Archiv fur Geschichte des Buchwesens: Vol. 62: 2008 (Archiv Fur Geschichte Des Buchwesens)  german [1 ed.]
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Zitiervorschau

ARCHIV FÜR GESCHICHTE DES BUCHWESENS »AGB«

ARCHIV FÜR GESCHICHTE DES BUCHWESENS Im Auftrag der

Historischen Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels e.V. Herausgegeben von

MONIKA ESTERMANN UND URSULA RAUTENBERG

Band 62

K . G . Saur München 2008

HERAUSGEBER Ordentliche Mitglieder der Historischen Kommission: Prof. Dr. h.c. mult. Klaus G. Saur, Berlin, Vorsitzender; Prof. Dr. Reinhardt Wittmann, Oberachau, Stellv. Vorsitzender; Prof. Dr. Stephan Füssel, Mainz; Prof. Dr. Georg Jäger, München; Prof. Dr. Siegfried Lokatis, Leipzig; Prof. Dr. Wulf D. von Lucius, Stuttgart; Prof. Dr. Ursula Rautenberg, Erlangen; Thedel von Walmoden, Göttingen. Korrespondierende Mitglieder der Historischen Kommission: Prof. Dr. Hans Altenhein, Bickenbach; Dr. Werner Arnold, Wolfenbüttel; Dr. Jan-Pieter Barbian, Duisburg; Prof. Frédéric Barbier, Paris; Thomas Bez, Leipzig; Dr. Hans-Erich Bödeker, Göttingen; Prof. Dr. Bernhard Fabian, Münster; Dr. Bernhard Fischer, Weimar; Prof. Dr. Ernst Fischer, Mainz; Prof. Dr. John Flood, London; Prof. Dr. Christine Haug, München; Dr. Stephanie Jacobs, Leipzig; Dr. Thomas Keiderling, Leipzig; Dr. Michael Knoche, Weimar; Prof. Dr. HansJoachim Koppitz, Mainz; Dr. Mark Lehmstedt, Leipzig; Prof. Dr. Alberto Martino, Wien; Prof. Dr. Ulrich Ott, Marbach/N.; Prof. Dr. Günther Pflug †, Frankfurt a.M.; Prof. Dr. h.c. mult. Paul Raabe, Wolfenbüttel; Prof. Dr. Helmut Rötzsch, Leipzig; Prof. Dr. Walter Rüegg, Veytaux-Chilion; Prof. Dr. Wolfgang Schmitz, Köln; Prof. Dr. Ute Schneider, Mainz; Herta Schwarz, Frankfurt a.M.; Dr. Volker Titel, Erlangen; Prof. Dr. Peter Vodosek, Stuttgart; Clara Waldrich, München; Prof. Dres. Bernhard Zeller, Marbach/N.

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Dateien sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

Gedruckt auf säurefreiem Papier © 2008 by K. G. Saur Verlag, München Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG Alle Rechte vorbehalten Jede Art der Vervielfältigung ohne Erlaubnis des Verlages ist unzulässig Satz: Anke Vogel, Ober-Olm Druck & Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Printed in Germany ISBN 978-3-598-24858-0 ISSN 0066-6327

INHALT

BEITRÄGE URSULA RAUTENBERG: Die Entstehung und Entwicklung des Buchtitelblatts in der Inkunabelzeit in Deutschland, den Niederlanden und Venedig – Quantitative und qualitative Studien .......................................... 1 JOHANNA GUMMLICH-WAGNER: Das Titelblatt in Köln: Uni- und multivalente Titelholzschnitte aus der rheinischen Metropole des Inkunabeldrucks .......................................................................................... 106 Register Rautenberg/Gummlich-Wagner ........................................................................................................... 150 GISELA MÖNCKE: Zum Würzburger Buchdruck in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts: Johann Lobmeyer – Balthasar Müller – Melchior Bopp .................................................................................... 153 Register ............................................................................................................................................................... 187 VOLKER R. REMMERT/ UTE SCHNEIDER: Wissenschaftliches Publizieren in der ökonomischen Krise der Weimarer Republik – Das Fallbeispiel Mathematik in den Verlagen B. G. Teubner, Julius Springer und Walter de Gruyter ........................................................................................................................................ 189 KARSTEN JEDLITSCHKA: Die »Parteiamtliche Prüfungskommission zum Schutze des nationalsozialistischen Schrifttums« – Zensurfelder und Arbeitsweise am Beispiel des Münchner Lektors Ulrich Crämer ................. 213

REZENSIONEN MARION JANZIN/JOACHIM GÜNTNER: Das Buch vom Buch. 5000 Jahre Buchgeschichte. (Konrad Umlauf) ... 227 OLIVER DUNTZE: Ein Verleger sucht sein Publikum. Die Straßburger Offizin des Matthias Hupfuff (1497/98–1520). (Jonathan Green) ..................................................................................................................... 231

Bandregister ........................................................................................................................................................ 234 Anschriften der Herausgeber und Verfasser ....................................................................................................... 240

1

URSULA RAUTENBERG

Die Entstehung und Entwicklung des Buchtitelblatts in der Inkunabelzeit in Deutschland, den Niederlanden und Venedig – Quantitative und qualitative Studien Inhalt Vorbemerkung ......................................................... 3 Danksagung ............................................................. 3 1 1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4

1.1.5 1.1.6 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.2.5 1.3 2

2.1 2.2

Das frühe Buchtitelblatt als Forschungsproblem ..................................... 4 Einhundertzehn Jahre Forschung zum frühen Buchtitelblatt: Von Alfred W. Pollard bis zur Gegenwart ........................... 4 Ausgangslage .............................................. 4 Die Anfänge um und nach 1900: Von Pollard zu Haebler und Johnson ........... 4 Der Leipziger Sammelband »Das Titelblatt im Wandel der Zeit« (1929) ........................ 7 Die Titelblattforschung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: länderspezifische Fokussierung und das Titelblatt volkssprachlicher Drucke ............ 9 Am Ende des 20. Jahrhunderts: Margaret M. Smith’s »The title-page« ...... 13 Erreichtes und Desiderate ......................... 16 Zwei Erlanger Forschungsprojekte zum frühen Buchtitelblatt .................................. 17 Die Titelblattdefinition .............................. 17 Die quantitativ-statistische Erfassung: Das Inkunabeltitelblatt in Deutschland, den Niederlanden und Venedig ................. 18 Die qualitative Tiefenanalyse: Sieben deutsche Druckorte bis Ende 1490 ............ 20 Die Fallstudien .......................................... 21 Die Titelblatt-Datenbank im Internet ........ 21 Überlegungen zu einer Theorie des frühen Buchtitelblatts ................................ 22 Das Aufkommen und die Verbreitung des Titelblatts in Deutschland, den Niederlanden und Venedig: Quantitative Analyse und prädispositive Titelblätter .... 24 Quantitative Vergleichsanalyse ................. 24 Prädispositive Formen: Titelblätter bis 1480 ..................................................... 26

2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4

3

Die frühesten Titelblätter in Deutschland: Mainz, Köln und Nürnberg ........................ 27 Die frühesten Titelblätter in den Niederlanden .............................................. 28 Die frühesten Titelblätter in Venedig und Italien .................................................. 30 Exkurs: Prädispositive Titelblätter und geregelte typographische Praxis am Beispiel der Offizin Peter Schöffer ........... 31

Die Zeichenmittel des typographischen Dispositivs ›Titelblatt‹ – Systematik und quantitativer Vergleich .............................. 34 3.1 Die Zeichenmittel des Titelblatts ............... 34 3.2 Die makrotypographischen Zeichenmittel . 34 3.2.1 Leerseite, Leerblatt und Titelblatt ............. 34 3.2.2 Die Position der Titelseite ......................... 38 3.2.2.1 Die Titelseite auf der Rückseite des ersten Blatts ............................................... 38 3.2.2.2 Der Endtitel................................................. 39 3.2.3 Die Titelseite und nachfolgende Seite ....... 40 3.2.4 Die Titelseite im Lagenverbund ................ 41 3.3 Die mesotypographischen Zeichenmittel: Flächengliederung ...................................... 41 3.4 Die mikrotypographischen Zeichenmittel . 42 3.4.1 Rotdruck .................................................... 44 3.4.2 Schriftwahl, gestufte Typographie und Figurensatz ................................................. 44 3.4.3 Die mikrotypographischen Zeichenmittel und ihre Bedeutung für den Titelsatz ........ 46 3.5 Die xylographische Titelseite als Sonderfall ................................................... 48 3.6 Die sprachlichen Zeichenmittel: Werkund Buchkennzeichnung ............................ 48 3.6.1 Die Angaben der Hauptgruppe .................. 48 3.6.2 Zum Verhältnis von Kolophon und Angaben des Impressums auf dem Titelblatt ..................................................... 48 3.6.3 Produktionsrelevante Hinweise auf dem Titelblatt ..................................................... 49

2

Ursula Rautenberg: Die Entstehung und Entwicklung des Buchtitelblatts in der Inkunabelzeit

4

Die Entstehung und Entwicklung des illustrierten Titelblatts in den Niederlanden 53 4.1 Typographische Titelseite und illustrativer Schmuck auf dem Titel: quantitative Vergleichsanalyse bis 1500 ....................... 53 4.2 Gerard Leeu und das Titelblatt mit einem Titelholzschnitt .......................................... 56 4.2.1 Die Druckproduktion der Offizin Leeu in Gouda und Antwerpen und die Einführung des Titelblatts ............................................ 56 4.2.2 Bucheingang und illustriertes Titelblatt bei Gerard Leeu.......................................... 59 4.2.3 Titelblatt, Illustration, Buchtyp und Werk: die illustrierten Titelblätter der Offizin Leeu (1484–1493) ........................ 61 4.2.3.1 Andachts- und Erbauungstexte ................. 61 4.2.3.2 Unterhaltungsliteratur, Ratgeber und zeithistorische Texte .................................. 65 4.2.3.3 Titelillustration und Titelgestaltung .......... 67 4.3 Das illustrierte Titelblatt bis 1490 in Haarlem, Delft und Zwolle ....................... 68 4.3.1 Jacob Bellaert in Haarlem ......................... 68 4.3.2 Jacob Jacobszoon van der Meer und Christiaen Snellaert in Delft ...................... 69 4.3.3 Peter van Os in Zwolle .............................. 71 5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6

Die Lehrszene auf dem Titelblatt in den Niederlanden ............................................. Gerard Leeu in Antwerpen ........................ Govaert van Ghemen und Gotfrid van Os in Gouda ........................................ Richard Paffraet in Deventer ..................... Jacob Jacobszoon van der Meer und Christiaen Snellaert in Delft ...................... Peter van Os in Zwolle .............................. Lehrbuch und illustriertes Titelblatt in den Niederlanden .............................................

73 73 76 78 81 81 81

5.5

Die Entstehung des illustrierten Titelblatts in den Niederlanden als typographisches Dispositiv ........................ 82

6

Das illustrierte Titelblatt in Deutschland und Venedig ............................................... 84 Die Anfänge des illustrierten Titelblatts in Nürnberg bei Hans Folz ......................... 84 Die deutschen Titelblätter mit Titelholzschnitten bis 1490 im Überblick . 88 Heiligenlegenden im Einzeldruck um und nach 1500 ............................................ 88 Die venezianischen Titelblätter mit Titelholzschnitten bis 1495 im Überblick ......... 90

6.1 6.2 6.3 6.4 7 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5

Das Titelblatt mit einem Signet ................. 91 Signet und Firmierung ............................... 91 Deutschland ............................................... 92 Niederlande ................................................ 92 Venedig ...................................................... 93 Ausblick und Exkurs: Der Gebrauch des Signets bei Aldus Manutius und Johannes Froben ........................................................ 94

8

Resümee ..................................................... 95

Anhang ................................................................... 98 1 2 3 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 4

Abbildungsverzeichnis .............................. 98 Zitierweise und Quellennachweise ............ 99 Abkürzungsverzeichnis .............................. 99 Bibliotheken und Archive .......................... 99 Abgekürzt zitierte Literatur ....................... 99 Zeitschriften ............................................... 99 Bibliographien und Nachschlagewerke ... 100 Verzeichnis der Forschungsliteratur ........ 101

Vorbemerkung

Vorbemerkung In diesem und den beiden folgenden Bänden des Archiv für Geschichte des Buchwesens erscheinen die Ergebnisse eines Forschungsprojekts1 zum frühen Buchtitelblatt, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft von Januar 2000 bis März 2002 gefördert worden ist. Der allgemeine Teil umfasst neben einem Forschungsbericht und einführenden Überlegungen zum frühen Buchtitelblatt eine quantitative und qualitative Vergleichsanalyse der Entstehung und Entwicklung des Titelblatts in Deutschland, den Niederlanden und Venedig (Ursula Rautenberg). Es folgen fünf Fallstudien zu den Druckorten Köln (Johanna Christine Gummlich-Wagner), Augsburg (Oliver Duntze), Nürnberg (Randall Herz), Straßburg (Ursula Rautenberg) und Basel (Oliver Duntze/Gaby Kachelrieß). Der vorliegende Band 62 bietet den grundlegenden ersten Teil und eröffnet den zweiten Teil mit der Fallstudie Köln. In Band 63 folgen die Untersuchungen für die Druckorte Augsburg und Nürnberg, in Band 64 die für Straßburg und Basel. Für den quantitativ-statistischen Zugang, der wesentlicher Teil des Projektdesigns ist, wurden die Grundlagen in frühen Arbeitsschritten zu Beginn des Projekts gelegt. Die umfassendste elektronische Quellenbibliographie, der ISTC als vollständigster internationaler Inkunabelzensus, war im Jahr 2000 nur in zweiter Auflage als CD-ROM verfügbar. Die Online-Version mit ihren laufend vorgenommenen Aktualisierungen und neuen Titelmeldungen ist erst seit Anfang 2006 zugänglich und daher nicht in die quantitative Analyse eingegangen. Auch die seit August 2003 online gestellten Katalogeinträge der noch nicht gedruckten Bände der Berliner Arbeitstelle des GW konnten nicht mehr berücksichtigt werden. Eine nachträgliche Umstellung nach dem Ende der Projektlaufzeit auf den jeweils aktuellen Datenstand dieser beiden wichtigen Online-Datenbanken wäre zwar wünschenswert gewesen, erwies sich unter arbeitsökonomischen und methodischen Gesichtspunkten als nicht einlösbar.2 1 Zu den Erlanger Forschungsprojekten und zum Projektdesign siehe ausführlich Kap. 1.2 dieser Studie. 2 Eine unaufwändige Neuberechnung der Prozentwerte erwies sich als nicht praktikabel, da die Abfrageparameter, z. B. für ›preferred attributions‹ und ›not broadside‹, zwischen CD und Online-Version verändert wurden. Die Ergebnisse sind also nicht direkt miteinander vergleichbar und mit einer einfachen Rechenoperation zu aktualisieren. Zudem sind die über den CD-ISTC ermittelten Zahlen vom Erlanger Projekt punktuell durch die Tilgung von Dubletten und nicht verzeichneten Inkunabeln bereinigt und durch die Sichtung gedruckter Quellenbibliographien ergänzt worden. Eine Stichprobe (Abfrage am 18. September 2007) hat ergeben, dass für Deutschland im online-ISTC gegenüber der CD-Version 5,6 % mehr Inkunabeln verzeichnet sind, für die Niederlande 11 % und für Venedig 1,1 %. Da es sich hier um alle Inkunabeln handelt, unabhängig davon, ob sie ein Titelblatt

3 Während der Laufzeit des Projekts wurden die Fallstudien des zweiten Teils, die in Händen mehrerer Projektmitarbeiter lagen, abgeschlossen, ebenso wie die Arbeit am Datenmaterial. Der grundlegende erste Teil, der in meinen Händen lag, ist in großen Teilen erst nach dem Ende des offiziellen Förderungszeitraums erarbeitet worden. Daher ist der Stand der Literatur für den allgemeinen Teil und die Fallstudien uneinheitlich. Berücksichtigt wurde für den ersten Teil die bis 2005 erschienene Forschungsliteratur, für die Fallstudien die bis Mitte 2003. In einzelnen Fällen, aber nicht systematisch, wurden nachträgliche Ergänzungen vorgenommen.

Danksagung Mein Dank gilt an erster Stelle den vielen Mitarbeitern in Bibliotheken, ohne deren sachkundige Unterstützung und Hilfsbereitschaft diese Publikation nicht entstanden wäre. Dank schulde ich den Projektmitarbeitern und Autoren der Fallstudien, Johanna Christine Gummlich-Wagner, Gaby Kachelrieß, Oliver Duntze und Randall Herz, nicht zuletzt für ihre Geduld für das verzögerte Erscheinen ihrer Beiträge, das allein zu meinen Lasten geht. Besonders hervorheben möchte ich Oliver Duntze, Berlin, der für viele fachliche Gespräche Geduld hatte, aber auch stets kompetente Hilfe im Dickicht der Zahlen geleistet hat. Celestina Filbrandt, Erlangen, hat sich der immensen Mühe unterzogen, Titelangaben, Zitate und Quellennachweise in einer Schlussredaktion zu prüfen. Lotte Hellinga, London, hat das Projekt wohlwollend begleitet, Teile des Manuskripts gelesen und mit hilfreichen Anmerkungen versehen. Auch ihr sei an dieser Stelle sehr herzlich gedankt.

haben oder nicht, ist es fraglich, ob sich dieser bibliographische Zuwachs signifikant auf unsere Statistik auswirken würde. Insgesamt liegen die Erlanger Daten erheblich über der Validität einer Stichprobe, da Klärungsraten von 85–90 % erreicht werden konnten. Am ehesten zu bedauern bei der Nennung absoluter Zahlen im niedrigen Bereich ist, dass die Werte nicht auf den aktuellen Stand gebracht werden konnten. Anzumerken ist aber auch, dass bei der gegenwärtigen raschen Entwicklung der Online-Nachschlagewerke mit ihren Möglichkeiten für flächendeckende Statistiken bei umfassenderen und längerfristig angelegten Forschungsprojekten eine ständige Aktualisierung der quantitativen Analysen arbeitstechnisch schwer möglich ist.

4

Ursula Rautenberg: Die Entstehung und Entwicklung des Buchtitelblatts in der Inkunabelzeit

1 Das frühe Buchtitelblatt als Forschungsproblem 1.1 Einhundertzehn Jahre Forschung zum frühen Buchtitelblatt: Von Alfred W. Pollard bis zur Gegenwart 1.1.1 Ausgangslage Ein Forschungsbericht über die inzwischen einhundertzehnjährige wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Titelblatt liegt bisher nicht vor; selbst neuere Publikationen wie die monographische Studie von Margaret M. Smith (2000) verzichten auf eine ausführliche Darstellung des Forschungsstandes. Der folgende, in den Grundlinien chronologisch angelegte Literaturbericht behebt dieses Desiderat, allerdings ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Lediglich Forschungsbeiträge, die sich insgesamt oder in wichtigen Teilen mit dem frühen Titelblatt auseinandersetzen, sind hier berücksichtigt. Nicht aufgenommen wurden Untersuchungen, die sich punktuell mit der Interpretation einzelner Titelblätter oder spezieller Druckorte ohne Anspruch auf allgemeine Geltung beschäftigen; die Ergebnisse sind an entsprechender Stelle in den allgemeinen Teil und in die Fallstudien eingearbeitet. Der zeitliche Rahmen umfasst die Inkunabelzeit und greift verschiedentlich in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts über. Neben der einschlägigen buchhistorischen Literatur werden typographiegeschichtliche Studien sowie die kunsthistorisch orientierte Titelblatt-Forschung einbezogen. Auf eine breite Referierung kunsthistorischer Ergebnisse, insbesondere zu technischen und stilistischen Entwicklungen, zu einzelnen Künstlern etc. musste verzichtet werden. Ebenfalls nicht oder nur ausnahmsweise hat die Literatur zur Formulierung des Werk- bzw. Sachtitels hier Eingang gefunden. Einen guten Überblick über die literatur- und sprachwissenschaftlich orientierten Arbeiten bietet ein neuerer Lexikonartikel.3 Da die frühe Buchgeschichte zumindest ihrem Anspruch und Untersuchungsraum nach in gesamteuropäischem Zusammenhang steht, ist die fremdsprachige Literatur soweit wie möglich zur Kenntnis genommen worden. Der Schwerpunkt liegt auf der deutschen, englischen und niederländischen Forschung, die französische und italienische wurde so weit wie möglich einbezogen.

1.1.2 Die Anfänge um und nach 1900: Von Pollard zu Haebler und Johnson Den Grundstein für die Erforschung des frühen Titelblatts hat der englische Inkunabelforscher Alfred W. 3 Vgl. die knappe Übersicht bei Rolle: Titel.

Pollard4 mit einem monographisch erschienenen Essay Last words on the history of the title-page with notes on some colophons and twenty-seven facsimiles of title-pages 1891 gelegt. In diese rund vierzig Textseiten umfassende Untersuchung sind zwei kürzere, auf Vorträgen basierende Artikel von 1888 und 1889 eingegangen: daher auch die (missverständliche) Titelformulierung Last words.5 Pollards Ausführungen erstrecken sich von der Inkunabelzeit bis ins 17. Jahrhundert. Er definiert nicht eigens, was er unter einem Titelblatt versteht; aus seinen Ausführungen lässt sich jedoch schließen, dass er buchidentifizierende Angaben zu Beginn des Buchs auf einem separaten Blatt oder einer separaten Seite als Titelblatt bezeichnet, aber herstellungsrelevante Angaben nicht zwingend fordert. Die Beobachtung, dass der mittelalterlichen Handschrift ein Titelblatt fehlt, erklärt Pollard einerseits aus der Sparsamkeit der Mönche oder der Schreiber bei der Verwendung von Pergament oder Papier, andererseits mit ihrer Indifferenz gegenüber bibliographisch relevanten Paratexten: Even when books were written instead of printed it is surprising that the title-page should never have been invented; but the monks were presumably economical, and refused to devote a whole leaf of good paper or parchment to information which could be given in three or four lines. […] When books were few and costly, there was the less need for description, and a label on the upper cover answered all purposes even in a large library. Whatever other interests our medieval forefathers may have possessed, for bibliography they cared nothing.6 Nach einer Diskussion früher Kolophone und der Rolle der Rubrikatoren für die Datierung eines Druckes kommt Pollard auf das Titelblatt zurück: »It is hard to understand how the first printers, who had introduced so mighty a revolution in the art of multiplying books, hesitated for so long over so simple and so sorely needed a reform as the introduction of the title-page.«7 Pollard setzt die Erfindung des Titelblatts nicht vor 1470 an. Zwischen 1480 und 1490 »what may be called the ›label‹ title-page creeps into existence − the shortest possible title of the book printed at the top of a blank page.«8 Damit führt Pollard den Begriff ›Label-Titel‹ (›label-title‹) in die Titelblattforschung ein. Die Titelseite, die den Namen des Druckerverlegers, den Ort und 4 1859−1944, Bibliothekar, 1919−1924 Direktor der Abteilung »Printed Books« der British Museum Library, London. 5 Vgl. Pollard: Last words, Vorwort. 6 Pollard, S. 4 u. 7. 7 Pollard, S. 14. 8 Pollard, S. 15.

1 Das frühe Buchtitelblatt als Forschungsproblem das Jahr der Drucklegung nennt, kommt nach Pollard erst am Ende des 15. Jahrhunderts auf und hat sich allgemein um 1520 durchgesetzt. Vorbildfunktion für die ›moderne‹ Titelseite haben nach Pollard die italienischen Verleger, ebenso wie für das hochwertig illustrierte Titelblatt.9 Pollards wesentlich deskriptiv angelegte Untersuchung bietet eine Fülle von Beobachtungen zum Titelsatz und zum Titelschmuck, allerdings beruht diese überwiegend auf englischen, französischen und italienischen Beispielen. Grundtenor des Artikels ist Pollards Verwunderung darüber, dass eine so nützliche Erfindung wie das Titelblatt (»a simple but most useful innovation«10) erst so spät von den Druckerverlegern akzeptiert worden sei. Warum das so ist und welche Gründe es für die Einführung des Titelblatts als fester Bestandteil des gedruckten Buchs geben könnte, diese Fragen stellt Pollard nicht. Eine längere Passage11 in Last words hat Pollard dem Kolophon als Mittel der Buchkennzeichnung gewidmet. 1906 erscheint seine Monographie An essay on colophons with specimens and translations. Pollard vertritt hier die These, dass die Schlussschrift in der Tradition des Schreiberkolophons weniger der Buchidentifikation diene als dem Stolz des Produzenten auf die geleistete Arbeit: »Colophons, in fact, are the sign and evidence of the printer’s pride in his work, and this is the main clue we have in seeking for them.«12 Aus diesem Grunde haben nach Pollard volkssprachliche Drucke, die von den Zeitgenossen nicht hoch eingeschätzt worden seien, nur selten ein Kolophon, während lateinische wissenschaftliche Bücher im Vergleich dazu häufig eine Schlussschrift aufweisen. Auch in der Titelblattforschung nach Pollard werden regelmäßig Kolophon und Drucker- bzw. Verlegersignet behandelt, da es sich hier um die wichtigsten buchidentifizierenden Schlüssel neben dem Titelblatt handelt. Explizite Thesen über die Beziehung zwischen dem Titelblatt und der Schlussschrift bietet jedoch keiner der Autoren; zu ungeregelt ist die Verwendung des Kolophons im Inkunabel- und Frühdruck, um eine Korrelation − etwa nach dem Muster: ›Wenn ein Kolophon, dann kein Titelblatt bzw. wenn ein Titelblatt, dann kein Kolophon‹ − herzustellen. So ist die Schlussschrift noch im 16. Jahrhundert häufig, als sich das Titelblatt mit herstellungsrelevanten Angaben bereits etabliert hat. Zur Bedeutung der Schlussschrift für die Entstehung und Entwicklung des Titelblatts schreibt Konrad Haebler:

9 10 11 12

Pollard, S. 15 bzw. S. 26. Pollard, S. 15. Pollard, S. 8–13. Pollard: An essay, S. 7.

5 Es wäre nur eine folgerichtige Entwickelung gewesen, wenn sich aus der Schlußschrift der Wiegendrucke ein Schlußtitel herausgebildet hätte. In der Tat weisen eine bescheidene Anzahl von Druckwerken der Inkunabelzeit einen solchen Schlußtitel auf. An eine konsequente Entwicklung [!] wird man aber dabei doch wohl nicht denken dürfen.13 Abschließend fasst Severin Corsten 1995 die Diskussion zusammen: »Der Weg zum Titelblatt ging jedoch nicht von der Schlussschrift aus, sondern vom Incipit.«14 Pollards Arbeiten zum frühen Titelblatt und zum Kolophon haben die nachfolgenden Publikationen nachhaltig beeinflusst. So ist Last words 1971, der Essay on colophons 1968 nachgedruckt worden. Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass Pollard im Jahr 1908 Beobachtungen zum Titelblatt in Karolingischen Handschriften und italienischen Renaissancehandschriften, denen er Einfluss auf gedruckte Titelblätter um 1500 zuschreibt, veröffentlicht: The title-pages in some Italian manuscripts. Nur ein Jahrzehnt nach Pollard legt Theodore Low De Vinne15 A treatise on title-pages with numerous illustrations in facsimile and some observations on the early and recent printing vor, eine umfangreiche Monographie, die auf einem bibliophilen Privatdruck von 1901 (Title-pages as seen by a printer) für die Mitglieder des Grolier Club, New York, basiert und 1974 als Reprint erschienen ist. Es handelt sich um eine Geschichte des Titelsatzes und Titelschmucks von den Anfängen des Buchdrucks bis zum Ende des 19. Jahrhunderts aus der Sicht eines Typographen. Sie umfasst drei Teile. Der erste, historische Teil behandelt den Kolophon − De Vinne führt zahlreiche geometrische Formen für die Textverteilung an − und unterschiedliche Titelblatttypen, gegliedert nach dem verwendetem Titelschmuck bzw. den Hauptformen des typographischen Titels. Da De Vinne außer auf Pollard noch nicht auf einschlägige Literatur für das frühe Titelblatt zurückgreifen kann, geht er von ihm bekannten Drucken selbst aus. Mit diesem reich mit Beispielen und Illustrationen versehenen Werk hat De Vinne ein für die Geschichte der Titelblatttypographie wichtiges Überblickswerk vorgelegt, in dem typographische Regeln und Gestaltungsmittel für den Titelsatz herausgearbeitet und ihre Verwendung in unterschiedlichen Epochen nachgezeichnet werden. Der zweite und dritte Teil der Studie sollen als praktische Anleitung für den Titelsatz dienen. Das deutschsprachige Gegenstück zu De Vinne ist Reinhold Bammes’ Der Titelsatz, seine Entwicklung 13 Haebler: Inkunabelkunde, S. 120. − Zum Schlusstitel vgl. auch Smith: The end-title. 14 Corsten: Die Erfindung, S. 192 und Anm. 231 unter Verweis auf Haebler, Schottenloher, Kiessling, Geldner und Schmitt. 15 1828−1912, Typograph und Drucker in New York.

6

Ursula Rautenberg: Die Entstehung und Entwicklung des Buchtitelblatts in der Inkunabelzeit

und seine Grundsätze, zuerst 1911, 1918 in zweiter, vermehrter Auflage erschienen. Auch Bammes schreibt eine Geschichte der Titelblattgestaltung von den Anfängen bis zur Moderne, die in Regeln für den Titelsatz mündet. Seine Beobachtungen zum frühen Buchtitelblatt gehen nicht über das bereits Bekannte hinaus. Dies gilt auch für den kurzen Aufsatz von Karl Schottenloher16 Über Titelsatz, Schrift und Satzspiegel im alten und neuen Buch (1939). Mit Konrad Haebler17 setzt die engere buchkundliche Titelblattforschung nach Pollard wieder ein. Es ist Haeblers Verdienst, als erster in seinem Handbuch der Inkunabelkunde 192518 auf den Buchbeginn mit einer Leerseite oder einem Leerblatt aufmerksam gemacht zu haben, eine Beobachtung, die in Pollards Last words fehlt, aber von großer Bedeutung ist. Haebler bemerkt, dass bereits 1464 die ersten Beispiele von Leerseiten zum Beginn des Buchblocks auftauchen, und »von 1470 an kommt die Gepflogenheit allerorten in Übung, ohne jedoch konsequent durchgeführt zu werden«.19 Die Leerseite oder das Leerblatt haben nach Haebler die Funktion, den Textbeginn vor Verschmutzung zu schützen: Sehr bald aber kamen die Drucker zu der Erkenntnis, daß das erste Blatt eines Druckes besonderen Gefahren ausgesetzt war. Wenn die gebrochenen und zu einem Exemplar vereinigten Bogen des Druckwerks nicht alsbald mit einem festen Einbande versehen werden konnten − und das ist wahrscheinlich bei weitem häufiger der Fall gewesen, als man auf den ersten Blick anzunehmen geneigt ist − mussten die äußeren Blätter durch Beschmutzung und Abnutzung erheblich beschädigt werden.20 Haebler formuliert vorsichtig und stellt noch keine explizite Verbindung zwischen dem Leerblatt und der Entstehung des Titelblatts her. Alfred Forbes Johnson tut diesen zweiten Schritt wenig später unter Berufung auf Haebler. Dieser wichtige Zusammenhang von Leerblatt bzw. Leerseite und Titelblatt wird allerdings bis ins letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts nicht weiter verfolgt. Er wird z. B. auch von Ferdinand Geldner in seinem Handbuch Inkunabelkunde 1978 nicht erwähnt. Immerhin resümiert Severin Corsten 1995: Schon früh hatte es sich eingebürgert, daß man zum Schutz der ersten Textseite das erste Blatt des 16 1878−1954, Bibliothekar, seit 1908 an der Bayerischen Staatsbibliothek München, ab 1929 Direktor der Katalogabteilung. 17 1857−1946, Bibliothekar, Druckforscher und Typenkundler; seit 1914 Direktor der Handschriftenabteilung der Königlichen Bibliothek Berlin. 18 Haebler: Inkunabelkunde, S. 115–132. 19 Haebler, S. 116. 20 Haebler, S. 116.

Bogens unbedruckt ließ. Es lag nahe, aus rein praktischen Gründen auf der Recto-Seite dieses Schutzblattes kurz und bündig den Inhalt des Buches anzugeben. Dieser Brauch kam Mitte der achtziger Jahre in Straßburg auf.21 Erst Jan Willem Klein und Margaret M. Smith belegen und erhärten am Ende des 20. Jahrhunderts in statistischen Untersuchungen die Bedeutung von Leerblatt und Leerseite für die Entstehung des Titelblatts. 1927 veröffentlicht Moriz Sondheim22 einen Vortrag Das Titelblatt in der Reihe Kleiner Druck der Gutenberg-Gesellschaft. Anlass war eine Ausstellung »Der schöne Buchtitel im Laufe der Jahrhunderte« im Frankfurter Kunstgewerbe-Museum. Neben der Aufzählung früher Titelblätter bietet die Abhandlung wenig Neues. Auffallend ist die These, aus dem Wettbewerb der Drucker untereinander entstehe das ›schöne‹ (d. h. illustrierte) Titelblatt als Blickfang für den Käufer, wobei Sondheim die auf den frühen Buchhandel nur zum Teil zutreffende Vorstellung vom Vertrieb über den Platzhandel und die Auslage im Buchladen unterstellt: Bei der Untersuchung dieser Vorläufer unseres Titelblattes [sc. Konrad Fyner, Esslingen 1773 und Bernhard Maler, Peter Löslein, Erhard Ratdolt, Venedig 1476] habe ich die Überzeugung gewonnen, daß es ihren Druckern nicht darauf ankam den Titel des Buchs genau zu formulieren, sondern das Buch zu empfehlen, um seinen Vertrieb zu erleichtern. Denn bei dem wachsenden Wettbewerb der schnell sich vermehrenden Druckereien wurde es immer schwieriger die Bücher an den Mann zu bringen. […] Das Titelblatt ist aus der Notwendigkeit entstanden Reklame zu machen. In der Auslage des Buchführers sollte es das Buch empfehlen und die Käufer herbeilocken und fesseln.23 Sondheim ist der erste, der die These einer Entstehung des Titelblatts aus den Marktbedingungen für das gedruckte Buch formuliert. Gustav Adolf Erich Bogeng wird dies 1929 in seine Überlegungen aufnehmen und weiter ausführen. Auf Sondheim stützt sich Werner Kienitz wenig später in seiner Dissertation Formen literarischer Ankündigung im 15. und 16. Jahrhundert (1930), der werbende Elemente auf dem Titelblatt untersucht. Ähnlich wie Sondheim formuliert noch Horst Kunze in seiner Geschichte der Buchillustration in Deutschland 1975: Mit dem Aufbau eines buchhändlerischen Vertriebssystems erwies es sich jedoch als nützlich, 21 Corsten: Die Erfindung, S. 192. 22 1860−1944, Antiquar und Teilhaber (ab 1900 bis zur Enteignung 1934 durch die Nationalsozialisten) der Firma Joseph Baer & Co. in Frankfurt a. M. 23 Sondheim: Titelblatt, S. 7.

1 Das frühe Buchtitelblatt als Forschungsproblem die Inhalte der in den Druckerstuben oder auf Märkten feilgebotenen Bucherzeugnisse schon äußerlich sichtbar zu machen: Die Werbung für das Buch hat an der Wiege des Titelblatts gestanden.24 Alfred Forbes Johnson nimmt im Vorwort zu seinem Katalog One hundred title-pages von 1928 die bisher erreichten Forschungsergebnisse auf, insbesondere beruft er sich auf Haebler: The title-page owes its origin, according to one theory, to the fact that printers found it necessary to protect the first leaf of the text. Whereas a manuscript would be bound as soon as the calligrapher had finished the text, most of the copies of a printed edition were delivered to a bookseller in sheets, and many might remain unbound for years. Hence arose the practice of beginning the book on the second leaf or on the back of the first leaf. The first page could then be used for the purpose of advertising the book, for the fully-developed titlepage arose out of commercial need.25 Ein nur wenige Seiten umfassender Aufsatz von Johnson,26 ebenfalls aus dem Jahr 1928, bietet einen knappen Überblick über das Titelblatt bis ins 18. Jahrhundert. Der Schwerpunkt liegt auf der Titelblattgestaltung, wobei die inzwischen geläufigen Entstehungstheorien − Schutz des Textbeginns und kommerzielle Strategien − aufgegriffen werden.27 Zum illustrierten Titelblatt des 16. Jahrhunderts liegen weiter verschiedene umfangreiche Abbildungsbände von Johnson vor.28

1.1.3 Der Leipziger Sammelband »Das Titelblatt im Wandel der Zeit« (1929) Die erste umfassende deutschsprachige Publikation zum Titelblatt, Das Titelblatt im Wandel der Zeit, erscheint im dritten Jahrgang von Buch und Schrift. Jahrbuch des Deutschen Vereins für Buchwesen und Schrifttum 1929 [1930] in Leipzig. Aus diesem Sammelband hervorzuheben ist der Aufsatz von Gustav

24 Kunze: Geschichte der Buchillustration, 15. Jahrhundert, Bd. 1, S. 189. 25 Johnson, One hundred title-pages, S. Vf. 26 1884−1972, Bibliothekar, seit 1908 Mitarbeiter an der Abteilung »Printed Books« der British Museum Library, London. 27 Johnson: Title-pages, S. 288. 28 Neben der genannten Publikation: A catalogue of engraved and etched English title-pages; A catalogue of Italien engraved title-pages in the 16th century; German Renaissance title-borders. − Der Aufsatz von Mortimer, »Dimensions of the Renaissance title-page« (1981), beschreibt ausgewählte Titelblätter mit Renaissance-Ornamentik; die einleitenden Passagen zur Entwicklung des Titelblatts berücksichtigen weder den damaligen Forschungsstand noch ist die Literatur zur Kenntnis genommen worden.

7 Adolf Erich Bogeng29 Über die Entstehung und die Fortbildungen des Titelblattes. Nach Pollards Last words und den knappen Bemerkungen Haeblers in seiner Inkunabelkunde – beide Publikationen sind grundlegend für die weitere Titelblattforschung – legt Bogeng auf nur zwanzig Seiten eine Fülle von Überlegungen vor, die bis heute Geltung beanspruchen können.30 Bogeng versteht sich, anders als Pollard und Haebler, nicht als Inkunabel- und Druckforscher, der sich auf Typographie und Druckprozess konzentriert. Bezeichnenderweise greift er an keiner Stelle explizit auf die vorhergehende Forschung zurück. Der Aufsatz des Privatgelehrten enthält zudem keine Anmerkungen. Bogeng schlägt den Weg des Bibliographen ein, der das Buch als Teil des frühmodernen Kommunikationssystems begreift. Seine Studie ist im Ansatz mediengeschichtlich ausgerichtet. Das Titelblatt sei von Bedeutung, weil es Metadaten des Buchs an herausgehobener Stelle vereine. Die ökonomischen und technischen Voraussetzungen der mechanischen Buchproduktion, nicht zuletzt aber die Entstehung eines literarischen Bewusstseins bei den Autoren führen nach Bogeng zum Entstehen des Titelblatts. Aus literatursoziologischer Sicht legt Bogeng fruchtbare Ansätze einer systematischen Reflexion über das Titelblatt vor, die leider in der weiteren Titelblattforschung gegenüber der druckanalytischen Sicht auf das Titelblatt ohne Nachfolge bleiben.31 Bogeng beginnt mit der Feststellung, dass Einrichtung und Aussehen des Buchs zunächst dem mittelalterlichen Vorbild folgen. Erst nach und nach hätten sich die spezifischen Eigenschaften des gedruckten Buchs entwickelt, wobei das Titelblatt gegen Ende dieses Prozesses der sichtbarste Bruch mit der mittelalterlichen Buchtradition sei: Allmählich nur begann es aus den Bedürfnissen eines Massen- und Schnell-Vervielfältigungs-Verfahrens, zumal aus denen einer exakten Rationaltechnik der Typographie und denen einer öffentlichen literarischen Produktion, die eigenen Eigenschaften eines Buchdruckwerkes mit den Fortbildungen zur Verselbständigung des neuen Vervielfältigungs-Verfahrens anzunehmen, deren Abschluß

29 1881−1960, Privatgelehrter und Bibliophile; Hauptwerk »Die großen Bibliophilen« 1922. 30 Eine Zusammenfassung mit kulturkritisch-pessimistischem Unterton, die nicht das Niveau des ursprünglichen Aufsatzes erreicht, hat Bogeng 1940 in der Zeitschrift »Der Türmer« veröffentlicht. 31 So auch Rothe: Das Titelblatt als System, S. 27: »Im übrigen wurde der systematische Ansatz gegenüber dem historischen bisher vernachlässigt. Eine gewisse Ausnahme bildet allerdings G. A. E. Bogeng (1929).«

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Ursula Rautenberg: Die Entstehung und Entwicklung des Buchtitelblatts in der Inkunabelzeit in manchen Beziehungen durch die Ausbildung des Titelblattes gekennzeichnet wird.32

Für Bogeng gipfelt die Entwicklung von der »kollektiv-statischen« Einzelhandschrift zum »neuzeitlichindividualistischen« Auflagendruck in der Originaledition. Das Titelblatt habe zwar die Aufgabe, jedes Exemplar einer Auflage mit dem anderen zu verbinden − die Kennzeichnung des Buchs über seine auf dem Titel versammelten Metadaten ermöglicht das vom Exemplar unabhängige Zitierwesen −, sei aber darüber hinaus Ausdruck des Bedürfnisses nach dem »richtigen Text«. Dieser werde durch den Kastigator bzw. Korrektor, den Verleger und, nicht zuletzt, den Autor garantiert: Die Bedeutung des modernen Titelblattes gründete sich von drei Richtungen her, welche am Anfange des 16. Jahrhunderts in einer neuartigen Begriffsbildung, der der Originaledition, zusammentrafen. Die Autorität ihres Titels und mit ihr die ihres Titelblattes beruhte auf der vom Verfasser anerkannten und dem Verleger berechtigten Ausgabe, die dazu dem Verleger amtlich erlaubt und auch geschützt war. In diesen drei Beziehungen dokumentierte fortan das Titelblatt das Buchdruckwerk. […] Die im Begriff der Originaledition sich von überallher verdichtenden literarischen und merkantilen Interessen verliehen so im 16. Jahrhundert dem Titelblatt Inhaltswerte, die sich in der Behauptung eines ausschließlichen Rechtes auf den Originaltitel zusammenfaßten.33 Von diesem zentralen Punkt her seien die auf dem Titelblatt gespeicherten Informationen und die Bedeutung des Titelblatts für den Buchhandel im weitesten Sinne zu verstehen. Dem Bewusstsein von der persönlichen Leistung des Urhebers, die sich in einem ›originalen‹ Text manifestiere, stehe der Verleger gegenüber, der die Verbreitung dieser eigenständigen geistigen Leistung ohne Verfälschung in der Auflage gewährleistet. An diese wende sich die Pressegesetzgebung, indem sie eine Nennung an exponierter Stelle im Druckwerk fordere. Von der Originalausgabe verspreche man sich einen ökonomischen Vorteil im Wettbewerb mit anderen Verlegern (und hieraus resultiere die Abwertung des Nachdrucks), der – nach Bogeng – fortan rechtlich geschützt werde. All dies werde sichtbar auf dem Titelblatt: mit der individuellen Werkbezeichnung in der Titelformulierung, dem Auftreten des Autors, Bearbeiters oder Herausgebers und nicht zuletzt der Untergruppe, die − im Gegensatz zum Kolophon − nicht den Drucker (oder Schreiber) nennt, sondern den Verleger: »Damit hatte sich auch das Buch von einer graphischen 32 Bogeng: Entstehung und Fortbildungen des Titelblatts, S. 74. 33 Bogeng, S. 79f. u. 83.

Reproduktion zu einer literarischen Repräsentation individualisiert, der Band, der ein Schriftwerk verkörperte, vertrat dessen Urheber selbst beim Leser.«34 Alles Weitere, die Entstehung des Titelbogens mit umfangreichen Äußerungen aller beteiligten Urheber, die gegenüber dem Werksatz freiere und ornamentale Titelblattgestaltung, die Formulierung eines den Werkinhalt umfassenden knappen Werktitels, entstehe aus dieser neuen Positionierung des Buchs als Überlieferungsträger. Seine dichten Thesen hat Bogeng nur ausnahmsweise an Beispielen belegt. Es bleibt die Aufgabe, die seit Bogeng in der Titelblattforschung erzielten Ergebnisse mit seinen Überlegungen abzugleichen. Kritisch ist zu fragen, ob Bogeng nicht eine an modernen Vorstellungen geschulte Auffassung des materiellen und geistigen Urhebers zu bruchlos auf die frühe Neuzeit überträgt. In der neueren Titelblattforschung schließt noch am ehesten Eleanor F. Shevlin − allerdings ohne auf Bogengs Aufsatz Bezug zu nehmen − an diese Überlegungen an. In dem 1999 erschienenen Aufsatz, ›To Reconcile Book and Title, and Make ’em Kin to One Another‹. The Evaluation of the Title’s Contractual Functions, untersucht sie am Beispiel englischer Titelformulierungen des 16. bis 18. Jahrhunderts deren kommerzielle und rechtliche Bedeutung.35 Neben Bogengs Aufsatz enthält der Leipziger Sammelband eine umfassende und reich illustrierte Abhandlung von Gerhard Kiessling: Die Anfänge des Titelblattes in der Blütezeit des deutschen Holzschnitts (1470−1530). Kiessling widmet sich dem Randornament, wobei er eine starke Kontinuität von der illustrierten ersten Seite der mittelalterlichen Handschrift zur Holzschnittbordüre im gedruckten Buch konstatiert; dies gilt nach Kiessling auch für den Initialschmuck. Der Zusammenhang zwischen der Gestaltung der ersten Textseite und dem Titelblatt wird hier erstmals ins Zentrum gestellt. Die ersten Holzschnittbordüren erscheinen in Augsburg, als Günter Zainer in 1472 Holzschnittranken des Meisters des Ulmer Boccaccio für die Bucheinleitung verwendet.36 Kiessling nimmt leider keine Unterscheidung zwischen der Bordüre als Schmuck der Textseite und auf der Titelseite vor, so dass seine Ausführungen im Hinblick auf das Titelblatt wenig ergiebig sind. Nach Kiessling entwickelt sich in der Folge aus der Umrahmung des Textblocks mit vier einzelnen Leisten der geschlossene Titelrahmen, der durch Hans Baldung Grien zum Architekturrahmen 34 Bogeng, S. 81. 35 Leider wird die französische und deutschsprachige Literatur ausgeblendet; Shevlin verweist zwar in einer Fußnote auf die umfangreichen Monographien von Hoeck und Rothe, »but neither has yet been translated into English«; Shevlin: To Reconcile, S. 70. 36 Kiessling: Die Anfänge, S. 12.

1 Das frühe Buchtitelblatt als Forschungsproblem fortentwickelt wird. Diese Verschmelzung von Schriftund Bildfeld könne auch erreicht werden, indem die sprachlichen Elemente in den Titelholzschnitt integriert werden. Im Einleitungsholzschnitt, der allerdings an den Beginn des Textes gebunden bleibt, wenn diesem ein Register vorgeschaltet ist, sieht Kiessling ebenso wie in der ornamentalen Bordüre und im Titelholzschnitt künstlerische Mittel, die die Entstehung der Titelseite begünstigen.37 Denn das Problem der frühen Drucker sei es gewesen, die (noch) sehr sparsamen Informationen zur Buchkennzeichnung auf der weißen Fläche anzuordnen. Als ästhetisch gelungene Lösung verweist Kiessling auf den Holzschnitttitel, worunter er die in einen Holzblock geschnittene Titelformulierung versteht. Dieser ist nicht selten von bedeutenden Künstlern entworfen worden, so z. B. von Albrecht Dürer, und dem Typensatz durch seine individuelle Gestaltung der Schrift überlegen, vor allem aber durch die im Typenguss schwer oder gar nicht zu erzielenden großen Schriftgrade und die Verbindung der Buchstaben untereinander. Der Titelsatz mit gegossenen Typen dagegen werde bis um 1530 häufig als geschlossener Titelsatz in geometrischen Formen ausgeführt.38 An Kiesslings Untersuchung schließt sich thematisch und chronologisch eine Abhandlung von Erich von Rath Zur Entwicklung de Kupferstichtitels an. Mit dem Versiegen der im Holzschnitt ausgeführten Titelrahmung gehe die Portalarchitektur, stilistisch beeinflusst von italienischer Renaissance-Ornamentik, in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts an den Kupferstichtitel über. Ebenfalls im Jahrbuch Buch und Schrift hatte Karl Schottenloher im Jahr zuvor die Sonderform des Holzschnitttitels behandelt. In einem kurzen Aufsatz wird Der Holzschnitt-Titel im Buch der Frühdruckzeit, an Beispielen vollständiger xylographischer Titelseiten mit Illustrationen behandelt. Die Fülle der nach Johnson und dem Leipziger Sammelband publizierten Untersuchungen zum illustrierten Titelblatt, in denen zumeist das kunsthistorische Interesse dominiert, kann hier nicht berücksichtigt werden. Eine kurze Übersicht zum illustrierten Titelblatt in Deutschland gibt Horst Kunze 1993.39 Erwähnt sei hier lediglich ein wenige Seiten umfassender Aufsatz von Hans Heinrich Bockwitz Warum 37 Zur Diskussion um den Einleitungsholzschnitt in seiner Bedeutung für das Titelblatt s. die Fallstudie Augsburg im folgenden Band. 38 Bereits De Vinne: The practise, behandelt den Figurensatz ausführlich bei der Schlussschrift. 39 Kunze: Geschichte der Buchillustration, 16. und 17. Jahrhundert, Bd. 1, S. 142–156; »Den müßigen Streit, wer das Titelblatt ›erfunden‹ […], überlassen wir buchhistorischen Quizfreunden und steuern sogleich die Titeleientwicklung im 16. und 17. Jahrhundert an, nachdem wir uns seiner Herausbildung im 15. Jahrhundert erinnert haben. Die Werbefunktion unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten ist uns bereits geläufig […]« (S. 142).

9 hat die Inkunabel kein Titelblatt? im Archiv für Kunstgewerbe und Gebrauchsgrafik von 1941, der allerdings keine neuen Erkenntnisse enthält. Seine Ausgangsfrage nach der Entstehung des Titelblatts beantwortet Bockwitz: […] es war eben schwierig, ohne Vorbild zu arbeiten und selbst etwas ganz Neues zu erfinden; denn die typographische Gestaltung eines Titelblattes war damals, wie noch heute, keine leichte Aufgabe. Dennoch schwebte den Frühdruckern deutlich vor, daß ein Buch sozusagen einer Visitenkarte bedürfe, um den Blick des Interessenten auf sich zu ziehen, war doch der tiefere Grund, aus welchem heraus das Titelblatt schließlich zustande kam, der einer Werbung für das Buch.40

1.1.4 Die Titelblattforschung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: länderspezifische Fokussierung und das Titelblatt volkssprachlicher Drucke Handbücher spiegeln in der Regel den aktuellen Forschungsstand auf einem bestimmten Arbeitsgebiet wider. Ferdinand Geldners Inkunabelkunde aus dem Jahr 1978 enthält ein Kapitel Titel und Titelblätter, das diesen Anspruch allerdings nicht erfüllt.41 Geldners reicher Erfahrungsschatz äußert sich in langwierigen Aufzählungen, so z. B. von Titelblättern auf Bibelausgaben oder zu Titelblättern einzelner Druckregionen. Insgesamt bietet Geldner wenig mehr als eine positivistische Faktensammlung. Leider scheint es auch Geldner zu sein, der die irreführende Bezeichnung »Schmutztitel«42 für den Label-Titel einführt. 1969 erscheint die zweibändige Untersuchung von Francesco Barberi43 Il frontespizio nel libro italiano del Quattocento e del Cinquecento, die das italienische Buchtitelblatt im 15. und 16. Jahrhundert umfassend abhandelt. Damit wird erstmals eine länderspezifische Entwicklungsgeschichte des frühen Buchtitelblatts vorgelegt. Der erste Band enthält Kapitel zum Handschriften-Titelblatt, zum Inkunabel-Titelblatt und zum Titelblatt im Buch des 16. Jahrhunderts in Italien. Er wird ergänzt durch einen Tafelband mit 135 ganzseitigen Abbildungen. Barberi bietet anhand einer Fülle von einzelnen Beobachtungen einen profunden Überblick über die Formen und die Entwicklung des italienischen Titelblatts. Einen Schwerpunkt setzt Barberi auf den Titelschmuck und die Titelillustration. Das besondere Verdienst dieses leider 40 Bockwitz: Warum hat die Inkunabel, S. 300 u. 304. 41 Geldner: Inkunabelkunde, S. 107–112. 42 Geldner, S. 108. 43 1905–1988, Bibliothekar, u. a. 1944–1952 Direktor der Biblioteca Angelica di Roma; Dozent für Bibliothekswissenschaft an der Università di Roma.

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Ursula Rautenberg: Die Entstehung und Entwicklung des Buchtitelblatts in der Inkunabelzeit

international zu wenig beachteten Standardwerks liegt jedoch für die Titelblattforschung vor allem in der systematischen Analyse der Beziehung von Bucheröffnung und Titelblatt, des typographischen Titelblatts, der Formulierung seiner Bestandteile und ihrer Gestaltung sowie des illustrierten Titelblatts. Barberi geht nicht über eine beschreibende Bestandsaufnahme des Materials hinaus und verzichtet auf Funktionsbestimmungen früher italienischer Titelblätter für die Buchidentifizierung und den Buchhandel, zudem nimmt er keine drucker- oder druckortbezogene Interpretationen vor. Eine buchökonomische oder produzenten- und produktionsorientierte Perspektive fehlt gänzlich. Dennoch stellt Barberi wertvolles Vergleichsmaterial zur Verfügung. – Hingewiesen sei noch auf einen weiteren Aufsatz des Verfassers zur Titeleinfassung im 16. Jahrhundert: Derivazioni di frontespizi (1969). Im Rahmen eines Ausstellungskataloges der Nationalbibliothek Rom erscheint 1989 ein Aufsatz von Paolo Veneziani Il frontespizio come etichetta del prodotto zum italienischen Titelblatt bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, der die Funktion von Druckerund Verlegermarken betont. Im Anschluss an Barberi hat Lorenzo Baldacchini 2004 eine knappe, monographisch erschienene Übersicht Aspettando il frontespizio. Pagine bianche, occhietti e colophon nel libro antico publiziert. Baldacchini behandelt in einzelnen Kapiteln u. a. das Verhältnis von Titel und Incipit, Leerblatt bzw. Leerseite, das illustrierte Titelblatt und die Schlussschrift auf der Grundlage einer statistischen Auswertung des ISTC, ergänzt neuere Sekundärliteratur. Der Schwerpunkt der Abhandlung liegt auf Italien. Rudolf Hirsch hat sich in zwei jeweils nur wenige Seiten umfassenden Artikeln (beide erschienen 1978) zum Inkunabeltitelblatt geäußert. In Title pages in French incunables, 1486−1500 nennt Hirsch die Zahl von 1500 Titelblättern für die Inkunabelzeit, die neben dem Autor und/oder dem Titel Drucker, Verleger oder Buchhändler auf dem Titelblatt nennen, manchmal auch Erscheinungsdatum und -ort. Rund 70 % davon wurden in Paris, Lyon, Poitiers und Rouen gedruckt. Die statistische Analyse beruht auf der Durchsicht der einschlägigen Inkunabelbibliographien. Hirsch gibt darüber hinaus Übersichten über die größten Titelblattproduzenten in Frankreich (angeführt mit großem Abstand vom Pariser Verleger Jean Petit) sowie Werkausgaben mit Titelblättern in fünf oder mehr Ausgaben. Da bis heute keine weitere statistische Analyse zum französischen Inkunabeltitelblatt vorliegt, muss auf Hirschs Zahlenangeben − trotz wenig zuverlässiger Methodik − zurückgegriffen werden. Der nur wenig später entstandene Vortrag The earliest development of title pages. 1470–1479 (1977)

für den Philobiblon-Club, Philadelphia, wiederholt diese Zahlen, spezifiziert aber den Anteil von Titelblättern für die Inkunabelzeit auf 5−6 % der Gesamtproduktion. Hirsch geht von einer Definition des Titelblatts aus, die herstellungsrelevante Metadaten als notwendig erachtet (»true title page«).44 Die erschienene Literatur zum Inkunabeltitelblatt berücksichtigt er nicht. Hirsch hat das Verdienst, als erster auf die frühen Titelblätter des Nürnberger Autors und Druckers Hans Folz hinzuweisen: »Quite unexpectedly the first person who made full use of title pages was a barber-physician, poet and printer, a native of Worms named Hans Folz«.45 Ein knapper, aber informativer Überblick zur Entwicklung des französischen Inkunabeltitelblatts findet sich im ersten Band der Histoire de l’edition française 1982.46 Alfred Labarre gliedert den zeitlichen Verlauf in die Stufen Leerblatt oder Leerseite, Label-Titel (»libellé«) und dessen Erweiterung mit einem Holzschnitt oder einer Druckermarke sowie dem Impressum. Im Gegensatz zu Hirsch und dessen Beschränkung auf vollständige Titelblätter verweist Labarre darauf, dass die frühesten französischen Titelblätter um 1484/85 in kleinen Provinzdruckereien (u. a. Chambéry, Vienne, Bréhan-Loudéac, Rennes) erschienen sind. Es handelt sich um die schlichten typographischen Titelblätter mit einer knappen Werkkennzeichnung. Die erste Druckermarke auf dem Titelblatt stammt von 1483 (Paris, Guy Marchant), 1488/89 findet man die erste Herkunftsangabe (Paris, Jean Dupré). Im letzten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts werden Impressumsangaben häufiger, die Gewohnheit, diese an den Fuß der Seite zu setzen, etabliert sich um die Mitte des Jahrzehnts. Seit den 1970er Jahren sind mehrere Beiträge zum frühen Buchtitelblatt volkssprachlicher Drucke der Unterhaltungs- und Erbauungsliteratur erschienen. Den Beginn macht Anneliese Schmitt, langjährige Mitarbeiterin an der Berliner Arbeitsstelle des Gesamtkatalogs der Wiegendrucke, mit einem 1974 abgeschlossenen, aber erst 1983 erschienenen Aufsatz Zur Entwicklung von Titelblatt und Titel in der Inkunabelzeit. Hinter der weiten Titelformulierung steht eine Untersuchung der in Augsburg gedruckten − von Schmitt als ›Volksbücher‹ bezeichneten − Prosaromane und populärer Gebrauchsliteratur. Nach Schmitt beginnt mit Johann Schönsperger d. Ä. »eine neue Etappe im Gebrauch des Titelblattes für volkstümliche Literatur«.47 Trotz detaillierter Beschreibungen der Titelblattproduktion von Johann Bämler, Anton Sorg und Schönsperger ist diese an einem schmalen 44 Hirsch: The earliest development, S. XVII/5. 45 Hirsch, S. XVII/7. 46 Alfred Labarre: Les incunables: la présentation du livre. In: Histoire, S. 228–255. 47 Schmitt: Zur Entwicklung von Titelblatt, S. 28.

1 Das frühe Buchtitelblatt als Forschungsproblem Corpus gewonnene Verallgemeinerung nicht haltbar. Dem steht die späte Einführung des Titelblatts in Augsburg generell bei einer niedrigeren Titelblattzahl in Druckorten wie z. B. Köln, Straßburg und Nürnberg gegenüber. Zudem hat Augsburg den Sonderfall einer Bucheröffnung durch den Einleitungsholzschnitt aufzuweisen, der die Einführung des typographischen Titelblatts verzögert.48 Hans-Joachim Koppitz behandelt in einer Monographie Studien zur Tradierung der weltlichen mittelhochdeutschen Epik im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert von 1980 auch das Titelblatt der deutschen Frühdrucke, beschränkt sich aber auf die Formulierungen des Werktitels auf dem Titelblatt oder im Incipit und die darin vorkommenden Epitheta: Wenn nur von dem Nutzen der Lektüre die Rede ist, dann ist das Buch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu Beginn der 70er Jahre erschienen; wenn außerdem gesagt wird, das Buch sei sehr schön, hübsch und (oder) lieblich zu lesen, dann stammt es offenbar aus der zweiten Hälfte der 70er Jahre; und wenn daneben noch oder hauptsächlich Kurzweil bei der Lektüre versprochen wird, dann ist es kaum vor den 80er Jahren gedruckt worden.49 Von diesen − allerdings textsortenspezifischen und damit nur eingeschränkt verallgemeinerbaren Beobachtungen − schließt Koppitz auf die Ausbildung des Titelblatts durch die wachsende Konkurrenz auf dem Büchermarkt, die die Anpreisung nötig mache.50 Ähnlich argumentiert Yves G. Vermeulen in zwei Aufsätzen zum niederländischen volkssprachlichen Titelblatt. Das erste Titelblatt ist − nach seinem 1982/83 erschienenen Aufsatz zur Textpräsentation niederländischer Unterhaltungs- und Erbauungsliteratur − um 1483 bei Jacob Bellaert erschienen. Bereits 1487 werde das Titelblatt mit einem Schlagworttitel Allgemeingut. Um 1500 preisen lange Titelformulierungen das Werk und den Druck an.51 Die werbenden Titelblätter untersucht Vermeulen genauer 1984: Reclame op de vroegste Nederlandstalige titelpagina’s. In der 1986 erschienenen Dissertation des Autors ›Tot profijt en genoegen‹. Motiveeringen voor de produktie van Nederlandstalige gedrukte teksten 1477−1540 werden diese Vorstudien vertieft. Vermeulen analysiert die gesamte niederländische volkssprachliche Druckproduktion nach Erstdrucken (242 Erstdrucke bis Ende 1500; 666 Erstdrucke bis Ende 1540) auf paratextuelle Elemente (»presentatiekennmerken«: u. a. Titelblatt, Prolog, Incipittitel, Epilog und Kolophon). Sein Zugang ist überwiegend statis48 49 50 51

Siehe Fallstudie Augsburg im folgenden Band. Koppitz: Studien zur Tradierung, S. 195. Koppitz, S. 192. Vermeulen: Een schoon historie, S. 255.

11 tisch. 525 Ausgaben haben danach ein Titelblatt, 304 einen Prolog und 556 eine Schlussschrift.52 Eine statistische Analyse über die Verwendung von Titelblättern im zeitlichen Verlauf erfolgt nicht, ebenso wenig eine detaillierte inhaltliche Analyse. Das Hauptaugenmerk der Studie liegt auf anpreisenden, d. h. für Buch und Text werbenden Bemerkungen in den genannten Paratexten. Während in handschriftlichen Fassungen leserlenkende Elemente kaum vorkommen, nehmen diese in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, besonders in religiösen Texten zu, die nicht mehr zum Vorlesen, sondern zum Selbststudium dienen: In de vijftiende eeuw, met name in de tweede helft ervan, worden dan steeds meer tractaten, bedoeld om zelf te lezen, voorzien van (voornamelijk religieuze) aanprijzingen. Teksten die niet meer voorgedragen worden, moeten op een andere manier appelleren aan het publiek dan voorheen. Daarom krijgen de teksten steeds meer een soort van titel of opschrift en verschijnen er steeds meer aanprijzingen. De producenten van het gedrukte boek brengen deze ontwikkeling in een stroomversnelling en vestigen voorgoed zowel titel als aanprijzing als vast onderdeel bij de presentatie van het gedrukte boek.53 Vermeulens Publikation hat das Verdienst, bereits zu einem frühen Zeitpunkt systematisch und mit statistischen Methoden den Zusammenhang von werbenden und leserlenkenden Bemerkungen zu untersuchen und auf den Warencharakter des Buchs zu beziehen. Zudem sieht er einen Zusammenhang zwischen anpreisenden Formulierungen und Buchtypen. Er stellt die These auf, dass der mittelalterliche Buchkäufer bereits anhand des Titelblatts und des Prologs feststellen konnte, welche Art von Buch er vor sich hatte: »Dat was althans de bedoeling van de producent bij het uitbrengen van zijn teksten en dat was war de consument verwachtte bij het kopen en lezen.«54 Dies belegt er durch ausführliche Analysen der häufig vorkommenden Wörter in ihrem Verwendungskontext und im Rückgriff auf rhetorische Traditionen der Artes-Literatur, so z. B. »gheneochlijc«, »troostelijc«, »nieu«, »cort« und »waerachtich«. Peter M. H. Cuijpers untersucht in seiner umfangreichen Monographie Teksten als koopwaar: vroege drukkers verkennen de markt. Een kwantitatieve analyse van de productie van de Nederlandstalige boeken (tot circa 1550) en de ›lezershulp‹ in de seculiere prozateksten (1998) u. a. ebenfalls Präsentationsformen und werbende Elemente in der niederländischen volkssprachlichen Druckproduktion. Ein kurzes Kapi52 Vermeulen: Tot profijt, S. 35. 53 Vermeulen, S. 65. 54 Vermeulen, S. 194.

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Ursula Rautenberg: Die Entstehung und Entwicklung des Buchtitelblatts in der Inkunabelzeit

tel zum Titelblatt resümiert die Ergebnisse anhand einer Stichprobe von knapp sechzig Ausgaben (Abenteuerromane und didaktische Literatur). Danach haben nach 1485 alle Ausgaben dieser Textsorten ein Titelblatt mit einem Titelholzschnitt.55 Beiläufig nennt Cuijpers zwei Gründe für die Entstehung des Titelblatts. Während es sich bei den mittelalterlichen Handschriften oft um Sammelhandschriften handele, die nicht insgesamt auf einem Titel angekündigt werden könnten, bevorzuge der Buchdruck die Vereinzelung von Texten, für die sich ein eigenes Titelblatt lohne. Zudem müssten gedruckte Bücher nach ihrer Herstellung verkauft werden, wobei ein werbendes Titelblatt helfen könne.56 Zusammenfassend kommt Cuijpers, Vermeulen relativierend, zu dem Ergebnis, dass die frühen Druckerverleger, die er meist als Kleinunternehmer sieht, recht wenig getan hätten, um neue, lateinunkundige Leserschichten an sich zu binden. Ausnahmen seien das Titelblatt und die Einführung des Oktavformats nach 1490 für religiöse Literatur.57 Das Titelblatt im niederländischen Inkunabeldruck untersucht Jan Willem Klein 1999. Nach einer Statistik, die auf der Auswertung von Campbells Annales beruht, haben zwischen 1470 und 1485 fast 60 % aller niederländischen Inkunabeln ein Leerblatt, während 38 % mit dem Text auf der ersten Seite beginnen; nur etwa 3 % der Drucke zeigen ein Titelblatt. Um 1483 geht der Gebrauch der leeren Seite rapide zurück und das Titelblatt setzt sich nach 1481 auf Kosten der Leerseite schnell durch.58 Als Begründung für die Entstehung beruft sich Klein auf die spätestens seit Haebler 1925 in Umlauf gebrachte Theorie der Schutzfunktion. Diese These führt Klein in einem 2002 erschienen Aufsatz The Leeu(w) van Gouda: new facts, new possibilities weiter aus. Gegenüber dem Handschriftenhandel mit der Produktion auf Bestellung und der direkten Aushändigung an den Auftraggeber bzw. dem antiquarischen Buchhandel mit gebrauchten, dann bereits gebundenen Büchern, hätten gedruckte Exemplare in ungebundenem Zustand den Transport vor sich. Die Drucker planen nach Klein die Leerseite zum Schutz für den Transport. Allerdings lässt sich einwenden, dass das ›Schmutzblatt‹ nur dann Sinn macht, wenn die Exemplare bereits als fertige Buchblocks verpackt werden. Klein setzt dagegen, dass die Falzung der Bogen und das Zusammentragen in der richtigen Reihenfolge bereits in der Offizin des Druckers erfolgt sei. Weiter geht er auf die Praxis des Büchertransports in Fässern ein. Da nur einmal gefaltete und lose zusammengelegte Bogen oder Lagen diese Transportart − der Inhalt wurde beim Rollen 55 56 57 58

Vgl. Cuijpers: Teksten als koopwaar, S. 214. Cuijpers, S. 214. Cuijpers, S. 246. Klein: Boekgeschiedenis, S. 101, 103.

der Fässer durchgeschüttelt − nicht ohne Schäden und unbeabsichtige Knicke überstanden hätte, seien die Exemplare als Buchblocks in einzelne Päckchen gepackt und diese Päckchen dicht an dicht in das Bücherfass gestapelt worden.59 Da nun die IncipitFormulierung nicht mehr auf den ersten Blick außen zu sehen gewesen sein, werde der Label-Titel auf die Leerseite gedruckt. Es ist hier nicht der Ort, Vermutungen über die frühneuzeitliche Verpackungspraxis anzustellen. Wenn aber Kleins These über die Gründe für die Entstehung des Titelblatts zutrifft, hätte dies ein zeitliches Auseinanderfallen der eigentlich buchbinderischen Arbeit zur Folge. Das Falzen der Bogen in der endgültigen Form und das Zusammentragen zum Buchblock hätte dann eine mit diesen Arbeiten vertraute Person bereits noch in der Druckerwerkstatt ausführen müssen, der vom Käufer beauftragte Buchbinder, sei nur noch für die Einbanddecke und das Einhängen zuständig gewesen sei. Kleins Vermutungen kommen nicht über den Status einer Hypothese hinaus. Völlig außen vor bleibt die Frage, wie dies mit der Praxis des Buchbinderhandwerks und den strengen mittelalterlichen Zunftvorgaben in Einklang zu bringen ist. Bereits Severin Corsten hatte 1965 in einem Aufsatz über Ulrich Zells deutschsprachige Drucke auf dessen Titelblätter der Passiendrucke in Köln hingewiesen, die Holzschnitte mit einer weiblichen Heiligenfigur zeigen. Der Holzstock ist für unterschiedliche Legendendrucke verwendbar, da das passende Attribut der Heiligen jeweils in die ausgesägte untere Ecke des Grundstocks eingesetzt werden kann.60 1996 hat Ursula Rautenberg in Überlieferung und Druck. Heiligenlegenden aus Kölner Offizinen die Titelblätter aller Kölner Passiendrucke vom Ende des 15. und in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts mit dem charakteristischen Heiligenbild untersucht. Nicht nur die Rationalisierung des Illustrationsverfahrens in der beschriebenen Weise ist bei vier Kölner Druckern zu beobachten, sondern ein gezielter Einsatz des standardisierten Titelblatts und der Titelillustration zur Kennzeichnung einer Textsorte bzw. von Werkgruppen; diese Drucke lassen sich über Hinweise in den Texten selbst wie auch über Provenienzanalysen als Literatur für Köln-Pilger verorten. Zudem besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem Titelholzschnitt und dem sog. kleinen Andachtsbild.61 Ursula Rautenberg untersucht 1999 in einer auf Methoden der analytischen Druckforschung basierenden Studie Das Werk als Ware die Druckproduktion des Nürnberger Autors und Kleindruckers Hans Folz; bereits Hirsch hatte 1977 passim Folz als frühen Titelblattdrucker erwähnt. Folz ist der erste Dru59 Klein: The Leeu(w) van Gouda, S. 187. 60 Corsten: Ulrich Zell, S. 199–202. 61 Rautenberg: Überlieferung und Druck, S. 62–76.

1 Das frühe Buchtitelblatt als Forschungsproblem ckerverleger, der regelmäßig ein Titelblatt mit einem Holzschnitt und in nicht wenigen Fällen mit einer Firmierung versieht. Die Druckproduktion dieses Nebenerwerbsdruckers lässt sich anhand der verwendeten Typen in zwei Perioden einteilen. Zwölf Drucke aus der ersten Produktionsphase von 1479−1483 besitzen nicht nur ein Titelblatt, sondern verfügen neben der Titelformulierung über einen Titelholzschnitt. Auffallend ist die Stellung der vollständig ausgebildeten Titelseite in neun Fällen auf der Rückseite des ersten Blatts, wobei die erste Seite leer bleibt (Abb. 32). In der zweiten Phase der Druckproduktion von 1483−1488 rückt die Buchkennzeichnung bei 22 Drucken auf die erste Seite vor, während der Eingangsaufbau variiert: entweder zeigt das Titelblatt einen Schlagworttitel mit Holzschnitt (Abb. 33) oder lediglich einen Label-Titel, während der Holzschnitt als Texteinleitungsholzschnitt auf der Rückseite des ersten Blatts positioniert ist. Diese Frontstellung einer Titelseite geht mit einer Rationalisierung der Lagenplanung in einen Umfang von vier, sechs oder acht Blatt einher. Hans Folz hat fast ausschließlich seine eigenen Werke in einer Nebenerwerbsoffizin gedruckt und diese im lokalen und engeren regionalen Umkreis vertrieben; als Autor, Drucker und Verleger hat er die Bedeutung des Titelblatts für die Buchkennzeichnung und als Blickfang für seine Broschüren erkannt. Er gehört zu den ersten Druckern, die einen Titelholzschnitt auf das Titelblatt bringen, wobei die Stöcke in zwei Serien eigens für den Titel geschaffen worden sind. Mit seinen illustrierten Titelblättern haben die Folz-Broschüren eine Titelgestaltung entwickelt, die noch bis in das 16. Jahrhundert hinein typisch für Kleindrucke geringen Umfangs bleiben wird. Fast alle Folz-Drucke sind nur unikal oder in nur sehr wenigen Exemplaren (zum größten Teil in der Bayerischen Staatsbibliothek München oder der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel) erhalten. Dies mag ein Grund dafür sein, dass die Bedeutung der FolzTitelblätter in der Titelblattforschung – bis auf die genannte Untersuchung – kaum gewürdigt worden ist, allerdings liegt die detaillierte Beschreibung der Folz-Drucke bereits seit 1981 im GW vor.62 Doch auch die neue monographische Studie zum frühen Titelblatt von Margaret M. Smith berücksichtigt Folz in ihrer Diskussion früher und ›vollständiger‹ Titelblätter nicht.63 Zudem müssen Smiths Ausführungen auch im Hinblick auf die frühesten illustrierten Titelblätter revidiert werden, die sie der Presse des Gerhard Leeu in Antwerpen 1484 zuschreibt.64 Sowohl 62 Erschienen in der ersten Lieferung des neunten Bandes. 63 Smith: The title-page, passim S. 46; sie spricht lediglich von vier Drucken mit dem Titelblatt auf der Rückseite des ersten Blatts. 64 Smith, S. 79f. bzw. S. 83: »The only printer who placed woodcuts on his title-pages with any regularity during the 1480s seems to have been Gerard Leeu […]«.

13 hinsichtlich der Anzahl seiner Titelblätter, den auf ihnen vorkommenden bucherschließenden Metatexten und des Titelschmucks ist die Folz-Produktion bemerkenswert; sie ist auch exemplarisch in der Art, wie Folz mit dem Eingangsaufbau der Broschüre experimentiert, und das ohne Vorbild. Die Fallstudie zum Druckort Nürnberg arbeitet die Rolle der volkstümlichen Nürnberger Kleindrucker − neben Folz vor allem Peter Wagner und Marx Ayrer − für die Titelblattentstehung heraus.65 Zum englischen Titelblatt insgesamt findet sich ein kurzer chronologischer Abriss bei Roland B. McKerrow.66 Er nennt drei Entwicklungsstufen für das frühe Buchtitelblatt: Bezeichnung des Inhalts mit oder ohne Verfassernamen, Übernahme der Funktion des Kolophons und schließlich: »It becomes more definitely an advertisement of the book designed to attract purchasers. Laudatory phrases are added. […] It seems clear that title-pages were actually posted up as advertisements […]«.67 Martha W. Driver behandelt in ihrem Aufsatz Ideas of order. Wynkyn de Worde and the title-page (1997) Titelblätter des Caxton-Nachfolgers. Im Gegensatz zu den titelblattlosen Caxton-Drucken experimentierte Wynkyn de Worde mit der Bucheinleitung, u. a. mit dem Autor-Portrait. Der größere Teil des Aufsatzes beschäftigt sich mit dem Bucheinband bzw. den Werkstätten, in denen die Drucke gebunden worden sind. Driver vertritt die These, dass Wynkyn zwar ein attraktives Titelblatt für die Kundenwerbung geschaffen habe, die Buchkennzeichnung am Anfang und am Ende jedoch eine Hilfe für den Buchbinder gewesen sei: There is also de Worde’s own tendency to label the text to consider, with title pages, images, and printer’s marks at beginning and end, thus setting off each book as a discrete item. In addition to attracting customers with an attractive title page, he is apparently labelling text for the bindery, the sheets to be bound as marked, which shows at the very least his awareness of the proper preparation of books for the binding stage.68

1.1.5 Am Ende des 20. Jahrhunderts: Margaret M. Smith’s »The title-page« Seit Pollards Monographie (1891) und seit dem Leipziger Sammelband Das Titelblatt im Wandel der Zeit (1929) sind keine umfangreicheren Untersuchungen zum frühen Titelblatt mit thematisch umfassendem 65 66 67 68

Vgl. Fallstudie Nürnberg im folgenden Band. McKerrow: An introduction, S. 88–95. McKerrow, S. 90. Driver: Wynkyn de Worde, S. 114.

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Ursula Rautenberg: Die Entstehung und Entwicklung des Buchtitelblatts in der Inkunabelzeit

Anspruch erschienen. Im Jahr 2000 legt Margaret M. Smith69 die Studie The title-page. Its early development 1460−1510 vor. Smith hatte sich bereits wenige Jahre zuvor mit dem Endtitel oder Schlusstitel, einem separaten Blatt mit einer Formulierung des Sachtitels am Ende des Buchs, auseinandergesetzt. Diese sehr selten erhaltenen Schlusstitel (nach einer Hochrechung etwa 0,5 % der überlieferten Inkunabelproduktion) sieht Smith als eine der Formen, mit denen die Drucker auf dem Weg zur Titelseite experimentierten, diskutiert aber auch den Zusammenhang zwischen dem so genannten integrierten Buchumschlag und der Entwicklung des Titelblatts.70 In ihrer Monographie verbindet Smith einen chronologisch-beschreibenden Zugang mit statistischen Untersuchungen. Ihren Anspruch formuliert sie wie folgt: »A plausible explanation for the initiation and then the growth of the use of title-pages can be pieced together from the writings of various scholars, although no one has set it out as a theory to be thoroughly discussed, let alone proved conclusively.«71 Bogengs wegweisende Bemerkungen werden von ihr nicht berücksichtigt. Die einzelnen Entwicklungsstufen des Titelblatts, die zugleich den argumentativen Fortgang der Studie bestimmen, fasst Smith wie folgt zusammen: Broadly speaking, during the incunable period, the title-page went through several stages of development: beginning with the adoption of manuscript practise, then to a blank, to a label-title on the blank (the birth of the title-page in the printed book), and finally to the full title-page, by means of the gradual inclusion of more information, and the introduction of decoration. By the end of the incunable period, it was more common to find some sort of title-page in a book than not.72 Mit der Zunahme der Metadaten und des Titelschmucks auf der Titelseite »[…] its function grew from mere identification to promotion. In other words, its advertising potential became clear.«73 Bereits Pollard hatte diese Abfolge − mit inzwischen stark revidierten zeitlichen Ansetzungen − in groben Zügen etabliert,74 allerdings ohne auf das Leerblatt oder die Leerseite als Etappe auf dem Weg zum Titelblatt hinzuweisen. Deren entscheidende Rolle für die Entstehung des Titelblatts blieb nach Haeblers frühem Hinweis verschüttet. Von Klein75 1999 in einer statistischen Auswertung für das nie69 Lecturer, Department of Typography & Graphic Communication, University of Reading. 70 Smith: The end-title, S. 95, S. 104–110. 71 Smith: The title-page, S. 16. 72 Smith, S. 15f. 73 Smith, S. 22. 74 Vgl. dazu auch Tabor: [Rezension], S. 321. 75 Klein: Boekgeschiedenis.

derländische Inkunabeltitelblatt am Rande aufgenommen, diskutiert Smith diese These nun ausführlich im dritten Kapitel. Smith untersucht den Bucheingang anhand der ersten Seite nach einem Sample von ca. 4.200 Inkunabeln (Band 3−7 des GW). Folgende Gruppen werden gebildet: 1. der für Handschriften übliche Bucheingang mit Incipit und Text, 2. der mit erster leerer Seite oder Leerblatt, 3. der mit irgendeiner Art von Titel auf der ersten Seite und 4. der mit anderen Textsorten ohne Incipit (z. B. Vorreden, Register etc.). 6,6 % beginnen mit dem Text, 23,3 % mit Incipit und Text, 22,1 % mit einem Leerblatt und 7,3 % mit einer Leerseite. 29,5 % des Samples gehören zur zweiten Gruppe mit dem Leerblatt zu Beginn. Im zeitlichen Verlauf zeigt sich, dass in der frühen Periode die erstgenannte Eröffnungsmöglichkeit die häufigste ist, die Zahl der Ausgaben mit Leerseite bzw. Leerblatt 1470/74 diese aber bereits übersteigt. Sie erreichen den Höchststand 1480/84; ihr rascher Rückgang in der Folge korreliert mit dem verstärkten Aufkommen der Titelseite. Smith interpretiert das Verhältnis zwischen Leerseite und LabelTitel (die weitaus überwiegende Form des Titels) nicht als einen Ersetzungs- oder Verdrängungsvorgang, sondern als ein Vorrücken von Informationen auf die weiße Seite.76 Abschließend betont sie noch einmal die Bedeutung von Leerseite und Leerblatt und diskutiert die temporäre Schutzfunktion der Leerseite und des Leerblatts für den folgenden Text,77 wobei ihr diese für das Leerblatt, das (sofern verschmutzt) beim Binden weggeschnitten werden kann, plausibler erscheint als für die Leerseite. Nach statistischen Ermittlungen anhand einer Stichprobe aus dem GW kommt sie zum Ergebnis, dass das Leerblatt dreimal häufiger vorkommt als die Leerseite. Die Schutzfunktion der Leerseite scheint ihr eine mögliche Erklärung zu sein, ohne dass sie sich jedoch darauf festlegt: The importance of the blank lies not at all in its appearance, but in its location in the book, and in the possible reasons behind its use, to protect a valuable product of the new process. If so, it was a practical, physical solution to one of the first outcomes of printing, the fact of multiple copies. […] Boring as the blank may be in aesthetic terms, it has a secure if not entirely unproblematic place in the history of the title-page, and thereby also in the general changes in early book design brought about by the transition from manuscript to print […].78

76 Smith: The title-page, S. 48–56. 77 Smith, S. 52–58, allerdings ohne Berücksichtigung von Haeblers Ausführungen. 78 Smith, S. 58.

1 Das frühe Buchtitelblatt als Forschungsproblem Die folgenden Kapitel untersuchen das Layout des Label-Titels,79 den Zusammenhang von Titelformulierung und Incipit, die Erweiterung durch den Titelholzschnitt und die Informationszunahme auf dem Titelblatt. Merkmale des Label-Titels seien die Beschränkung auf eine im oberen Drittel der Seite positionierte (oft kurze) Inhaltsbezeichnung, häufig ohne Autornennung. Es fehlen produktionsrelevante Hinweise und der Titelschmuck. Der Titelholzschnitt, eine Erweiterung des Label-Titels, wird nach 1490 häufig, bleibt aber wesentlich auf Deutschland und die Niederlande beschränkt, während in Frankreich Drucker- und Verlegerzeichen auf dem Titelblatt eingesetzt werden. Ungefähr gleichzeitig mit dem Aufkommen der illustrierten Titelseite verzeichnet das Titelblatt nach Smith einen Informationszuwachs. Ab 1490 werden Nennungen des Druckers bzw. Verlegers (auch in Form der Drucker- oder Verlegermarke) häufiger, aber auch Titelzusätze, etwa zum Wert und zur Bedeutung des Buchs. Für eine gewisse Vorreiterrolle Frankreichs beruft Smith sich auf die Beobachtungen Hirschs. Die Angabe des Druckdatums scheint demgegenüber seltener zu sein: zwischen 1495 und 1500 sind über 40 % der Inkunabeln (basierend auf dem oben beschriebenen Korpus von Ausgaben) noch ohne diese.80 In den beiden letzten Kapiteln setzt sich Smith mit dem Holzschnitttitel und der Titelbordüre auseinander. Wie Kiessling (1930) diskutiert auch Smith den Titelschmuck unter dem Aspekt der ästhetisch befriedigenden Füllung des weißen Raums der Titelseite. Der Holzschnitttitel bzw. die xylographische Titelseite scheinen in Deutschland und den Niederlanden häufiger zu sein als in Spanien oder Frankreich; in Straßburg, Augsburg, Nürnberg und Speyer sind sie schwerpunktmäßig vertreten.81 Ingesamt aber bleiben die xylographischen Titelseiten ein Experiment, da sie zwar ästhetische Vorteile aufweisen, aber das unter Umständen nur einmal verwendbare Material zu teuer sei. Für den Zierrahmen sieht Smith klarer als Kiessling das Problem, dass einzelne Leisten als relativ kleine und vielseitig verwendbare Formen nicht speziell für das Titelblatt hergestellt sein müssen und traditionell für die ersten Buchseiten typisch sind. Die ersten vierseitigen Zierrahmen auf einem Titelblatt erscheinen nach Smith in den 1490er Jahren bei Manfredus de Bonellis in Venedig und bei Johann Amerbach in Basel; in Venedig finden sich auch die ersten Beispiele für einen Titelrahmen aus einem Druckstock.

79 Smith, S. 59, allerdings, auch hier, ohne Verweis auf die Einführung der Bezeichnung durch Pollard. 80 Smith, S. 97. 81 Smith, S. 112.

15 Die Studie von Margaret M. Smith bestätigt in den Grundzügen Entwicklungsstadien, die bereits früh in der Titelblattforschung, insbesondere von Pollard und Haebler, erkannt worden sind, präzisiert diese jedoch durch statistische Analysen und eine Fülle von Einzelbeobachtungen; ihr gelingt so die Darstellung einer zeitlichen Abfolge der Entwicklungsstadien, die fast allen vorhergehenden Untersuchungen aufgrund der mangelnden Materialfülle fehlt. Zudem diskutiert Smith die verschiedenen Entstehungstheorien erstmals kritisch, insbesondere die Schutzblatttheorie, allerdings ohne hier zu grundlegend neuen Ergebnissen zu kommen. Leider ist eine starke Konzentration auf englischsprachige Forschungsergebnisse zu beobachten; fremdsprachige Literatur wird selten berücksichtigt. Smiths Buch ist in der Kritik weitgehend positiv aufgenommen worden. So schreibt Stephen Tabor 2002 in The Library: Margaret Smith, in her excellent study, is equally curious about the thought processes of the longdeparted, though her discussion avoids the teleological slant of many of her predecessors. It should come as no surprise, and is no discredit to Smith, that she has not been able to uncover much new evidence about the motives that nudged the title-page towards its modern presentation.82 Ähnlich äußert sich Eleanor F. Shevlin 2002 in der Zeitschrift Papers of the Bibliographical Society of America: The Title-Page resists treating familiar ground as terra firma. Notions that the title-page marked an ›advance‹ over manuscripts or that manuscripts lacked title-pages to save on costly parchment are among the commonplaces that Smith dissects and rejects. Frequently the evidence and reasoning are persuasive, but in some cases (particularly less familiar ones), the objection seems to hinge more on semantics than any significant disagreement.83 Kritik wird weiter an den von Smith gewählten Corpora von Titelblättern und den Auswertungsmethoden geübt. Smith beschränke sich auf die erste Seite bzw. das erste Blatt: Smith’s narrow focus on the treatment on the first recto […] also generates some statistics that need care in handling. A printer’s decision on whether to provide a preliminary blank is separate from, though related to, the decision on how to present the book’s title in rhetorical and typographic terms. Both of these matters are worthy of study,

82 Tabor: [Rezension], S. 321. 83 Shevlin: [Rezension], S. 567.

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Ursula Rautenberg: Die Entstehung und Entwicklung des Buchtitelblatts in der Inkunabelzeit but to keep the picture clear one needs to be able to trace them as separate phenomena.84

Auf den Nachteil des relativ willkürlich gewählten Samples und die fehlenden Parameter für die drucker-, druckort- und länderspezifische Auswertung weist Johanna Christine Gummlich-Wagner 2001 in der Zeitschrift Aus dem Antiquariat hin: Die didaktisch aufbereitete Form der Materie mit grundsätzlichen Ausführungen zum Aufbau von Handschriften und Inkunabeln erleichtern einerseits den Einstieg ins Thema, andererseits beantwortet Smiths Studie durch die Konzentration auf die Bestände der British Library und die Form des länderübergreifenden Überblicks tiefgreifendere Fragestellungen zu Entwicklung und Motivation der Titelseite noch nicht.85 Nicolas Barker paraphrasiert 2003 in einem in der Zeitschrift The Book Collector anonym erschienenen Artikel The title-page die wichtigsten Ergebnisse, durchmischt mit eigenen Kommentaren. Als wichtiges Desiderat bezeichnet er für die Titelblatt-Forschung allgemein, dass eine Untersuchung des Zusammenhangs von Titelblatt und Kolophon bzw. der Formulierung von Titel und Schlussschrift noch ausstehe.86

1.1.6 Erreichtes und Desiderate Der Überblick über einhundertzehn Jahre internationaler Forschung zum Inkunabel- und Frühdrucktitelblatt zeigt in Grundzügen folgende Forschungsergebnisse: –

Die Entwicklung des frühen Titelblatts verläuft von der Leerseite bzw. dem Leerblatt (ab der Mitte der 1460er Jahre), über den einfachen typographischen Titel (den so genannten Label-Titel, ab ca. 1480), das Titelblatt mit Titelholzschnitt (nach Vorläufern um 1480, verstärkt ab der Mitte der 1480er Jahre), bis hin zur Informationszunahme durch herstellerische Angaben (auch durch ein Drucker- oder Verlegerzeichen) im letzten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts und zur Etablierung des Titelblatts bis ca. 1520. Während für die Niederlande und Deutschland sich eine Vorreiterrolle bei der Einführung des mit einem Holzschnitt illustrierten Titelblatts abzeichnet, nehmen Paris und Oberitalien die führende Position für den habituellen Gebrauch der Firmierung ein. Der Buch-

84 Tabor: [Rezension], S. 322. 85 So die Rezension von Johanna Gummlich-Wagner: The title-page, S. A 620. 86 [Barker, Nicolas:] The title-page, S. 458.









druck auf den britischen Inseln nimmt insgesamt eine Sonderstellung ein. Die Holzschnittbordüre erscheint ebenfalls um 1490, wobei der Zusammenhang mit dem Buchschmuck des Textbeginns durch Schmuckinitiale und Zierrahmen sowohl in der Handschrift wie im Inkunabeldruck hergestellt wird. Als nicht dauerhafte Sonderformen haben sich der Holzschnitttitel und das Holzschnitttitelblatt erwiesen, ebenso wie der Schlusstitel. Eine Beziehung zwischen der Entstehung des Titelblatts und dem Kolophon wird verneint, hingegen die Rolle des Incipits für die Formulierung des Buchtitels und die Titelblattgestaltung betont. Abgesehen von diesen buchtechnischen, auf empirischem Weg zu erhebenden Fakten, wird die Frage nach den Gründen für Entstehung des Titelblatts nicht befriedigend beantwortet. Die Schutzblatttheorie ist aufgrund der mangelnden Kenntnisse darüber, wie die ausgedruckten Bogen in der Werkstatt gelagert wurden, kritisch zu diskutieren. Dass das Titelblatt als Träger von Metainformationen unter den Bedingungen des Marktes für den Auflagendruck erscheint, zudem das Titelblatt als Werbeträger dienen kann, ist allgemein geläufig.

Trotz der erzielten Ergebnisse, die nicht zuletzt auf einer Fülle von Detailstudien beruhen, sind Desiderate kritisch anzumerken. Eine die fachlichen Disziplinen übergreifende Diskussion wird nicht erkennbar. Hinzu kommt die seit einiger Zeit verstärkt zu beobachtende ›babylonische‹ Sprachverwirrung. Leider ist die Inkunabelforschung nicht mehr bereit, auch fremdsprachige Literatur zu überschauen.87 Dies ist besonders sichtbar am Beispiel des frühen Theorieansatzes von Bogeng, eines Außenseiters und bibliophilen Privatgelehrten, der in der fremdsprachigen Forschung nicht zur Kenntnis genommen wird, aber auch deutschsprachige Publikationen kaum beeinflusst hat. Das Niveau seiner dichten und weit reichenden Überlegungen zur Titelblattentstehung im buchhändlerischen und literatursoziologischen Zusammenhang wird selten erreicht. Zudem mangelt es nicht wenigen Publikationen an einer expliziten Titelblatt-Definition. Hier zeigen sich die methodischen Beschränkungen eines überwiegend historisch-beschreibenden Vorgehens, das die buchwissenschaftliche Forschung insgesamt kennzeichnet. Dieses Versäumnis einer mangelnden Verständigung über den Gegenstand ist von Arnold Rothe generell für die Titelblattforschung angemahnt worden: »Im

87 Vgl. den Klappentext zum Buch von Smith: »This is the first book dealing with the early development of the title-page since A.W. Pollard’s ›Last Words‹ on the subject, published in 1891.«

1 Das frühe Buchtitelblatt als Forschungsproblem

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übrigen wurde der systematische Aspekt gegenüber dem historischen bisher vernachlässigt.«88 –

1.2 Zwei Erlanger Forschungsprojekte zum frühen Buchtitelblatt Eleanor Shevlin hatte ihre Rezension mit den Worten geschlossen: »Rather than offering any ›last words‹, The Title-Page [sc. von Margaret Smith] instead announces that the conversation has just begun.«89 Die Diskussion setzt ein Forschungsprojekt fort, das die Deutsche Forschungsgemeinschaft von Januar 2000 bis April 2002 unter dem Arbeitstitel Die Entstehung und Entwicklung des Titelblatts in der Inkunabel- und Frühdruckzeit am Fach Buchwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg gefördert hat. Im Rahmen eines Anschlussprojekts, ebenfalls von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützt, wurde von März 2003 bis Mai 2004 die InternetPublikation einer Datenbank zum Titelblatt der Inkunabel- und Frühdruckzeit Das frühe deutsche Buchtitelblatt. Mainz, Bamberg, Straßburg, Köln, Basel, Augsburg und Nürnberg erarbeitet, die das Quellenmaterial online kostenfrei allen interessierten Nutzern zur Verfügung stellt.

1.2.1 Die Titelblattdefinition Im Folgenden wird zwischen der Bezeichnung ›Titelblatt‹ bzw. ›Titelseite‹ nicht immer systematisch unterschieden. Im Allgemeinen wird ›Titelblatt‹ unspezifisch verwendet, wenn es um den übergeordneten Begriff geht. ›Titelseite‹ bezeichnet dagegen präzise die einzelne Seite der Titelei. Die Erlanger Forschungsprojekte legen ihrer Definition des Titelblatts folgende Kriterien zugrunde. Bei einem Titelblatt handelt es sich um: –

eine separate Seite oder ein separates Blatt, wobei der Beginn des im Buch enthaltenen Werks auf

88 Rothe: Das Titelblatt als System, S. 27. − Rothe selbst geht von einer sprachlichen, typographischen und ikonischen Ebene aus, von der jede über eine Ausdrucks- und Inhaltsseite verfüge, wobei es bestimmte Regeln für die Verknüpfung dieser Zeichen auf dem Titelbatt gebe (S. 28). Ebenso wie das grundsätzliche Zugeständnis, dass auch die typographischen (gemeint sind die sprachlichen) Anteile des Titelblatts nicht »ästhetisch indifferent« (S. 28) seien, ist der zeichentheoretische Theorieansatz, den Rothe implizit zugrunde legt, viel versprechend. Dieser wird jedoch nicht weiter ausgeführt, lediglich die unterschiedlichen Disziplinen − Philologie, Buchwissenschaft und Kunstgeschichte − den drei Ebenen schematisch zugeordnet werden. Rothes Monographie Der literarische Titel von 1986 führt diesen theoretischen Ansatz nicht weiter. 89 Shevlin: Rezension, S. 568.

– –

einer von der Titelseite getrennten Seite einsetzt (Separierung) eine Seite am Buchbeginn,90 d. h. die erste Seite des Buchblocks oder die erste bedruckte Seite nach Leerseite(n) bzw. Leerblatt, in der Regel auf einer Recto-Seite, aber auch als Verso-Seite bei vorheriger Leerseite (Positionierung) eine teilweise oder insgesamt typographisch bedruckte Seite (Druckverfahren) eine Seite, die werk- bzw. autorkennzeichnende Angaben zum Inhalt des Buchs enthält; herstellungsrelevante Angaben können, müssen aber nicht vorhanden sein (Metatexte)

Dieser Katalog führt die notwendigen Merkmale auf, die eine Titelseite erfüllen muss. Die Definition bezieht den Buchkörper (Positionierung, Separierung), sprachliche Metatexte sowie Typographie und Textorganisation (Separierung, Druckverfahren) ein. Sie ist einerseits eng genug angelegt, um das Untersuchungscorpus klar zu konturieren, andererseits hinreichend offen für alle vorkommenden Varianten. So können z. B. Bilder oder Titelschmuck auf der Titelseite hinzukommen, diese Beigaben sind aber nicht konstitutiv für das Titelblatt allgemein, sondern nur für das illustrierte Titelblatt. Dies gilt auch für charakteristische Merkmale der Titelblatttypographie wie Auszeichnungen, Figurensatz, Schriftmischung oder Variation der Schriftgröße. Zwar bilden sich Konventionen des Titelsatzes beim frühen Buchtitelblatt in Anlehnung an vorhandene Gestaltungsmuster des Werkbeginns oder des Kolophons heraus, diese sind aber nicht zwingend vorhanden. Die titelblatttypische Flächensyntax, die für das ›moderne‹ Titelblatt maßgeblich ist,91 wurde als notwendiges Kriterium aus90 Die seltenen Schlusstitel sind in dieser Definition nicht enthalten und nicht in die quantitativen Erhebungen eingegangen. 91 Das typographische Regelwerk zur modernen Titelblattgestaltung kann in den einschlägigen Handbüchern zur Buchgestaltung abgerufen werden (z. B. Willberg/Forssman: Lesetypographie, S. 313–337). Es beschreibt die konventionell geregelten Möglichkeiten zur Anordnung und Gestaltung der sprachlichen und zur Einbindung der bildlichen Bestandteile auf dem Titelblatt sowie deren Stellung innerhalb der Titelei. Die wichtigste Unterscheidung ist zunächst die in eine Hauptgruppe und in eine Nebengruppe. Die erste Gruppe (Hauptgruppe) bezeichnet den geistigen Urheber und das Werk bzw. die enthaltenen Werke (Werktitel oder Sachtitel); ihr Informationsgehalt weist damit über die Überlieferungseinheit (das Exemplar als Teil einer Auflage) hinaus auf ein Werk, das in unterschiedlichen Ausgaben zirkulieren kann. Aufgabe der zweiten Gruppe ist hingegen, die konkret vorliegende Ausgabe zu identifizieren. Dies geschieht mindestens über die Nennung des Verlags; das Erscheinungsjahr und der Erscheinungsort können hinzutreten. Die Hauptgruppe steht stets oben, die Nebengruppe (auch: Untergruppe), unten auf der Titelseite. Beide Gruppen sind durch einen leeren Raum voneinander getrennt, aber auch durch das Verlagssignet oder – heute nur noch selten, so z. B. bei bibliophilen Buchprojekten oder illustrierten Büchern – ein Titelbild. Diese makrotypographische Anordnung

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Ursula Rautenberg: Die Entstehung und Entwicklung des Buchtitelblatts in der Inkunabelzeit

geschlossen. Da die Inkunabeltitelseite nur selten sprachliche Metatexte des Impressums enthält, wird die Trennung in eine Haupt- und Untergruppe mit der fest etablierten Ober- und Unterordnung auf der Seite nicht zur typographischen Aufgabe. Zudem zeigt sich auch in der Geschichte der Titelblattgestaltung, dass die Untergruppe anders als die Hauptgruppe weniger fest etabliert ist, da impressumsrelevante Merkmale auf der Rückseite des Titelblatts oder am Buchschluss erscheinen können. Ebenso lässt sich das Merkmal ›Weißraum‹ nicht als notwendiges Kriterium aufnehmen, da bereits die illustrierten Titelseiten dieses außer Kraft setzen. Methodisch lässt sich eine Unterscheidung zwischen den oben genannten notwendigen Merkmalen treffen, die stets erfüllt sein müssen, und den nicht obligatorischen Zeichenmittel. Letztere können durchaus ›titelblatttypisch‹ sein, aber sie bilden kein einschließendes Kriterium, sondern sind entscheidend für die historisch realisierten Varianten. Diese Unterscheidung von notwendigen oder obligatorischen und zusätzlichen, alternativen Kriterien ist bisher in der Titelblattforschung nicht in dieser Konsequenz getroffen worden.92 Für die vorliegende Untersuchung hat sie das Projektdesign, die Auswertung und die methodischen Vorüberlegungen bestimmt. Die Systematik der Zeichenmittel des Titelblatts93 bildet sich in den Feldern der Erfassungsmaske ab und bestimmt so über die qualitative Tiefenanalyse die Auswertung und Interpretation.

1.2.2 Die quantitativ-statistische Erfassung: Das Inkunabeltitelblatt in Deutschland, den Niederlanden und Venedig Wie der Forschungsbericht zeigt, basiert die Literatur zum frühen Titelblatt in aller Regel auf wenig repräsentativen Corpora von Titelblättern. Ausnahmen bilden die Auswertungen von Rudolf Hirsch und Jan Willem Klein auf der Grundlage von Quellenbibliographien zum französischen und niederländischen Titelblatt sowie die quantitativ-statistischen Untersuchungen von Margaret M. Smith über ein Sample von 4.200 Beschreibungen des GW (Band 3−7). Für gehört zu den Grundregeln des Titelsatzes und spiegelt den unterschiedlichen Status – oben der geistige Urheber, unten der materielle – der auf dem Titelblatt gespeicherten Informationen wider. 92 Vgl. Smith: The title-page, S. 14f.: »For my purposes, a title-page will be defined as a seperate page containing the title of the book, and not containing any of the text. Furthermore, a titlepage usually occurs at or very near the beginning of the physical book and it relates to the whole book. Apart from the title itself, it ›may or may not‹ [im Original kursiviert] contain further information about the book (e.g. a contents list) its author and its production, as well as decoration.« 93 Vgl. dazu Kap. 3 dieser Studie.

weiter gehende, inhaltsorientierte Fragestellungen zieht sie ein (nicht näher spezifiziertes) Corpus von Inkunabeln heran, das sich im Besitz der British Museum Library befindet. Bereits Gummlich-Wagner hat zu bedenken gegeben, dass Smith mit diesem Verfahren zwar die Darstellung einiger länderübergreifender Grundzüge gelinge, allerdings die unterschiedliche drucker-, druckortspezifische und regionale Entwicklungen sich nicht zuverlässig darstellen ließen. Zudem handelt es sich bei den Inkunabeln der British Museum Library um einen über Jahrhunderte und nicht zuletzt durch Einverleibung von privaten Sammlungen eher zufällig gewachsenen Bestand, mit allen sich daraus ergebenden Überlieferungszufällen, die nicht ohne Auswirkungen auf die Ergebnisse im Einzelnen bleiben.94 Demgegenüber hat das Erlanger Projekt eine Kombination quantitativ-statistischer Analysen mit qualitativen Tiefenuntersuchungen gewählt, die jeweils auf klar definierten Untersuchungsräumen und Zeitabschnitten basieren. Zu Beginn stand auch hier − wie bei Smith − eine Schätzung, wie viele Inkunabeln ein Titelblatt95 besitzen. Für die statistische Ermittlung der Gesamtzahl aller Inkunabeltitelblätter wurden jedoch die zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Bände 1 bis 10 (A − Heinricus) des GW ausgewertet. Die Gefahr alphabetischer Zufälle, wie z. B. beim Buchstaben B mit vielen Einträgen für »Biblia« o. ä., konnte durch diese breite Quellenanalyse verringert werden. Die Auswertung der bibliographischen Beschreibungen des GW nach Titelblättern ergab, dass von den insgesamt 12.411 verzeichneten Inkunabeln rund 4.842 Drucke (39 % der Gesamtmenge) ein Titelblatt haben, davon 1.078 (ca. 9 %) im Zeitraum bis Ende 1490. Hochgerechnet auf eine geschätzte Gesamtzahl von 27.000 Inkunabelausgaben96 ergibt dies eine zu erwartende Menge von etwa 11.000 Inkunabeln mit Titelblatt, davon 2.500 Drucke vor 1490. Es schien weder möglich noch sinnvoll, diese ›Titelblattflut‹, die anhand der damals vorliegenden Sekundärliteratur in keiner Weise zu erwarten war, einer breiten, autoptischen Tiefenanalyse zu sichten. Als fruchtbar hatte sich bereits früh in einzelnen Stichproben die Kombination von autoptischer Einzelanalyse, Sichtung der vorhandenen Quellenbibliographien und statistischer Methodik abgezeichnet. 94 Hier sei nur das Beispiel der wichtigen Folz-Drucke erwähnt, von dessen Produktion sich allerdings nur zwei Exemplare in der BL befinden. 95 Zur genauen Titelblatt-Definition, die den Corpora zugrunde gelegt wurde, vgl. S. 17. 96 Nach Dachs/Schmidt: Inkunabelausgaben. − Der ISTC auf CD-ROM enthält 26.550, der ISTC online 27.936 [Stand: 18. September 2007]. Die bibliographischen Angaben in GW und ISTC stimmen in einigen Fällen nicht überein, da die fortschreitende bibliographische Arbeit seit Erscheinen der ersten GWBände zu Umdatierungen, neuen Ausgaben etc. geführt hat.

1 Das frühe Buchtitelblatt als Forschungsproblem Das Erlanger Projekt hat sich daher entschieden, nach inhaltlich und formal vorgegebenen Richtlinien bestimmte Corpora für eine Tiefenanalyse auszuwählen, die bis zum Ende des Jahres 1490 weitgehend nach Autopsie erfolgen sollte. Da nach 1490 die Zahl der Titelblätter stark ansteigt, ist selbst für ausgewählte Corpora eine Behandlung der gesamten Inkunabelzeit nicht möglich. Für die Tiefenanalyse wurden die deutschen Oberzentren des Buchdrucks – Straßburg, Köln, Basel, Augsburg, Nürnberg – ausgewählt, zu denen Mainz (einschließlich Eltville) und Bamberg als die ersten Druckorte überhaupt hinzugenommen wurden. Die zuerst genannten Städte sind die bedeutendsten und produktivsten deutschen Druckorte, hinter denen Mainz und vor allem Bamberg ungeachtet ihrer frühen Drucktätigkeit an Bedeutung zurücktreten. Umfassendere Corpora wurden für die quantitativstatistische Vergleichsanalyse bestimmt. Es handelt sich um alle ermittelten Titelblätter der Inkunabelzeit (bis zum 31. Dezember 1500) für den deutschen Sprachraum (einschließlich der oben genannten Druckorte, die für die qualitative Tiefenanalyse gewählt worden waren), die Niederlande97 und den Druckort Venedig. Als Basis dieser Auswertung wurden die im ISTC98 verzeichneten Drucke gewählt. Zur Ermittlung, ob eine Inkunabel über ein Titelblatt verfügt, wurden das Bildmaterial des ISTC, die gedruckten Bände des GW99 und Hains Repertorium sowie weitere Spezialbibliographien und Bibliothekskataloge herangezogen, u. a. BMC, BSB-Ink und Campbells Annales. Insgesamt handelt es sich 13.767 Datensätze,100 wobei die Prozentzahl der eindeutig geklärten Fälle bei 89,5 % liegt.101 Nach den Kurztitelaufnahmen des ISTC, der umfangreichsten und zudem elektronisch mit den ent97 Das Corpus niederländischer Inkunabeln nach ISTC; zur Abgrenzung vgl. Le cinquième centenaire, S. XIII−XIV. 98 Vgl. dazu die Vorbemerkung S. 3. 99 Es wurden die Bände 1–10 und die ersten beiden Lieferungen des 11. Bandes (bis: Historia, Wigalois) ausgewertet. 100 Für das deutsche Sprachgebiet wurden 8.409 bibliographische Einheiten ausgewertet, für Venedig 3.413, für die Niederlande 1.946, einschließlich der Einblattdrucke. Diese Basis ergab sich aus der Abfrage des ISTC nach dem Kriterium ›place of publication‹ (für Venedig) bzw. ›printing area‹ (für Deutschland und die Niederlande). Die vereinzelt im ISTC verzeichneten Postinkunabeln wurden für unsere Auswertung nicht berücksichtigt. In einigen Fällen mussten zudem Doppelaufnahmen oder Fehler im ISTC auf der Basis der gedruckten Bibliographien korrigiert werden, so dass sich vom ISTC leicht abweichende Zahlen ergeben. 101 Deutschland 93,0 %, Venedig 85,8 %, Niederlande 81,2 %. Bezüglich der bibliographischen Lage ist anzumerken, dass nur GW, BMC und Campbells Annales (nur für die Niederlande) die für das Projekt notwendigen Daten in vollem Umfang liefern. Hains »Repertorium« ließ sich nur begrenzt im Hinblick auf unsere Fragestellung auswerten; die ›kleineren‹ Inkunabelkataloge und Quellenbibliographien konnten in der Regel nur zur Überprüfung von Einzelfällen herangezogen werden.

19 sprechenden Recherchemöglichkeiten vorliegenden Gesamtbibliographie der Inkunabeldrucke, kann nur anhand von beigegebenen Abbildungen (ca. 15 % der Datensätze in der zweiten Auflage) sicher entschieden werden, ob Ausgaben mit Titelblättern versehen sind. Die Ergänzung über die oben genannten Hilfsmittel ist äußerst zeit- und arbeitsaufwändig, so dass eine Gesamtermittlung für alle Inkunabeltitelblätter auch für die vergleichsweise an der Oberfläche verbleibende statistische Analyse ausscheiden musste. Diese Auswahl der Regionen und Druckorte ist folgendermaßen begründet. Mit dem deutschen Sprachraum und den Niederlanden102 wurden die kulturräumlich eng verbundenen und frühen bedeutenden Druckregionen und Handelszentren berücksichtigt. Venedig trat als wirtschaftlich führende und mit innovativen Verlegern besetzte Handelsmetropole hinzu, die mit ihren Fernhandelsbeziehungen weit in den europäischen Raum ausstrahlt. Die Inkunabelproduktion Frankreichs, besonders der Städte Paris und Lyon, die sich in den letzten beiden Jahrzehnten der Inkunabelzeit zu führenden Buchzentren entwickeln, konnte nicht als eigenes Untersuchungscorpus bearbeitet werden. Die wichtige Rolle Frankreichs für die Gestaltung des Titelblatts, insbesondere die Verwendung von Drucker- und Verlegermarken oder die vollständige Firmierung, deutet sich aus der Spezialliteratur nur schemenhaft an. Die zeitliche Beschränkung auf die Inkunabelperiode ist für die Entwicklungsgeschichte des Titelblatts ebenso sachfern wie für andere Phänomene der frühen Buchgeschichte. Da aber die Quellenbibliographien an dieser Grenze ausgerichtet sind, sind Überschreitungen nur in Einzelfragen möglich gewesen. Um die selbst für die ausgewählten Corpora noch erhebliche Datenmenge zu strukturieren und auszuwerten, war ein Rückgriff auf statistische Methoden notwendig. Als Ziel ist nicht lediglich eine Stichprobenanalyse, sondern eine Vollerfassung angestrebt worden. Gegenüber der Arbeit mit Stichproben oder zufällig zusammengestellten Corpora, die weniger zeitaufwändig ist, hat die Vollerhebung innerhalb des vorgegebenen Rahmens den Vorteil, dass die Ergebnisse allgemeine Gültigkeit beanspruchen können. Zudem können an die erfassten Daten computergestützt unterschiedliche Fragestellungen herangetragen werden. Die statistische Analyse der Daten ermöglicht eine quantitativ orientierte Analyse, z. B. lässt sich die Titelblattproduktion einzelner Drucker über Listen und Tabellen während bestimmter Zeiträume 102 Der ISTC verzeichnet bei einer Abfrage ›printing area‹ für die Niederlande die Drucke ab 1473 (Alost: Johannes de Westfalia und Thierry Martens). Der Bestand der Niederländischen Prototypographie ist im ISTC zwar mit 200 Drucken enthalten, doch werden die bei der Gesamtabfrage ›printing area‹ nicht ausgegeben. Diese fehlen zwar in der Auswertung, sind aber für die Frage nach Titelblättern nicht relevant.

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ermitteln. Von Vorteil ist auch, dass als Referenzgröße das ›Negativmaterial‹ (die Drucke ohne Titelblatt) zur Verfügung steht. Da es sich in der Regel um einfache Analyseverfahren deskriptiver Statistik handelt (Analyse uni- und bivarianter Häufigkeitsverteilungen), wurde die Standardsoftware Excel eingesetzt. Die Vorgehensweise der statistischen Auswertung gliedert sich in mehrere Arbeitsschritte: Zunächst wurden für die auszuwertenden Städte Tabellen mit ausgewählten Informationen über die Druckproduktion der Inkunabelzeit erstellt. Basis dieser Listen ist der ISTC. Ausgehend von diesen Listen fand zunächst eine bibliographische Überprüfung statt, ob die betreffenden Ausgaben überhaupt ein Titelblatt haben und ob dieses mit einem Holzschnitt bzw. einem xylographischen Titel (Holzschnitttitel) versehen ist. Soweit es anhand der herangezogenen Bibliographien möglich war, wurden weitere Angaben zur Typologie der Titelblätter aufgenommen, die für die autoptische Feinanalyse entwickelt wurde. Die Ergebnisse der quantitativ-statistischen Analyse bilden zwar das Grundgerüst des ersten Teils, diese wurden jedoch stellenweise ergänzt durch Einzelanalysen, so z. B. zum Titelblatt bei Peter Schöffer (Kap. 2.2.4), zum illustrierten Inkunabeltitelblatt in den Niederlanden, insbesondere bei Gerard Leeu (Kap. 4, 5) und zum Gebrauch des Signets bei Aldus Manutius und Johannes Froben (Kap. 7.5). Zudem wurden in den gesamten Argumentationsgang immer wieder Einzelnanalysen von Bucheingängen einbezogen. Die Massenanalyse nach quantitativen Parametern steht daher nicht allein für sich allein: an Schlüsselstellen der Untersuchung ist die Skizze zum farbigen Bild ausgeführt.

1.2.3 Die qualitative Tiefenanalyse: Sieben deutsche Druckorte bis Ende 1490 Die statistische Analyse der Daten ermöglicht eine quantitativ orientierte Analyse (z. B. Häufigkeit von Titelblättern zu bestimmten Zeitpunkten an bestimmten Orten), die auch das ›Negativmaterial‹ (die Drucke ohne Titelblatt) beachtet. Zudem lassen sich regionale Unterschiede bei der Einführung und Verwendung des Titelblatts, seine Ausstattung und sein Verhältnis zu nachfolgenden Buchteilen ermitteln. Für die Tiefenanalyse wurde eine Datenbank aufgebaut, in der die bibliographischen Beschreibungen und das Bildmaterial computergestützt erfasst und verwaltet werden konnten. Für das gewählte Datenbanksystem (HiDA3) bzw. die dafür vorhandene Systematik (Marburger Inventarisations-, Dokumentations- und Administrationssystematik; MIDAS) musste im ersten Schritt ein konsistentes, aber flexibel zu handhabendes Datenmodell entwickelt werden, das die Erfassung von Druckausgaben in Kombination

mit den im Einzelfall autopsierten Drucken ermöglicht.103 Weiter sind einige für die Inkunabelerfassung notwendige Datenfelder (z. B. GW- und ISTCNummern als indexierbare bibliographische Verweise) neu eingerichtet worden. In der vorliegenden Fassung des Datenmodells wurden die Fähigkeiten der HiDADatenbank zur Verwaltung hierarchisch angelegter Dokumente genutzt, indem die (abstrakte) Ausgabe auf der höchsten Hierarchieebene erfasst wird, und die einzelnen Seiten mit Abbildungsmaterial (an dieser Stelle mit Verweis auf das autopsierte und abgebildete Einzelexemplar) auf einer zweiten, hierarchisch untergeordneten Ebene. Diese Hierarchisierung ermöglichte eine sukzessiv verfeinerte Beschreibung der Drucke: zunächst eine knapp gehaltene Erfassung der Druckausgabe, dann – verbunden mit der Einbindung des Bildmaterials – die Beschreibung der einzelnen Seiten und schließlich fakultativ die Beschreibung der einzelnen Seiten und ihrer Bestandteile. Weder die bildlichen noch die sprachlichen Bestandteile des Titelblatts können unabhängig vom Textbeginn und dessen Positionierung im Aufbau des Buchs, sowie von Textende und Buchschluss behandelt werden. Insbesondere ist der Zusammenhang von der Titelformulierung auf dem Titelblatt und dem Textbeginn (Incipit-Formulierung) oder das Verhältnis von Einleitungs- und Titelholzschnitt nur so zu beurteilen. Diese Fragestellungen haben für das Design der Erfassungsmaske eine wichtige Rolle gespielt. Für eine verfeinerte Analyse wurde eine formalisierte und erweiterungsfähige Typologie der frühen Titelblätter erarbeitet. Diese berücksichtigt für die einzelne Titelseite Angaben zum Informationsgehalt (Sachtitel, Autor, Impressum, Holzschnitt, Druckermarke u. ä.) und zum Layout (einfache oder gestufte Typographie, Rotdruck, Verwendung mehrerer Schrifttypen, von Initialen und Lombarden). Über die Beschreibung der Titelseite hinaus werden die Stellung im Lagenverbund (am Anfang der ersten Lage mit dem Werkbeginn, einer vorgeschalteten Lage, als Karton etc.) sowie das Verhältnis der Titelseite zu den nachfolgenden Seiten berücksichtigt. Unterschieden wird zwischen der mit Text bedruckten Rückseite (Textbeginn, Register- oder Registerbeginn, kleinere abgeschlossene Beigaben wie Autor-, Verleger- oder Herausgebervorwort) und der Rückseite mit einer Abbildung (ganzseitiger Holzschnitt, sog. Texteinleitungsholzschnitt, z. T. mit typographischer Bildüber- und -unterschrift). Diese Kategorisierung wird auch angewandt auf Folgeseiten, wenn die Rückseite der Titelseite leer ist. Alle verzeichneten Ausgaben mit Titelblättern der genannten deutschen Druckorte bis zum Ende des Jahres 1490 wurden ermittelt, beschrieben und größtenteils mit Bildmaterial (Titelblätter und Schlüsselseiten, z. B. auf das Titelblatt folgende Register, Textein103 Vgl. Gummlich-Wagner: Das Erlanger Forschungsprojekt.

1 Das frühe Buchtitelblatt als Forschungsproblem gänge und Schlussschriften) versehen. Für die Autopsie wurde auf die Bestände von fünf Bibliotheken zurückgegriffen: SB Bamberg, UB Erlangen, UStB Köln und BSB München, daneben (in Einzelfällen) auf die Inkunabelbestände des GNM Nürnberg und der HAB Wolfenbüttel. Von den für das Projekt relevanten Inkunabeln mit Titelblatt sind (mit regionalen Unterschieden) ca. 70−75 % in diesen Sammlungen vorhanden. Die verbleibenden Drucke verteilen sich unregelmäßig auf kleinere deutsche Bibliotheken oder Bibliotheken im Ausland. Die Titelblattdrucke, die nicht auf autoptischem Wege beschrieben werden konnten, wurden über eine genaue Analyse der einschlägigen Bibliographien dem Corpus hinzugefügt.

21 Am weitesten ins 16. Jahrhundert hinein greift die Studie zum Basler Titelblatt, die die Erasmus-Drucke des bedeutenden Verlegers Johannes Froben behandelt. Damit wird nicht nur das aufwändig in Renaissance-Ornamentik gestaltete Titelblatt einbezogen, sondern die selbstbewusste Position des humanistisch gebildeten Wissenschaftsverlegers als Partner des Autors deutlich, die sich in der Verlegermarke und einer ausformulierten Untergruppe äußert. Eigene Fallstudien zu den frühen Druckorten Bamberg und Mainz wurden nicht erarbeitet. Die die Druckorte betreffenden Daten sind in die allgemeine Statistik eingeflossen.

1.2.5 Die Titelblatt-Datenbank im Internet 1.2.4 Die Fallstudien Ergänzend zur quantitativ-statistischen Vergleichsanalyse für Deutschland, Venedig und die Niederlande sowie der statistischen Tiefenanalyse der sieben deutschen Druckorte sind die Fallstudien zu den fünf genannten Oberzentren des deutschen Sprachraums zu sehen. Die Fallstudien gliedern sich jeweils in einen statistischen Überblick bis Ende 1500, der in allen Fällen gleich strukturiert ist. Dieser berücksichtigt die Gestaltung des Bucheingangs, die Entwicklung des Titelblatts im zeitlichen Verlauf, das Titelblatt in der Produktion einzelner Drucker und die Titelblatt-Typologien. In der Übersicht sind druckortspezifische Tendenzen gut erkennbar, die dann zu einer weiter gehenden inhaltlichen Analyse ausgebaut worden sind. So stellt jede der Fallstudien in einem interpretierenden Teil die charakteristischen Grundzüge für den jeweiligen Druckort heraus, wobei das Produktionsprofil dieser Druckzentren insgesamt berücksichtigt worden ist. Sie greifen dabei nicht selten über die durch die Quellenbibliographien gesetzte Inkunabelgrenze hinaus. Für Köln mit seinem ausgeprägten lateinischen und wissenschaftlichtheologischen Profil wird die Bedeutung der Lehrszene auf dem illustrierten Titelblatt des Buchs für den Schul- und Universitätsunterricht herausgearbeitet, die in den Niederlanden ihren Ursprung hat und auch in fast allen anderen Druckorten aufscheint. Die Studie zu Augsburg legt den Schwerpunkt auf den Einleitungsholzschnitt und die Gestaltung des Eingangs von Liturgica, beides Augsburger Sonderentwicklungen der Bucheröffnung. Am Beispiel von Nürnberg hingegen lässt sich die Entwicklung der Titelseite, ihre sprachliche, bildliche und typographische Gestaltung auf Drucken populärer Unterhaltungs- und Gebrauchsliteratur zeigen. Für Straßburg mit seinem Schwerpunkt auf der Produktion wissenschaftlicher Literatur wird das in der Forschung diskutierte Verhältnis zwischen Produktionsvermerken am Buchschluss und auf dem Titelblatt untersucht.

Die Druckbeschreibungen und das zugehörige Bildmaterial waren zwar die Ausgangsbasis für die Druckpublikation, aber von Beginn an nicht nur als Arbeitsinstrument des Forschungsprojekts gedacht. Geplant war vielmehr, diese für die Forschung allgemein zugänglich zu machen. Dies ist in Form einer InternetPublikation Das frühe deutsche Buchtitelblatt. Mainz, Bamberg, Straßburg, Köln, Basel, Augsburg und Nürnberg. Bibliographische Daten und Abbildungen geschehen.104 Die Datenbank enthält 1.039 Datensätze mit bibliographischen Beschreibungen und knapp 3.200 Abbildungen (Titelblätter und Schlüsselseiten). Die bibliographischen Metadaten sind überwiegend autoptisch erarbeitet. Insgesamt wurden für das Projekt 589 Inkunabeln autopsiert, daneben 125 Erasmusdrucke Johann Frobens. Der Ausrichtung des Vorgängerprojekts entsprechend enthält das Corpus Ausgaben mit Titelblättern aus den Druckorten Mainz, Bamberg, Straßburg, Köln, Augsburg, Nürnberg und Basel. Bis zum Ende des Jahres 1490 sind Drucke mit Titelblättern aus den genannten Druckorten nahezu vollständig erfasst worden (818 Datensätze), 96 weitere ausgewählte Datensätze bis Ende 1500 sowie 125 Datensätze zu den Erasmus-Drucken des Basler Verlegers Johannes Froben 1513 bis 1527. Für die Umsetzung der lokal unter HiDA aufgebauten Datenbank in das Internet erwiesen sich die für dieses System angebotenen proprietären Lösungsansätze als unflexibel und mit hohen Entwicklungszeiten verbunden. Aus diesen Gründen wurde der gesamte Datenbestand vom HiDA-eigenen Exportformat in einen XML-codierten Text konvertiert.105 Der Einsatz von XML als universeller Auszeichnungssprache ermöglichte die Integration der Titelblattdatenbank in die von der HAB Wolfenbüttel und der UStB Köln 104 Im Juli 2004 online gestellt unter http://inkunabeln.ub.unikoeln.de/titelblatt/. 105 Die Konvertierung erfolgte mit Hilfe des Tools H2X der Firma Stegmann Systemberatung (http://www.rs-system.de/german/ produkte/h2x/main.htm).

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Ursula Rautenberg: Die Entstehung und Entwicklung des Buchtitelblatts in der Inkunabelzeit

aufgebaute ›Verteilte digitale Inkunabelbibliothek‹.106 Zur Verwaltung der XML-Daten und zur Aufbereitung für das Internet wird das in der ›Verteilten digitalen Inkunabelbibliothek‹ verwendete nichtrelationale Datenbanksystem KLEIO eingesetzt.107

1.3 Überlegungen zu einer Theorie des frühen Buchtitelblatts Die Forschung zum frühen Buchtitelblatt hat bisher kaum Überlegungen zu einer Theorie des frühen Buchtitelblatts angestellt. In der älteren Titelblattforschung bildet lediglich der Aufsatz von Bogeng aus dem Jahr 1923 eine Ausnahme: sein Verdienst ist es, das Titelblatt als Teil neuer kommunikativer Aufgaben des ›gedruckten‹ Buchs insgesamt zu sehen. Erst die jüngere Forschung, angeregt durch literarsoziologische und mediengeschichtliche Fragestellungen, verfolgt diesen Ansatz – wie auch diese Studie – weiter. Zudem gehen nahezu alle Untersuchungen von der Vorstellung des modernen Titelblatts aus; vor diesem Hintergrund erscheint das frühe Buchtitelblatt implizit als ›unvollständig‹ oder ›unausgereift‹. Betrachtet man die vielfältigen Erscheinungsformen ›historischer‹ Titelblätter aber nicht als defizitäre Form eines prototypischen Konstrukts, erkennt man, dass diese präzise den Ort des gedruckten Buchs als Überlieferungsträger im Kommunikationssystem eines mit dem Buchdruck entstehenden frühmodernen Buchhandels widerspiegeln. Die frühen Titelblätter als ›Medien‹ leisten nicht mehr als das, was ihre Produzenten ihnen zu einem bestimmten Zeitpunkt an Informationen mitgeben, und das ist das, was Buchdrucker und Verleger als hinreichend für die Kennzeichnung des Buchs und nützlich für den Vertrieb der Ware einschätzen. Es sind also zwei methodische Schritte aufeinander zu beziehen: der erste ist auf das materielle Produkt ›Buch‹ gerichtet, beschreibt Formen von Titelblättern anhand ihrer Zeichenmittel und gewichtet diese quantitativ-statistisch, und ein zweiter, der von diesen Ergebnissen ausgehend die Funktionen und Leistungen von dispositiven Titelblattformen in den geographischen und zeitlichen Kontext des zeitgenössischen Buchhandels stellt. Die folgenden knappen Überlegungen zum frühen Buchtitelblatt gehen vom Begriff des typographischen Dispositivs aus. Der Begriff Dispositiv allgemein (frz.: ›dispositif‹: ›Gliederung, Vorrichtung‹) wird als Teil eines umfassenden Theoriegebäudes von Michel Foucault erstmals 1976 in La volonté du savoir eher beiläufig in die Diskurstheorie eingeführt. In Dispositiven 106 URL: http://inkunabeln.ub.uni-koeln.de/ 107 Für die technische Unterstützung und die Integration der Titelblattdatenbank in die Oberfläche der VdIB sei Prof. Dr. Manfred Thaller, Köln, an dieser Stelle ausdrücklich gedankt.

werden diskursive wie nicht-diskursive Elemente (Institutionen) zu einem Netz verknüpft. Dispositive schaffen Voraussetzungen für kulturelle Formierungen.108 Nach Gilles Deleuze sind Dispositive »[…] weder Subjekte noch Objekte, sondern Ordnungen, die es für das Sichtbare und für das Aussagbare zu definieren gilt − mit ihren Abweichungen, ihren Transformationen und ihren Mutationen.«109 Ausgehend von der Genese in der Diskurstheorie der 1970er Jahre wird der Begriff ›Dispositiv‹ inzwischen in unterschiedlichen Zusammenhängen und Wissensbereichen verwendet, wobei die ursprüngliche gesellschaftliche Verortung in den Hintergrund tritt. Ganz allgemein strukturiert ein Dispositiv »Raum und Zeit, Wahrnehmungen und Rezeptionskontexte« und dient »als Beschreibungsmodell für das Zusammenspiel von Zeichenebenen«.110 Die Medienwissenschaft nutzt ›Mediendispositive‹ als Erklärungskonzept für die Funktionen und Leistungen der audiovisuellen apparativen Medien wie Kino, Fernsehen und Radio.111 Auf das Zeichensystem ›Buch‹ als Überlieferungsträger gestalteter Texte übertragen, lässt sich das Dispositiv als scripturales oder typographisches Dispositiv verstehen. Für den Akt der Lektüre spricht Roger Chartier 1990 von »scripturalen und formellen Dispositiven«, die mitverantwortlich sind für den »Aufbau des historisch oder gesellschaftlich variablen Sinns«112 im Lektüreprozess. Susanne Wehde führt in ihrer Studie Typographische Kultur Chartiers Ausführungen weiter, indem sie ›typographische Dispositive‹ beschreibt. Typographische Dispositive sind »makrotypographische Kompositionsschemata, die als syntagmatische gestalthafte ›Superzeichen‹ jeweils Textsorten konnotieren«.113 Sie stellen sicher, dass bestimmte Textsorten, z. B. Lyrik oder Drama, im Schriftbild unmittelbar über die typographische Form identifiziert werden. Das Dispositiv ist als formale Strukturvorgabe Teil der Bedeutungskonstruktion, ohne dass die sprachlichen Zeichen gelesen werden müssen. Zu den wichtigen Formationsregeln typographischer Dispositive, die diesen Prozess beeinflussen, gehört die Anordnung von Textelementen auf der Fläche. Wehde spricht von »flächensyntaktische[n] typographische[n] Codes«, die auf der »Basis kulturellen Wissens« entschlüsselt werden.114 Zu den gut eingeführten Dispositiven zählt sie neben dem Dramen- oder Lyriksatz das Titelblatt. Als Metazeichen verwaltet und ordnet es buch- und textkenn108 Vgl. Gerhard/Link/Parr: Diskurs und Diskurstheorie, S. 115− 117, und Neumeyer: Dispositiv, S. 117f. 109 Deleuze: Was ist ein Dispositiv, S. 154. 110 Lommel: Dispositiv, S. 66. 111 Hickethier: Einführung in die Medienwissenschaft, S. 186– 201. 112 Chartier: Lesewelten, S. 50. 113 Wehde: Typographische Kultur, S. 119. 114 Wehde, S. 170, S. 168.

1 Das frühe Buchtitelblatt als Forschungsproblem zeichnende Metatexte an exponierter Stelle im Buchaufbau. Das Metazeichen Titelblatt selbst, seine impliziten Ordnungsstrukturen und seine Zeichenmittel, seien diese (natürlich-)sprachlicher oder nichtsprachlicher Art, können zum Gegenstand zeichentheoretischer Analyse gemacht werden. Mit der Übertragung des Dispositivbegriffs auf Buch und Schrift durch Chartier und Wehde ist eine begriffliche Zuspitzung verbunden. Chartier betont wie Foucault eine die Wahrnehmung strukturierende Macht des Dispositivs, die im Lektüreprozess sinnkonstitutiv ist, während Wehde den Blick konkret auf die Beschreibung konventionell etablierter typographischer Strukturen legt, deren einzelne Elemente zum Dispositiv zusammengefügt werden. Aus der Sicht normierender Institutionen ist sogar die Festschreibung weniger dispositiver Muster von Titelblättern in ISObzw. DIN-Normen möglich.115 Die Durchsetzungskraft derartig starrer Normierungsversuche bleiben in der Realität allerdings vielfach und zu Recht auf der Strecke: hier reicht ein Blick in eine beliebige Auswahl von Büchern unterschiedlicher Verlage. Verlängert man die Überlegungen zum typographischen Dispositiv Titelblatt in die historische Perspektive, zeigen Epochen der Titelblattgeschichte variierende und unterschiedlich stark standardisierte dispositive Titelblattformen, die jeweils zur Verfügung stehen. Allen gemeinsam ist ein Minimalkatalog der notwendigen Zeichenmittel, die ein Titelblatt ausmachen; diese definieren das Titelblatt als Dispositiv. Der Dispositivbegriff impliziert darüber hinaus eine gewisse Reichweite der eingeführten Varianten, denn nur ihre habituelle typographische Praxis garantiert, dass das Dispositiv die Wahrnehmung leitet und ordnet. Dies hat nicht unwesentliche Auswirkungen auf die Erforschung des Titelblatts. Denn über die Interpretation einzelner Beispiele historisch realisierter Titelblätter lassen sich nur punktuelle Ergebnisse erzielen. Allgemeingültige Aussagen setzten eine Analyse vieler Titelblätter voraus, die strukturierten Corpora angehören und auch auf vor dem Hintergrund des Negativmaterials getroffen werden sollten. Denn eine Aussage darüber, ob eine dispositive Form in einer bestimmten Region oder für einem Zeitraum ›typisch‹ ist, lässt sich erst dann treffen, wenn bekannt ist, welchen Anteil sie unter den Varianten des Bucheingangs insgesamt einnimmt. Die Interpretation einzelner herausragender, ›beispielhafter‹ (›erster‹, ›besonderer‹, ›berühmter‹ oder ›abweichender‹ etc.) Titelblätter oder zufällig zusammengestellter Corpora birgt die Gefahr der Überinterpretation, ohne dass ein zuverlässiges Gesamtbild entsteht. Eine Analyse des frühen Buchtitelblatts setzt daher ein methodisches 115 Festgeschrieben als ISO 1086: »Title leaves of books« (1991); diese ersetzt die alte DIN 1429: »Titelblätter und Einbandbeschriftungen von Büchern« (1975).

23 Vorgehen voraus, das es erlaubt, unterschiedliche Gestaltungen von Titelblättern entweder als mehrheitlich geübte, etablierte typographische Praxis zu klassifizieren oder sie als Rand- und Übergangsphänomene in ihrer Bedeutung zurückzustufen. Gerade die Mengenanalyse strukturierter Corpora über den zeitlichen Verlauf verdeutlicht auch den prozesshaften Charakter der Entstehung dispositiver Formen. Der bibliometrische Zugang über eine Massenanalyse umfassender und methodisch reflektiert zusammengestellter Samples ist freilich erst mit digital greifbaren Quellenbibliographien und mit Hilfe elektronisch gestützter statistischer Auswertungen zeitund arbeitsökonomisch vertretbar anzugehen, dies auch um den Preis, dass sich die Datenbasis durch die ständige Möglichkeit zur Aktualisierung im Fluss befindet. Zwar kann man auf einer Wanderdüne stehen und gehen, aber man kann sich über den genauen Standort nicht immer gewiss sein. Dies ist ein Nachteil, wenn man nur den exakten Stellen nach dem Komma geneigt ist zu vertrauen. Im interpretatorischen Gesamtkontext, der, auch jenseits von solcher Genauigkeit, signifikant belegte Ergebnisse und Entwicklungen in den größeren Rahmen stellt, ist eine solche Unschärfe nach Meinung der Autoren dieser Studie zu verschmerzen. Das Erlanger Forschungsprojekt hat die quantitativ-statistische Massenanalyse und die qualitative Tiefenanalyse als erste methodische Schritte gewählt. In der Bibliometrie ist dieses Verfahren gängig, insofern betritt das Projekt hier kein Neuland. Auch hat die Titelblattforschung bereits vereinzelt diesen Weg beschritten. Neu am Erlanger Projekt ist die breite Basis der Analyse über strukturierte Corpora und das im Projektdesign festgelegte, in die Tiefe gehende und feine analytische Instrumentarium, das einzelne Zeichenmittel wie auch das Verhältnis von Titelseite und Bucheingang erfasst. Die Ergebnisse dieser quantitativen und qualitativen Mengenanalysen sprechen für sich, können aber ohne einen übergeordneten interpretatorischen Rahmen nicht bestehen. Diesen bietet einmal das Konzept des Titelblatts als typographisches Dispositiv. Dies schließt den konventionell-hermeneutischen Zugriff auf Geschichte des Buchhandels als Interpretationsrahmen nicht aus. Denn die Kenntnis der buchhändlerischen Organisationsformen ist nötig, um die Funktion nicht ›des‹ Titelblatts, aber seiner dispositiven historischen Formen auf dem frühneuzeitlichen Buchmarkt zu würdigen. Ziel der Erlanger Studien war es nie, eine chronologisch fortschreitende, schlüssige ›Geschichte‹ des frühen Buchtitelblatts zu schreiben. Schon die Einschränkung auf die im Titel genannten geographischen Gebiete verbietet dies. Im Vordergrund steht vielmehr eine Bestandsaufnahme dispositiver Formen des frühen Buchtitelblatts, ihrer Zeichenmittel, ihrer geographischen und zeitlichen Gleichzeitigkeit

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und Ungleichzeitigkeit. Eine monographisch runde Darstellung konnte so nicht entstehen, vorgelegt werden größere und kleinere Bausteine und Mauerstücke, die hoffentlich eine Vorstellung vom Gesamtgebäude vermitteln. Gegenüber dem ›Geschichte erzählenden‹ Verfahren kann diese eher sperrige Darbietung der Projektfunde auf der Habenseite für sich verbuchen, dass die einzelnen Bausteine handwerklich solide erstellt und nicht nach luftigen Konstruktionsplänen zu größeren Gebäuden zusammengefügt wurden. So sprechen die Fallstudien für sich, wie auch der erste, zum Überblick ausgreifende Teil.

2 Das Aufkommen und die Verbreitung des Titelblatts in Deutschland, den Niederlanden und Venedig: Quantitative Analyse und prädispositive Titelblätter Die beiden folgenden Hauptkapitel (2 und 3) stellen die wichtigsten Ergebnisse der quantitativen Erhebungen in den drei Vergleichsräumen für die Inkunabelzeit zusammen. Kapitel 2 zeichnet die Entstehung und Entwicklung der Druckproduktion mit Titelblättern im zeitlichen Verlauf nach der in Kapitel 1.2.1 aufgestellten Titelblattdefinition nach. Eine Detailanalyse der so ermittelten frühesten Titelblätter bis zum Jahr 1480 zeigt deren weitgehend prädispositiven Status. Der Exkurs zur Offizin Schöffer zeigt am Beispiel die Praxis der Titelblattverwendung. Kapitel 3 beginnt mit einer Systematik der Zeichenmittel des Titelblatts. Ebenfalls mit den Mitteln der quantitativen Vergleichsanalyse werden das Verhältnis von Leerseiten und Titelblatt, die Position des Titelblatts im Buchaufbau (die makrotypographischen Zeichenmittel), die Flächengliederung (die mesotypographischen Zeichenmittel) und Titelsatz (die mikro-typographischen Zeichenmittel) des Inkunabeltitelblatts analysiert. Die sprachlichen Zeichenmittel der Werk- und Buchkennzeichnung beschließen das Kapitel. 2 Das Aufkommen und die Verbreitung des Titelblatts in Deutschland, den Niederlanden und Venedig

2.1 Quantitative Vergleichsanalyse Der folgende Überblick beruht auf der quantitativen Vergleichsanalyse.116 Die beiden ersten Diagramme 116 Basis der Auswertungen waren aus dem ISTC (CD-ROM) erzeugte Listen aller ›echten‹ Inkunabeln (Option ›pre-1501‹). Für die Abfrage im ISTC wurde als Option ›preferred attributions search‹ gewählt, um so doppelte Einträge aufgrund von alternativen Drucker- bzw. Druckort-Zuweisungen zu vermeiden. Für Deutschland und die Niederlande wurde jeweils die entsprechende ›printing area‹ gewählt, für Venedig nur der Druckort abgefragt. Durch die in den Fallstudien vorgenommenen Detailuntersuchungen konnten die Listen noch durch einige nicht im ISTC verzeichnete Drucke ergänzt werden. Insgesamt ergaben sich damit folgen-

(Abb. 1 u. 2) zeigen das Aufkommen und die quantitative Verbreitung von Drucken mit Titelblättern in Deutschland, den Niederlanden und Venedig von deren erstem Erscheinen vor 1476 bis zum Ende der Inkunabelzeit nach Jahresschritten und in Bezug auf die Anzahl der Drucke bzw. den Anteil an der Gesamtproduktion. Bis Ende 1480 erscheinen danach 15 Drucke mit Titelblättern in Deutschland, darunter die ersten überhaupt, in Venedig vier und in den Niederlanden zwei. Erst im Jahr 1483 lässt sich ein deutlicher Anstieg der Titelblattproduktion in Deutschland − wenn auch bei nach wie vor geringen absoluten Zahlen − beobachten, der sich in den folgenden anderthalb Jahrzehnten kontinuierlich fortsetzt. Für das Jahr 1500 sind 381 Ausgaben mit Titelblättern nachweisbar. Für den Druckort Venedig ist eine gegenüber Deutschland zeitlich verzögerte Entwicklung zu beobachten. Die ersten Titelblätter erscheinen 1487, im Jahr 1490 sind es bereits 39 und 1500 142. Gegenüber dem deutschen Sprachraum setzt der kontinuierliche Anstieg von Titelblättern auch in den Niederlanden etwas verzögert ein, jedoch früher als in Venedig. Der sprunghafte Anstieg vollzieht sich um 1486 mit einer Verdoppelung der absoluten Zahlen von 14 im Jahr 1485 auf 28 Titelblätter 1486. Anders als in den beiden Vergleichsräumen verläuft die Entwicklung in den Niederlanden allerdings nach absoluten Zahlen nicht in einem kontinuierlichen Anstieg, sondern mit Rückschlägen. So erreicht die Titelblattproduktion mit 72 Drucken 1496 ihren Höchststand und fällt dann deutlich ab: 1499 erscheinen nur 42 Drucke, 1500 nur 39 Drucke mit Titelblättern.

de absolute Werte für die Datengrundlage: Deutschland 8.830 Drucke, Niederlande 1.946 Drucke (drei der 1 949 im ISTC verzeichneten Inkunabeln wurden als Postinkunabeln ausgeschieden), Venedig 3.413 Drucke (fünf Postinkunabeln bei 3.418 im ISTC verzeichneten ›echten‹ Inkunabeln). Für diese Drucke konnten in Bezug auf die Frage, ob ein Druck über ein Titelblatt verfügt, mit bibliographischen Mitteln folgende Klärungsraten erreicht werden: 92,9 % (Deutschland), 81,2 % (Niederlande), 85,5 % (Venedig). Für die Frage nach dem Titelblatt unerheblich und daher in allen folgenden Statistiken nicht einberechnet sind die Einblattdrucke (1.187 in Deutschland, 89 in den Niederlanden, 24 in Venedig). Ein methodisches Problem entstand aus den zahlreichen erschlossenen Datierungen in der Inkunabelzeit. Sie wurden jeweils im erschlossenen Jahr angesetzt, bei von-bis-Datierungen wurde als ›Notlösung‹ die Mitte des angegebenen Zeitraums angesetzt. Eine Datierung wie z. B. [1487–1493] erscheint in der Statistik also im Jahr 1490. Leichte Verzerrungen in der Statistik sind daher im Einzelfall nicht auszuschließen, ihnen wurde durch die in der Regel vorgenommene Gruppierung in Jahrfünfte entgegen gewirkt.

2 Das Aufkommen und die Verbreitung des Titelblatts in Deutschland, den Niederlanden und Venedig

25

450 400 350 300 250 200 150 100 50

Deutschland

Niederlande

1500

1499

1498

1497

1496

1495

1494

1493

1492

1491

1490

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1488

1487

1486

1485

1484

1483

1482

1481

1480

1479

1478

1477

1476

vor 1476

0

Venedig

Abb. 1: Titelblätter in Deutschland, Venedig und den Niederlanden bis 1500 im Vergleich (Anzahl der Drucke)

100,0% 90,0% 80,0% 70,0% 60,0% 50,0% 40,0% 30,0% 20,0%

Deutschland

Niederlande

Venedig

Abb. 2: Titelblätter in Deutschland, Venedig und den Niederlanden bis 1500 im Vergleich (Anteil an der Gesamtproduktion)

1500

1499

1498

1497

1496

1495

1494

1493

1492

1491

1490

1489

1488

1487

1486

1485

1484

1483

1482

1481

1480

1479

1478

1477

1476

0,0%

vor 1476

10,0%

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Ursula Rautenberg: Die Entstehung und Entwicklung des Buchtitelblatts in der Inkunabelzeit

Wie aber die Auswertung der letzten Inkunabeljahre für die niederländische Entwicklung zeigt, kann der Vergleich nach absoluten Zahlen irreführen. Hier ist der Vergleich nach dem Anteil an der Jahresproduktion heranzuziehen. Die niederländischen Drucker überholen im Jahr 1488 erstmals die deutschen Drucker, wobei ein niederländischer Titelblattanteil von 72,2 % einem geringeren deutschen von 66,7 % gegenüber steht. Zwar übersteigen in den Folgejahren die deutschen Prozentanteile meist die niederländischen, dennoch ist dies nicht durchgängig der Fall, wie die Jahre 1491, 1497 und 1500 zeigen. Im Jahr 1500 haben 92,9 % der niederländischen Drucke ein Titelblatt, Deutschland liegt mit 89,6 % leicht darunter. Die Stagnation bzw. der Rückfall niederländischer Titelblattdrucke nach den absoluten Zahlen lässt sich also mit einem allgemeinen Produktionsrückgang erklären. Auch für die venezianischen Drucker sind die Werte nach den Anteilen an der Jahresproduktion aufschlussreicher als die nach den absoluten Titelblattzahlen. Der Anstieg verläuft um mindestens fünf Jahre verzögert gegenüber den Vergleichsräumen, pendelt sich ab 1492 auf relativ hohem Niveau zwischen 70 und 90 % ein, übersteigt aber bis zum Ende der Inkunabelzeit nicht die 90-Prozent-Marke; diese erreicht Deutschland erstmals 1494, die Niederlande 1496. Obwohl die absoluten Zahlen für den Druckort Venedig einen kontinuierlichen Anstieg der Titelblätter signalisieren, zeigt das Jahr 1500 nach den Anteilen an der Jahresproduktion eine leicht rückläufige Tendenz mit nur 75,5 %. Offenbar hat sich der regelmäßige Gebrauch des Titelblatts in Venedig in der typographischen Praxis nicht so weitgehend durchsetzen können, wie in den beiden Vergleichsräumen nördlich der Alpen. Folgendes Ergebnis lässt sich aufgrund der Datenerhebungen für die drei genannten Erhebungsräume und -zeiten insgesamt festhalten: in den ersten drei Jahrzehnten nach der Erfindung des Druckens mit beweglichen und vielfachen Lettern sind Titelblätter überall Zufallsprodukte. Dies bestätigt auch die Einzelanalyse dieser Titelblätter im folgenden Kapitel, die eine ungeregelte Vielfalt prädispositiver Formen aufscheinen lässt. Erst in den fünf Jahren zwischen 1481 und 1485 ist ein signifikanter Anstieg in Deutschland und den Niederlanden bis auf 42,6 bzw. 34,1 % (Anteil an der Gesamtproduktion) zu beobachten. Der Gebrauch eines Titelblatts wird zur regelmäßig geübten, nicht mehr ungewöhnlichen typographischen Praxis. Ab 1486 (59,1 % Anteil an der Jahresproduktion) werden dann in Deutschland mehr Drucke mit Titelblättern ausgestattet als ohne. Nahezu zeitgleich ist diese Tendenz auch für die Niederlande zu beobachten, wo ein Jahr später, 1487, die Zahl der Ausgaben mit Titelblatt die derjenigen ohne übersteigt (59,3 %). Für Venedig gilt dies mit

der bereits beschriebenen Verzögerung und Reduktion etwas abgeschwächt; erst das Jahr 1492 bringt die Wende mit 70,4 %. Das letzte Inkunabeljahrzehnt zeigt allgemein das Titelblatt als Ausstattungsmerkmal des gedruckten Buchs, das sich auf breiter Basis durchgesetzt hat: Titelblattlose Ausgaben sind nun die Ausnahme.117

2.2 Prädispositive Formen: Titelblätter bis 1480 Wie die Gesamtstatistik für Deutschland, die Niederlande und Venedig (Abb. 1 u. 2) zeigt, ist die Zahl der Titelblätter bis 1480 mit 0,9 % (Deutschland), 0,8 % (Niederlande) bzw. 0,7 % (Venedig)118 äußerst gering. Das folgende Kapitel bespricht alle bekannten Titelblätter unseres geographischen Erhebungsraumes (Deutschland, Niederlande und Venedig), die nach der Projektdefinition zu den Titelblättern gerechnet wurden, bis einschließlich 1480. Auch die von Haebler, Geldner, Hirsch und Barberi angeführten frühesten Beispiele werden berücksichtigt.119 Die Klassifizierung als ›prädispositives‹ Titelblatt meint hier, dass es sich um Vorläufer-Phänomene für eine noch nicht eingeführte Praxis handelt und weiter, dass sich keine geregelten Gestaltungskonventionen für diese isoliert erscheinenden Frühformen beobachten lassen. Die frühesten Titelblätter stiften keine Kontinuität. Auf die beiden ersten Titelblätter überhaupt, die Mainzer Türkenbullen von 1463, folgt bis 1479 kein weiteres. In Venedig hält die Überlieferungslücke nach den Titelblättern auf den Regiomontanus-Kalendern acht Jahre an, in den Niederlanden findet auch der sonst so innovative Druckerverleger Gerard Leeu nach einem singulär bleibenden Titelblatt von 1477 erst nach 1484 zu einer geregelten Titelblattpraxis. 117 Zu anderen Ergebnissen kommt Smith: The title-page, S. 59, aufgrund des von ihr analysierten Samples: »[…] one quarter of editions in the final few years of the fifteenth century still had no title-page of any kind.« Es ist anzunehmen, dass sich diese Abweichungen durch die unterschiedliche Corpuswahl und den Verhältnissen in den von uns nicht analysierten Druckregionen ergeben. Bei einer nicht nach Druckregionen differenzierten Sample-Analyse sollten im Idealfall alle Druckregionen repräsentiert sein. Wie der hier durchgeführte Vergleich zwischen Deutschland, den Niederlanden und Venedig können Smiths Werte als Indiz dafür gelten, dass gerade die deutschen und niederländischen Drucker ihre Drucke häufiger mit Titelblättern versahen als beispielsweise die italienischen Drucker. 118 Werte jeweils bezogen auf die Gesamtzahl der geklärten Fälle bis einschließlich 1480. 119 Vgl. Pollard: Last words, S. 14f.; Haebler: Inkunabelkunde, S. 122f.; Geldner: Inkunabelkunde, S. 107; Hirsch: The earliest development; Barberi: Il frontespicio; die Beispiele hier über einzelne Kapitel verstreut. − Smith: The title-page, S. 38−46, behandelt ausführlich drei sehr bekannte frühe Titelblätter; die kurzen Hinweise auf S. 46 beziehen sich auf in der älteren Literatur bereits genannten Beispiele.

2 Das Aufkommen und die Verbreitung des Titelblatts in Deutschland, den Niederlanden und Venedig

2.2.1 Die frühesten Titelblätter in Deutschland: Mainz, Köln und Nürnberg Die ersten Titelblätter erscheinen in Mainz auf den beiden Türkenbullen, Druckwerken im Umfang von kleineren Broschüren.120 Die lateinische und deutsche Ausgabe der Bulla cruciata contra Turcos (nach dem 22. Oktober 1463)121 von Fust und Schöffer in Mainz markieren den Beginn der Drucktätigkeit der Offizin im Auftrag weltlicher und geistlicher Obrigkeiten. Der Aufruf Pius’ II. zum Kampf gegen die Türken umfasst in der lateinischen Ausgabe sechs Blätter, die Titelblattrückseite und die letzte Seite sind leer. Die deutsche Ausgabe hat acht Blätter, ebenfalls mit leerer Titelblattrückseite und leerer letzter Seite.122 Die fünf erhaltenen lateinischen Exemplare sind entweder mit typographischer, xylographischer oder handschriftlicher Titelformulierung versehen, die (drei) deutschen alle mit typographischem Text. Velke vermutet, dass man mit dem Titelblatt der lateinischen Ausgabe noch experimentierte und erst für die deutsche endgültig zum Typendruck übergegangen sei: »Offenbar sind erst Versuche angestellt worden, bis man zum Typendruck endgültig überging, der dann auch für die deutsche Ausgabe verwendet wurde.«123 Die Bulle ist in beiden Ausgaben in der DurandusType ohne weitere Auszeichnung im Fließtext abgesetzt worden, für die Titelformulierung hingegen wurde die auffällige Psaltertype gewählt: Vier (deutsche Ausgabe) bzw. zwei (lateinische Ausgabe) Zeilen über die gesamte Kolumnenbreite setzen am oberen Satzspiegelrand ein. In den Mainzer Bullen lautet die Titelformulierung in der lateinischen Fassung: »Bulla cruciata sanctissimi domini nostri Pape contra turchos.« und in der deutschen Fassung: »Dis ist die bul zu dutsch die vnser allerheiligster vatter der babst Pius heruß gesant hait widder die snoden vngleubigen turcken.«124 Diese frühesten Titelseiten sind in den Gebrauchskontext der amtlichen Ausschreibungen einzuordnen, die öffentlich bekannt gemacht wurden. Dazu sollen noch weitere Beispiele herangezogen werden. Die Kreuzzugsbulle Calixtus III., gedruckt in Mainz 1456 mit den Typen der 36-zeiligen Bibel, hat eine ähnliche Einleitung wie die Mainzer Türkenbullen, aller120 Vgl. auch Velke: Bücheranzeigen, S. 227: »Sie [sc. die lateinische Bulle] ist der erste Druck mit einem besonderen Titelblatte.« 121 Früher sind nur die ersten erhaltenen gedruckten Kundgebungen, ebenfalls bei Fust und Schöffer, aus dem Jahr 1462; vgl. Schottenloher: Frühdruck im Dienste der öffentlichen Verwaltung, S. 139. 122 ISTC ip00655750 (H 261) und ip00655800 (H 263). 123 Velke: Bücheranzeigen, S. 227 u. Tafel IX. – Die lateinische Bulle ist in der Bücheranzeige Schöffers aus dem Jahr 1470 aufgelistet. 124 Zitiert nach Velke, ebd.

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dings nicht separat auf einer Titelseite, sondern unmittelbar vor dem Textbeginn: »Dis ist die bulla vnd der ablas zu dutsche die vns vnßer aller heilgister vatet [!] vnd herre babst calistus gesant vnd geben hat widder die bosen vnd virfluchten tyrannen die turcken Anno Mcccc lvj et cetra.«125 Ein Aufruf zum Kampf gegen die Türken, 1474 in Augsburg bei Johann Bämler gedruckt, ist wie die Mainzer lateinische Türkenbulle mit Titelvarianten überliefert.126 Neben Exemplaren mit einer leeren ersten Seite sind Drucke mit aufgeklebtem roten Titel in gleich lautenden Formulierungen, aber unterschiedlichem Satz überliefert. Sollten diese Exemplare zeitnah zum Druck mit dem Titelaufkleber versehen worden sein, handelt es sich um das erste in Augsburg hergestellte Titelblatt. Die ausführliche Formulierung der Ausschreibung richtet sich unmittelbar an den Leser oder Hörer mit der Aufforderung, den Beschluss Friedrichs III. und der Reichsstände vom Reichstag im Juni 1474 zu beachten: »Vermerckt den gemeinen Anschlag So vnser allergenedigister herr der Römisch keyser […] Zuo Augspurg. wider die. Türken geordnet vnd geseczt hat […]«.127 Besonders die ausführlichen deutschen Formulierungen in Satzform aller hier genannten Kreuzzugsaufrufe erinnern an die Einleitungsfloskeln mündlicher Ausrufe und öffentlicher Verlesungen von handschriftlichen und gedruckten Verlautbarungen. Es liegt also nahe, dass die Drucker, der appellativen Funktion entsprechend, diesen Aufmerksamkeit heischenden Rufen der öffentlichen Kundgebung eine auch typographisch hervorgehobene Position auf dem Titelblatt einräumen. Bereits Lehmann-Haupt hat in seiner SchöfferMonographie hervorgehoben, dass dieser als erster ein »richtiges Titelblatt […] nicht für eines seiner normalen Buchprojekte, sondern für eine seiner ›politischen‹ Flugschriften« verwende, verzichtet jedoch auf eine weitere Erklärung.128 Die Überlieferung ähnlicher Aufrufe zeigt jedoch, dass diese beiden ersten bekannten Titelblätter im Kontext der kommunikativen Funktion derartiger Bekanntmachungen im öffentlichen Raum zu sehen129 sind: Unter den Bedingungen des Buchdrucks und einer zunehmend geschärften gestalterischen Wahrnehmungsweise des Überlieferungsmediums Druck entstehen die ersten Titelblätter. Auch die plakative Typographie, die den 125 ISTC ic00060100; GW 5916. 126 ISTC ia00758000, GW 2029; vgl. dazu die Fallstudie Augsburg im nächsten Band. 127 Zitiert nach GW 2029, Variante 1. 128 Lehmann-Haupt: Peter Schöffer, S. 45; Smith: The titlepage, S. 38−40, beschränkt sich auf die Referierung älterer Forschung. 129 Vgl. dazu Giel: Politische Öffentlichkeit, Kap. II; vgl. auch Schottenloher: Frühdruck im Dienste der öffentlichen Verwaltung. – Ich danke Prof. Dr. Nikolas Jaspert, Ruhr-Universität Bochum, für diesen Hinweis.

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Ursula Rautenberg: Die Entstehung und Entwicklung des Buchtitelblatts in der Inkunabelzeit

akustischen Ruf in einen ›visuellen‹ übersetzt, spricht für diese These. Mit den Titelblättern der Mainzer Türkenbullen ist die Gestaltung der beiden chronologisch nächsten Titelseiten nicht vergleichbar. Sie erscheinen 1470 in Köln bei Arnold ter Hoernen auf zwei leicht unterschiedlichen Ausgaben des Sermo in festo praesentationis beatissmae Mariae virginis. Wie bei den beiden Türkenbullen-Ausgaben handelt es sich bei dieser Predigt hier um einen zeitgenössischen, kurzen Text (12 Blatt), der mit einer eigenen Titelseite versehen wird (vgl. Abb. 3 u. 4 der Fallstudie Köln). Während Fust und Schöffer den Titel mit einer Auszeichnungsschrift hervorheben, verwendet Arnold ter Hoernen eine nicht vom Werksatz unterschiedene Typographie für die umfangreiche Titelformulierung, so dass der Eindruck eines Absatzes entsteht, der durch die Separierung auf der Titelseite vom Werktext getrennt wird. Nur wenig später, um 1473, folgt der Kölner Drucker Johann Schilling mit einer Ausgabe der Flores ex libris de civitate dei Augustini des Franciscus de Mayronis dem Beispiel Arnold ter Hoernens in der Titelgestaltung. Als Neuerung ist zu vermerken, dass alle drei Kölner Ausgaben sich nicht mit der Nennung des Autors und des Werktitels begnügen, sondern auf der Vorder- oder Rückseite des Titelblatts herstellungsrelevante Angaben hinzufügen.130 Aus dem Jahr 1473 stammt auch das frühe Titelblatt der Exhortatio de celebratione missae des Esslinger Druckers Conrad Fyner.131 Der Traktat wird Henricus de Hassia (um 1360−1427) zugeschrieben. Der Druck hat einen Umfang von zehn Blättern; die ausführliche, mehrzeilige Titelformulierung, im Layout den Kölner Beispielen ähnlich, gibt den Inhalt wieder. Der Straßburger Nachdruck durch Heinrich Knoblochtzer von 1482132 übernimmt das Titelblatt nicht. Am Ende unseres Erhebungszeitraumes stehen neun Kleindrucke des Hans Folz in den Jahren 1479/80 in Nürnberg, die als Übergangsphänomen eingestuft werden können. Sie tragen noch deutliche Zeichen des Experimentierens mit der Titelseite, z. B. mit der Titelseite auf der Rückseite des ersten Blatts und mit dem Titelholzschnitt oberhalb der Titelformulierung, markieren aber dennoch den Beginn der seit Mitte der 1490er Jahre erfolgreichen dispositiven Form des illustrierten Titelblatts für populäre Kleindrucke. Wie die nähere Betrachtung aller frühen Folz-Titelblätter zeigt, handelt es sich um ein durchdachtes und seriell eingesetztes Gestaltungsschema (vgl. Abb. 32 u. 33); auch aus diesem Grund lassen sie sich nicht umstandslos den prädispositiven Beispielen zurechnen. 130 Zu den frühen Kölner Beispielen s. Fallstudie Köln in diesem Band, Kap. 2.2.2. 131 ISTC ie00138000, GW 9511. Vgl. auch Pollard: Last words, S. 14. 132 ISTC ie00139000, GW 9512.

2.2.2 Die frühesten Titelblätter in den Niederlanden Bei Gerard Leeu in Gouda erscheint am 6. August 1477 die erste Titelseite auf einer Ausgabe des weit verbreiteten Erbauungstextes Cordiale quattuor novissimorum in niederländischer Sprache.133 Die umfangreiche beschreibende Titelformulierung »Jn desen boec sijn bescreuen die vier uterste ofte die leste dinghen die ons anstaende ende toecomende sijn […]« stammt wohl vom niederländischen Bearbeiter der Druckfassung; sie kommt in keiner der lateinischen und volkssprachlichen Ausgaben vor, auch nicht in dem Kölner Druck, der Leeus Ausgabe zugrunde liegt.134 Das Layout der Titelseite ist dem der beiden Kölner auf der Marienpredigt des Arnold ter Hoernen vergleichbar. Die beiden Nachdrucke Leeus von 1479 und 1482 verzichten ganz auf diese Einleitung und damit auch auf das Titelblatt, ebenso wie die folgenden Drucke von Matthias van der Goes 1483 und Jacob Bellaert 1484. Der Text setzt in diesen Ausgaben mit »Memorare nouissima tua et in eternum non peccabis« ein, die aus der lateinischen Fassung übernommen wurde. Mit der ersten illustrierten Ausgabe in den Niederlanden 1486, Jacob van der Meer zugeschrieben, bekommen die niederländischen Ausgaben generell ein Titelblatt, nun mit dem festen Werktitel Die vier utersten, dem ein Titelholzschnitt beigegeben wird.135 Nicht nur in der Druckproduktion Leeus, der Titelblätter erst nach dem Jahr 1484 regelmäßig druckt, bleibt dieses frühe Titelblatt eine Einzelerscheinung. Dies gilt für die gesamte niederländische Produktion, in der erst ab 1482 kontinuierlich Titelblätter aufkommen. Lediglich eine Ausgabe des Doctrinale von Alexander de Villa Dei bei Richard Paffraet, deren Datierung umstritten ist, könnte noch vor 1480 erschienen sein.136

133 Die vier uterste. Anhang: Bedudenisse der missen. Gouda: Gerard Leeu, 6. August 1477 (ISTC ic00902000, GW 7519). 134 ISTC ic00909280, GW 7515, ohne Titelblatt; vgl. auch GW Bd. VII, S. 54. 135 Vgl. ISTC ic00902500, ic00903000, ic00903100, ic00903200, ic00904000, ic00904100, ic00905200, ic00904300, ic00905400, ic00906000, GW 7520–7529. 136 Alexander de Villa Dei: Doctrinale (Pars I). Deventer: Richard Pafraet. Datierung zwischen 1477 und 1479 nach ISTC ia00440680; davon abweichend GW 1138: um 1484.

2 Das Aufkommen und die Verbreitung des Titelblatts in Deutschland, den Niederlanden und Venedig

Abb. 3: Die erste niederländische Titelseite: Die vier utersten. Gouda: Gerard Leeu, 6. August 1477

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Ursula Rautenberg: Die Entstehung und Entwicklung des Buchtitelblatts in der Inkunabelzeit

2.2.3 Die frühesten Titelblätter in Venedig und Italien Die folgenden Ausführungen stützen sich auf die im Projekt erhobenen Daten für Venedig und auf die Sekundärliteratur zum italienischen Titelblatt, so dass sich, ungeachtet des Projektdesigns, wenigsten in Umrissen die Entwicklung in Gesamtitalien nachzeichnen lässt. Während das Titelblatt Leeus bisher in der Forschungsliteratur nicht als erstes niederländisches erkannt wurde, gehören die drei venezianischen Ausgaben des Calendarium des Johannes Regiomontanus zu den ›berühmten‹ und viel zitierten Beispielen früher Titelblätter.137 1476 erscheinen die lateinische138 und die italienische139 Ausgabe mit 32 bzw. 30 Blättern Umfang, 1478 die deutsche140 mit 30 Blättern. Das Layout ist in allen drei Ausgaben gleich: Der typographische Text, ein Gedicht in abgesetzten Verszeilen, wird von einem aus fünf einzelnen Stücken zusammengesetzten Rahmen umgeben. Diese Leisten werden als die frühesten und besten im Renaissance-Stil bezeichnet, zudem sind es die ersten auf einem Titelblatt. Autor und Sachtitel sind in den fortlaufenden Text des Gedichtes integriert, Druckort und Jahr darunter freigestellt. Die Namen der beiden Druckerverleger Erhard Ratdolt und Peter Löslein − Letzterer fehlt auf dem Titelblatt der deutschen Ausgabe − und des Vorzeichners der Leisten, Bernhard Maler, werden dagegen deutlich hervorgehoben: in rotem Typendruck sind sie mittig in den unteren Rahmen integriert. Diese frühe Titelseite ist eine auf hohem Niveau durchgestaltete, den Schriftraum kompakt füllende Bucheröffnung. Die auf der Rückseite des ersten Blatts gedruckte Titelseite der Ars Moriendi, 1478 in Verona bei Giovanni und Alberto Alvise, scheint dem Layout der Venezianischen Kalender nachempfunden zu sein. Die dekorativen Titelseiten des Calendarium werden in der Regel als die ersten in Venedig gedruckten angesehen. Wesentlich früher ist jedoch eine Titelseite auf der Ausgabe des (Pseudo-)Augustinus De virtute Psalmorum vom 6. März 1471, die dem aus Padua stammenden Drucker Clemens Patavinus und dem Druckort Venedig zugeschrieben wird. Da sich nur ein Exemplar dieser Ausgabe in der Nationalbibliothek in Paris erhalten hat, ist dieses Titelblatt der Aufmerksamkeit bisher entgangen. Bei der Titelformulierung 137 Vgl. zuletzt Smith: The title-page, S. 43f. 138 Regiomontanus, Johannes: Calendarium. Venedig: Bernhard Maler (Pictor), Erhard Ratdolt und Peter Löslein, 1476 (ISTC ir00093000). 139 Regiomontanus, Johannes: Calendario. Venedig: Bernhard Maler (Pictor), Erhard Ratdolt und Peter Löslein, 1476 (ISTC ir00103000). 140 Regiomontanus, Johannes: Kalender. [Venedig]: Bernhard Maler (Pictor) und Erhard Ratdolt, 1478 (ISTC ir00100500).

»Dicta beatissimi Augustini de septem virtutibus psalmorum poenitentialium feliciter incipiunt« handelt es sich um ein Incipit, das hier, getrennt vom Werkbeginn, allein auf einer Seite steht. Der Titelsatz, nach dem Vorbild von Monumentalinschriften in einer großen Capitalis auf Mittelachse gesetzt, ist inspiriert von Humanisten-Handschriften.141 Vermutlich wegen des kleinen Oktav-Formats der Ausgabe, das in ungünstigem Verhältnis zur Schriftgröße steht, bleibt das Incipit allein auf der ersten Seite. Es lässt sich also nicht erkennen, ob die Separierung des Incipits auf der ersten Seite bewusst geplant ist oder dem Platzmangel geschuldet. Das typographische Schema wiederholt sich bei den Zwischenüberschriften und dem Impressum am Ende. Diese frühen Venezianischen Beispiele zeigen, wie unterschiedlich prädispositive Titelblätter ausfallen können, die zwar die Formalkriterien an ein Titelblatt erfüllen, aber besonderen Produktionsumständen ihr Erscheinen verdanken und weit entfernt davon sind, vorbildlich für eine kontinuierliche typographische Praxis zu werden. Geldner nennt als weiteres frühes italienisches Titelblatt die Oratio gratulatoria des Antonius Turchetus, das in einer »höchst eigenartigen Form« Verfasser, Titel, Drucker und Druckdatum nennt.142 Der Paduaner Druck von 1472 enthält diese Elemente in zwei Zeilen in stark abgekürzter Form. Diese Informationen sind wohl nicht für den Leser gedacht, sondern eher als Merkhilfe für den Buchvertrieb. Der Turiner Druck Decreta Sabaudie ducalia von 1477143 hat eine mehrzeilige ausführliche Titelformulierung mit Druckjahr, gesetzt in einem Absatz. Diese frühe Titelseite erscheint nach einem leeren Blatt auf der Vorderseite des zweiten Blatts. Der Text beginnt auf der Rückseite. Aus dem Jahr 1477 stammt der Druck eines Psalmenkommentars, erschienen in Mailand bei Leonardo Pachel und Ulrich Scinzenzeler; Werktitel, Autor und Zueignung sind in einer Rubrik auf dem Titelblatt zusammengefasst.144 Um einen einfachen typographischen Titel handelt es sich auch bei den beiden Ausgaben des Martyrium Sebastiani in Treviso bei Bernardinus Celerius vom 12. Mai und 14. Juli 1480; die Ausgabe vom Mai hat eine Widmung auf dem Titelblatt.145 Diese Liste früher italienischer Titelblätter modifiziert das Gesamtbild, das sich aus der flächendeckenden Datenerhebung für Venedig ergibt, nur unwesentlich.

141 Vgl. Baurmeister: Clément de Padoue, S. 23; ISTC ia01348300. 142 Geldner: Inkunabelkunde, S. 107; ISTC it00500000. 143 Vgl. Barberi: Il frontespicio, S. 64 u. Abb.; (ISTC is00001000, BMC VII 1054). 144 Vgl. Barberi: Il frontespicio, S. 57 u. Abb.; ISTC ip00181200. 145 Vgl. Barberi: Il frontespicio, S. 58; ISTC is00628000, ISTC is00629000.

2 Das Aufkommen und die Verbreitung des Titelblatts in Deutschland, den Niederlanden und Venedig

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Am Beispiel der Offizin Peter Schöffer d. Ä. in Mainz soll das Verhältnis von präsdispositiven Titelblättern und dem Übergang zur habituellen Titelblattpraxis im Einzelnen untersucht werden. Peter Schöffer wurde ausgewählt, weil in seiner Offizin mit den Türkenbullen-Ausgaben die ersten deutschen Titelblätter erscheinen und sich die Entwicklung der Titelblattverwendung über einen langen Zeitraum in einem ökonomisch erfolgreichen Unternehmen darstellen lässt. Nach dem Tode von Johannes Fust 1467 führt Peter Schöffer, Gutenbergs ehemaliger Geselle, das FustSchöffer’sche Gemeinschaftsunternehmen in Mainz allein weiter, das sich zum europaweit erfolgreich agierenden Buchhandelsunternehmen entwickelt. Bis zum Ende der Inkunabelzeit erscheinen insgesamt 224 Druckwerke bei Fust und Schöffer bzw. bei Peter Schöffer.146 Die Praxis der Titelblattverwendung dieses Verlags, dessen Profil mit dem Schwerpunkt auf Liturgica, Theologie und Recht eher konservativ ist, soll kurz gesichtet werden. Der ISTC verzeichnet 103 Einblattdrucke − ein Schwerpunkt, der sich u. a. aus dem Geschäft mit im Auftrag hergestellten amtlichen und kirchlichen Drucksachen erklärt − und 121 Bücher. Davon haben 21 Drucke ein Titelblatt.147 Der deutlich überwiegende Teil (70 Drucke) beginnt auf der Vorderseite des ersten Blatts unmittelbar mit dem (Werk-)Text und 20 Drucke beginnen mit einem vorgeschalteten Leerblatt oder einer Leerseite. Im zeitlichen Verlauf (Abb. 4) stellt sich dies folgendermaßen dar: Die beiden ersten Titelblätter der Offizin auf den Türkenbullen, vermutlich noch Ende des Jahres 1463 gedruckt, markieren den Beginn des Inkunabeltitelblatts generell. Für fast zwanzig Jahre verlassen nach dieser Innovation allerdings nur noch titelblattlose Drucke die Offizin. Zwischen 1481 und 1485 nimmt, wie die Vergleichsanalyse belegt, die Zahl der Titelblätter nach zögerlichem Beginn insgesamt sprunghaft zu. In dieser Zeitspanne setzt bei Schöffer die Titelblattproduktion wieder ein, wobei er nur unwesentlich mehr Ausgaben mit Titelblatt als ohne Titelblatt verlegt. Im letzten Inkunabeljahrzehnt fällt die Zahl der Drucke mit Titelblatt sogar unter das Niveau der Ausgaben ohne Titelblatt zurück. Allerdings ist diese Beobachtung zu relativeren, da Schöffer in diesen zehn Jahren nur wenige Bücher produziert (eines mit und vier ohne Titelblatt).

Sieht man die Ausgaben Schöffers mit einem Titelblatt genauer an, zeichnen sich folgende Grundlinien ab. Die lateinische Türkenbulle ist mit drei Titelblattvarianten überliefert.148 Erst nach der Mitte der 1480er Jahre und zwanzigjähriger Pause werden Drucke auch bei Schöffer mit Titelblättern ausgestattet, gegenüber der allgemeinen Titelblattpraxis ein verspäteter Einsatz. Die Liturgica bleiben weiterhin generell ohne Titelblatt. Für die Ausgaben mit Titelblatt, lateinische wie deutsche, ist keine klare Linie der Titelblattverwendung erkennbar. Es finden sich unter den Büchern mit Titelblatt zwar überwiegend Texte für den Universitäts- und Schulunterricht, aber auch Handbücher für den Seelsorger, Flugschriften zu politischen Tagesereignissen und amtliche Verlautbarungen. Fast alle Titelblätter zeigen das gleiche Gestaltungsschema. Die Titelformulierung wird in einer Auszeichnungsschrift in großem Schriftgrad nahe am oberen Satzspiegelrand im Blocksatz angeordnet; es dominiert der einzeilige Schlagworttitel im Mittelachsensatz. Hervorhebungen durch Initialen oder gestufte Typographie kommen so gut wie nicht vor; Angaben des Impressums sind äußerst seltene Ausnahmen. Abbildung 5 zeigt ein für Schöffer typisches typographisches Titelblatt. Aus dieser unauffälligen Alltagspraxis ragen nur einige wenige Titelblätter hervor, darunter wiederum eines der bekanntesten Titelblätter der Inkunabelzeit, das des Herbarius latinus von 1484. Die erhaltenen Exemplare dieser Ausgabe sind, wenn sie ein Titelblatt haben, in unterschiedlichen Varianten überliefert. Der GW weist drei nach: mit schwarzer oder roter Farbe gedruckt oder mit schwarzem typographischem Text und rotem Signet.149 Mit diesem Titelblatt setzt Schöffer einen weiteren Meilenstein: der Herbarius latinus ist das erste Buch mit einem Signet auf der Titelseite. Freilich bleibt auch dieser Vorstoß Schöffers in seiner Gesamtproduktion singulär. Eine weitere, allerdings weit weniger spektakuläre Ausnahme unter den Schöffer’schen Titelblättern, ist eine Landgerichtsordnung, gedruckt nach dem 25. Februar 1498.150 Oberhalb der dreizeiligen Titelformulierung zeigt ein Holzschnitt das Wappen des Auftraggebers Johannes Graf zu Nassau-Dillenburg. Das illustrierte Titelblatt ist eine seltene Ausnahme bei Schöffer, und auch hier hat das Wappen keine schmückende Funktion, sondern beglaubigt den im Auftrag des Grafen hergestellten Gesetzestext.151 Die Praxis der Titelblattverwendung Peter Schöffers erscheint inkonsequent. Aus der Mainzer Werkstatt gehen mit den Türkenbullen 1463 die beiden

146 Anzahl der im ISTC verzeichneten sicher Schöffer zugewiesenen Drucke inklusive der von Fust und Schöffer gemeinsam verlegten Werke, aber ohne die im ISTC vereinzelt aufgenommenen Postinkunabeln. 147 In zehn Fällen konnte nicht geklärt werden, ob diese ein Titelblatt haben oder nicht: Acht Drucke sind nur fragmentarisch überliefert.

148 S. oben S. 27f. 149 ISTC ih00062000, GW 12268. 150 ISTC Ij00224300. 151 Vgl. auch Schottenloher: Frühdruck im Dienste der öffentlichen Verwaltung, S. 139.

2.2.4 Exkurs: Prädispositive Titelblätter und geregelte typographische Praxis am Beispiel der Offizin Peter Schöffer d. Ä.

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Ursula Rautenberg: Die Entstehung und Entwicklung des Buchtitelblatts in der Inkunabelzeit

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