick auf den erörterten Gegenstand sein, den es offenzulegen gilt (vgl. Nassehi 1995, S. 157). Es wird rekonstruiert, wie der Text Personen erzeugt und welche Erwartungsstrukturen bei der Konstituierung der Personen aufgebaut und in Frage gestellt werden. Dabei spielt die Zuschreibung von Erleben und Handeln bezogen auf eine Verhaltensweise eine zentrale Rolle. Luhmann spricht von Erleben, wenn Selektivität nicht dem sich verhaltenden System, son2
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Nassehi bezieht sich hier auf Günter Gotthards Begriff der Kontexturen. Das sind zweiwertige Bereiche, die nicht überschritten werden. Die Moderne kennzeichnet sich dadurch, dass sie vielfältige zweiwertige Bereiche aufweist, weswegen auch von einer polykontexturalen Gesellschaft gesprochen werden kann. Es wird deutlich, dass der von Knorr-Cetina formulierte Vorwurf, dass Luhmanns Systemtheorie aufgrund des Beharrens auf der Geschlossenheit der Systeme die wechselseitigen Durchdringungen systemspezifischer Logiken und die fluiden Sinngrenzen unterschiedlicher Praxissphären weder beschreiben noch erklären kann (vgl. Knorr-Cetina 1992), nicht unterstrichen werden kann.
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dern dessen Welt zugerechnet wird. Hingegen wird Verhalten als »Handeln angesehen, wenn und soweit man die Selektivität des Aktes dem sich verhaltenden System selbst zurechnet« (Luhmann 1981, S. 68 f.). Vor diesem Hintergrund geht es bei der Rekonstruktion darum, vier Dimensionen zu berücksichtigen:
Unter welchen Bedingungen rechnet der Text den Akteuren selbst Verhalten und Geschehnisse als Erleben oder als Handeln zu? Welches durch den Text selbst erzeugte Problem hat der Text zu lösen versucht? Welche Erwartungsstrukturen werden zunächst erzeugt, um ihnen hinterher nachzukommen? Welche Bedeutung hat das Erleben/Handeln für die Gesamtorganisation der Interaktion?
2.4 Konfigurationen des Schreibprozesses Wenn bei der Analyse festgehalten wird, dass der Text »darstellt«, soll immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden, dass es sich nicht um eine Repräsentation dessen handelt, was sich in der Wirklichkeit des Aufenthaltsraumes vollzieht, sondern es nur möglich ist, das zum Gegenstand zu machen, was durch die teilnehmende Beobachtung im Protokoll dokumentiert ist. Die Rekonstruktion des Protokolls in der eben angegebenen Weise ermöglicht bei aller Selbstbezüglichkeit der systemtheoretischen Begriffsgenese, mit methodisch kontrollierten Mitteln »die Anschauung ihres Gegenstandes durch Anschauung ihres Gegenstandes« (Nassehi 1998, S. 24) zu transformieren. Dadurch entsteht ein reflexiver Prozess, bei dem die Teilhabe der Forschenden am Erkenntnisprozess beobachtet werden kann (vgl. Fuchs/Berg 1999, S. 14).
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Beispiel einer mikroanalytischen Auswertung4
Es handelt sich um ein Protokoll, das nach dem vierten Tag der teilnehmenden Beobachtung angefertigt wurde. In dieser Zeit lag der Schwerpunkt auf den öffentlichen Räumen, hier konkret dem Aufenthaltsraum der Bewohnerinnen, indem sich mehrere Personen an verschiedenen Tischen sitzend befinden. Die Beobachterin sucht sich den Tisch von Frau Naber und Frau Gerstner aus, da sie durch die vorherigen Beobachtungen um die Kommunikationsfreude von Frau Naber im Unterschied zu den anderen im Aufenthaltsraum sitzenden Bewohnerinnen weiß. Dadurch wird ihr eine erste Annäherung an die Beobachtung des sozialen Geschehens im Aufenthaltsraum erleichtert. 3.1 Rekonstruktion der latenten Sinnstruktur und des Standpunktes der Beobachterin Zunächst setze ich mich zu Frau Gerstner und Frau Naber; beide begrüßen mich herzlich. Frau Naber zeigt mit ihrer Hand auf einen Stuhl und sagt »ja, bitte schön«. 4
Die mikroanalytische Rekonstruktion basiert auf einem Protokoll teilnehmender Beobachtung, das ich selbst angefertigt habe. Die Protokollausschnitte selbst sind jeweils kursiv geschrieben, sodass sie von der Interpretation unterschieden werden können.
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Der Text dokumentiert, dass die Beobachterin zwei Bewohnerinnen aussucht, zu denen sie sich setzt. Die Bewohnerinnen heißen sie willkommen. Frau Naber bestätigt den Wunsch der Beobachterin, sich zu ihnen zu setzen dadurch, dass sie ihr einen Stuhl zuweist und sie einlädt, sich hinzusetzen. Dadurch verhält sich Frau Naber wie eine Gastgeberin, die ihren Besuch bittet, Platz zu nehmen. Frau Gerstner scheint sogar recht redselig zu sein, aber ich habe größte Schwierigkeiten, sie zu verstehen. Nach mehrmaligem Hin- und Herfragen stellt sich heraus, dass sie ein Problem mit dem Sitzen hat und später glaube ich zu verstehen, dass sie auf die Toilette muss. Aber auch hier missglückt die Vergewisserung. Ich merke, wie ich mich im Gespräch verkrampfe, und wie sie ungeduldig wird und vielleicht auch etwas verstimmt wird, weil ich sie nicht verstehe.
Der Text stellt dar, dass es nicht Frau Naber ist, die die Gesprächssituation weiterführt, sondern Frau Gerstner, obwohl es die Beobachterin nicht zu erwarten scheint. Dies deutet darauf hin, dass die Beobachterin Vorerfahrungen mit Frau Gerstner hat, die sich von denjenigen der jetzigen Beobachtungssituation unterscheiden. Es wird auch sehr schnell deutlich, was möglicherweise die Differenz zwischen früheren und der jetzigen Situation ausmacht. Die Redseligkeit scheint sich als etwas zu entpuppen, das sich von der Erwartungshaltung, die durch die Eingangssequenz mit Frau Naber eingeleitet wurde, unterscheidet. Sie wird nicht wie ein Besuch auf der Ebene des Small Talks oder durch einen persönlichen Bezug angesprochen, sondern es stellt sich nach mehrmaligen Versuchen aufgrund von Verständnisschwierigkeiten heraus, dass ein Problem vorliegt und an die Beobachterin die Erwartung herangetragen wird, ihr zu helfen. Die Entzifferungsversuche der Beobachterin scheitern, nicht nur nachdem sie nachgefragt, sondern auch nachdem sie konkrete Optionen, wie sie sie verstanden hatte, sich dadurch als nicht fruchtbar erweisen, dass nicht an sie angeschlossen werden kann. Dieses Misslingen, das Anliegen zu verstehen, führt zum wechselseitigen Ärger. Die Situation droht zu verkrampfen. Frau Gerstner kann weder verbal noch auf andere Art und Weise ihr Anliegen ausdrücken. Die Beobachterin möchte zwar der asymmetrischen Erwartung, nämlich der Bewohnerin zu helfen, gerecht werden, ist aber genauso ohnmächtig wie die Bewohnerin, da sie diese nicht verstehen kann. Daraus resultiert eine scheinbar von beiden dispräferierte, symmetrische Kommunikation. Die Ohnmacht der Beobachterin verstärkt die Ohnmacht der Bewohnerin, da es offensichtlich wird, dass sie sich nicht nur selbst nicht helfen kann, sondern darüber hinaus sie die Beobachterin nicht so um Hilfe bitten kann, dass diese sie versteht. Zugleich wird eine Vorrangigkeit der Hilfekommunikation als funktionale Kommunikation des Hilfesystems vor einem »Besuchergespräch« deutlich. Frau Naber taucht, obwohl sie die Beobachterin willkommen geheißen hat, nicht mehr in der Gesprächssituation auf. Sowohl Frau Naber als auch die Beobachterin lassen Frau Gerstner den Vorrang. Die Beobachterin lässt diesen Wechsel zu, indem sie auf die Anfrage von Frau Gerstner reagiert. Also nehme ich ernst, was ich glaube verstanden zu haben und hole Herrn Müller aus dem Pflegezimmer.
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Die Beobachterin reagiert auf diese Ohnmacht dadurch, dass sie sich Verstärkung durch die Pflegekraft holt, die, bezogen auf die Pflege, offiziell eine funktionale Rolle hat. Damit gibt sie die Verantwortung für die Gewährung von Hilfe ab und weist sie dem Funktionsträger zu. Sie scheint dies aber vorher nicht der Bewohnerin mitzuteilen, sodass sie diese Bewältigungsform weder bestätigen noch verweigern kann. Als ich Herrn Müller Bescheid gebe, guckt er mich etwas genervt an, sagt Ja und setzt seine Schreibtischaktivitäten im Medikamentenraum fort. Ich gehe wieder zurück in den Aufenthaltsraum und setze mich wieder zu den beiden Frauen.
Der Pfleger reagiert genervt, da er bei den Schreibtischaktivitäten nicht gestört werden möchte.5 Die Anspannung resultiert möglicherweise daraus, dass hier eine Regel missachtet wird. Diese besagt, dass während der »Zwischenzeiten«, d. h. der Zeit zwischen den Mahlzeiten, keine Pflege durchgeführt wird. Die Beobachterin trägt jedoch dazu bei, dass die Pflegekraft nun auch in der Zwischenzeit gefordert ist. Da der Pfleger die Anfrage zur Kenntnis nimmt, zieht sich die Beobachterin wieder zurück und setzt das Gespräch im Aufenthaltsraum fort. Frau Gerstner beginnt mir wieder ihr Anliegen vorzutragen.
Als die Beobachterin zurückkommt, schöpft die Bewohnerin noch einmal Kraft, um ihr Anliegen vorzutragen. Sie schreibt der Beobachterin wieder die Verantwortung zu, Abhilfe von ihrem Leiden zu ermöglichen. Sie scheint sich damit nicht zufrieden gegeben zu haben, dass die Beobachterin die Verantwortung an die Pflegekraft abgegeben hat und damit eine Dienstleistungsmentalität trotz des Leidens der Bewohnerin an den Tag legt. Unklar bleibt, ob es der Bewohnerin lieber wäre, dass die Beobachterin und nicht die Pflegekraft ihr hilft. Ich versuche sie abermals zu verstehen – ohne Erfolg. Ich verstehe nur etwas, das mit dem Sitzen zu tun hat und frage, ob sie doch noch auf Toilette müsse, was sich aber nicht klären lässt.
In dem Text wird dargestellt, dass der Versuch – trotz des Bemühens der Beobachterin – abermals scheitert und die Fortsetzung der Kommunikation dieses Scheitern nur weiter vertieft, anstatt es aufzulösen. Die Beobachterin versucht die Bewohnerin aber nur verbal zu verstehen und nicht »Hand anzulegen«, um Abhilfe zu schaffen. Sie versucht durch das Benennen konkreter Möglichkeiten, auf die nur mit Ja (Kopfnicken) oder Nein (Kopfschütteln) geantwortet werden kann, das Anliegen zu entschlüsseln; d. h. weitere Möglichkeiten, wie das Aufschreiben der Wünsche durch die Bewohnerin, das näher Heranrücken der Beobachterin, um besser hören zu können, das Verändern der Sitzposition, etc. wurden nicht realisiert. Dass diese Alternativen nicht ausprobiert wurden, konnte seitens der Bewohnerin als Ablehnung, Disengagement oder Unfähigkeit wahrgenommen werden, da sie in ihrem Leid alleine gelassen wird, was ihre Verzweiflung, nicht verstanden zu werden, erhöhen könnte.
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Ergänzt werden kann hier, dass insgesamt die Situation sehr angespannt ist, da eine neue Mitbewohnerin eingetroffen ist, die die ganze Zeit gellend nach Hilfe schreit und nur dann ruhig ist, wenn sich kontinuierlich jemand um sie kümmert.
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Ich lasse das Gespräch sein, fühle mich aber unwohl in dieser Situation...
Die Beobachterin gibt auf, hat aber möglicherweise ein schlechtes Gewissen, da sie nichts tun konnte, außer die Verantwortung abzugeben, was aber offensichtlich nicht ausreichte. Ihr Lösungsvorschlag wird von Frau Gerstner nicht akzeptiert und sie weiß keine Alternative zu der bislang gewählten Lösung. Die Aufgabe ihres Anliegens, helfen zu wollen, trägt dazu bei, dass die Beobachterin das helfende Engagement in Frage stellt und sich dem Gespräch entzieht. Dadurch vollzieht sich ein Wechsel: Der Vorrang der Hilfekommunikation, der die teilnehmende Beobachtung in eine Situation der Teilnahme im Sinne von Helfen/Nicht-Helfen gebracht hat, wird aufgrund des Scheiterns aufgegeben. ... und merke, dass sie in ihrer aufrechten Haltung zusammensackt, ihr Oberkörper nun vornüber gebeugt ist und ihr Mund, der immer durch das leichte Zugespitzt-Sein »fein« aussieht, nun zu einem Schmollmund wird. Dabei rutscht sie immer von einer zur nächsten Pobacke.
Nun zeigt die Bewohnerin ihr Anliegen bzw. ihre Enttäuschung körperlich. Sie verliert ihre aufrechte Haltung, rutscht auf dem Stuhl hin und her und macht einen Schmollmund. Durch die Ablehnung der Beobachterin wechselt die Bewohnerin von der verbalen zur nonverbalen Kommunikation, indem sie körperlich ihr Leiden zeigt. Die teilnehmende Beobachterin wird zur Beobachterin, die die Folgen ihres Handelns im Sinne des Nicht-Helfens beobachtet. Damit entzieht sie sich nicht vollständig der Hilfelogik, sondern lässt sie im Hintergrund mitlaufen. Nach einer kurzen Pause steige ich ins Gespräch mit Frau Naber ein, da ich schon vorher das Gefühl hatte, dass sie es nicht mochte, dass ich Frau Gerstner die volle Aufmerksamkeit geschenkt habe. Konkret wahrnehmen konnte ich dieses Gefühl allerdings nicht. Es war vielmehr das Wissen aus den vorherigen Beobachtungssituationen, dass sie abfällig winkt, sobald eine Pflegekraft sich jemand anderem als ihr zuwendet, was mich zu dieser Vermutung führte und dann – angesichts der Erfolglosigkeit des Gespräches mit Frau Gerstner – dazu brachte, nun hier mein »Glück« zu versuchen.
Die Beobachterin reagiert nicht und lenkt sich ab, d. h. sie greift den Hilfeversuch durch das körperliche Darstellen des Leidens nicht auf. Stattdessen widmet sie sich lieber der Person, die sie willkommen geheißen hat, die aber durch die Hilfekommunikation mit Frau Gerstner sozial ausgeschlossen wurde. Damit übernimmt die Beobachterin die Gesprächssteuerung (strategische Dominanz) (vgl. Tiittula 2001, S. 1362), welche zuvor durch die Hilfekommunikation bei Frau Gerstner gelegen hat. Sie schließt nun Frau Gerstner aus und bezieht Frau Naber in das Gespräch ein. Die Situation erscheint wie eine Klapptür, die eine Möglichkeit von der anderen trennt, es aber nicht ermöglicht, beide zugleich in den Blick zu nehmen. Dieses Mal liegt ihr Hauptaugenmerk auf dem Teddybären, der neben der Puppe auf dem Fensterbrett liegt. Sie nimmt ihn auf und redet mit ihm: »Ja, du bist mein Liebster, gib mir doch ein Bussi, Bussi, Bussi. Ja, aber du darfst keinem anderen eins geben«.
Die Bewohnerin nimmt erst das Gespräch mit dem Teddybären auf, als ihr von der Beobachterin Aufmerksamkeit geschenkt wird. Sie liebkost ihn und zeigt damit, dass »wenigs-
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tens« der Teddybär sie liebt, und sie holt sich von ihm einen Kuss. In dem Spiel bekommt sie die Zuwendung dadurch, dass sie zunächst dem Teddybären Zuwendung zeigt und darauf folgend als erste Bezugsperson für ihn gelten möchte. Damit stellt sie möglicherweise folgende Analogie dar: Sie ist der Beobachterin über das Willkommenheißen genauso sorgend gegenüber getreten wie dem Teddybären. Entsprechenderweise erwartet sie, dass die Beobachterin – wie der Teddybär – sie als erste Bezugsperson beachten soll. Dadurch kann sie als mütterliche Person konstituiert werden. Das würde konkret bedeuten, dass sie ihr Missfallen darüber zum Ausdruck bringt, dass die Beobachterin sich Frau Gerstner und nicht ihr zugewandt hat. Der potentielle Konflikt bzw. der Vorwurf wird aber nicht direkt ausgetragen, sondern vielmehr indirekt, eher in symbolischer Art und Weise, formuliert. Es ist aber auch möglich, dass sie in dem Spiel mit dem Teddybären zeigen möchte, dass sie die Situation, nämlich dass die Beobachterin sich nicht an sie, sondern an Frau Gerstner wendet, bewältigen kann. Der Teddybär bildet dann ein Übergangsobjekt, welches die Vereinnahmung der Bezugsperson ersetzt und eine Loslösung von Erwartungen an sie ermöglicht. Sie kann sich in der Spielsituation als liebende Mutter darstellen, die von einem abhängigen Liebesobjekt geliebt wird und deswegen nicht auf die Zuwendung seitens der Beobachterin angewiesen ist, die aufgrund der Hilfekommunikation etwas »Dringlicheres« zu tun hatte. Durch dieses fiktive Spiel wird die strategische Steuerung seitens der Beobachterin in eine semantische Steuerung seitens der Bewohnerin Naber überführt. Zugleich wird die Beobachterin aus dem Spiel ausgegrenzt und als Zuschauerin konstituiert. Sie wird ausgeschlossen, wie zuvor die Bewohnerin Naber aus der Kommunikation mit der Bewohnerin Gerstner ausgeschlossen wurde. Das Spiel mit dem Teddybären ermöglicht der Bewohnerin Naber, Kontrolle über die Situation herzustellen, autonom zu werden und sich als eine Person, die sich um andere sorgt und entsprechend auch von anderen geliebt werden möchte, darzustellen. Ich frage, ob sie dann eifersüchtig würde, was sie bejaht. Diese Benennung gefällt ihr aber anscheinend nicht, da sie leicht die Stirn runzelt. Ich bemerke, dass sie ja zueinander passen würden, da die lila Farbe des Teddybären ihrem Pullover entspricht. Daraufhin spricht sie wieder mit dem Teddybären und sagt: »Siehst du, das Fräulein meint, dass wir gut zusammenpassen.« Während diesem Gespräch ist der Körper von Frau Gerstner nicht nur vornüber gebeugt, sondern ist inzwischen auch nach rechts in unsere Richtung geneigt; gleichzeitig ist sie so positioniert, dass sie mit dem Körper leicht abgewandt zu uns sitzt und mich nun aber von unten nach oben blickend mit einem etwas verzerrten Gesichtsausdruck anschaut. In diesem Moment kommt Herr Müller, stellt sich ohne eine Wort zu sagen hinter den Rollstuhl von Frau Gerstner und guckt mich mit großen Augen an. Ich schaue zurück und er fragt mich etwas gereizt, ob wir mit dem Gespräch am Ende seien. Dann nimmt er sie schnellen Schrittes mit, spricht aber nach wie vor kein Wort mit Frau Gerstner. Ich bin entsetzt über diese subtile Aggression. Ich setze das Gespräch mit Frau Naber fort. Sie erzählt mir, dass hier alle nur faul herumsitzen würden und sagt leicht abfällig, »Gucken Sie, die schlafen hier doch alle.« Und tatsächlich ist die Stimmung sehr ruhig. Ich bemerke, dass sie ja alle schon gearbeitet hätten und nun nicht mehr arbeiten müssten, woraufhin sie über sich selbst sagt, dass sie ja nun auch nur faul herumsitzen würde, nachdem sie früher in der Druckerei gearbeitet hatte. Ihr Gesicht hellt sich auf und sie drückt ihre Freude über ihre frühere Arbeit aus. Ich frage, was sie dort gemacht hat und sie versucht mir ihre Arbeit zu erklären. Dabei fallen ihr nur wenige Worte ein, um dies zu beschreiben. Vielmehr zeigt sie, wie sie das Papier in den Drucker einlegt, indem sie die eine
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Hand, den Oberkörper nach vorne gebeugt, nach vorne schiebt, während die andere Hand das virtuelle Papier hinten festhält. Dabei verspricht sie sich und sucht das Wort, um dies auszudrücken; sie setzt zwei Mal an und sagt »...verreien, ne verrr..«, dann schüttelt sie den Kopf und ich versuche ihr zu helfen, indem ich ihr das Wort in den Mund lege, »verreden, versprechen«, woraufhin sie verunsichert lacht. Danach spricht sie wieder von dem Herrn Professor und drückt ihre Sympathie für ihn aus. Ich frage nach, wer das denn sei und bekomme dieses Mal den Eindruck, dass sie Herrn Jager meint. Sie wendet sich von der Vergangenheit ab und begibt sich in die Gegenwart. In der Zwischenzeit ruft Frau Lorich wieder laut, wann hier denn jemand komme. Ich überlege, ob ich zu ihr soll, lasse es dann aber bleiben, da ich das Gefühl habe, dass ich mich dann von ihr nicht mehr loslösen kann. Nach mehrmaligem Rufen kommt Herr Müller, hört sich kurz an, dass sie wieder in den Aufenthaltsraum möchte und sagt, dass sie immer woanders hin möchte, als da, wo sie gerade ist. Sie streiten sich kurz und sie drückt nun den Wunsch aus, auf ihr Zimmer zu wollen. Herr Müller kommentiert »Gut« und führt sie mit hohem Tempo auf ihr Zimmer. Danach hörte man ihre Hilferufe nur noch im Hintergrund. Auf diese Szene, von der sich keiner abwenden kann, reagiert Frau Naber wie folgt: Sie fragt bezogen auf die Auseinandersetzung zwischen dem Pflegedienstleiter und der Bewohnerin Lorich, was denn los sei? Und fügt hinzu, dass der Bär jetzt schlafen müsse und auch die »Mutti« nun schlafen müsse. Sie legt ihre Arme auf den Tisch und legt ihren Kopf darauf.6
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Erwartungsstrukturen und Gesamtorganisation der Interaktion im Hinblick auf Erleben und Handeln
Die Bewohnerin Gerstner unterhält sich zwar, aber nur aufgrund der Hilfebedürftigkeit. Wird auf diese nicht reagiert, sackt sie in sich zusammen. Die »unbeantwortete« Hilfebedürftigkeit scheint Frau Gerstner als Opfer ihrer Hilflosigkeit zu konstituieren. Trotz dieses Anscheins erweist Frau Gerstner sich bei genauerer Analyse auch als sehr wirksame Akteurin, die versucht, sich Hilfe zu organisieren, obwohl sie kaum verbale Möglichkeiten dazu hat. Denn sie »bleibt am Ball«, indem sie demonstrativ zusammen sackt, als sich die Beobachterin abwendet. Dadurch gelingt es ihr, eine emotionale Reaktion bei der Beobachterin hervorzurufen, die, obwohl sie aufgibt, konkret zu helfen, dennoch emotional an Frau Gerstners Hilfebedürftigkeit gebunden bleibt. Zugleich erschwert sich eine »Besucherkommunikation« zwischen der Beobachterin und der Bewohnerin Naber, die es ermöglicht, dass sich kommunikativ ein Alltag jenseits der Pflege konstituiert. Dabei erscheint die Bewohnerin als Gastgeberin, die die Regeln des Treffens bestimmt, während die Beobachterin als Besucherin sich diesen unterwirft. Voraussetzung für die »Besucherkommunikation« ist das Scheitern der Hilfekommunikation. Angesichts des ihr vorausgehenden und weiterhin mitlaufenden und sichtbaren Leidens von Frau Gerstner wird die Besucherkommunikation aber erschwert. D. h. die Besucherkommunikation ist sehr ungewiss und dadurch unwahrscheinlich, wenn auch möglich, wie es sich in dieser Situation zeigt. Darüber hinaus stellt der Text dar, dass die Abgrenzung der Bewohnerin Naber dadurch möglich wird, dass die Übergänge symbolisch gestaltet werden. Indem sie ein anderes Objekt, den Teddybären, als Übergangsobjekt nimmt, ersetzt sie die Beobachterin als Bezugsperson und bewältigt dadurch spielerisch die Enttäuschung darü6
Um den Rahmen einzuhalten, kann an dieser Stelle die erste Ebene der Analyse nicht weiter ausgeführt werden. Die Ergebnisse gehen aber auf die folgenden Analyseschritte mit ein.
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ber, dass ihre Erwartung, ein persönliches Gespräch mit der Beobachterin zu führen, nicht erfüllt wurde. Der Zugriff auf das Spiel als fiktive Wirklichkeit ermöglicht somit, den Übergang zu gestalten, mit dem eine Distanzierung von der pflegerischen Wirklichkeit entsteht. Dadurch kann eine andere Welt konstituiert werden. Im Unterschied zu der Untersuchung von Koch-Straube (1997) wird hier das Zu-Hause-Sein im Sinne des In-dereigenen-»familialen«-Welt-Seins in der Kommunikation performativ hergestellt. Die Bewohnerin muss sich nicht danach sehnen, nach Hause gehen zu können, sondern die Kommunikation mit der Beobachterin – eingeleitet durch symbolische Übergänge – konstituiert eine eigene vom pflegerischen Alltag abgegrenzte »familiale« Welt im Hier und Jetzt. Die Entscheidung gegen die pflegerische Kommunikation ermöglicht damit zugleich das Aufblitzen einer eigenen Welt, die neben der Pflege ihre Berechtigung hat. Dadurch wird Frau Naber erst in der Kommunikation mit der Beobachterin als Bewohnerin eines bzw. »ihres« Heimes konstituiert. Sobald aber der unbeantwortete Ruf nach Hilfe von anderen Bewohnerinnen präsent ist, versackt diese »familiale« Welt und trägt zum inneren Rückzug der Bewohnerin bei.
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Schluss
Durch diese Analyse kann gezeigt werden, welchen Beitrag die Systemtheorie für die Ethnographieforschung leisten kann. Ich möchte diesen noch einmal kurz zusammenfassen. Vorwürfe wie sie aus der Perspektive der Praxistheorie z. B. von Reckwitz (2003) formuliert werden, dass es sich bei der Systemtheorie um einen textualistischen Kulturbegriff handele, der durch die Logik der Grenzhaltung zwischen Körper, Bewusstsein und Kommunikation es verhindern würde, die körperliche und situierte Praxis zu thematisieren, kann nicht aufrechterhalten werden. Es konnte gezeigt werden, wie die Sichtbarkeit des Körpers für die Kommunikation eine zentrale Rolle spielt. Im Unterschied zur Praxistheorie wird der Körper aber nur dadurch zu einem Teil der Realität der sozialen Welt, als er in der Kommunikation thematisch wird. Ein Blick bzw. eine körperliche Geste kann genauso eine Form der Mitteilung sein wie ein gesprochenes Wort. Der systemtheoretische Kommunikationsbegriff der zwischen Information, Mitteilung und Verstehen unterscheidet, kann auch bei nonverbaler Kommunikation aufrechterhalten werden. Non-verbale Kommunikation kann aber erst durch ethnographische Forschung sichtbar werden. Die Analyse des Protokolls kann darüber hinaus zeigen, wie die Beobachterin von den Mitgliedern im Feld einbezogen und wie sie in dieses auf je spezifische Weise »eingepasst« wird. Deutlich wird aber auch, wie die pflegerische Kommunikation die Situation dominiert und wie schwierig es auch für Personen ist, die eigentlich in keiner pflegerischen Funktion in dem Aufenthaltsraum sind, sich von dieser Erwartung zu distanzieren. Dass es sich dabei um eine latente Sinnstruktur handelt und nicht um eine Intention einer der Mitglieder im Feld, wird deutlich, wenn rekonstruiert wird, wie Erwartungen im kommunikativen Vollzug entstehen, wie sie bedient oder enttäuscht werden. Durch die Abgrenzung thematischer Felder wird es möglich, die verschiedenen, in der Situation wirksam werdenden Kontexturen sichtbar zu machen. Dadurch kann die von Knorr-Cetina (1992) formulierte Kritik, dass die Systemtheorie, aufgrund ihres Bezugs auf die binäre Codierung, die Vielfältigkeit der Praxis nicht berücksichtigt, in Frage gestellt werden (vgl. Nassehi 2004). Vielmehr wird
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durch den Rückgriff auf die Kontexturen deutlich, dass sich verschiedene Systemperspektiven (Multiperspektivität) nebeneinander bzw. nacheinander kommunikativ vollziehen und wie sie zugleich in ihrer Differenz aufeinander bezogen sind. In der Systemtheorie wird nicht davon ausgegangen, dass Personen kommunizieren, sondern vielmehr werden sie in der Kommunikation erzeugt. Indem nach der Sequenzanalyse die Zurechnung von Erleben und Handeln vollzogen wird, kann die Personenkonstitution auf eine Abstraktionsebene gehoben werden, die einen systematischen Vergleich von Kommunikationen, in denen Personen auf unterschiedliche Art und Weise konstituiert werden, ermöglicht, ohne auf eine inhaltsanalytische Ebene zu wechseln.
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Bettina Hünersdorf
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Zwischen Rekonstruktion und Generalisierung – Methodologische Reflexionen zur Ethnographie Stefan Köngeter
Rekonstruktion und Generalisierung sind Forschungsschritte, die auf den ersten Blick zur Ethnographie nicht zu passen scheinen: Das Rekonstruieren steht für eine detaillierte, methodisch kontrollierte, häufig sich der Fron der sequentiellen Analyse unterwerfenden Explizierung des (latenten) Sinns eines Textes oder Protokolls. Die Generalisierung zielt darauf ab, aus dieser detaillierten Analyse Aussagen abzuleiten, die nicht nur für das untersuchte Feld stehen, sondern einen möglichst großen Ausschnitt der sozialen Wirklichkeit »begrifflich« zu »erfassen«, indem Typen gebildet (vgl. Kelle/Kluge 1999), (Ethno-)Methoden expliziert (vgl. Bergmann 2000; Wolff/Meier 1995) oder gegenstandsbezogene Theorien oder Modelle entwickelt werden (vgl. Glaser/Strauss 1998; Strauss 1994). Für die Ethnographie ist hingegen erstens kennzeichnend, dass sie im Vergleich zu rekonstruktiven Methoden sich weniger über strenge, methodische Regeln definiert, sondern eher über eine gemeinsame Forschungshaltung und dabei verschiedene Forschungsstrategien zu integrieren versucht. Und zweitens zielt sie weniger darauf ab, aus ihren Beobachtungen generalisierte Theorien zu entwickeln, als vielmehr das von ihr untersuchte Feld in seiner spezifischen Regelhaftigkeit deskriptiv zu erschließen. Es ist daher bereits ein Akt der Befremdung, wenn die Ethnographie darauf hin befragt wird, in welcher Form dort rekonstruiert und generalisiert wird. Die Ethnographie setzt gegen den vermeintlichen Methodenfetisch, der sich nicht zuletzt auch aus der sozialen Dynamik der scientific community selbst speist, den Methodenzwang des Feldes (vgl. Hirschauer/Amann 1997, S. 19). Es ist daher kein Zufall, dass in der ethnographischen Methodenliteratur Veröffentlichungen z. B. über den Feldzugang (vgl. Sabine Bollig und Jörn Lamla in diesem Band, sowie z. B. Wolff 2000), der Spannung von Teilnahme und Beobachtung (vgl. Lüders 2000) oder dem ethnographischen Schreiben (vgl. Peter Cloos und Marc Schulz in diesem Band, sowie z. B. Sanjek 2000) im Vordergrund stehen. Rekonstruktion und insbesondere Generalisierung sind also keine einheimischen Begriffe der Ethnographie. Mit der Ablösung der Ethnographie von ihrer ursprünglichen Beziehung zur Erforschung fremder Kulturen und ihrer Anwendung auf den eigenen Alltag gerät sie auf der einen Seite in die Nähe einer allgemeinen Methodendiskussion: »Dies birgt die Gefahr einer Reduktion von Ethnographie auf Methodologie« (Berg/Fuchs 1993, S. 18). Darin liegt auf der anderen Seite aber auch eine Chance, wenn es gelingt, Ethnographie in ihrem Bezug zu anderen Forschungsmethoden zu diskutieren und gleichzeitig ihre Besonderheit herauszuarbeiten. Die Ethnographie begibt sich also mit ihrer Anwendung auf die eigene Kultur auf unsicheres Terrain, denn sie kommt dabei in Kontakt mit einem Feld, in dem andere Methoden bereits etabliert sind. Die Frage ist also, inwiefern es gelingt, die Ethnographie für die Analyse der eigenen Kultur nutzbar zu machen, ohne dass sie dabei ihre Eigenart verliert und dabei doch anschlussfähig an andere etablierte Forschungszugänge wird.
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Stefan Köngeter Ethnographie der eigenen Profession – ein Beispiel
Diese grundlegende Frage skizziert das allgemeine Diskussionsfeld, das in diesem Beitrag am Beispiel des Übergangs von der Rekonstruktion zur Generalisierung näher diskutiert wird. Dabei wird exemplarisch am Verlauf eines ethnographisch orientierten Forschungsprojekts1 gezeigt, welche Probleme auftauchen und welche Strategien angewendet werden können, um die Erkenntnisse über die beobachtete Praxis hinaus zu generalisieren. Das durch das Forschungsprojekt untersuchte Handlungsfeld ist die sogenannte offene Kinderund Jugendarbeit, also die pädagogische Arbeit in Jugendfreizeiteinrichtungen, Jugendzentren und Kinder- und Jugendhäusern (vgl. Cloos u. a. 2007). Es ist ein beliebtes Forschungsfeld, weil hier der Zugang zu jugendlichen Kommunikationspraktiken und Jugendkulturen einfach herzustellen ist (vgl. z. B. Tertilt 1996). Gleichwohl wird aus ethnographischer Perspektive vergleichsweise selten das pädagogische Geschehen selbst untersucht, möglicherweise weil es für ethnographisch forschende PädagogInnen besonders schwer ist, gegenüber dem Handlungsfeld, in das man selbst in Studium, Praktikum und Beruf einsozialisiert wurde, einen befremdeten Blick zu entwickeln (vgl. Müller 2008). Genau darin sahen wir als Forschungsteam eine Lücke in der bisherigen sozialpädagogischen Wissenschaftslandschaft und auch eine Herausforderung für uns und das ethnographische Forschungsprojekt. Diese Herausforderung spiegelt sich auch in dem im Antrag sehr breit angelegten Forschungsfokus: »Mit dem Forschungsprojekt ist beabsichtigt, eine empirisch fundierte, systematisch nachvollziehbare und differenzierte Beschreibung der Strukturen pädagogischen Handelns im Kontext alltäglicher Interaktionsbeziehungen zwischen PädagogInnen und ihren AdressatInnen in der Kinder- und Jugendarbeit, der dabei vorausgesetzten situativen und institutionellen Rahmungen und subjektiven Erwartungshaltungen sowie der vermittelnden Aushandlungsmodalitäten zu liefern« (Müller/Thole 2003, S. 31). Die Bandbreite der zu untersuchenden Themen war also groß und aufgrund der Zielstellung, die »Strukturen pädagogischen Handelns« des Handlungsfeldes selbst zu rekonstruieren, lag das Problem der Generalisierung auf der Hand. Für die Ethnographie war das Thema Generalisierung hingegen gerade wegen ihres Schwerpunktes auf exotische Kulturen lange kein Thema. Es galt das Postulat von Geertz, dass die Ethnologie die Aufgabe hat, »uns mit anderen Antworten vertraut zu machen, die andere Menschen gefunden haben, und diese Antworten in das jedermann zugängliche Archiv menschlicher Äußerungen aufzunehmen« (Geertz 1983, S. 43). Seine Skepsis gegenüber einer an Gesetzmäßigkeiten interessierten Sozialwissenschaft verdeutlichen seine methodologischen Ausführungen, wonach es nicht darum geht »abstrakte Regelmäßigkeiten festzuschreiben«, sondern darum »dichte Beschreibungen zu ermöglichen. Es werden keine allgemeinen Aussagen angestrebt, die sich auf verschiedene Fälle beziehen, sondern nur Generalisierungen im Rahmen eines Einzelfalls« (Geertz 1983, S. 37). Mit der Anwendung der ethnographischen Methode auf die eigene Kultur wird die Frage nach Individuellem und Allgemeinem, nach Einzelfall und Generalisierung neu gestellt. Klaus Amann und Stefan Hirschauer haben in diesem Zusammenhang die bekannte 1
Das von der DFG geförderte Projekt wurde von Burkhard Müller (Universität Hildesheim) und Werner Thole (Universität Kassel) geleitet. Die hier dargestellten Reflexionen wurden im Rahmen des Gesamtprojektes, insbesondere mit Peter Cloos, vorgenommen (vgl. Cloos u. a. 2007).
Zwischen Rekonstruktion und Generalisierung
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Formel der Befremdung der eigenen Kultur geprägt, die sich dadurch auszeichnet, dass »mit der Adaption der ethnologischen Leitdifferenz von Fremdheit und Vertrautheit ein Vorgehen etabliert [wird], für das jenes offensive Verhältnis zum Nicht-Wissen charakteristisch ist, das wir eben als Heuristik der Entdeckung des Unbekannten bezeichneten« (Hirschauer/Amann 1997, S. 11). Fremdheit wird daher nicht nur in den in (post-)modernen Gesellschaften immer zahlreicher werdenden Subkulturen, Gesinnungsgemeinschaften, Expertenzirkeln, virtuellen Räumen u. ä. gesucht. Vielmehr soll »das weitgehend Vertraute (…) dann betrachtet [werden] als sei es fremd, es wird nicht nachvollziehend verstanden, sondern methodisch ›befremdet‹: es wird auf Distanz zum Beobachter gebracht« (Hirschauer/Amann 1997, S. 12). Ziel dieses »othering« des Eigenen ist also weder Erklären noch Verstehen, wie die Autoren im Gegensatz zu Max Weber formulieren, sondern Explikation, d. h. über die Befremdung des Alltäglichen wird eine Entfaltung des in der Alltagsperspektive Banalen möglich. Die Rede von der Explikation verstellt aber das Problem, dass diese Explikation sich nicht mehr darüber legitimieren kann, dass sie etwas dokumentiert und beschreibt, das bislang unbekannt, fremd oder unentdeckt war. Vielmehr legitimiert sich die »Befremdung der eigenen Kultur« erst darüber, dass sie in einem Feld, das bereits durch zahlreiche Begriffe, Modelle und Theorien belegt ist, Explikationen vornimmt, die die bisherigen Begriffe, Modelle und Theorien, kurz Generalisierungen, als unvollständig oder unzureichend erscheinen lassen. Dadurch ist die Ethnographie gezwungen, eigene Generalisierungen vorzunehmen, die sich bewähren müssen und als fruchtbar erweisen. Genau vor diesem Problem stand dann auch das Forschungsprojekt: Denn über Bestimmungen, was Kinderund Jugendarbeit ist bzw. was sie sein sollte, herrscht kaum Mangel. Mangel bestand unseres Erachtens vor allem an empirisch exakten Rekonstruktionen, die zu einer generalisierten Aussage verdichtet werden, was die Pädagogik der Kinder- und Jugendarbeit ausmacht. Die 2 Herausforderung bestand also in einer Ethnographie der eigenen Profession. Im Folgenden sollen einige Strategien beschrieben werden, auf welche Weise im Forschungsprozess diese Befremdung der eigenen Profession vorgenommen wurde. Dabei erweisen sich, analytisch betrachtet, diese Versuche der Befremdung als Methoden, geeignete Fallperspektiven zu entwickeln. Was bei K. Amann und S. Hirschauer also mit der Metapher der Befremdung bezeichnet wird, kann – so die hier vertretene These – genauer als Konstruktion produktiver Fallperspektiven beschrieben werden. Diese Fallperspektiven ruhen bereits auf (vorläufigen) Generalisierungen, die dann auch den weiteren Verlauf der Rekonstruktion und Generalisierung mitbestimmen. Mit anderen Worten: Rekonstruktion und Generalisierung ist als zirkulärer Prozess zu verstehen, wobei (vorläufige) Generalisierungen (d. h. Begriffe, Modelle, Theorien usw.) in der Ethnographie eine zentrale Rolle dabei spielen, neue Perspektiven zu eröffnen und Befremdungen zu ermöglichen.
2
Wie lautet die passende Frage zu den Antworten, die ich erhalten habe?
Ein zentrales Problem in vielen ethnographischen Forschungen, aber auch in anderen rekonstruierend verfahrenden Projekten stellt die Material- und Themenfülle dar, mit der man 2
Auch wenn die Forscher und Forscherinnen in diesem Fall nicht als Jugendarbeiter tätig waren, so war ihnen dieses Handlungsfeld durch eigene Praxiserfahrungen, Lehre und Forschung in vielen Details bekannt.
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Stefan Köngeter
sich konfrontiert sieht – so auch in unserem Forschungsprojekt. Trotz eher kurzer Phasen teilnehmender Beobachtung von zehn bis vierzehn Tagen (in jeder der von uns besuchten acht Einrichtungen) entstand eine ungeheure Fülle von Material (vgl. ausführlicher dazu den Beitrag von Peter Cloos in diesem Band). Gesteigert wurde diese Komplexität dadurch, dass wir uns bei der Auswertung für ein rekonstruktives Vorgehen entschieden haben, das Anleihen bei verschiedenen sequenzanalytischen Verfahren gemacht hat (vgl. den Überblick von Maiwald 2005). Die Zeile-für-Zeile-Analyse sollte die Methodizität des Alltags (vgl. Bergmann 1988) in den Blick rücken, um sich darüber vom vermeintlich bekannten Geschehen befremden zu lassen. Zuerst überspülte uns dieses Vorgehen jedoch mit Themen und Detailerkenntnissen, deren Zusammenhang nur schwer zu erkennen war. Von vielen SozialforscherInnen wird in solchen Fällen in der Regel geraten, sich die eigene Fragestellung vor Augen zu führen oder das Forschungsvorhaben einzugrenzen. Das breit angelegte Forschungsdesign war jedoch keine Hilfestellung, denn die Liste an Themen war auch dort lang: Sie erstreckte sich über die Beziehungen zwischen PädagogInnen und Jugendlichen, subjektiven Erwartungshaltungen bis hin zu institutionellen Rahmungen usw. (siehe oben), sodass sich eine Eingrenzung als schwierig erwies. Daher versuchten wir die bislang rekonstruierten Kategorien und Themen in einem Schema zu veranschaulichen. Dieses Schema sortierte alle protokollierten, aufgezeichneten und rekonstruierten Beobachtungen in noch sehr vorläufige Kategorien. Wir unterschieden grob zwischen Protokollen, in denen (1) Arbeitsbeziehungen zwischen PädagogInnen und Jugendlichen rekonstruiert werden können, (2) unterschiedliche Interaktionsrahmungen sichtbar werden, (3) Reflexionen über das Geschehen im Jugendhaus vorgenommen werden (z. B. in Teamsitzungen, Zwischen-Tür- und Angel-Gespräche usw.) und (4) Lebenslagen, Lebenswelten, Jugendkulturen eine bedeutende Rolle spielen. Rückblickend lag die Bedeutung dieser Sortierung weniger darin, ein adäquates Schema zu finden, das das Geschehen im Jugendhaus abbilden kann, denn letztlich konnten wir uns im Forschungsteam nicht auf ein Schema einigen. Die Reflexion und Diskussion über dieses erste Schema half jedoch dabei, die passende Frage auf die Antworten zu erhalten, die das Material aufschließen konnte. Wir entschieden uns, zunächst den zweiten Punkt zu fokussieren. Zwei Argumente gab es dafür: Zum einen schien uns die bisherige sozialpädagogische Forschung diesen Bereich in den letzten Jahren stark vernachlässigt zu haben. Wenn diese etwas darüber aussagte, dann ging es zumeist darum, wie Jugendarbeit funktionieren sollte. Dementsprechend wurde vielfach darüber diskutiert, wie Angebote, Projekte und Konzeptionen aussehen sollten, aber wenig darüber, wie der Alltag des pädagogischen Handelns tatsächlich aussieht. Zum anderen schien dieser Aspekt besonders herausfordernd, weil diese alltäglichen Interaktionsrahmungen – auch in unseren Beobachtungen – am wenigsten den Anschein professionellen Handelns machten. Die Frage lag damit auf der Hand, ob in diesem Feld ein professionstheoretischer Zugang überhaupt sinnvoll ist. Damit war eine erste spannende Frage auf die Antworten gefunden, die zu diesem Zeitpunkt des Projekts in den zahlreichen Aktenordnern mit Material schlummerten und die nun neu ausgewertet und gesichtet werden konnten. Zugleich veränderte sich damit auch das weitere Vorgehen im Projekt: War zunächst vorgesehen, jede Einrichtung in einem ethnographischen Portrait vorzustellen, verschob sich der Fokus auf die vergleichende Analyse des alltäglichen pädagogischen Handelns. Es wurde uns auch im Team deutlich, dass es uns weniger darum ging, ein Jugendhaus in seiner Einmaligkeit als kulturelles Ensemble
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zu verstehen, sondern die gemeinsamen Strukturen pädagogischen Handelns in der Kinderund Jugendarbeit aufzuzeigen. Das Projekt sah sich daher gefordert, den kontrastiven Vergleich zwischen verschiedenen Jugendhäusern zu forcieren, um so Gemeinsames und Unterschiedliches zu akzentuieren. Das Ziel war also eine Ethnographie einer Profession und nicht von einzelnen Jugendeinrichtungen.
3
Wie lasse ich mich befremden?
Auf der Suche nach interessanten Fragen erwies sich die sequentielle Mikroanalyse als ein wichtiges Hilfsmittel, sich befremden zu lassen. Wir folgten dabei einem Tipp von K. Amann und S. Hirschauer: »Entsprechend gilt: Je vertrauter ein Feld, desto stärker muß die Normaldistanz variiert werden, i. d. R. im Sinne einer mikroskopischen Feinanalyse« (Hirschauer/Amann 1997, S. 13). Diese ethnomethodologische Grundhaltung ist für die Ethnographie aber nicht eins zu eins übertragbar, weil teilnehmende Beobachtungen in der Regel keinen unmittelbaren, registrierenden Zugriff auf die Produktion der sozialen Wirklichkeit haben (vgl. Bergmann 1985). Auch wenn Tonbandaufnahmen vielfach unsere Protokolle ergänzen konnten, blieb doch das Protokoll Ausdruck einer Beobachtungspraxis. Deutlich wurde dementsprechend, dass wir bei der Feinanalyse der Protokolle nicht nur die Konstruktionsleistung der Akteure, sondern auch die der BeobachterInnen in den Blick bekommen. Rekonstruktion hieß in diesem Fall daher auch Rekonstruktion der Protokollierung und der darin enthaltenen mehrfachen Konstruktionsleistungen:
Konstruktion durch die Feldteilnehmer mit ihren lebensweltlichen Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmustern. Konstruktion durch teilnehmende Beobachtung, die die Handlungssituation mitgeneriert. Konstruktion durch den Beobachter, dessen Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmuster für die Protokollierung von entscheidender Bedeutung sind. Konstruktion durch Vertextung, die durch bestimmte Darstellungs- und Erzählzwänge geprägt ist (um nur ein Beispiel zu nennen: Gleichzeitig Stattfindendes muss dennoch sequentiell präsentiert werden).
Ein textkritischer Umgang mit Protokollen bedeutet in diesem Kontext, das Hergestellt-Sein der Protokolle zu berücksichtigen. Ich möchte zur Verdeutlichung einen ganz kurzen Ausschnitt aus einer Beobachtung in einem süddeutschen Jugendhaus heranziehen: »Einzelne Jungs sitzen an den Bistrotischen und wirken so, als würden sie nur darauf warten, bis das Café zu macht oder bis ihre Freunde bereit wären zu gehen. Kurz nach halb zehn kommt ein Mädchen zu Sarah (Sebald, die Jugendarbeiterin, SK) an die Theke und sagt: ›Du, mir ist langweilig.‹ Worauf Sarah meint: ›Du, mir auch.‹«
In diesem kurzen Protokollausschnitt werden zumindest drei dieser vier Konstruktionsebenen deutlich.
234
Stefan Köngeter Die Konstruktion durch den Beobachter, der offensichtlich irritiert ist über das Warten der männlichen Jugendlichen. Hinter dem Text scheint ein Fragezeichen zu stehen: Warum gehen sie nicht, wenn nichts los ist? Der Beobachtungsfokus wird durch diese Irritation offenbar geleitet. Die Konstruktion durch die Vertextung: Nicht umsonst wird dann gleich die Szene zwischen Jugendarbeiterin und Mädchen angeschlossen, die mit einer Pointe der Jugendarbeiterin endet. Die Konstruktion durch die FeldteilnehmerInnen: Sowohl das non-verbale Verhalten der Jungen als auch die verbale Interaktion zwischen den Mädchen und Jugendarbeiterin schreiben sich in das Protokoll ein.
Die Protokolle teilnehmender Beobachtung sind daher hybride Gebilde, in der die unterschiedlichen Einschreibungen der FeldteilnehmerInnen interessante Perspektiven eröffnen können. Die Berücksichtigung der Irritationen und Konstruktionen der Beobachter und der Beobachtung hat dabei weniger das Ziel, im Nachhinein an die »reine« Konstruktion der Akteure im Feld heranzukommen, da die Konstruktionsleistungen in dem Protokoll amalgamiert vorliegen. Die Irritationen sind vielmehr zentrale Fingerzeige, wo die Rekonstruktionen ansetzen können und wo sich interessante Fragestellungen verbergen. Denn: ForscherInnen und Akteure des Feldes »besitzen füreinander ›Reizwerte‹ (vgl. Devereux 1988, S. 40 ff.), sie lösen wechselseitig spezifische Reaktionen aus (…) [Sie] besitzen unterschiedliche Sensorien, Wahrnehmungsweisen, Maßstäbe, Bewertungen für diese Reizwerte (für die des Gegenübers, für die eigenen). Sie verfügen über unterschiedliche Handlungsmuster, -strategien, interaktive Kompetenzen, mit diesen Reizwerten aus-/agierend und verarbeitend umzugehen« (Breuer 2003, Abs. 24). Der hier vorgestellte Protokollausschnitt steht für eine ganze Reihe von Irritationen, mit denen wir als BeobachterInnen konfrontiert wurden. Er steht zunächst für die Irritationen, die immer wieder durch solche Momente der Langeweile entstanden sind, in denen scheinbar nichts passierte und in denen auch keine Angebote durch die PädagogInnen gemacht wurden. Er steht für die Alltagsförmigkeit und scheinbare Ignoranz der (indirekten) Aufforderung der Jugendlichen, die Mitarbeiterin möge doch bitte für ein wenig Unterhaltung sorgen. Er steht auch für das Problem der Parallelität und Diskontinuität der Ereignisse, die aber doch in einem irgendwie gearteten Zusammenhang zu stehen scheinen. Und er steht schließlich für die Irritation, die auch bei den FeldakteurInnen entsteht, wenn wir solche Mikroereignisse für wichtig erachten und protokollieren – auch wenn dies hier nicht ausdrücklich erwähnt wurde.
4
Wie gehe ich mit diesen Befremdungen um?
Irritationen und Immunreaktionen (vgl. Wolff/Scheffer 2003) sind für uns zentraler Ansatzpunkt für weitere Forschungsanstrengungen gewesen. So führt die Irritation und der Witz in dieser Szene zur Rekonstruktion einer Reihe von ähnlichen Interaktionen, in denen die Alltäglichkeit der Interaktion nicht aufgehoben wird, gleichwohl die PädagogInnen etwas
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tun, was als professionell bezeichnet werden kann.3 In diesem kurzen Ausschnitt formuliert das Mädchen gegenüber der Mitarbeiterin eine doppelte Botschaft: (1) einen Betreuungswunsch, verbunden mit einer verdeckten Attacke auf das »langweilige« Angebot der Einrichtung und (2) eine, ebenfalls verdeckte, Aufforderung, ihr doch mehr Unterhaltung zu bieten. Obwohl sie also entweder in ihrer Dienstleistungsrolle oder als stellvertretende große Schwester angesprochen wird, zeigt ihre Antwort, dass sie weder auf der einen noch auf der anderen Ebene antwortet. Ebenso verkneift sie sich jede moralische oder sonst wie appellierende Ansprache. Sie kontert mit einer knappen Pointe. Die vordergründig scherzhafte Antwort ist bei genauerem Hinsehen eine Modulation des Interaktionsrahmens, den die Jugendliche initiiert. Sie nötigt die Jugendliche zu einer Reflexion ihrer Situation im Spiegel der Pädagogin. Dabei schlägt sie mehrere Fliegen mit einer Klappe:
Die Unterstellung des Mädchens, dass das Jugendhaus ein Ort ist, an dem die PädagogInnen für ein spannendes Programm sorgen oder die Jugendlichen unterhalten werden müssen, wird ohne Gegenvorwurf zurückgewiesen. Die Alltäglichkeit der Kommunikation bleibt gewahrt, die Symmetrie der Beziehung sogar betont. Zugleich aber agiert sie mit einer pädagogisch sehr voraussetzungsvollen und reflektierten Handlung, indem sie der Jugendlichen die Verantwortung für ihre Langeweile zurückgibt, die Eigenaktivität implizit zum Thema macht.
Die scherzhafte Modulation des Interaktionsrahmens aber erzeugt zugleich ein pädagogisches Moment. Denn Sarah Sebald fordert die Jugendliche auf, sich in ihre Lage zu versetzen, ein nur angedeutetes Spiel mit den Rollen: Stell Dir vor, Du müsstest hier arbeiten, an einem Abend, an dem partout nichts los ist, in einem Raum mit Jugendlichen, die nur darauf warten, dass ich den Laden hier zumache. Der scherzhafte Konter stellt damit die Anfrage der Jugendlichen in einen anderen, neuen Zusammenhang. Mit dem Begriff der Modulation, den wir uns aus den Goffmanschen Analysen der Alltagskommunikation entliehen haben (vgl. Goffman 1977), wurde eine erste Antwort gefunden auf die Frage, wie im Alltag der Kinder- und Jugendarbeit professionell gehandelt wird. Die Praxis des gekonnten Modulierens alltäglicher Interaktionen erschien uns als wichtiger Hinweis auf eine spezifische Professionalität dieses Handlungsfeldes. Unsere Rekonstruktionsbemühungen haben durch die Fragestellung nach dem Umgang mit den Alltagskommunikationen im Rahmen eines potentiell professionalisierbaren Feldes Richtung und Struktur erhalten. Es wurde eine Generalisierung vorgenommen, die zwar auf keinen unschuldigen oder neu kreierten Begriff zurückgriff, die aber in diesem Kontext einen Erkenntniszuwachs zu versprechen schien. Mit dieser ersten hypothetischen Generalisierung war aber erst ein Anfang gemacht. Denn hier beginnt sozusagen erst die »normale Wissenschaft« (Kuhn 1967, S. 49 ff.), bei der auf der Grundlage einer ersten Hypothese typisierend und falsifizierend weiter das Material durchforstet wurde. Es folgten zunächst weitere differenzierende Analysen, ob und wie in unterschiedlichen alltäglichen Interaktionsrahmen (z. B. des Erzählens, des Frotzelns usw.) gehandelt wird. Nach und nach wurden dabei Regeln herausgearbeitet, wie typi3
Die ausführliche Rekonstruktion dieser kurzen Szene kann hier nur verkürzt wiedergegeben werden (vgl. ausführlicher Cloos/Köngeter 2007; Cloos u. a. 2007, S. 146 f.)
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Stefan Köngeter
scherweise PädagogInnen die Interaktionen im Jugendhaus modulieren, wie sie also im komplexen Alltag eines Jugendhauses bestehen und darauf Einfluss nehmen können. Darüber hinaus wurde untersucht, wie die PädagogInnen diesen Alltagskommunikationen in bestimmten Situationen einen eher asymmetrisch strukturierten Rahmen geben. Diese Übergänge in Interaktionsrahmen, in denen Handlungsstrukturen vorherrschen, die häufig als Kern pädagogischer Professionalität identifiziert werden (z. B. Beratung, Coaching, Krisenintervention), demonstrieren einen weiteren Aspekt professioneller Performanz. Dabei schien die Kunst der Kinder- und Jugendarbeit weniger darin zu bestehen, in diesem Rahmen zu handeln, sondern diese Rahmen überhaupt erst einmal herzustellen. Schließlich haben wir gezielt nach Kontrastfällen gesucht und insbesondere sogenannte Fälle von Hausverboten rekonstruiert. Denn diese schienen auf den ersten Blick nicht nur einen maximalen Kontrast zu solchen minimalinvasiven Interventionen in Form von Modulationen darzustellen, sondern unseren herausgearbeiteten Regeln zu widersprechen. Hier ließen sich dann Strategien und Reparaturmechanismen identifizieren, die eine wichtige Ergänzung zu den professionellen Regeln der Kinder- und Jugendarbeit bildeten.
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Was ist hier der Fall?
An diesem Beispiel lässt sich verdeutlichen, dass unser Forschungsprozess weder dem Idealmodell eines linearen noch dem eines zirkulären Vorgehens entsprach, wie sie bspw. von Flick (2000, S. 56 ff.) skizziert werden. Insbesondere der Weg von der Rekonstruktion zur Generalisierung erwies sich als verschlungener, als wir ihn uns im Vorhinein vorgestellt haben. Die Entwicklung einer adäquaten Fragerichtung und Forschungsperspektive erfolgte erst nach einigen Rekonstruktionen, die zwar interessante Einblicke in die Kinder- und Jugendhäuser gaben, die aber noch zu keiner gehaltvollen Generalisierung oder Verdichtung geführt haben. Erst die hier dargestellte Frage- und Blickrichtung eröffnete die Möglichkeit, die Komplexität des Materials rekonstruktiv zu erschließen und legte dabei die Gleise für die weiteren Generalisierungen. Rekonstruktion und Generalisierung scheinen, so könnte man verallgemeinernd feststellen, aufeinander verwiesen zu sein und das eine ohne das andere nicht vonstatten gehen zu können. Das Ziel der Rekonstruktion, Neues über die untersuchte soziale Wirklichkeit zu erfahren, bricht sich damit an der konstitutiven Bedingung, dass die Rekonstruktion auf bereits bekannte Begriffe und Theorien angewiesen ist – hier im Beispiel: Alltagskommunikation, professionelles Handeln, Modulation. Diese Paradoxie sozialwissenschaftlicher Forschung ist nicht unbekannt, wird aber m. E. insbesondere unter dem Diktum einer qualitativen Forschungsmethodologie unterschlagen, die einen starken Bias Richtung Rekonstruktion hat, und verschärft sich noch einmal, wenn die Ethnographie mit dem Anspruch antritt, dass sie sich zunächst einmal von der beobachteten, sozialen Wirklichkeit befremden zu lassen hat. Mit Charles Ragin (1992, S. 217) kann hingegen argumentiert werden: »It is impossible to do research in a conceptual vacuum. Whether it is viewed as given or socially constructed, the empirical world is limitless in its detail, complexity, specificity, and uniqueness. The fact that we can almost any everyday social category problematic (e.g., family, community, social class, church, firm, nation-state) is testimony to the complexity of the empirical. We make sense of its infinity by limiting it with our ideas.« Darum soll an dieser
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Stelle noch einmal die Metapher der Befremdung oder des »othering« aufgegriffen werden, die im Zentrum des Programms einer sozialwissenschaftlichen Ethnographie der eigenen Kultur steht (vgl. Hirschauer/Amann 1997; Breidenstein in diesem Band). Diese Metapher stellt zunächst eine Negation dar: Es geht offensichtlich darum, das bislang Bekannte als unbekannt zu betrachten, das Vertraute als unvertraut. Die eigenen Deutungs- und Wahrnehmungsmuster und die bekannten Modelle und Theorien mögen keine Anwendung finden. Mit anderen Worten: Die Ethnographen werden verpflichtet, ihr bisheriges Wissen von der eigenen Kultur einzuklammern – sie unterziehen sich einer Art epoché (vgl. Husserl 2002). Das Postulat der Befremdung steht aber vor dem Problem, dass es auf die oben beschriebene Paradoxie eine nur unzureichende Antwort gibt, denn sie löst diese einseitig auf. Der Prozess der Befremdung kann – so die These – genauer gefasst werden, indem die Befremdung als der Versuch verstanden wird, eine neue Fallperspektive auf die soziale Wirklichkeit zu entwickeln. In der Rekonstruktion unseres eigenen Forschungsprozesses wurde deutlich, dass dabei erhebliche Verschiebungen stattgefunden haben. Das Projekt war angetreten, Kinder- und Jugendarbeit anhand von Fallportraits zu dokumentieren. Unhinterfragte Prämisse dieses Vorgehens war, dass als Fall die Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit verstanden wurden. Dementsprechend war auch unser Sampling angelegt, bei dem die Einrichtungen möglichst kontrastiv ausgewählt wurden. Im Laufe des Forschungsprozesses veränderte sich jedoch das Sampling und damit die Fallperspektive immer deutlicher in die Richtung, die uns interessant und produktiv erschien: das durch Jugendliche und Professionelle koproduktive Handeln im Rahmen eines durch Alltagskommunikation geprägten Handlungsfeldes. In diesem Kontext erwies sich dann die soziologische Theorie sozialer Praktiken (Reckwitz 2003) als geeigneter Rahmen für eine sinnvolle und produktive Fallperspektive, die etwas sichtbar machte, das in den bisherigen Selbstbeschreibungen und den theoretischen Entwürfen dunkel blieb. Erst die Entwicklung dieser Fallperspektive gab den weiteren Rekonstruktionen ihre Ausrichtung, wie sie oben dargestellt wurde. Der Fall in einem Forschungsprojekt ist also keine feststehende Kategorie, sondern ein Prozess, kein »case«, sondern ein »casing«: »For these reasons, consider cases not as empirical units or theoretical categories, but as the products of basic research operations. Specifically, making something into a case or ›casing‹ it can bring operational closure to some problematic relationship between ideas and evidence, between theory and data. Casing, viewed as a methodological step, can occur at any phase of the research process, but occurs especially at the beginning of a project and at the end. Usually a problematic relation between theory and data is involved when a case is declared« (Ragin 1992, S. 218). Die Bedeutung eines dynamischen Fallbegriffs wird auch in neueren methodologischen Reflexionen deutlich: Der Fall ist nach Kai-Olaf Maiwald in der Forschungspraxis nicht einfach als gegeben zu betrachten, sondern besteht aus einer relationalen Einheit aus Lebenspraxis, Text und Theorie. Gegenstand einer Rekonstruktion ist immer ein Fall, der jedoch als ein relationales Konstrukt vorgestellt werden muss. Zugriff auf die überkomplexe, einzigartige Lebenspraxis erhält der Forscher also erst dadurch, dass er sie in einen Text verwandelt. Dieser Text kann dabei eine Abschrift eines Interviews, ein Protokoll einer registrierten Interaktion, eine teilnehmende Beobachtung oder auch eine »Blickschneise« einer Kamera (vgl. Mohn in diesem Band) sein. Dieser Text steht für eine Ausdrucksgestalt, die aber ihren Sinn erst dadurch erhält, dass sie in einen theoretischen Kontext gestellt
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wird (siehe das Zitat von Ragin). Der Fall erweist sich daher bei genauerer Analyse als relationale Einheit von Lebenspraxis, Text und Theorie. Die drei Elemente stehen dabei in einem dynamischen Verhältnis zueinander, sie gehen also nicht ineinander auf, bergen füreinander Erkenntnis- und Irritationspotenziale und ermöglichen erst ein Fortschreiten des Forschungsprozesses (vgl. ausführlicher dazu Maiwald 2005, 2008). Für die Ethnographie gilt darüber hinaus die Besonderheit, dass deren Texte in einem spannungsreichen Prozess von Teilnahme und Beobachtung generiert werden.4 Der »Zugriff« auf die Lebenspraxis erfolgt in der Ethnographie immer in intensivem Kontakt und Auseinandersetzung mit dieser, Beobachtungspraxis und Lebenspraxis können mal zusammenfallen, mal verlaufen sie fast vollständig getrennt voneinander. Und ähnliche Bewegungen lassen sich auch zwischen den anderen Elementen einer Ethnographie feststellen: Die Vertextung driftet zur Theoretisierung (vgl. die Bedeutung von Memos oder der Zusammenhang von Blickschneisen und dichtem Zeigen bei E. Mohn), die Lebenspraxis liefert native codes für Theorien, Theorien schleichen sich in die Lebenspraxis ein und verändern diese usw.
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Casing als Forschungsstrategie
Der Fall in unserer Ethnographie war also weder eine scheinbar eindeutig identifizierbare kulturelle Einheit wie das Jugendhaus oder – schon voraussetzungsvoller – die Jugendarbeit, sondern alltägliche Praktiken der PädagogInnen und Jugendlichen in einer als professionalisierbar erachteten Kinder- und Jugendarbeit, wie wir sie im Rahmen einer intensiven teilnehmenden Beobachtung protokolliert haben. Verallgemeinert gesprochen ist der Fall in unserer Ethnographie eine Relation aus
Lebenspraxis: alltägliche Interaktionen von Jugendlichen und JugendarbeiterInnen. Theorie: Professionstheorie, Theorie alltäglicher Kommunikation, Theorie sozialer Praktiken. Text: durch registrierende Daten ergänzte Protokolle teilnehmender Beobachtungen. Beobachtungspraxis: intensive teilnehmende Beobachtung dieser alltäglichen Interaktionen.
Was K. Amann und S. Hirschauer nun unter »Befremdung der eigenen Kultur« verstehen, besteht darin, die Spannung zwischen diesen vier Eckpunkten zu nutzen und neue Fallperspektiven zu entwickeln. Dabei kann die Befremdung an jedem dieser Eckpunkte ansetzen. 4
Der Unterschied zwischen Ethnographie und anderen Forschungszugängen besteht in dieser Hinsicht vor allem darin, dass in der Ethnographie der menschliche Beobachter und dessen Erinnerungs- und Dokumentationsvermögen die technische Apparatur (z.B. Tonband, Kamera) nicht nur erweitert, sondern als konstitutiv betrachtet wird. Weil aber erstens auch der Einsatz von technischen Apparaturen die Wirklichkeit aus einer spezifischen Perspektive heraus aufschließen, zweitens die Apparaturen ebenfalls von Menschenhand bedient werden müssen, daher drittens mit deren Bedienung Deutungs- und Interpretationsprozesse einhergehen und viertens die Beobachtungspraxis ebenfalls die soziale Situation strukturiert, müsste das hier zu Grunde gelegte relationale Modell auch jenseits der Ethnographie um den Aspekt der Beobachtungspraxis erweitert werden.
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Der einfachste Ansatzpunkt – auch für die Ethnographie der eigenen Kultur – stellt sicherlich die Lebenspraxis dar. Es gibt unzählige und in der Moderne immer zahlreicher werdende kulturelle Räume und Nischen, die unbekannt sind oder erst fremd werden. Dabei können Ethnographien sich auf die fremde Welt des Pflegeheims (vgl. Koch-Straube 1997) genauso beziehen wie auf eine türkische Jugendgang (vgl. Tertilt 1996) oder ein Jugendhaus (vgl. Küster 2003). Ein anderer Ansatzpunkt ist, eine neue, für das untersuchte Feld fremde Theorieperspektive einzunehmen. Ein neueres Beispiel hierfür ist die Studie von Georg Breidenstein, der ebenfalls mit dem Begriff der sozialen Praktiken, das Geschehen im Unterricht befremdet und neu aufgeschlossen hat (vgl. Breidenstein 2006). Die Metapher5 des Schülerjobs stellt sich dabei als produktive Denkmöglichkeit heraus, das Tun der SchülerInnen im Unterricht neu zu betrachten. Auch die Variation dessen, was in der Ethnographie als »Text« benutzt wird, kann Befremdungseffekte erzeugen und neue Fallperspektiven erschließen (vgl. die Texte von Peter Cloos und Marc Schulz in diesem Band). So verändert der Einsatz einer Kamera (vgl. Mohn/Amann 2006) oder von Tonaufnahmen den Zugriff auf die soziale Wirklichkeit und damit auch die Fallperspektive – Konversationsanalytische Studien setzen diesen Befremdungseffekt zusammen mit der theoretischen Metapher der Methodizität des Alltags seit mehreren Jahrzehnten ein. Schließlich kann der Ausgangspunkt für eine neue Fallperspektive auch die Beobachtungs- und Teilnahmepraxis selber sein, die den Befremdungsund Erkenntnisprozess in Gang setzen kann (vgl. Devereux 1988). Die Leitdifferenz der Befremdung ist aus dieser Perspektive eine produktive Metapher für die Überschreitung bislang für ein Feld erprobter und als sinnvoll erachteter Fallkonstruktionen. Folgt man dieser Argumentation, dann zeigt sich, dass die Ethnographie einer eigenen Kultur mehr Parallelen zu anderen Methoden qualitativer Sozialforschung aufweist als sie manchmal zuzugeben geneigt ist. Auch Feldforschung entwickelt Fallperspektiven – gesetzt den Fall man geht von einem analytisch geschärften Fallbegriff aus – und zielt darauf ab, auf der Grundlage einer Rekonstruktion sozialer Wirklichkeiten verallgemeinerbare Aussagen zu treffen. Dies gilt auch dann, wenn sie sich noch unbekannten Räumen und Nischen moderner Gesellschaften widmet und daraus zu einem guten Teil ihr Selbstverständnis ableitet. Entscheidend für eine Ethnographie der eigenen Kultur scheint aber zu sein, dass sie mit Hilfe einer teilnehmenden Beobachtungspraxis interessante und bislang übersehene Fallperspektiven auf die soziale Wirklichkeit eröffnet. Ihr Wissen um die Bedeutung der eigenen Forschungs- und Beobachtungspraxis stellt dabei für jede Methode der qualitativen Sozialforschung einen Zugewinn dar. Zugleich erhält sie mit dem Einbezug eines analytischen Fallbegriffs ein Werkzeug, mit dem sie die bislang eher metaphorisch beschriebenen Befremdungsprozesse näher beleuchten und möglicherweise auch befördern kann.
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Zur Bedeutung von Metaphern im Analyseprozess vgl. Becker 1998.
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Stefan Köngeter
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Ethnographie und Bildungsqualität: Umgang mit Heterogenität und Förderung von Literalität im europäischen Vergleich Argyro Panagiotopoulou
1
Einführung
In diesem Beitrag werden ethnographische Produktionsweisen von Wissen in einem institutionsübergreifenden und ländervergleichenden, grundschulpädagogisch und -didaktisch ausgerichteten Forschungsprojekt mit der Abkürzung »HeLiE« (»Heterogenität und Literalität im Übergang vom Elementar- in den Primarbereich im europäischen Vergleich«) vorgestellt. Das Projekt erhebt den Anspruch, Bildungsqualität auf der Grundlage von ethnographischen Feldstudien in unterschiedlichen, auch nichtdeutsch-sprachigen, europäischen Ländern zu erforschen. Diesem Anspruch versucht das Projekt gerecht zu werden, obwohl »Qualität« im deutschsprachigen Kontext hauptsächlich normativ, auf der Grundlage von Bildungsstandards verstanden und diskutiert wird. Zudem hängt diese Dimension des Qualitätsbegriffs in der Regel mit (pädagogisch-psychologisch inspirierter) Evaluationsforschung zusammen. Dass dieses Forschungsvorhaben dennoch kein Paradoxon in sich trägt, da Qualität von und in Bildungsinstitutionen auch ethnographisch erfassbar ist, soll im vorliegenden Beitrag thematisiert werden. Beginnen möchte ich mit einem Beispiel aus der Forschungspraxis und einem Beobachtungsprotokoll zum Unterrichtsalltag einer Anfangsklasse (2); bevor ich in einem weiteren Schritt die Konzeption des Projekts »HeLiE« darstelle (3). Dabei gehe ich unter anderem auf methodologische und methodische Besonderheiten länderübergreifender Beobachtungen ein. Im letzten Schritt (4) werde ich eine erste Bilanz ziehen über den Ertrag ethnographischer und international vergleichender Bildungsforschung mit einem (schul-)pädagogisch und -didaktischen Erkenntnisinteresse.
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Erste Beobachtungen im Unterrichtsalltag einer Anfangsklasse: Bildung beginnt vor der Schule – Und Bildungsqualität?
Im Folgenden präsentiere ich Ausschnitte aus einem Beobachtungsprotokoll zum schriftsprachlichen Anfangsunterricht einer Schulklasse und dazu ausgewählte Interpretationen, die sich teilweise während und unmittelbar nach der Protokollierung ergeben haben. 25.08.2006, Ende der zweiten Schulwoche, 10.20 Uhr, nach der großen Pause Die Kinder sitzen an ihren Schulbänken, die in vier Reihen angeordnet sind. Die Lehrerin steht vorne vor der Tafel und sieht in ihre Richtung. Die Sonderpädagogin steht an der Tür. Es herrscht Ruhe im Klassenraum. Die Lehrerin nennt fünf Namen. Drei Kinder stellen sich mit der Fibel in der Hand neben der Sonderpädagogin in einer Reihe hintereinander auf. Zwei weitere
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Argyro Panagiotopoulou Kinder suchen zuerst ihre Fibeln und stellen sich dann ebenfalls in die Reihe. Die Sonderpädagogin lächelt die Lehrerin an und verlässt den Raum gefolgt von den fünf Kindern.
Bildung beginnt vor der Schule. Förderung, in Form von außerunterrichtlichen Maßnahmen, begann in dieser Klasse, wie aus dieser Szene zu entnehmen ist, bereits in der zweiten Schulwoche des ersten Schuljahres. Die ausgewählten SchulanfängerInnen sollten außerhalb ihrer Stammklasse im Bereich Lesen gefördert werden. Die übrigen Kinder der Klasse, insgesamt zwölf, wurden im Weiteren in zwei Gruppen aufgeteilt. Eine Gruppe von sieben Kindern arbeitete mit der Klassenlehrerin und setzte sich im Sitzkreis auf den Boden vor der Tafel. Eine weitere Pädagogin arbeitete in einer anderen Ecke des Raumes am Gruppentisch mit fünf weiteren Kindern. Es handelte sich eventuell um die übliche Praxis der Aufteilung von SchülerInnen in angeblich homogenen Lerngruppen. Nach welchen Kriterien diese Kinder in insgesamt drei Gruppen aufgeteilt und den Pädagoginnen zugeteilt wurden, war jedoch zum Zeitpunkt unserer ersten Beobachtungen nicht ersichtlich. Dass eine frühzeitige Förderung, auch eine sonderpädagogische Förderung, für SchulanfängerInnen im Schulsystem allgemein sowie in der konkreten Institution als eine wichtige Komponente von Bildungsqualität verstanden wird, ist uns in diversen Gesprächen mit PädagogInnen nahe gelegt worden. Zudem wurden wir im Rahmen dieser Gespräche über die bestehende enge Kooperation zwischen der schulischen und vorschulischen Einrichtung sowie über eine gewisse Anschlussfähigkeit zwischen den beiden Bildungsbereichen im Allgemeinen informiert. Zwei wichtige Fragen haben sich allerdings im Zusammenhang mit unseren Beobachtungen ergeben: Wie ist es möglich, bereits in der zweiten Schulwoche den genauen Entwicklungsstand der insgesamt 17 SchulanfängerInnen dieser Klasse zu erschließen? Inwieweit hat diese frühe Entscheidung mit Angaben der in der vorschulischen Einrichtung tätigen PädagogInnen über die Entwicklung dieser Kinder zu tun? Darüber hinaus hat uns die didaktische Inszenierung der Lehrerin in der von uns beobachteten Kleingruppe befremdet: Die Lehrerin sitzt im Kreis zusammen mit sieben Kindern auf dem Boden. Alle Kinder halten eine Fibel in der Hand, aufgeschlagen auf Seite 12, die den Buchstaben »A a« behandelt. Daraus lesen sie im Chor, zusammen mit ihrer Lehrerin, einzelne Laute vor: »aaa aaa aaa«.
Was passierte hier also? Leseunterricht? Leseförderung mit einer homogenen Lerngruppe? Leistungshomogen zeigte sich die von der Lehrerin betreute Gruppe jedenfalls nicht. Einige Kinder hatten mit den gestellten Aufgaben Probleme: (…) Ein Junge ist dabei ein Wort zu entziffern, scheint aber Schwierigkeiten damit zu haben, er beginnt immer wieder von vorne: » sa.... san... sa...«. Inzwischen melden sich die übrigen Kinder. Die Lehrerin wiederholt alle bis dahin vorgelesenen Fibelwörter und nimmt einen weiteren Jungen dran. Sie zeigt dabei mit dem Finger auf das nächste Wort und der Junge liest vor.
Ein geeigneter Code für diese Szene (nach dem Verfahren der Grounded Theory in Anlehnung an Strauss 1998) wäre die Bezeichnung Lehrerzentriertheit im Sitzkreis, die in einem (fach-)didaktischen Memo mit dem traditionellen Fibelunterricht in Verbindung zu bringen wäre: einem mehr oder weniger überholten Ansatz des Anfangsunterrichts in der deutsch-
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sprachigen Grundschuldidaktik. Durch die nächste Szene wäre die Annahme zu formulieren, dass diese Schriftspracherwerbsdidaktik individuelle Unterschiede von Kindern in der Unterrichtspraxis negiert: Kurz darauf unterbricht die Lehrerin den Jungen und nimmt ein Mädchen dran. Während das Mädchen vorliest, sprechen alle anderen Kinder die vorgelesenen Wörter im Chor nach, dabei werden sie zwischendurch von der Lehrerin gelobt.
Die Lehrperson führte insgesamt Regie, insofern sie alleine entschied, was gemacht werden sollte, wer als nächstes vorlesen musste und wer nicht fortfahren durfte. Die didaktische Inszenierung sorgte dafür, dass es nach außen so wirkte, als würden alle Kinder zur gleichen Zeit das gleiche lernen und üben – oder sie taten zumindest so. Eine uns bekannte Situation, könnte man annehmen: viele Kinder wurden früher auf ähnliche Weise, sozusagen kollektiv, in die Welt der Schriftlichkeit eingeführt. Kollektives Lernen bzw. kollektives Lesen im Chor als didaktische Inszenierung von Lehrerin und Kindern könnte ebenfalls ein passender Code für diese Szene werden. Wir beobachteten also eine Lehrerin, die alle Entscheidungen traf, sowie SchulanfängerInnen, die aufgefordert wurden, eine Aufgabe kollektiv zu lösen, Wörter im Chor nachzusprechen und gelegentlich gelobt wurden – alle zusammen. Der Umgang mit der vorhandenen Heterogenität in der beobachteten Anfangsklasse befremdete uns, wahrscheinlich weil wir davon ausgingen, dass solche didaktischen Vorgehensweisen zumindest für die ersten Schuljahre überholt seien. Folgende Sequenz hat unsere Befremdung noch verstärkt: (...) Es ist 10:45 Uhr. Die Lehrerin steht wieder vorne an der Tafel, alle zwölf Kinder stehen neben ihren Schulbänken. Die Lehrerin liest einzelne Wörter aus der Fibel laut vor. Fängt das Wort mit dem Laut »i« an, hocken sich alle Kinder schnell hin, ist ein »a« am Anfang des Wortes zu hören, so stehen alle Kinder sofort wieder auf. Einige Kinder lachen dabei leise.
Auch diese Lernsituation (ist sie überhaupt eine?) hat zu mehreren Fragen geführt: Konnten alle zwölf SchulanfängerInnen, die an dieser Situation beteiligt waren, ein /a/ oder ein /i/ am Anfang eines Wortes hören? Was bedeutete diese Unterrichtsinszenierung für die Kinder selbst? Inwieweit lachten sie aus Verlegenheit? Inwiefern ermöglichten solche kollektiven Übungen ihren individuellen Schriftspracherwerb? Ausgehend von einem konstruktivistischen Lernverständnis fiel uns besonders schwer, die Qualität dieser Förderung überhaupt zu sehen. Die Heterogenität dieser Anfangsklasse schien uns darüber hinaus kein Ausgangspunkt der didaktischen Intention und Praxis der agierenden Lehrerin zu sein. Im Übrigen deutete bereits die Anordnung der Schulbänke, sowohl im Klassenraum (Abb. 1) als auch im Förderraum (Abb. 2), in dem ausgewählte SchulanfängerInnen von der Sonderpädagogin drei bis vier Stunden in der Woche gefördert wurden, auf undifferenzierten Frontalunterricht hin und befremdete uns ebenfalls.
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Argyro Panagiotopoulou
Abb. 1
Abb. 2 Die dargestellten Situationen und Szenen wurden im Unterrichtsalltag einer finnischen Einheitsschule beobachtet. Sie überraschten uns vor dem Hintergrund unserer Erwartungen, die im Rahmen der deutschsprachigen Debatten entstanden sind. Der Vergleich mit diesen Erwartungen führte zur Befremdung und gleichzeitig zur Erkenntnis, dass eine differenzierte international vergleichende Bildungsforschung von Bedeutung ist. Damit ich näher darauf eingehen kann, soll im Folgenden die Konzeption des Projekts etwas ausführlich vorgestellt werden.
3
Erkenntnisleitendes Interesse und Forschungsfragen des HeLiE-Projekts
Eine zentrale Fragestellung des Forschungsprojekts richtet sich auf den Umgang mit Heterogenität in unterschiedlichen Bildungswesen und Bildungsinstitutionen. In selektiven Bildungssystemen werden SchülerInnen systembedingt benachteiligt, wie die Debatten um die Ergebnisse aus international vergleichenden Studien der letzten Jahre verdeutlicht haben. Hingegen scheinen integrative Schulsysteme insbesondere in skandinavischen Ländern sowohl Bildungsqualität, als auch Chancengleichheit erreichen zu können. »High quality of educational outcomes-high equality of educational opportunities« ist laut Pirjo Linnakylä und Jouni Välijärvi (2003, S. 284) eine wichtige Zielsetzung der finnischen Einheitsschule. Die beinahe euphorische Darstellung der Rahmen- und Unterrichtsbedingungen der finnischen oder schwedischen Einheitsschulen und im Kontrast dazu eine teil-
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weise polemische Argumentation über die – in Zahlen präsentierte – Bildungssituation in Deutschland zeigt allerdings, dass diese Debatte, zumindest in Deutschland, sehr oft fast ideologisch erfolgt. Einen möglichen Grund dafür sehe ich in der fehlenden qualitativen Forschung. Um die eigene Bildungswirklichkeit bezüglich des Umgangs mit Heterogenität im pädagogischen Alltag erforschen zu können, bedarf es jedoch, spätestens seit der Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse, eines international und interkulturell vergleichenden Blicks im Rahmen von qualitativen Studien1. Ein solcher Forschungszugang ermöglicht nicht nur die Feststellung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Ländern, sondern auch eine interpretativ-analytische Rekonstruktion und eine distanzierte Reflexion der eigenen und fremden Bedingungen. Ein wichtiges Ziel des hier vorzustellenden Projekts besteht also darin, den fremden und befremdeten Blick nicht nur zuzulassen, sondern ihn durch den vergleichenden Blick zu erzeugen. Wenn die ethnographische Forschungsstrategie zur Befremdung, zur gezielten und systematischen Distanzierung »des scheinbar Bekannten und Vertrauten« führt (vgl. Amann/Hirschauer 1997; Breidenstein 2006, S. 21), dann befremden uns die oben dargestellten Unterrichtsbedingungen umso mehr. Die Alltagspraxis innerhalb einer Schulklasse im »erfolgreichen Finnland« (so die übliche Bezeichnung der letzten Jahre im deutschsprachigen Raum) war uns zum Zeitpunkt der ersten Beobachtungen offensichtlich nur scheinbar bekannt und vertraut. Die Beschreibungen und Berichte der letzten Jahre auf der Grundlage von einmaligen Hospitationen in verschiedenen finnischen Institutionen – beispielsweise die Videographien über skandinavische Bildungssysteme, die eher als Produkte eines normativen, pädagogischen Journalismus verstanden werden können – kollidieren in der Tat mit den Erkenntnissen aus unseren ethnographischen Beobachtungen. Auch sind die oben geschilderten ersten Eindrücke keine einmaligen geblieben. Inzwischen liegen Ergebnisse aus einer abgeschlossenen Feldstudie vor, die in zwei Anfangsklassen in Mittelfinnland durchgeführt wurden und ähnliche didaktische Bedingungen langfristig erfasst haben (vgl. Cuhls 2007; Cuhls/Panagiotopoulou 2009; Wiebke Hortsch führt seit Februar 2008 eine weitere Feldstudie in einer finnischen Vorschule und einer Anfangsklasse durch). Der Unterschied zwischen unseren ersten und späteren Beobachtungen besteht allerdings darin, dass wir inzwischen die hiesige Qualität der Alltagspraxis (die Beschaffenheit der Qualität im finnischen Bildungswesen) »sehen« können, da wir den Unterrichtsalltag nicht normativ, sondern deskriptiv-analytisch und interpretativ erfassen (zum Begriff »Unterrichtsalltag« als eine wichtige empirische Kategorie interpretativer Unterrichtsforschung vgl. Krummheuer 2002). In Anlehnung an eine feldtheoretische Perspektive, die Honig (2004, S. 27), orientiert am Feldbegriff nach Bourdieu und Wacquant (1996), beschreibt, scheint es zur Überwindung des normativen Wirklichkeitszugangs erziehungswissenschaftlicher Forschung sinnvoll und »vielversprechend, an die Unterscheidung zwischen der deskriptiven und der evaluativen Dimension des Qualitätsbegriffs anzuknüpfen«. Während die evaluative Dimension auf ein »operatives Konstrukt« und auf »eine auf der Basis von Daten operierende sys1
Bereits in den 90er Jahren hat Allemann-Ghionda mit ihren vergleichenden Fallstudien in europäischen Ländern auf die Notwendigkeit hingewiesen, Bildungskonzepte zum Umgang mit Differenz und Pluralität auch im länderübergreifenden Vergleich zu erfassen, um somit die Universalität des Problems zu erkennen (vgl. Allemann-Ghionda 1999).
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Argyro Panagiotopoulou
tematische Bewertung« verweist, ist der deskriptive Qualitätsbegriff vor allem ein analytischer Begriff. »Qualität« aus deskriptiv-analytischer Sicht verweist »auf die Eigenart eines Sachverhalts, seine Beschaffenheit« (vgl. ebd., S. 23). Somit besteht die größte Herausforderung darin, pädagogische Wirklichkeit zu beschreiben, ohne von einem normativen Sinnkontext richtiger Praxis, gelingenden Lernens oder erfolgreicher Förderung auszugehen. Insbesondere eine didaktisch ausgerichtete Unterrichtsforschung, »die nach Lernprozessen und den Bedingungen gelingenden Unterrichts fragt« (Breidenstein 2002, S. 24) kann sich umorientieren und erneuert werden, wenn sie sich zunächst auf die Beschaffenheit der untersuchten Bedingungen konzentriert, ohne über diese bereits im Prozess der Erhebung urteilen zu müssen (wie auch in der oben dargestellten Beobachtung in der finnischen Schulklasse geschehen). »Die analytische Trennung von Qualität als Beschaffenheit und Qualität als Werturteil« (Honig 2004, S. 26) scheint mir eine unabdingbare Voraussetzung zu sein, um Alltagspraxis in Bildungsinstitutionen überhaupt erfassen zu können. Die Beschaffenheit der Qualität im internationalen Bildungskontext soll im Rahmen des Projekts mit einer Reihe von ethnographischen Feldstudien in soziokulturell vergleichbaren Stadtteilen und Bildungseinrichtungen in fünf europäischen Ländern (Deutschland, Finnland, Luxemburg, Österreich, Schweiz) mit unterschiedlichen Bildungssystemen erforscht werden. Dabei geht es um den Versuch, die jeweiligen Qualitätskonzeptionen und Qualitätspraktiken im pädagogischen Alltag (ohne vordefinierte Qualitätskriterien) innerhalb unterschiedlicher Bildungswesen (länderübergreifend und -vergleichend) und in ausgewählten Institutionen des vorschulischen und schulischen Bereichs (d. h. im jeweiligen Land zunächst institutionsübergreifend und -vergleichend) zu rekonstruieren. Im HeLiE-Projekt stellt sich also die Frage: Wie wird pädagogisch-didaktische Qualität in unterschiedlichen Bildungsinstitutionen und Bildungswesen von PädagogInnen und Kindern definiert und erreicht? Wie entsteht Qualität und wie wird sie im Alltag der jeweiligen Institution verwirklicht? Es geht nicht um die Frage, ob und inwieweit Bildungsstandards oder vordefinierte Qualitätsmaßstäbe gelten, es geht auch nicht um die Messung ihrer Verwirklichung oder um die Wirkung von Faktoren des pädagogisch-didaktischen Handelns auf die zu erreichenden Kompetenzen von Kindern. In den Einzelstudien werden ausgewählte Vorschulkinder und SchulanfängerInnen aus unteren sozialen Schichten und mit Migrationshintergrund einige Monate vor ihrer Einschulung und über das erste Schuljahr hinweg im Rahmen von Bildungseinrichtungen forschend begleitet. Die Bildungschancen sozial- und bildungsbenachteiligter Migrantenkinder betreffen eine gemeinsame Herausforderung von selektiven und integrativen sowie von ein- und mehrsprachigen Schulsystemen in Europa. So ist auch in Finnland »Chancengleichheit längst nicht für alle erreicht« (vgl. Matthies 2006) und eine wichtige Herausforderung betrifft die zunehmende migrationsbedingte Heterogenität: »The depth of the Finnish tradition of equality, in fact, will be put to a severe test owing to the increasing numbers of immigrant students and growing cultural heterogeneity« (Linnakylä/Välijärvi 2003). Wie in verschiedenen europäischen Ländern mit je unterschiedlichen Bildungswesen mit der Herausforderung der Bildungsgerechtigkeit und der Eröffnung von Bildungschancen beim Übergang in die Schule und im pädagogischen Alltag umgegangen wird, ist allerdings kaum untersucht worden. Im Zusammenhang mit dieser Problematik wird im aktuellen deutschsprachigen elementar- und grundschulpädagogischen Diskurs die Notwendigkeit
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einer frühzeitigen und zugleich umfassenden sprachlichen Bildung2 betont, die sowohl Sprach(en)förderung, als auch Literalitätsförderung (oder Literacy-Erziehung)3 – insbesondere für Kinder mit Migrationshintergrund – mit einbeziehen sollte. In diesem Kontext gewinnt schließlich auch für das HeLiE-Projekt folgende Frage an Bedeutung: Welche Chancen zur sprachlichen Bildung eröffnen integrative versus selektive Bildungssysteme für Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien mit Migrationshintergrund beim Übergang in die Schule? Dieser Frage soll im Projekt vor dem Hintergrund der pädagogischen und bildungspolitischen Entwicklungen der letzten Jahre und insbesondere ausgehend von der Problematik der Bildungsbenachteiligung und institutioneller Diskriminierung im Rahmen der deutschen Schule (vgl. Gomolla/Radtke 2002) aber auch auf europäischer Ebene (vgl. Allemann-Ghionda 1999, 2006; Gomolla 2005) nachgegangen werden. Es soll untersucht werden, welche Lern- und Fördermöglichkeiten im pädagogischen Alltag der entsprechenden Institutionen des Elementar- und Primarbereichs angeboten werden, so dass der Zugang zur sprachlichen Bildung und der Einstieg in die Welt der Literalität beim Übergang in die Schule ermöglicht wird. Inwieweit wird beispielsweise eine sprach- und schriftspezifische Förderung in den unterschiedlichen Bildungswesen und in der jeweiligen Institution angeboten – und von welcher Qualität?
4
Konsequenzen und Perspektiven
Zusammenfassend lassen sich folgende Forschungsmaximen und -strategien für das hier dargestellte Projekt und die Weiterentwicklung vergleichender Bildungsforschung formulieren: a.
Überwindung eines bisher normativen zugunsten eines ethnographischen Forschungszugangs
b.
Entwicklung eines differenziert vergleichenden Blicks zwecks kritischer Hinterfragung der eigenen und fremden Bedingungen Unterscheidung zwischen der evaluativen und der deskriptiven Dimension des Qualitätsbegriffs.
c.
Zu a. Der Umgang mit Heterogenität im Unterrichtsalltag ist ein Thema, das vor, aber auch nach den internationalen Leistungsstudien konsequent verdrängt wurde. Genauer gesagt: Der Umgang mit Kindern aus sogenannten bildungsfernen bzw. bildungsbenachteiligten Mi2
3
»Der neu in die Diskussion eingeführte Begriff ›sprachliche Bildung‹ wird eher im Sinne eines umfassenden ressourcenorientierten Konzepts verwendet, das auf Sprache als Teil einer allgemeinen Persönlichkeitsbildung zielt« (Jampert/Best/Guadatiello/Holler/Zehnbauer 2005, S. 11). Literalität oder Literacy wird als ein »Sammelbegriff für kindliche Erfahrungen rund um die Buch-, Erzählund Schriftkultur« definiert und umfasst Kompetenzen wie Text- und Sinnverständnis, sprachliche Abstraktionsfähigkeit, Lesefreude, Vertrautheit mit Büchern, mit Schriftsprache oder mit literarischer Sprache etc. (vgl. Ullich 2006). Zur Verknüpfung der beiden Begriffe »sprachliche Bildung« und »Literalität (Literacy)« vgl. Whitehead 2004.
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grantenfamilien in der pädagogischen Alltagspraxis von integrativen und selektiven Schulsystemen gilt bis heute, auch nach den deutlichen Ergebnissen dieser Studien, als unerforscht. Ein ethnographischer Zugang eignet sich besonders gut zur Erforschung dieser Thematik, denn ethnographische Forschung kann man laut Zinnecker (2000, S. 673 f.) eher als oppositionelle oder alternative Schul- und Unterrichtsforschung betrachten: sie thematisiert oft »die kritischen, ›unerledigten‹, eher verdrängten Themen von Schule und Unterricht«; und genau deswegen, so meine These, kann sie zur Theoriebildung und zur Reform von Bildungswesen beitragen. Um die erfassten Bedingungen, Konzeptionen und Praktiken kritisch hinterfragen zu können, ist an ethnographische grundschulpädagogische Forschungsarbeiten der letzten Jahre anzuknüpfen, die dies aus der Perspektive der beteiligten Pädagoginnen und insbesondere aus der Perspektive der beteiligten Kinder bereits erprobt haben (vgl. exemplarisch Huf 2006; Panagiotopoulou 2006, 2007). Folgende Fragen sind in diesem Zusammenhang besonders wichtig: Welche Qualität weist pädagogische Praxis aus der Perspektive ihrer Adressaten, der beteiligten Kinder, auf? Welche Bedeutung hat diese Praxis für ihr Lernen? Was »gute« (oder »schlechte«) Praxis aus der Perspektive der Beteiligten bedeutet, inwieweit und wie die beobachteten Situationen sich als lern- und bildungswirksam erweisen, kann also nicht vorab definiert werden, sondern nur das Ergebnis der Analysen sein. Im Rahmen des Projekts ist daher eine konsequente Berücksichtigung der Kinderperspektive(n), der kindlichen Deutungen und Handlungen im Kontext des Geschehens, als eine wichtige Forschungsmaxime anzusehen, die ebenfalls zur Überwindung des normativen Forschungszugangs beitragen kann. Zu b. Ethnographische Studien, die einem (schul-)pädagogischen und pädagogisch-didaktischen Erkenntnisinteresse verpflichtet sind, sollten also auch im internationalen Bildungskontext auf eine kritische Hinterfragung pädagogischer Praxis nicht verzichten. Auf diese Weise wäre einerseits die Relevanz der Ethnographie für die qualitative Bildungsforschung auf einem umfassenden Terrain zu diskutieren. Andererseits könnten wertvolle Ergebnisse zur Bildungsrealität und -qualität in unterschiedlichen Ländern auch in den deutschsprachigen, hauptsächlich auf Ergebnisse quantitativer Bildungs- und Evaluationsforschung basierenden Diskurs eingeordnet werden. Damit sind dennoch gewisse Schwierigkeiten verbunden: Wenn ethnographische Forschung im Kontext des Bildungs- und Sozialwesens generell ein produktives Verunsicherungspotential beim Eintritt in das neue Feld beinhaltet, so die im vorliegenden Band vertretene These, dann bringt ethnographische Feldforschung in Ländern, deren Sprache den EthnographInnen teilweise fremd ist, eine besondere Verunsicherung mit sich. Nicht nur der Eintritt in das fremde und fremdsprachige Feld, sondern auch die Teilnahme an sich, die Beobachtung, die Protokollierung, die Interpretation und schließlich die nötige Reflexion des gesamten Forschungsprozesses werden dadurch dementsprechend erschwert. Allerdings ist auch bei dieser Forschung ein produktives Verunsicherungspotential zu erwarten: Die beklagte »Dominanz des Verbalen« – etwa des »lehrerzentrierten Unterrichtsgesprächs« – in deutschsprachigen Ethnographien (vgl. Breidenstein 2002, S. 23 f.) wäre in diesem Zusammenhang zu relativieren. Andere, nonverbale und metakommunikati-
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ve Formen der Kommunikation und Interaktion im pädagogischen Alltag könnten präziser erfasst und beim Protokollieren verbalisiert werden. Durch das fehlende Sprachverständnis wird zumindest am Anfang der teilnehmenden Beobachtung die nötige Distanz gegenüber der »fremden« (Lern-)Kultur und die Rolle des interessierten »Fremden« begünstigt und der Blick der EthnographInnen für den Sinn des Geschehens geschärft. Diverse und gegebenenfalls kontroverse Hypothesen werden dauernd generiert und überprüft bzw. umformuliert oder verworfen, so dass EthnographInnen auch über ihre eigene Interpretationsleistung besser reflektieren können. Es handelt sich insgesamt, so die ersten Erfahrungen, um einen erkenntnisreichen Forschungsprozess auf »unsicherem Terrain«, der differenziertes, international und interkulturell vergleichendes Wissen ermöglicht und somit zur Überwindung der üblichen Normativität pädagogisch-didaktisch ausgerichteter Forschung beitragen könnte. Zu c. Eine weitere Verunsicherung qualitativer bzw. ethnographischer Forschung im internationalen Bildungskontext ist schließlich in der Absicht zu sehen, Bildungsqualität in unterschiedlichen Institutionen und Ländern vergleichend zu beobachten. Dadurch läuft man Gefahr, sich an den eigenen – an Gegebenheiten der deutschen Bildungsrealität und erziehungswissenschaftlichen Qualitätsdebatte orientierten – Kriterien (und Normen) festzuhalten, was wiederum mit der ethnographischen Forschungsstrategie allgemein zu kollidieren scheint. Indem eine kritische Hinterfragung der beobachteten Bildungswirklichkeit aus der Perspektive der darin agierenden PädagogInnen und insbesondere der beteiligten Kinder verwirklicht wird, kann auch dieser Problematik produktiv begegnet werden. In diesem Zusammenhang ist auch eine Unterscheidung zwischen der evaluativen Dimension und der deskriptiv-analytischen Komponente des Qualitätsbegriffs unabdingbar: Die pädagogische Praxis und Qualität – beispielsweise bezogen auf Integrations- und Fördermöglichkeiten sozial- und bildungsbenachteiligter Kinder aus Migrantenfamilien – wird dabei nicht anhand von Merkmalen in statisch erfassbaren Variablen simplifiziert, sondern in ihrer Komplexität betrachtet und soweit möglich erfasst. Ein solcher Forschungszugang im Rahmen ethnographischer Bildungsforschung kann schließlich dazu beitragen, dass »Bildungsqualität« im erziehungswissenschaftlichen Kontext gegebenenfalls neu, und zwar aus der Bildungspraxis heraus, definiert werden kann.
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Ethnographische Praxisprotokolle und Rollenspiel Eine Methode zur Projektreflexion in der interkulturellen und sozialräumlich orientierten Gemeinwesenarbeit Bettina Völter/Marion Küster
Als Theaterpädagogin und Sozialwissenschaftlerin arbeiten wir seit Anfang 2005 gemeinsam an der Entwicklung des Projekts »Luz que Anda« in Brasilien. In diesem Rahmen haben wir eine Methode der professionellen Selbstreflexion und Praxisforschung entwickelt, die aus einer Kombination von ethnographischen Praxisprotokollen und Rollenspiel besteht. Über diese Methode und ihren Gewinn werden wir im Folgenden genauer berichten. Zum besseren Verständnis jedoch zunächst kurz zu den drei Ebenen unseres Projektes: »Luz que Anda« hat erstens zum Ziel, die Bevölkerung des 95-Haushalte-Dorfes Serra Negra im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais zu Eigeninitiative und zu bürgerschaftlichem Engagement zu motivieren. Zweitens ist »Luz que Anda« ein Praxislernprojekt für Studierende. Seit Sommer 2005 fanden in sechs- bis zwölfmonatigem Abstand Projektaufenthalte von bisher insgesamt dreizehn Studierenden der Hochschule für Musik und Theater in Rostock unter unserer Anleitung statt. In Zukunft sollen auch Studierende der Sozialen Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin in die Arbeit einbezogen werden. Drittens handelt es sich um ein Praxisforschungsprojekt mit dem Ziel, die spezifischen Anforderungen, Dilemmata und den Gewinn einer transkulturellen Theater- und Gemeinwesenarbeit mit Methoden des »Angewandten Dramas« sowie der »Verstehenden Sozialen Arbeit« herauszufinden. Nach Serra Negra kam das Projekt über den persönlichen Bezug seines brasilianischen Gründungsmitgliedes Geralda Araújo (vgl. Völter 2007). Der Ort ist gekennzeichnet durch kulturelle Ressourcen, so etwa seine bis ins ausgehende 18. Jahrhundert datierte Geschichte sowie die starke religiöse Bindung der Mehrheit der Bevölkerung an die katholische Kirche. Aber auch durch aktuelle soziale Problemlagen, die Serra Negra z. T. von anderen Orten der Region unterscheiden: Die Bevölkerung arbeitet überwiegend in Lohnabhängigkeitsverhältnissen, die eine Besitzstandsbildung sowie eine soziale Absicherung kaum möglich machen. Gemessen an den Dorfstrukturen gibt es eine ungewöhnlich hohe Zuwanderung: Ins Dorf ziehen vergleichsweise viele Familien von ArbeitsmigrantInnen aus dem Norden und Nordosten Brasiliens, die zum großen Teil als abhängig Beschäftigte in der benachbarten industrialisierten Hühner- und Schweineproduktion arbeiten. Der Anteil von Kindern und Jugendlichen im Dorf ist relativ hoch, neben der Schule fehlen jedoch Freizeit- und Weiterbildungsmöglichkeiten. Die meisten Kinder haben wenig Perspektive auf eine höhere Schulausbildung oder eine andere Form von sozialem Aufstieg. Der Prozentsatz von Menschen mit keinen oder sehr geringen Schreib- und Lesekompetenzen liegt bei 9,7 Prozent. Die Gemeindereferentin des Dorfes gibt daneben Alkoholismus und Schwangerschaft von Minderjährigen als die aktuell gravierensten sozialen Probleme von Serra Negra an. Schließlich bedarf der Ort einer modernisierten Infrastruktur: Die BewohnerIn-
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Bettina Völter/Marion Küster
nen wünschen sich gepflasterte Straßen, sauberes Wasser, zuverlässige Stromversorgung sowie eine regelmäßige Müllentsorgung. Wir geben als Projektgruppe, die nicht im Ort und auch nicht im Land wohnt, zwar Impulse für ein bewussteres Selbstverstehen und helfen, das vorhandene Engagement für die Dorfgemeinschaft zu vernetzen und die Anliegen des Dorfes regional und überregional bekannt zu machen; es gehört aber zu den Regeln unseres Projekts, dass Akteure aus dem Dorf und aus der Region die Arbeit selbst bestimmen sowie diese nach und nach in Eigenverantwortung übernehmen und gestalten.1 Bevor wir den Sinn, das Vorgehen und die Erträge unserer Methode vorstellen, wollen wir noch etwas näher auf die Inhalte und Ziele unserer Arbeit eingehen.
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Die Inhalte und Ziele des Projekts
Die Idee von »Luz que Anda« ist, dass über »Angewandtes Drama« bzw. das regelmäßige Theaterspiel mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen der Gemeinde sowie über »Verstehende Soziale Arbeit« bzw. eine ethnographische und biographische Arbeit im Dorf in Kombination mit Methoden der Gemeinwesenarbeit ein nachhaltiges bürgerschaftliches Engagement entsteht. »Angewandtes Drama« sind Methoden des Theaters in Bereichen pädagogischer und 2 Sozialer Arbeit. Ziel dieses Ansatzes ist, die Betroffenen einer sozialen Gruppe oder Gemeinschaft für die Wahrnehmung der eigenen Situation zu sensibilisieren und zu Veränderungen anzustoßen. Dabei haben sich in der Gemeinde Serra Negra inzwischen folgende Anwendungsfelder herausgebildet: (1) Theater wird als Mittel zur Entwicklung der Persönlichkeit und der aktiven Teilnahme in Gruppen eingesetzt. Dabei werden grundlegende Übungen der Förderung von Selbst- und Fremdwahrnehmung angewandt. Diese schulen Körperwahrnehmung und sinnliche Wahrnehmung, Stimme, Konzentration, Ausdruck, Fantasie und die Bereitschaft, sich im Training und Spiel auf Partner einzulassen. (2) Theater ist eine Methode der Themenfindung für die Gemeindearbeit und kann auch zur Bewusstmachung und Reflexion von Problemsituationen innerhalb der Gemeinde dienen (z. B. der Schulbus fährt nicht regelmäßig, fehlende Müllentsorgung, Umgang mit Behinderung). Dabei findet u. a. szenische Arbeit in Form von Statuenbauen oder Improvisationen statt, wobei auch nach Handlungsalternativen und Lösungsmöglichkeiten gesucht wird. (3) Es werden – ausgehend von unseren Beobachtungen in der Kindergruppe und im Dorf – Eigenproduktionen beispielsweise zum Thema »Meine Träume« oder Inszenierun-
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Gefördert wird das Projekt durch private Mittel, Spendengelder, die Stiftung Nord-Süd-Brücken, die Norddeutsche Stiftung für Umwelt und Entwicklung sowie die Hochschule für Musik und Theater in Rostock und die Alice Salomon Hochschule Berlin. Die Stiftungen haben sowohl Interesse an der Förderung bürgerschaftlichen Engagements in Armutsgebieten der Welt als auch Interesse am Engagement von Initiativen in den Neuen Bundesländern, die zu dieser Förderung beitragen. Die Hochschulen haben Interesse an der Qualifikation ihrer Studierenden und an Praxisforschung in einem transkulturellen Projekt. Da »Luz que Anda« eine Gemeinde als Adressatin hat, sprechen wir auch von »Theater in der Gemeinde« (»Theatre in Community«).
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gen aus literarischen Vorlagen entwickelt, die vor der Bevölkerung präsentiert werden, wie etwa »Der Kleine Prinz« oder »Hänsel und Gretel«. (4) Auch Stücke von AutorInnen vor Ort, etwa zu Themen wie Gewalt oder Drogen, wurden auf die Bühne gebracht. Dabei wurden auch Formen des Mitspieltheaters angewandt. (5) Theater wird schließlich als Methode der Praxisreflexion eingesetzt. Wie bereits erwähnt, kombinieren wir dabei die sequentielle Analyse von ethnographischen Praxisprotokollen mit Rollenspiel. Hierbei sind insbesondere die Projektleitung sowie die studentischen Projektmitglieder beteiligt. Die genannten Formen von Theater werden je nach zu lösender Aufgabe, Situation und aktuellen Bedürfnissen der Gruppe oder Einzelner gestaltet. Sie gehen im Wesentlichen auf die Arbeiten von Boal (1989), Brecht (1973), Ebert (1979), Moreno (1988), Spolin (1987) sowie Stanislawski (1983) zurück. Mit »Rekonstruktiver« oder »Verstehender Sozialer Arbeit« meinen wir einen Ansatz, der Prinzipien und Methoden der qualitativen Sozialforschung für die Soziale Arbeit nutzbar macht, und zwar nicht nur im Bereich der wissenschaftlichen Forschung, sondern auch für die Praxis der Sozialen Arbeit sowie im Bereich der professionellen und institutionellen Selbstreflexion (vgl. Völter 2008). Soziale Arbeit als Gemeinwesenarbeit kann sich nicht ohne genauere Kenntnis des sozialen Raumes sowie der Lebenswelten seiner BewohnerInnen entwickeln. Um diese näher kennen zu lernen, nutzen wir Methoden der »Verstehenden Sozialen Arbeit«. So führen wir u. a. narrativ-lebensgeschichtliche Interviews und Gespräche. Diese Form von Kommunikationen sehen wir in unserem Kontext weniger als wissenschaftliche Erhebungsmethoden, sondern vielmehr als eine sozialpädagogische Handlungsmethode, die wechselseitige Vertrauensbildung und auch Veränderung bewirken kann. Denn für die Befragten ist das narrative Interview oder Gespräch eine Möglichkeit, Teile der eigenen Lebens- und Erfahrungsgeschichte Revue passieren zu lassen sowie das eigene Selbstverstehen und Selbstwertgefühl in der Interaktion mit einer fremden Zuhörerin weiter zu entwickeln (vgl. dazu auch Rätz-Heinisch/Köttig 2007). Narrative Interviews dienen uns des Weiteren dazu, die Erlebnisse und die Perspektive unserer brasilianischen KooperationspartnerInnen zu erfragen (z. B. die Erfahrungen der Familien, die eine/n StudentIn bei sich aufgenommen haben). Jedes aus Deutschland kommende Team des Projekts erzählt darüber hinaus in einem offenen Gruppengespräch vor und nach der Projektreise seine Erlebnisse in Zusammenhang mit der Reise. Schließlich ermöglichen die während des Aufenthalts niedergeschriebenen ethnographischen Praxisprotokolle die Dokumentation und Evaluation des Projekts. »Angewandtes Drama« und »Verstehende Soziale Arbeit« werden im Projekt mit Methoden der Gemeinwesenarbeit kombiniert. Das heißt, wir beziehen die Handlungsebenen Sozialstruktur, Organisationsentwicklung, Netzwerkbildung als auch die Arbeit mit Einzelpersonen in unsere Arbeit ein (vgl. Früchtel u. a. 2007, S. 29). In Serra Negra erheben bzw. sammeln wir dazu Sozialstrukturdaten und motivieren politische Arbeit. Wir brachten die Gründung eines Bürgervereins auf den Weg, der nun unser wichtigster Kooperationspartner ist, und machen darüber hinaus gemeinsam mit den Aktiven des Vereins Lobby- und Netzwerkarbeit. Mittels aktivierender Befragungen und kleiner Gruppengespräche mit BewohnerInnen erheben der Bürgerverein und wir Themen und Wünsche der BewohnerInnen. Dabei werden die DorfbewohnerInnen zu Engagement für das Gemeinwesen motiviert,
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indem z. B. gefragt wird: »Was könnten Sie dazu beitragen, dass Ihr Wunsch im Dorf umgesetzt wird?« In zwei aktivierenden Befragungen und in Bürgerversammlungen hat sich der aktuelle Wunsch der Dorfbevölkerung herauskristallisiert, den Dorfplatz und das dort stehende ehemalige Schulgebäude als soziokulturelles Zentrum zu gestalten. Darin sollen Initiativen, die es bereits schon lange gibt, wie eine Congado-Tanzgruppe3, oder solche, die durch »Luz que Anda« angeregt wurden, wie die Einrichtung einer Bibliothek aus Bücherspenden, ein »Archiv der Erinnerung«, eine Handarbeitsgruppe, eine Zeitungsgruppe, eine Begrüßungsgruppe für Zuwandererfamilien, eine Fußballgruppe etc., Platz für ihre Materialien und ihre Arbeit finden.
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Ethnographische Praxisprotokolle und Rollenspiel als Methode des »Forschenden Lernens« und der Projektentwicklung
Wenn ein Projektteam aus Deutschland nach Brasilien ins Dorf reist, ist es mit vielfältigen Aufgaben konfrontiert. Es macht die Erfahrung, Theater- und Gemeinwesenarbeit in einer fremden Kultur und Sprache zu entwickeln. Die Beteiligten lernen, in einem interkulturell zusammengesetzten Team zu arbeiten, und sie haben schließlich die Aufgabe, sich in einem fremden sozialen Kontext zurechtzufinden. Es hat sich dabei bewährt, die Studierenden in der Vorbereitungsphase anzuleiten, Feld- oder Praxistagebücher über ihren gesamten Aufenthalt zu schreiben. Diese dienen der persönlichen Dokumentation der Reise sowie der professionellen Selbstreflexion im Projekt. Während eines jeden Aufenthalts bestimmt das Team entsprechend der Erlebnisse vor Ort drei gemeinsam erlebte Situationen, die jede/r TeilnehmerIn (auch die begleitende Leitung) in einem detaillierten ethnographischen Praxisprotokoll festhält. Es sind dies in der Regel Situationen, die das jeweilige Team als undurchschaubar oder konfliktreich erlebte; und es sind immer Erlebnisse, die von der Ankunft im Ort erzählen, Erlebnisse mit der Dorfbevölkerung oder mit dem Bürgerverein, Erlebnisse bei der Theaterarbeit oder im Team. Unsere Erfahrung ist, dass wir gerade aus diesen komplexen Situationen am meisten lernen können. Jedes Protokoll wird nacherzählend, sequentiell am Handlungsablauf orientiert sowie 4 reich an detaillierten Erinnerungen und Wahrnehmungen geschrieben. Erinnerungen an den Ablauf der Situation und Wertung werden dabei getrennt festgehalten. Die Protokolle werden jeweils so verfasst, dass sie später in der Projektgruppe zur Weiterarbeit veröffentlicht werden können. Gerhard Riemann (2004, 2005) hat die Arbeit mit ethnographischen Feldprotokollen zur Begleitung und Auswertung studentischer Praktika entwickelt. Er spricht davon, dass (angehende) PraktikerInnen dabei zu »Ethnographen in eigener Sache« werden (vgl. den Titel von Riemann 2006). Im Rahmen des von uns geleiteten Gemeinwesenprojektes wurde
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Congado ist ein ritueller Tanz, der ursprünglich Gruppen und Nachkommen von christianisierten Sklaven aus Afrika zusammenbrachte, um sich gegen die Ausgrenzung aus den katholischen Kirchen zu wehren. Weitere Anregungen zum Verfassen von ethnographischen Praxisprotokollen haben wir von Gerhard Riemann (2005, S. 255) und Gabriele Rosenthal (2005, S. 115) erhalten.
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die Methode der ethnographischen Praxisprotokolle5 an den transkulturellen Handlungskontext angepasst. Dabei wählen wir zur Auswertung insbesondere Handlungssituationen aus, an denen mehrere Projektmitglieder beteiligt waren. Damit tragen wir den sehr unterschiedlichen Wahrnehmungen Rechnung, die im Projekt vorhanden sind, u. a. aufgrund sehr unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeit, unterschiedlicher familiärer Herkunft und Sozialisation sowie aufgrund der Zugehörigkeit z. B. zu unterschiedlichen Disziplinen oder Berufsfeldern etc. Diese ethnographischen Praxisprotokolle werden in unserem Zusammenhang vergleichend ausgewertet. Unsere Methode weist Parallelen zum »Ethnodrama« (vgl. Lapoint 1997; Saldana 1998; Gray/Sinding 2002) auf, denn im Ansatz des Ethnodrama werden Ergebnisse von Ethnologie und (qualitativer) Sozialforschung in Improvisationen, Szenen oder Theaterstücken auf die Bühne gebracht. Die AkteurInnen eignen sich den Inhalt des Forschungsthemas dabei auf neue Weise an und versetzen sich in die Perspektiven der (befragten) Forschungssubjekte. Das Publikum hat Gelegenheit, sich mit einem Thema – wie zum Beispiel »lebensgeschichtliche Erfahrungen mit Krebs« (vgl. Gray/Sinding 2002) – auf sinnliche Weise auseinander zu setzen. Unser Ziel ist, Eindrücke und Zwischenergebnisse unserer forschenden Annäherung an die eigene Praxis, die wir durch die Lektüre der Praxisprotokolle bzw. aus der Textanalyse gewonnen haben, durch eine Performance auf andere Weise zu verstehen. Oder besser: Wir versuchen, über das Spiel die Erkenntnisse aus der Textanalyse sinnlich zu begreifen und auch zu neuen Einsichten zu kommen. Unsere Methode hat jedoch einen anderen Interessensschwerpunkt als das Ethnodrama. Wir beobachten in der Regel nicht fremde Subjekte oder fremde soziale Situationen, sondern betreiben Forschung »in eigener Sache«. Während das Ethnodrama Personen und soziale Situationen darstellt, die den TeilnehmerInnen fremd sind, bearbeiten wir in der Textanalyse und im Rollenspiel soziale Situationen, die uns (scheinbar) vertraut sind, da wir sie selbst mitgestaltet haben. Während das Ethnodrama zum Ziel hat, sich die Fremdheit vertraut und verständlich zu machen, bringen wir die uns vertrauten, weil selbst erleb6 ten Situationen bewusst in eine Distanz zu uns, um sie besser zu verstehen. Dabei ist der Rollentausch eine wesentliche Grundlage, sich in das Verhalten, Denken und Handeln des Partners hineinzuversetzen, um dessen Motivation besser zu verstehen und Alternativen zu entwickeln.
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Wir sprechen von Praxis- statt Feldprotokollen, da es sich bei den beobachteten und schriftlich fixierten Situationen insbesondere um solche handelt, die für die Praxis des Projektes typisch sind und in die wir als ProjektteilnehmerInnen selbst als PraktikerInnen involviert sind. Hier lässt sich auf die Unterscheidung verweisen, die Hirschauer und Amann (1997, S. 11 f.) zwischen Ethnologie und Ethnographie treffen: EthnologInnen, die sich fremde Kulturen erschließen wollen, machen sich diese unbekannten und unvertrauten sozialen Welten vertraut. EthnographInnen, die sich die eigene Gesellschaft erschließen wollen, müssen hingegen das ihnen weitgehend oder scheinbar Vertraute so betrachten, als sei es fremd.
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Bettina Völter/Marion Küster Zur Kombination von Textanalyse und Rollenspiel als Methode der Projektreflexion
Im Folgenden beschreiben wir unsere Methode am Beispiel einer Theaterstunde mit den Kindern des Dorfes. Wir zitieren hier nur aus einem der vorliegenden Praxisprotokolle zu dieser Situation, da wir uns auf die Verknüpfung von Textanalyse und Rollenspiel konzentrieren wollen.7 Begonnen hatte die Stunde recht gut. Wir hatten uns wie immer im Kreis begrüßt (»Bom dia« – »Guten Morgen!«). Danach begrüßten wir uns im Gehen in unterschiedlichen Stimmungen. Doch auf einmal hatten sich Celina und Paula in den Haaren, im wahrsten Sinne des Wortes. Sie zerrten und hauten einander mit unglaublicher Kraft und Aggression. Es war gar nicht so leicht die beiden Neunjährigen auseinander zu bekommen. Ich nahm Celina und Susanne, versuchte zwischen die beiden zu gehen, anschließend nahm Susanne die beiden an die Hand und wartete solange bis die beiden sich beruhigt hatten. Beide Kinder hatten feuchte Augen und als Susanne sie losließ setzte sich Paula auf die Bank und fing an zu weinen. Zusammengekauert schluchzte sie vor sich hin und reagierte erstmal nicht auf uns. Celina dagegen schluckte ihren Ärger runter, sie scheint darin geübt zu sein. Wahrscheinlich hatte sie morgens selber ein paar verpasst bekommen, Paula vielleicht auch, denn diese Aggressionen waren sehr erschreckend. Thais (eine brasilianische Pädagogin aus dem Dorf, die am Projekt beteiligt aber hier nicht im Raum war, sondern erst später dazu befragt wurde, A. d. V.) meinte, dass vielleicht auch rassistische Hintergründe eine Rolle spielen. Paula ist sehr dunkelhäutig und hat sehr krauses Haar, Celina dagegen ist relativ hell und hat glattes Haar (was alle hier total toll finden, (...)), aber auch unterschiedliche regionale Herkunft kann zu diskriminierenden Handlungen führen. Thais erzählte mir weiter, dass es in Brasilien viel Rassismus gibt, was ich nicht verstehen kann, da doch alle Brasilianer sind und nicht wie in Deutschland, wo Menschen aus vielen unterschiedlichen Nationen zusammenleben. Jedenfalls wollte Paula dann nicht mehr mitmachen und blieb still beobachtend auf der Zuschauerbank sitzen. Ihr muss es wirklich sehr nahe gegangen sein, denn eigentlich ist Paula eines der aufgedrehtesten Kinder. Leider weiß ich nicht mehr wie die anderen Kinder sich verhalten haben, da ich sehr auf die beiden Streithähne fixiert war. Sie baten und forderten Paula auf, wieder mit zu machen, doch Paula blieb sitzen, auch als ich ihr anbot, mit ihr zusammen weiter zu machen. Beim Laufen in verschiedenen Stimmungen knüpften wir dann wieder an. Sehr clever von Susanne war, als sie die Kinder aufforderte traurig zu gehen. Man merkte, dass es nicht so aufgesetzt und übertrieben war, sondern mehr von innen kam und alle vielleicht ein bisschen mit Paula fühlten. Danach stiegen wir in die szenische Arbeit ein. Es war die Szene des Geschäftsmanns dran. (...) Dann spielten Celina und ich die Pilotenszene. Sie war der Pilot und ich der Prinz. Als sie ein Schaf malen sollte, kritzelte sie etwas dahin und schrieb dazu etwas. Einmal Amor, einmal etwas anderes. Beim dritten Mal schrieb sie auf Portugiesisch »Paula ist eine Hexe«, was wir natürlich nicht verstanden, nur die Kinder lachten. Ich finde das so was von hinterfotzig, das Spiel zu missbrauchen um jemand anderen damit eins auszuwischen. Zum Schluss verabschiedeten wir uns in unserem üblichen Ciao-Kreis und die Kinder liefen raus und/oder umarmten uns vorher noch einmal (Auszug aus dem Feldprotokoll der Studentin Michaela).8
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Zu den Erkenntnissen beim Vergleich mehrerer Praxisprotokolle zu einer Situation vgl. Völter (2008). Alle Namen sind anonymisiert.
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Die Methode der Auswertung von Praxisprotokollen kann hier nicht im Einzelnen vorgeführt werden. Sie orientiert sich u. a. an den von Riemann (2005) und Rosenthal (2005, S. 116-123) vorgeschlagenen Verfahren, ist aber ebenfalls unserem Arbeitskontext angepasst: Wir lesen im Nachbereitungsseminar die Texte zunächst Sequenz für Sequenz und bilden zu jeder Sequenz – oder manchmal auch zum gesamten Text – Hypothesen darüber, was hier genau beschrieben, erzählt oder argumentiert wird. Die Fragen, die der Auswertungsgruppe gestellt werden, lauten u. a.:
Um was geht es hier eigentlich? Was kommt latent zum Ausdruck? Wie wird in der Szene zwischen wem interagiert? Was sagt uns das über die Rollen der Beteiligten und über die unterschiedlichen Perspektiven der Beteiligten? Wie ist es überhaupt zu der Handlungssituation gekommen? Was erfahren wir über die Regeln, Themen, Vorgehensweisen, Dilemmata und Kernprobleme des Handelns im Projektzusammenhang? Welche Handlungsalternativen gibt es? Wir reflektieren, was von den (angehenden) PädagogInnen in der damals ablaufenden Situation in den Blick genommen, auf was konkret handelnd reagiert und was übersehen wurde. Und wir fragen: Wie wird die Situation in den Protokollen nacherzählt und reflektiert? Was wird darin nicht erwähnt?
An den Auswertungen der Praxisprotokolle beteiligt sind wir als Projektleitung sowie Studierende, die beim zuvor stattgefundenen und nun auszuwertenden Aufenthalt in Brasilien dabei waren, Studierende, die bei einem früheren Aufenthalt teilgenommen haben sowie Studierende, die sich auf einen Praxisaufenthalt vorbereiten. Die jeweilige ProtokollantIn tritt als Person in den Hintergrund und wird möglichst nicht persönlich angesprochen. Die Beteiligten werden aufgefordert, ihre Ideen zum Protokoll und zur wiedergegebenen Handlungssituation grundsätzlich wertschätzend und verstehend zu äußern. Durch die sequentielle Textanalyse des Praxisprotokolls ließen sich einige Kernprobleme der Theater- und Gemeinwesenarbeit sehr gut herausarbeiten: Die nacherzählte Situation zeigt, wie es einzelnen Kindern gelingt, eine negative Aufmerksamkeit auf sich zu lenken oder um Aufmerksamkeit zu rivalisieren. Sie zeigt auch, wie dabei andere Kinder aus dem Blickfeld der pädagogischen Wahrnehmung geraten können. Als eines der pädagogischen Dilemmata der Arbeit mit den Kindern erscheint uns, dass gerade durch unser Dasein und unser Handeln bei vielen der Kinder ein starkes Bedürfnis nach individueller Zuwendung geweckt wird. Wir verstehen unsere Aufgabe als temporäre BesucherInnen allerdings eher darin, die Beziehungen im Dorf untereinander so zu stärken, dass wechselseitige Hilfe und Unterstützung von Einzelnen durch die Familien, die Schule und die Gemeinde noch besser möglich wird. Uns wurde deutlich bewusst, wie oft wir in den Theaterstunden mit den Lebenskontexten der Kinder zu tun haben, ohne diese in der Handlungssituation genauer verstehen zu können. Interessant war für uns, dass die deutsche Protokollantin und die von ihr zitierte brasilianische Pädagogin ganz unterschiedliche Hintergründe für den Kampf der Mädchen benennen. Wir machten uns daraufhin mehr Gedanken über die uns bis dato eher verborgenen Konfliktlinien zwischen lange ansässigen Familien und Einwandererfamilien im Dorf.
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Diese Textpassage des Protokolls führte auch zur kritischen Reflexion des offiziellen brasilianischen Diskurses, der behauptet, in Brasilien gäbe es keinen Rassismus, da Brasiliens Identität ja gerade in der ethnischen und kulturellen Vielfalt seiner BewohnerInnen bestehe, sowie zur kritischen Reflexion der im Protokoll anklingenden Eigentheorie, in Deutschland sei Rassismus v. a. im Zusammenleben von Menschen aus unterschiedlichen Nationen begründet. Es fiel uns durch die Besprechung des Protokolls des Weiteren auf, dass wir den Lebenskontext von Paula, die aus einer Einwandererfamilie kommt, gar nicht genau kennen. Da wir bei unseren Aufenthalten oft temporäre Nachbarn der Familie von Celina waren, deren Familie schon seit Generationen in Serra Negra wohnt, wusste die Protokollantin Michaela mehr über deren Hintergrund. Sie hatte u. a. auch erfahren können, dass Celina schon sehr viel Verantwortung für ihre jüngeren Geschwister sowie im Haushalt übernehmen muss. Sie war Zeugin davon gewesen, dass das Mädchen und seine Geschwister von ihrer Mutter oft geschlagen oder streng bestraft werden, was im Protokoll angedeutet wird. Wir versuchten bei den folgenden Praxisaufenthalten im Dorf, Celina weiter zu fördern, ohne ihr ein Forum für negative Aufmerksamkeit zu geben, und mit ihrer Mutter im Gespräch zu bleiben. Und wir gingen in Kontakt zur Familie von Paula. Darüber hinaus interessierten wir uns generell mehr für die Lebensbedingungen von EinwandererInnenfamilien im Dorf und versuchten, deren Möglichkeiten zur Partizipation an der Gemeindearbeit weiter zu fördern. Auf der Basis der Arbeit an den Protokollen zu dieser Theaterstunde wurde schließlich ein Schwerpunkt der Theater- und Gemeinwesenarbeit beim nächsten Aufenthalt das Thema Gewalt in seinen unterschiedlichen Facetten. Bei der Analyse der Protokolle stellt sich immer wieder die Frage: Wann und wie hätten die Pädagoginnen anders handeln können, und hätte die Stunde dann einen anderen Verlauf genommen? Um diese und andere Fragen noch auf einer anderen Ebene als der kognitiven zu begreifen, nutzen wir das Rollenspiel. Wir erarbeiten dabei das Spiel nach folgenden Schritten und Regeln:
Die TeilnehmerInnen des Auswertungsseminars wählen nach der Textanalyse eine Figur aus, die sie darstellen möchten. Wenn hinreichend Personen zugegen sind, bleiben zunächst diejenigen, die auf der letzten Brasilienfahrt dabei waren, als BeobachterInnen außen vor. Andernfalls nehmen sie eine andere Rolle als ihre eigene an. Alle SpielerInnen stellen sich das Handeln, den körperlichen Ausdruck und die Wahrnehmung der Person vor, die sie spielen wollen. Die Spieler gehen auf die »Bühne« und entwickeln gemeinsam die Rahmenbedingungen des Spielorts, sie wählen gegebenenfalls Requisiten und Kostüme. Von der Spielleiterin wird die Regel ausgegeben, dass die SpielerInnen sich im Spiel aufeinander beziehen sollen. Auf ein Signal der Spielleiterin hin wird nun die Situation mit improvisiertem Text nachgespielt. Die SpielerInnen werden dann von der Spielleiterin befragt, ob sie mit dem Spiel einverstanden waren. Sie haben Zeit, das Spiel individuell zu überdenken und spielen die gleiche Szene erneut in einer »modellierten Improvisation«. Hier werden wertvolle Informationen, Haltungen und Vorgänge beibehalten, aber durch Neuerungen ergänzt und konkretisiert.
Ethnographische Praxisprotokolle und Rollenspiel
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Auch diese Szene wird ausgewertet, indem die SpielerInnen auf der Bühne verweilen und im Rollenfeedback ihr eigenes Erleben in der Rolle beschreiben. Im nächsten Schritt sprechen die SpielerInnen aus ihrer Rolle heraus über ihre Interaktion mit den anderen Beteiligten. Sie sprechen auch darüber, wie sie die Szene insgesamt einschätzen. Die SpielerInnen werden dann aus ihren Rollen entlassen. Wir setzen uns zusammen und überlegen, welche Erkenntnisse wir aus dem Spiel ziehen können. Die SpielerInnen begründen, warum sie gerade diese Rolle ausgewählt haben. Wir tragen zusammen, was wir im Spiel an neuen Lesarten entdeckt haben. Es geht dabei immer auch darum, welche Handlungsalternativen es jeweils gegeben hätte.
Das Rollenfeedback und die Auswertung des Rollenspiels zu der oben eingeführten Theaterstunde öffnete uns den Blick dafür, dass wir die körperliche Auseinandersetzung der beiden Mädchen auf der Ebene der Textanalyse nur als störend für die Gruppe und als schmerzhaft für die beiden Mädchen wahrgenommen hatten. Die SpielerInnen, die die Rolle der Mädchen übernommen hatten, berichteten aus ihrer Rolle heraus dagegen davon, dass es ihnen Spaß gemacht und ihnen gut getan habe, ihre Kräfte zu messen, ihre Aggressionen auszuleben und sich in der Berührung zu spüren. Aus der Rolle der Pädagoginnen heraus berichteten die SpielerInnen, dass sie sich vor allem am Ende der Szene hilflos, unsicher oder wütend gefühlt hatten. Daraus entspann sich eine Diskussion darüber, wer von den Beteiligten in der Situation eigentlich ausgespielt worden war. Schließlich überlegten wir auf dieser Basis erneut, welche Handlungsalternativen es für die Pädagoginnen in der Theaterstunde gegeben hätte.
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Erkenntnisgewinn durch ethnographische Praxisprotokolle und Rollenspiel
Abschließend unterscheiden wir erstens den Erkenntnisgewinn unserer Methode danach, ob er durch Textanalyse oder durch Rollenspiel ermöglicht wurde. Zweitens formulieren wir den Erkenntnisgewinn für das Gesamtprojekt: Folgen wir den Rückmeldungen der Studierenden aus den Nachbereitungsseminaren, so entwickeln die TeilnehmerInnen mit Hilfe der oben beschriebenen Methode ihre professionelle Haltung weiter, und sie erweitern ihre Handlungsspielräume. So lernen sie z. B. wie es ist, eine bewusst verstehende Haltung zu ihnen fremden oder sie irritierenden Handlungen anderer Menschen einzunehmen. Sie bereiten sich an Fallbeispielen aus der Praxis sehr konkret auf den Auslandsaufenthalt vor, was Ängste nimmt und Enttäuschungen vorbeugt. Und sie lernen, Irritationen und Krisen als nachvollziehbar, notwendig und kreativ zu begreifen. Durch das Schreiben und die Analyse der Feldprotokolle werden unserer Vorstellung nach im Einzelnen folgende Erkenntnisse und Kompetenzen bei den Beteiligten gefördert:
Sie trainieren das genaue Beobachten und Wahrnehmen, ohne gleich zu bewerten, zu diagnostizieren und zuzuschreiben. Sie lernen, Prozessstrukturen, Gruppendynamiken und Interaktionsverläufe wahrzunehmen, die Folge von Handlungen zu entdecken sowie die gemeinsame Praxis in einem sozialen Raum zu verorten.
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Bettina Völter/Marion Küster Indem sie selbst erlebte Situationen erinnern und aufschreiben, legen sie Erinnerungsdokumente an, die sie später noch einmal zur Hand nehmen können. Sie fördern ihre Schreibkompetenzen und verarbeiten dabei Erlebtes. Sie bringen das Erlebte schreibend in Distanz zu sich und ermöglichen dadurch eine reflexive Auswertung. Sie üben sich in der Interpretation von Texten, die unmittelbar mit ihren Erfahrungen zu tun haben. Sie schulen dabei ihr Vertrauen in die eigene Handlungs- und Deutungsfähigkeit (vgl. Dausien 2007) und lernen die Grundprinzipien einer rekonstruktiv-forschenden Haltung wie z. B. Offenheit und ein Hypothesen bildendes, sequentielles Verfahren kennen, mit denen sie auch im pädagogischen Alltag arbeiten können. Sie lernen, eine für sie fremde Lebenswelt besser verstehen und können gleichzeitig erkennen, dass in diesem Kontext immer einige Fragen offen und unbeantwortet bleiben werden. Sie üben, sich mit dem von ihnen gelernten Handlungsrepertoire sowie dessen impliziten theoretischen Vorannahmen und dessen Folgen auseinanderzusetzen (vgl. Völter 2008) und dabei selbstkritische professionelle Diskurse über die eigene Praxis zu führen (vgl. Riemann 2005, S. 265).
Das Rollenspiel wiederum ermöglicht eine Reflexion auf der Basis des Nacherlebens und sinnlichen Wahrnehmens. Diese Form von Auswertung der Praxisprotokolle fördert ebenfalls Kompetenzen:
Die leibliche Erfahrung eröffnet neben dem kognitiven Verstehen auch einen Raum für das sinnliche Wahrnehmen und »Begreifen« komplexer Situationen. Sie sensibilisiert für das Erkennen und die Akzeptanz anderer Perspektiven. Sie fördert die Einfühlung in andere Akteure, deren Rollen und Beziehungen. Sie macht Lust auf das Kennenlernen fremder kultureller Praktiken und bereitet auf das Erleben von Differenz und von Konflikten vor. Sie hilft dabei, pädagogische Handlungsvarianten und Lösungen zu entdecken, diese im geschützten Rahmen zu erproben und mögliche Reaktionen darauf kennen zu lernen.
Die Auswertung der Praxisprotokolle mit der vorgestellten Methode kann insgesamt dazu beitragen, das Projekt »Luz que Anda« weiter zu entwickeln: Sie zeigt uns, was wir (systematisch) übersehen haben. Sie ermöglicht ein besseres Verstehen komplexer Situationen vor Ort, in die wir involviert sind. Wir können die uns unbewussten Haltungen, Strategien, Handlungs-, Deutungs- und Interaktionsmuster reflektieren, die unsere Arbeit vor Ort und unsere Zusammenarbeit mit der Dorfbevölkerung strukturieren oder auch blockieren. Sie hilft uns auch dabei, Themen des Ortes bzw. der Kindergruppe herauszuarbeiten, mit denen das Projekt sich in Zukunft schwerpunktmäßig beschäftigen sollte. Außerdem eröffnet sie den Blick auf Handlungsalternativen in komplexen und schwierigen Situationen. Sie ist deshalb für uns zu einem zentralen Bestandteil für die Vor- und Nachbereitung unserer Praxisaufenthalte im brasilianischen Dorf geworden.
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Literatur Boal, A. (1989): Theater der Unterdrückten. Übungen und Spiele für Schauspieler und NichtSchauspieler. Frankfurt a. M. Brecht, B. (1973): Über Schauspielkunst (Hrsg. von Werner Hecht). Berlin. Dausien, B. (2007): Reflexivität, Vertrauen, Professionalität. Was Studierende in einer gemeinsamen Praxis qualitativer Forschung lernen können. Diskussionsbeitrag zur FQS-Debatte »Lehren und Lernen der Methoden qualitativer Sozialforschung«. In: Forum Qualitative Sozialforschung, Volume 8 (2007), No. 1, http://www. qualitative-research.net/fqs/deb/07-1-D4Dausien-d.htm (20.7.2007). Ebert, G. (1979): Improvisation und Schauspielkunst. Über die Kreativität des Schauspielers. Berlin. Früchtel, F./Budde, W./Cyprian, G. (2007): Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen. Wiesbaden. Gray, R./Sinding, C. (2002): Standing Ovation: Performing Social Science Research about Cancer. Walnut Creek, CA: AltaMira Press. Hirschauer, S./Amann, K. (Hrsg.) (1997). Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie. Frankfurt a. M. Lapoint, E. C. (1997): The Ethnodrama. A Role-Playing Simulation for Anthropology Courses, http://www.aaanet.org/gad/fosap/newslet/fosapnl spring97.htm#Lapoint (15.6.2007). Moreno, J. L. (1988): Gruppenpsychotherapie und Psychodrama. Einleitung in die Theorie und Praxis. Stuttgart u. New York. Rätz-Heinisch, R./Köttig, M. (2007): Die Praxis Dialogischer Biografiearbeit. In: Miethe, I. u. a. (Hrsg.) (2007): Rekonstruktion und Intervention. Interdisziplinäre Beiträge zur rekonstruktiven Sozialarbeitsforschung. Opladen u. Farmington Hills, S. 239-257. Riemann, G. (2004): Die Befremdung der eigenen Praxis. In: Hanses, A. (Hrsg.) (2004): Biographie und Soziale Arbeit. Baltmannsweiler, S. 190-208. Riemann, G. (2005): Zur Bedeutung ethnographischer und erzählanalytischer Arbeitsweisen für die (Selbst-)Reflexion professioneller Arbeit. Ein Erfahrungsbericht. In: Völter, B. u. a. (Hrsg.) (2005): Biographieforschung im Diskurs. Wiesbaden, S. 248-270. Riemann, G. (2006): Ethnographers of their own own affairs. In: White, S. u. a. (Hrsg.) (2006): Critical Reflection in Health and Social Care. Maidenhead: Open University Press, S. 187-200. Rosenthal, G. (2005): Interpretative Sozialforschung. Eine Einführung. Weinheim u. München. Saldana, J. (1998): »Maybe someday, if I’m famous ...«. An ethnographic performance text. In: Saxton, J./Miller, C. (Hrsg.) (1998): The research of practice, the practice of research. Victoria, B.C.: IDEA Publications, S. 89-109. Spolin, V. (1987): Improvisationstechniken für Pädagogik, Therapie und Theater. Paderborn. Stanislawski, K. S. (1983): Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst. Tagebuch eines Schülers. Teil II (Die Arbeit an sich selbst im schöpferischen Prozess des Verkörperns). Westberlin. Völter, B. (2007): Theater und ethnografische Praxisforschung als Methoden zur Veränderung. Reflexionen aus dem deutsch-brasilianischen Kooperationsprojekt »Luz que Anda«. In: Miethe, I. u. a. (Hrsg.) (2007): Rekonstruktion und Intervention. Interdisziplinäre Beiträge zur rekonstruktiven Sozialarbeitsforschung. Opladen u. Farmington Hills, S. 149-160. Völter, B. (2008): Verstehende Soziale Arbeit. Zum Nutzen qualitativer Methoden für professionelle Praxis, Reflexion und Forschung [58 Absätze]. In: Forum Qualitative Sozialforschung, Volume 9 (2008), No. 1, Art. 56, http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/327 (27.7.2009).
Die Beobachtung der EthnographInnen – kommentierende Notizen Doris Bühler-Niederberger
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Die ethnographische Identität
EthnographInnen nähern sich fremden Welten oder sie beobachten ihnen alltägliche Welt mit einem verfremdenden Blick. Der Umgang mit dem Fremden aber wirft sie zunächst einmal und immer wieder auf sich selber zurück: Eine der wesentlichen Fragen, die die EthnographInnen sich hier stellten, war die nach dem eigenen Tun und der eigenen Identität. Nicht nur danach, wie man Ethnographie betreibe und mit welchem Ergebnis wurde dabei gefragt, vielmehr wurde die Frage nach der Identität fundamental: Bin ich überhaupt eine Ethnographin? – das wurde wiederholt gefragt und die Antwort war keineswegs immer ein klares Ja. Wenn ich mich hier also als Ethnographin vorstelle, die eine Tagung beobachten soll, so muss ich mir die Frage selber stellen: Kann ich eigentlich hier die Rolle einer Ethnographin wahrnehmen? Würde ich sie mit »ja« beantworten, so müsste ich vermutlich den Beobachtungsauftrag zurückgeben, ich würde mich ja nicht einer fremden Welt nähern, sondern meiner eigenen. Vielleicht könnte mir dann der verfremdende Blick zwar dennoch gelingen, aber gerade die unklare Identität, die für die EthnographInnen zutreffend zu sein scheint, macht in diesem Fall nicht nur die Zurechnung schwer, sondern ebenso auch die eindeutige Distanzierung. Wahrscheinlich bliebe ich also verfangen in den Nuancen des Zu- und Wegrechnens, in einer unklaren Gemengelage von »going native« und »Ethnozentrismus« – und das jedenfalls ist nicht die verlangte Haltung der methodischen Verfremdung. Also entschließe ich mich, die Frage doch eher negativ zu beantworten und keine Ethnographin zu sein, oder nur zumindest so ein bisschen. Vielleicht also eine »gewesene« Ethnographin, nämlich in den Zeiten, als ich noch teilnehmende Beobachtungen machte und soviel Zeit in sozialpädagogischen Institutionen verbrachte, dass ich mich schon bald selber als Insasse fühlte – schließlich war man ja als Ethnographin ein halber Insasse, hing man doch irgendwo zwischen Insassen und Angestellten, gehörte eben keiner Gruppe wirklich an, versuchte aber zweifellos den Insassen, als den Exotischeren unter den Beobachteten, näher zu sein. Andererseits, in dem Moment, indem ich dann unter EthnographInnen sitze und sie beobachte, was bin ich dann anderes als doch schon wieder Ethnographin? Und das mit allen Merkmalen der Ethnographin: Sie »gehört nicht wirklich zu dieser Welt«, »fällt durch ständiges Mitschreiben auf«, »versucht von den Untersuchten akzeptiert und einigermaßen aufgenommen zu werden« und vor allem: »thematisiert zunächst einmal die eigene Rolle«. Unvermeidlich werde ich also von der unlösbaren Frage nach dem, was ich tue und bin, eingeholt – und sie lässt sich offensichtlich einmal mehr nicht wirklich beantworten, aber in stets neuer Vertracktheit stellen. Zweifellos ist die Frage nach der eigenen Identität als Forscherin im Feld eine zentrale methodische Frage, und sie muss fortlaufend neu gestellt werden. In Gesellschaften, in
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Doris Bühler-Niederberger
denen die Thematisierung und Reflexion des Selbst auf ein Höchstmaß der Kunstfertigkeit und Elaboriertheit gebracht wurde, ist es aber eine Frage, die kaum noch zu einer Antwort führen kann, sondern die beständiges Ausarbeiten der Frage nach sich zieht – und leicht kann sie zu einer Verschiebung von Zielen und Mitteln führen. Ich will also gegen den ethnographischen Code verstoßen und sie – nachdem ich sie mit unklarem Ergebnis aufgeworfen habe – nun zur Seite schieben und mich stattdessen auf die Beobachtungen konzentrieren, auch wenn die Selbstthematisierung mit ihrem Reiz des Unlösbaren faszinierender sein mag. Ich will also zunächst die ethnographischen Identitäten beschreiben, so wie sie sich in den (Selbst-)Beschreibungen der Teilnehmenden auf der Tagung »Auf unsicherem Terrain« abgezeichnet haben. Ich greife dabei Eigenschaften heraus, die mir besonders bemerkenswert erscheinen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Auf dieser Basis will ich dann eine Aussage über die Ethnographie und ihre Möglichkeiten und den Charakter ihrer Ergebnisse wagen, insbesondere eben über die Ethnographie, deren Gegenstand erzieherische Situationen sind und die also Erwachsene und Kinder untersucht. 2
Demütige EthnographInnen
EthnographInnen sind bescheiden, ja sogar demütig. Sie ziehen nicht als Gekrönte im Feld ein, vielmehr begnügen sie sich hier mit einem bescheidenen Platz auf den hinteren Rängen, sie sind Hilfskraft des Lehrers oder Praktikanten, ja sie schlafen auf der Klassenfahrt sogar im Kinderzimmer und Kinderbett, wenn es denn kein eigenes Zimmer für sie gibt. »Die Ethnographin im Kinderbett«, wie von Karin Bock beschrieben, ist ein prägnantes Bild für die verlangte Selbstbescheidung. Und in dieser Lage präsentieren sie sich auch den Abnehmern ihrer Forschungsergebnisse, den Lehrern, Schulleitern und anderen Personen. Wie anders ist da die Position des Forschers, der den Survey managt und ganz gelegentlich mit Aktenköfferchen und Laptop bei seinen Auftraggebern erscheint. Und auch in der »scientific community« sind EthnographInnen eher die AußenseiterInnen als die, die den Ton angeben. Die groß angelegte Längsschnittstudie, die internationale Vergleichsstudie – deren Leiter sind in der Öffentlichkeit die wichtigen Figuren und zunehmend und im Zuge des Aufbaus einer neuen Hierarchie der eingeworbenen Drittmittel werden sie es auch in der akademischen Szene, unabhängig davon wie innovativ das Vorgehen ist und wie originell die entwickelte Theorie. Je besser die Selbstbescheidung gelingt, je leichter kann sich etwa die Ethnographin mit den Kindern auf eine Ebene begeben, umso eher gelingt die Ethnographie – dieser Eindruck wurde uns auf der Tagung und auch in diesem Band vermittelt wir kennen diese Forderung aber auch aus publizierten Ethnographien, zugespitzt formuliert etwa auch als die Forderung nach der »least adult role possible« (vgl. Mandell 1988). So sind EthnographInnen auch meistens jung, stehen eher am Anfang ihrer wissenschaftlichen Karriere, verfügen über zeitliche Ressourcen, die es ihnen erlauben, mit den Kindern auf Klassenfahrt zu gehen und abzuwarten, was da passiert. Was aber geschieht, wenn EthnographInnen definitiv aus dem Kinderbett heraus wachsen? Kürzen sie ihre Beobachtungen ab und verlegen diese zum Beispiel in das Klassenzimmer oder in das Lehrerzimmer, Situationen also, in denen immerhin das Ende des Aufenthalts absehbar ist und intimere und allenfalls
Die Beobachtung der EthnographInnen – kommentierende Notizen
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peinliche Kontakte gar nicht entstehen können? Schalten sie ein Aufnahmegerät zwischen sich und die Kinder, dessen Besitz und Handhabung auch durchaus schon einen Status anzeigt? Engagieren sie Studenten als Beobachter? Und falls sie das tun: Ist das Alles dann noch »Ethnographie«? Gehört zur Ethnographie nicht unabdingbar, dass man die eigene Person ungeschützt eingibt, selber Instrument wird, die Regeln der beobachteten Gruppe am eigenen Leib erlebt? Ist es nicht das, was allen Ethnographien gemeinsam ist, dass sie sich vom Feld die Strukturen aufdrängen lassen? Braucht die Ethnographie nicht gerade das Eindringen des Neulings in den eigentlichen Kern der Interaktionen, um damit Reaktionen herauszufordern, die Einsichten erlauben, wie sie sonst nicht möglich wären? 3
Attraktive EthnographInnen
EthnographInnen sind attraktiv. Sie sind es im Feld, wo sie zu begehrten Interaktionspartnern werden können und es zu eigentlichen Rivalitäten führen kann, wer jetzt an der Hand der Ethnographin gehen darf. Das mag viele persönliche Gründe haben und sicher tun EthnographInnen ihr Möglichstes, beliebt zu werden, denn wie sollte man Daten sammeln, wenn sich keiner mit einem abgeben mag. EthnographInnen schmeicheln auch der Eitelkeit der Beobachteten, denn wann findet schon sonst jemand so interessant, was man tut und sagt, dass er es immer wieder nachfragt, aufschreibt oder aufzeichnet? Gerade aufgrund ihrer Außenseiterrolle sind sie aber auch in der »scientific community« attraktiv. Die Auftritte einiger bekannter Ethnographen erfreuen sich an Fachtagungen eines guten Zulaufs, vor allem von Seiten eines jüngeren Publikums, das sich auch an den gelegentlichen Seitenhieben der Ethnographen auf die etablierte Forschung erfreut. Im Feld sind EthnographInnen noch aus einem weiteren Grund beliebt: Sie heiligen den Kontext durch ihr (demütiges) Bemühen um Eintritt in diesen Kontext oder in eine seiner Gruppen und ihren Respekt vor dessen Regeln. Womit wir wiederum bei der Person als Erkenntnisinstrument wären. Wo dieses Bemühen fehlt, die Person herausgehalten wird, fehlt ein Stück der Attraktivität und damit bleiben auch Datenquellen verschlossen. 4
Wirklichkeitsversessene oder wirklichkeitsvergessene EthnographInnen
All das – sich demütig in den Kontext einfügen, in einem unbequemen Kinderbett schlafen, sich bei den Mitgliedern im Feld beliebt machen – das tut die Ethnographin nur aus Leidenschaft zur Wirklichkeit, der sie ganz nah kommen will. Allerdings ist bei näherer Betrachtung das Verhältnis zur Wirklichkeit doch nicht so ganz klar. Einmal ist es der Selbstbezug der EthnographInnen, der gelegentlich so stark ist, dass die Ethnographiebegeisterten mehr von ihrer Beobachterrolle erzählen als von dem Beobachteten, also der Wirklichkeit. Ambivalent ist das Verhältnis aber auch in der Art, dass die Leidenschaft für den O-Ton unübersehbar ist – nicht nur für den Inhalt des Berichts, sondern auch den reinen »Klang«, den wir im Ohr haben sollten. Bei der Interpretation des O-Tons durch die EthnographInnen aber kann auch genau das, was da erzählt wird, als das Uneigentliche gesehen werden, als Schein, der trügt, hinter dem erst die Wirklichkeit liegt, die nun in einsamer Arbeit von der Ethnographin erschlossen wird, weitab vom Feld, am Schreibtisch eben oder im diskursi-
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Doris Bühler-Niederberger
ven Verfahren unter Berufskollegen. Dennoch gibt die Wirklichkeit, die Beobachtung aus erster Hand, ja das Eintauchen mit Haut und Haar, dieser Interpretation Glaubwürdigkeit – dies ist zumindest der Anspruch. Jagen EthnographInnen also Schätze, die sie dann gleich verspielen, aber bei Gelegenheit doch zum Decken von Krediten wieder geltend machen? Oder machen sie ein bisschen »ontologischen Wahlbetrug«: Faszinierende Wirklichkeitsschilderungen aus erster Hand werben für die Glaubwürdigkeit der Interpretationen, welche sich aber von dieser Wirklichkeit weit entfernen können, und entkräften die Gegenargumente des Lesers, weil er ja eben nicht in diese Wirklichkeit eingetaucht ist? 5
Nahe oder ferne EthnographInnen
Ich will hier eine weitere Überlegung anschließen. Gelegentlich rücken EthnographInnen ihren Untersuchten so nah auf die Haut oder dringen in ihren intimen Raum ein, dass sie durch eben diese Nähe eine eigenartige Distanz zur Wirklichkeit erzeugen. Sie erinnert an die Distanz, die man zu seinem eigenen Körper erlebt, wenn man zum ersten Mal die eigene Haut unter einem Mikroskop sieht und aus dem eigenen Daumen eine eigenartige Landschaft mit Furchen und Rillen wird, oder an die Irritation des jungen Arztes in Andersens Märchen »Galoschen des Glücks«, der – geschrumpft und mit Hilfe der Zaubergaloschen – eine äußerst wunderliche Reise durch die Herzen der Mitmenschen antreten kann und nun also je nachdem ein Spiegelkabinett, eine Kirche oder eine ärmliche Dachkammer betritt. In eigenartiger Weise wird die Perspektive der Beteiligten unterlaufen, nicht weil man ihnen zu fern, sondern weil man ihnen zu nahe ist, näher als sie sich selbst je kommen können. Die Beteiligten müssen nämlich einen Schritt zurücktreten, um ihren Kontext, ihre Regeln, ihre Sinngebungen zu reflektieren und darzustellen. Die Ethnographin dagegen tritt noch einen Schritt näher – was dann beobachtet wird, entzieht sich der Möglichkeit der Interpretation, weil nun ein Bild aufgenommen und wiedergegeben wird, auf das von keinem der Beteiligten je sinnhaft reagiert werden kann. Besonders klar wird das in VideoAufzeichnungen, in denen wir beispielsweise Bewegungen und Gesichter von Kindern aus einer Nähe und in einer Dauer sehen, die keiner der Beteiligten so je wahrnehmen wird. Man würde es schon deswegen nicht sehen, weil solches Starren durch die Basisregeln der Interaktion untersagt wird, die gerade den Blickkontakt sorgfältig regulieren und ein bestimmtes Maß an »civil inattendance« verlangen (vgl. Goffmann 1959) – aus gutem Grunde, denn die Verletzung der Regeln exponiert die Beobachteten in ungebührlicher Weise. Die Aufzeichnungen haben mich an die Aufnahmen von Konzerten denken lassen, wie sie uns das Fernsehen zeigt, die die Hände der Pianisten und alle unwillkürlichen Bewegungen seines Gesichtes von so nahe zeigen, dass man sich am Ort des Geschehens glauben soll, aber natürlich kann niemand und schon gar kein Konzertbesucher dies je sehen, auch kein Mitmusiker, der zwar näher wäre, aber spielen muss, und auch der Pianist selber nicht, der sich auf sein Spiel konzentriert und nicht auf die Betrachtung seiner Hände und schon gar nicht auf seine Gesichtsmuskulatur in Momenten höchster Konzentration. Die Rolle des Beobachters ermöglicht also Bilder, die eine Welt zeigen, die in gewisser Weise irreal und eventuell auch irrelevant ist, weil niemand sonst sie sieht und darauf bezogen sinnhaft handelt. Sie entstehen in einem Anspruch, eine besonders wirkliche Wirklichkeit zu zeigen und
Die Beobachtung der EthnographInnen – kommentierende Notizen
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entziehen sie durch ihre prinzipielle Unsichtbarkeit für alle Teilnehmer an der Wirklichkeit der Möglichkeit der Interpretation. 6
EthnographInnen und Ethnographien
Ungleich stärker als bei anderen Forschungszugängen – so ist anzunehmen – prägen die Eigenschaften der EthnographInnen die Ergebnisse: Es sind ja die Eigenschaften ihrer Instrumente. Wie werden die Befunde und Einsichten aussehen, die solche Instrumente beschaffen, welche Deutung der Wirklichkeit wird uns geliefert? Ethnographien werden sich – so steht zu vermuten und so zeigen es vorliegende Ethnographien – kaum mit den Ritualen und Strategien der Macht abfinden, jedenfalls dann nicht, wenn sie von der Machtspitze der beobachteten Institutionen ausgehen. Die eigene Position der EthnographInnen lässt vielmehr absehen, dass diesem Gegenstand ein besonders kritisches Auge gelten wird. Immerhin gleichen die EthnographInnen zwischen den beobachteten Gruppen der Erwachsenen und der Kinder selber am ehesten den Jugendlichen, die ihren eigenen Blick auf die Wirklichkeit werfen, einen subversiven Blick, der um die Demütigungen der Kinderrolle (noch) weiß – die EthnographInnen können diese Erfahrungen am eigenen Leib noch einmal auffrischen – und sie fein registriert und der gerade Rituale der Macht schonungslos aufdeckt. So werden EthnographInnen also zwischen den Realitätskonstruktionen der erwachsenen Institutionsverantwortlichen und der Kinder eine dritte Wirklichkeit entwerfen und in diesem Entwurf wird ein rebellischer Antiinstitutionalismus als Grundton mitschwingen. Bei aller Wirklichkeitsversessenheit, die sich in der intensiven Beschäftigung mit den Instrumenten und mit sich selber als Instrument abzeichnet, werden EthnographInnen damit dann letztlich doch genau besehen nicht besonders nahe an die Wirklichkeit kommen und nicht dahinter. Sie werden vielmehr einen weiteren Entwurf tätigen – nebst all den Entwürfen der Beteiligten – und die Eigenarten ihres eigenen Entwurfs resultieren aus den Eigenschaften, über die sich EthnographInnen im Feld auszeichnen. So kann ihnen zum Schluss die Anregung mitgegeben werden, die Frage nach der eigenen Identität nicht unabhängig von den Ergebnissen zu stellen. Es ist also nicht nur eine Frage nach den Instrumenten, die damit in der Anfangs- und Feldphase zu stellen wäre, sondern auch eine Frage, die bei der abschließenden Reflexion der Ergebnisse dringlich wird, bei der es darum geht, die unterschiedlichen Perspektiven zu kontrastieren. Wie alle anderen Methoden ist Ethnographie nicht ein Zugang zur Wirklichkeit schlechthin. Sie ist es nicht, obschon sie den ForscherInnen besonderen Einsatz und besonderes Geschick abverlangt, um der empirischen Welt nahe zu kommen, und obschon sie Erfahrungen aus erster Hand ermöglicht. Es wäre ein naiver Empirismus zu glauben, ein exzellentes Instrument mit vollem persönlichem Einsatz verwendet, könnte endlich mitten in die Wirklichkeit hinein führen, so dass man in den Herzkammern der Beteiligten stünde und sich die Wahrheit damit von selbst erschlösse. Was Ethnographien an Ergebnissen vermitteln ist nicht mehr als ein weiterer Entwurf der Wirklichkeit, aus einer bestimmten Perspektive geschrieben. Damit der Entwurf Substanz hat, muss die Forscherin sich eben dieser Perspektivität wohl bewusst sein und die eigene Perspektive sorgfältig mit der der anderen Teilnehmer abgleichen.
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Doris Bühler-Niederberger
Literatur Goffman, E. (1959): The presentation of self in everyday life. New York: Anchor Books. Mandell, N. (1988): The least adult role in studying children. In: Journal of Contemporary Ethnography, V. 16 (1988), Number 4, S. 433-467.
Die AutorInnen Bock, Karin, Prof. Dr., Hochschullehrerin an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Kontakt: [email protected] Bollig, Sabine, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Johann Wolfgang GoetheUniversität Frankfurt am Main, Kontakt: [email protected] Breidenstein, Georg, Prof. Dr., Hochschullehrer an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Kontakt: [email protected] Bühler-Niederberger, Doris, Prof. Dr., Hochschullehrerin an der Bergischen Universität Wuppertal, Kontakt: [email protected] Cloos, Peter, Prof. Dr., Hochschullehrer an der Stiftung Universität Hildesheim, Kontakt: [email protected] Heinzel, Friederike, Prof. Dr., Hochschullehrerin an der Universität Kassel, Kontakt: [email protected] Hünersdorf, Bettina, Prof. Dr., Hochschullehrerin in Vertretung an der Universität der Bundeswehr München, Kontakt: [email protected] Köngeter, Stefan, Dr. phil., Dipl. Päd., M.A., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Stiftung Universität Hildesheim, Kontakt: [email protected] Küster, Marion, Prof. Dr., Hochschullehrerin an der Hochschule für Musik und Theater Rostock, Kontakt: [email protected] Lamla, Jörn, Dr., wissenschaftlicher Assistent, Hochschullehrer in Vertretung an der Justus-Liebig-Universität Gießen, Kontakt: [email protected]ßen.de Loch, Ulrike, Ass. Prof. Dr., Hochschullehrerin an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Kontakt: [email protected] Maischatz, Katja, Dipl.-Soz., Dipl.-Päd., wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Leuphana Universität Lüneburg, Kontakt: [email protected] Mohn, Bina Elisabeth, Dr., Berlin, Kontakt: www.kamera-ethnographie.de Panagiotopoulou, Argyro, Prof. Dr., Hochschullehrerin an der Universität KoblenzLandau, Kontakt: [email protected] Schoneville, Holger, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Kassel, Kontakt: [email protected]
Schulz, Marc, Dr. phil., Dipl.-Päd., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Stiftung Universität Hildesheim, Kontakt: [email protected] Schulze-Krüdener, Jörgen, Dr. phil., Dipl.-Päd., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Trier, Kontakt: [email protected] Steinacker, Sven, Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bergischen Universität Wuppertal, Kontakt: [email protected] Thole, Werner, Prof. Dr., Hochschullehrer an der Universität Kassel, Kontakt: [email protected] Völter, Bettina, Prof. Dr., Hochschullehrerin an der Alice Salomon Hochschule Berlin, Kontakt: [email protected] Wiesemann, Jutta, Prof. Dr., Hochschullehrerin an der Universität Kassel, Kontakt: [email protected]