Altern in Gesellschaft
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Zitiervorschau

Ursula Pasero · Gertrud M. Backes · Klaus R. Schroeter (Hrsg.) Altern in Gesellschaft

Ursula Pasero Gertrud M. Backes Klaus R.Schroeter (Hrsg.)

Altern in Gesellschaft Ageing - Diversity - Inclusion

in

VSVERLAG FUR SOZIALWISSENSCHAFTEN

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

1. Auflage Mai 2007 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007 Lektorat: Frank Engelhardt Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15088-8

Inhalt Ursula Pasero Altern in Gesellschaft: Ageing - Diversity - Inclusion

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Konstruktionen des Alterns Heidemarie Bennent- Vahle Philosophic des Alters

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Karen van den Berg Semantiken des Alters. Diskursinterventionen und Bildlektiiren von Giorgione, August Sander und On Kawara

43

Barbel Kilhne Ganz schon alt. Zum Bild des (weiblichen) Alters in der Werbung. Eine semiotische Betrachtung

77

Roberta Maierhofer Der gefahrliche Aufbruch zum Selbst: Frauen, Altern und Identitat in der amerikanischen Kultur. Eine anokritische Einfuhrung

Ill

Klaus R. Schroeter Zur Symbolik des korporalen Kapitals in der „alterslosen Altersgesellschaft"

129

Empirie des Alterns GertrudM. Baches Geschlechter - Lebenslagen - Altern

151

Saskia-Fee Bender Age-Diversity: Ein Ansatz zur Verbesserung der Beschaftigungssituation alterer Arbeitnehmerlnnen?

185

Katharina Groning Generative Solidaritat, filiale Verbundenheit und Individualisierung tiber die Suche nach Lebensstilen mit dem Problem der Pflege fiir die Generation der Hochaltrigen umzugehen

211

Harald Kiinemund Freizeit und Lebensstile alterer Frauen und Manner - Uberlegungen zur Gegenwart und Zukunft gesellschaftlicher Partizipation im Ruhestand

231

Irene Mandl & Andrea Dorr Beschaftigungsinitiativen fur die alternde Erwerbsbevolkerung. Eine Untersuchung zu den neuen Mitgliedstaaten der Europaischen Union sowie Rumanien und Bulgarien

241

Zukunft des Alterns Anton Amann Produktives Arbeiten und flexibles Altern: Forschungsprogrammatische Uberlegungen zu einem Sozialprodukt des Alters

265

Christine Hartmann & Marcus Hillinger Alter(n)stopografien

289

Frangois Hop/linger Ausdehnung der Lebensarbeitszeit und die Stellung alterer Arbeitskrafte Perspektiven aus Sicht einer differenziellen Alternsforschung

307

Ursula Pasero Altern: Zur Individualisierung eines demografischen Phanomens

345

Birger P. Priddat Potenziale einer alternden Gesellschaft: ,Silver Generation' und ,kluge Geronten'

357

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

389

Altera in Gesellschaft: Ageing - Diversity - Inclusion

Geburtenriickgang bei gleichzeitig steigender Lebenserwartung: Diese Formel lost in der offentlichen Diskussion meist negative Vorstellungen und Erwartungen aus. Der vorliegende Band stellt den Beobachtungsfokus urn. Aus multidisziplinarer Perspektive wird ausgelotet, welche Chancen und Potenziale der Strukturwandel bereithalt. Im Mittelpunkt steht eine differenzielle Alternsforschung, die nach den Konstruktionen, der Empirie und der Zukunft des Alterns fragt. In diesem Sinne gliedern sich die Beitrage in drei Abschnitte. „Altern in Gesellschaft" heiBt zunachst nichts anderes als die Frage zu stellen, wie wir „altern" in einer sozialen Umwelt, die sich darauf einzustellen beginnt, die sozialen und kulturellen Ressourcen eines wachsenden Anteils ihrer Bevolkerung - 30% werden im Jahr 2050 uber 65 Jahre alt sein - zu entdecken. Ageing: weil wir sichtbar anders alter werden, als noch ein paar Generationen vor uns und wir uns auf die paradoxe Tatsache einstellen werden, dass sich das „Altern" verjtingt hat. Diversity: weil sich das „Altern" individualisiert und diversifiziert hat, und damit neue soziale Erwartungen einhergehen, in der sich die starren Proportionen von Tatigsein und Ruhestand aufzulosen beginnen. Inclusion: weil es kaum mehr vorstellbar ist, dass eine derart grofte Anzahl von Individuen liber 65 dann nur noch das Publikum von „Altsein" auf „Altersmarkten" abgeben wird. Das wirft Fragen nach den Chancen ihrer sozialen und kulturellen Teilhabe auf. Der Band ist das Ergebnis der Zusammenarbeit der Gender Research Group der Universitat Kiel und der Sektion „Alter(n) und Gesellschaft" der deutschen Gesellschaft fur Soziologie. Redaktion und Lektorat des Bandes wurden entscheidend von Anja Gottburgsen und Susanne Oelkers geleistet, wofur wir herzlich danken.

Kiel, im Marz 2007

Fur die Herausgeberlnnen Ursula Pasero

Konstruktionen des Alterns

Philosophic des Alters Heidemarie Bennent- Vahle Euregio-Kolleg/Wurselen und Katholische Fachhochschule Aachen sowiefreie Philosophische Praxis

Der Langlebige hat wenigstens iiber eines der Hindernisse triumphiert, die dem Menschen von Anfang an im Wege stehen: die Kiirze des Lebens. (Vita Sackville-West)

1. Einleitung - Warum dariiber zu philosophieren ist In zahllosen Biichern, Essays und Zeitungsartikeln wird das Alter primar als ein gesellschaftliches Phanomen betrachtet und angesichts der demographischen Prognosen zudem als ein brennendes soziales und okonomisches Problem der Zukunft angesehen. Zugleich ist vom Verschwinden des Alters die Rede, von einer „Revolution der Lebenslaufe" (Seidl 2005a: 4) 1 , vom vorherrschenden Geist der Jugendlichkeit, aber auch von der nachhaltigen Orientierung an falschen Altersbildern und Lebensbauplanen, die durch die Entwicklung der Moderne langst iiberholt wurden und dennoch in den Kopfen der Menschen tiberdauern. Die Beharrlichkeit solcher Altersbilder soil der Grund sein, dass seelisch und okonomisch das Faktum der Uberalterung der Gesellschaft nicht zu bewaltigen ist. Wie ist das zu verstehen? Gesagt wird z.B., dass die Angst vor Alter und Vergreisung dazu fuhre, „die Ressourcen der Jugendlichkeit" (Seidl 2005a: 9) zu missachten, iiber die auch iiber Sechzigjahrige verfiigen. „Das Humanvermogen des Alters ist in gleicher Weise fur die Arbeitswelt wie auch fur die Kultur unverzichtbar" (Kruse/Schmitt 2005: 10)2, heiBt es, wobei eine Favorisierung des okonomischen Gesichtspunktes augenfallig wird. Wenn nicht ein radikales Umdenken in der Bewertung des Alters erfolge, stelle das Anwachsen des „Erwerbspersonenpotenzials der iiber 50-Jahrigen" (Kruse/Schmitt 2005: 10) eine ernsthafte Gefahr gesellschaftlicher Stagnation und schwindender Konkurrenzfahigkeit dar. Neue Leitbilder mussen entstehen, die die Innovationsfahigkeit und Kreativitat alterer und alter Menschen herausstellen; praven1 Ausftihrlicher zum Thema: Seidl (2005b). 2 Wie die Autoren darlegen, dominieren in der statistischen Wertung „die hohen materiellen Ressourcen" alterer Menschen fur die Wirtschaft, wahrend die produktive Nutzung dieses „Humanvermogen(s)" im Rahmen der Arbeitswelt und Zivilgesellschaft noch weitgehend ausgeblendet bleibe.

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tive MaBnahmen sollen schon in frtiheren Phasen des Lebenslaufes Gesundheit, Funktionsfahigkeit sowie die „Lern- und Veranderungskapazitat" (Kruse/Schmitt 2005: 12) fordern, urn nur einige Gesichtspunkte zu nennen. Es steht auBer Frage, dass die soeben umrissenen soziologischen Bestrebungen, einige festsitzende Vorurteile tiber das Alter abzubauen, um die Solidaritat der Generationen zu fordern, die Lebensqualitat alterer Menschen zu verbessern und spezifische Potenziale des Alters dem Sozialganzen zukommen zulassen, in hohem MaBe begrtiBenswert sind. Dennoch erscheint mir ein solches Programm nicht unproblematisch, so namlich die wirtschaftlichen Gesichtspunkte im Vordergrund stehen. Die dem Okonomischen eingeschriebene Fortschrittsmentalitat des „immer weiter, immer hoher", die Fixierung auf das Eintragliche, Produktive, Verwertbare scheint mir in eigentiimlicher Weise dem entgegenzustehen, was das Alter - philosophisch gesehen - bedeutet: namlich eine unabweisbare Realisierung der menschlichen Grundsituation, die in der Erfahrung der Endlichkeit und Begrenztheit des Lebens besteht. Ein dem okonomischen Diktat unterworfenes Abhaspeln des Lebens bis zum Tage x, an dem Krankheit oder Tod den Aktionismus verunmoglichen, erscheint mir eher eine Schreckensvision. So notwendig es ist, durch ein Nachdenken tiber das Alter die Lebensoptionen alterer Menschen zu verbessern, so sehr laufen wir Gefahr, uns in falschen Leitbildern zu verlieren und, wo wir Moglichkeiten eroffhen wollen, eher Fremdbestimmung und Zwang zu etablieren. Ein neues Altersbild ist nur dann wtinschenswert, wenn wir dabei nicht allein den okonomischen Nutzen im Auge haben, sondern die Vitalitat alterer Menschen vor allem deshalb anspornen, um auch die „philosophischen" Potenziale der Lebenserfahrenen in die Gesellschaft einflieBen zu lassen. Nur dann geht es uns wirklich um den Menschen, fur den sich im letzten Abschnitt seines Lebens die Sinnfrage in radikalisierter Weise stellt. Preventive MaBnahmen im Hinblick auf das Alter konnen deshalb auch nicht auf Gesundheit und Funktionstiichtigkeit beschrankt bleiben, sondern mtissen sich immer zugleich darauf richten, der sich im Alter verscharfenden Bedingungen menschlicher Existenz gewahr zu werden. Daran haben bekanntermaBen Okonomen wenig Freude, so dass man auch sagen kann: Die herannahende Tatsache der Uberalterung der Bevolkerung ruft vor allem Philosophen auf den Plan, die daran erinnern, was Alter bedeutet. Allerdings ist damit nicht allein der Berufsstand der Philosophen gemeint, sondern all diejenigen, die sich dem Alter denkend nahern und nicht nur Statistiken bemiihen. Wir sehen also, dass wir uns dem Thema Alter nun auf eine andere Weise zuwenden als der Gesellschaftswissenschaftler. Wir nehmen Ausgang von der subjektiven Innenperspektive des alternden Menschen als derjenigen Instanz, in

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die sich die Gegebenheiten einer spezifischen privaten und sozialen Existenz einschreiben, die aber dennoch vom Besonderen immer auch zum Grundsatzlich-Menschlichen voranschreitet. Damit soil klar gesagt werden, dass das Philosophieren iiber das Alter sich der soziologischen und okonomischen Betrachtung nicht besserwisserisch entgegenstellt, sondern iiber den MaBstab individuell gelebter Erfahrung zu einer eigenen Form der Erkenntnis gelangt, die sich weigert, im Geiste einer blinden Machermentalitat iiber die „Unumkehrbarkeit der sterblichen Lebensbewegung" (Rentsch 1992: 294) hinwegzutauschen. Was in jeder Lebensphase gilt, wandelt sich im Prozess des Alterwerdens von einem eher abstrakten Wissensinhalt zu einer leiblich erschlossenen tiefen und unabweisbaren Wahrheit, der Wahrheit namlich, dass das Leben nur in begrenztem Rahmen gestaltbar ist und in hohem MaBe ,Widerfahrnis\ So sind die Erschwernisse des Alters durch MaBnahmenkataloge vielleicht aufschiebbar, aber letztlich nicht abwendbar. Wir konnen durch geistige Ubung verhindern, unvorbereitet von ihnen iiberrollt zu werden und wir konnen zugleich auf ein gesellschaftliches Bewusstsein der besonderen philosophischen Qualitaten des Alters hinzielen, das auch unter modernen Bedingungen seinen kontemplativen, bilanzierenden Charakter noch nicht ganzlich eingebiiBt hat. 2. Zwei Sorten von Altersphilosophie - erhohter Sinn oder Abstieg? Es ist natiirlich unter den Philosophen keine Einhelligkeit im Hinblick auf das Thema Alter zu finden. Doch gerade die oftmals gegenlaufigen und dabei immer sehr individualistischen Darlegungen der Alterserfahrung erteilen vielfaltige Aufschltisse, die erkennen lassen, was es zu beachten gilt, wenn wir alt werden und wenn wir uns als Jiingere den Alteren zuwenden. Wer sich nicht scheut, ein wenig grob zu verfahren, konnte die Behauptung aufstellen, dass sich die Geister im Grunde genommen in zwei Gruppen scheiden: einmal diejenigen, die im Alter trotz aller Unbill und Beschwernis eine besondere und bereichernde Qualitat erkennen, und zum anderen die wesentlich groBere Anzahl derjenigen, die es eher als eine Zeit der Betrubnis, der Offenbarung von Widersinnigkeit und Vergeblichkeit unserer Existenz erfahren. 2.1 Die besondere Qualitat des Alters Hesse - Powys. Einssein mit dem natiirlichen Gang der Dinge Befasst man sich mit den eher versohnlichen Stimmen zum Alter, so zeigt sich, dass diese Haltung oftmals getragen ist, von der Vorstellung einer sinnvollen Ordnung der Dinge, durch die jede Lebensphase ihren eigenen Wert erhalt. Der

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Vorzug des Alters liegt dann in einer weisen Zurtickhaltung und betrachtenden Distanznahme gegeniiber der interessegelenkten Einmischung ins Weltgeschehen - man ist, jener Jagd und Hetze entronnen und in die vita contemplativa gelangt" (Hesse 1970: 356). Wie hier Hesse,3 so entdecken auch Andere im erinnernden Schauen und Betrachten den Sehltissel zu einer tieferen Weisheit und Gtite des Alters, ein Heranreifen der „Fahigkeit, dem Leben der Natur und dem Leben der Mitmenschen zuzuschauen und zuzuhoren, es ohne Kritik und mit immer neuem Erstaunen uber die Mannigfaltigkeit an uns voniberziehen zu lassen" (Hesse 1970: 356). Im Alter nahern wir uns dem Wesen der Dinge, indem wir ein kosmisches Urvertrauen zurtickgewinnen, das um die geringe Reichweite unserer analytischen Rationalitat und autonomen Gestaltungskraft belehrt ist. Goethe4 ordnet dem Alter die Philosophic des Mystizismus zu, denn der Greis erkennt, „dass so vieles vom Zufall abzuhangen scheint: das Unverntinftige gelingt, das Vernunftige schlagt fehl. Gltick und Ungliick stellen sich unerwartet ins gleiche: so ist es, so war es, und das hohe Alter beruhigt sich in dem, der da ist, der da war und der da sein wird" (Goethe 1953, 1315: 540). Vor dem Hintergrund einer solchen im weitesten Sinne religiosen Weltauffassung liegt das eigentliche Problem des Alters darin, diesen spezifischen Lebenssinn, die „Hingabe an das, was die Natur von uns fordert" (Hesse 1970: 355) zu versaumen und in den Leidenschaften, Wunschen und Begierden der Jugend festzustecken. Dabei ergibt sich fur manche in diesem Punkt ein besonderer Anspruch an das weibliche Geschlecht. Wie schon Gryphius5 sagte „Man lacht, nicht daB ihr alt, glaubt mir, man lacht allein, DaB ihr, die ihr doch alt, durchaus nicht alt wolt seyn" (Gryphius 1964: 213), so widmet sich vor allem der britische Philosoph John Cowper Powys in seiner Schrift „Die Kunst des Alterwerdens" mit besonderer Intensitat dem Altersprozess der Frau. Nach Powys, fur den die Kultivierung der Kraft einer sinnlich-leiblichen Mystik den Sehltissel zu einem spaten Gltick darstellt, besitzt die Frau eine ganz besondere Alterskompetenz. Das Altern selbst ist fur ihn ein Prozess der Verweiblichung, eine zunehmend passive Hingabe an das Naturganze, eine neuartige Intimitat und Ubereinstimmung mit den Geheimnissen der Natur: „Ob wir im Alter gliicklich oder ungliicklich sind, hangt im Wesentlichen von unserer Fahigkeit ab, uns dem Unbelebten anzupassen" (Powys 2002: 23). Wenn Powys dem Alter Infantilismus und Amoralitat attestiert, so liegt darin keineswegs eine negative Bewertung, denn sein Denken zielt auf einen Standort des Alten auBerhalb betriebsamer Lebensverwicklung 3 Herrmann Hesse „Uber das Alter". 4 Johann Wolfgang von Goethe „Maximen und Reflexionen". 5 Andreas Gryphius „Oden und Epigramme".

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„ein tiberaus wtinschenswerter Zustand der Vollendung (...), weil sie sich durch eine Leuchtkraft, eine balsamische Wirkung, ein magisches Gleichgewicht auszeichnet, die man nirgendwo sonst im Leben fmdet" (Powys 2002: 27). Hinsichtlich der Erlangung dieses Zieles nun sind Frauen nach Powys fraglos privilegiert. Wahrend der durchschnittliche Mann sich der Natur mit dem „Blick des Vergewaltigers" (Powys 2002: 82) nahert, besitzt die Frau eine genuine Gabe mystischer Versunkenheit, die sie - so sie sich selbst iiberlassen und nicht den Zwangen der sozialen Rollen und Bevormundung durch die Manner unterworfen ist - mit groBter Freude auszutiben versteht: ,je hinfalliger und gebrechlicher ihr Korper wird, umso naher kommt sie ihrem innersten psychischen Selbst der ekstatischen Verschmelzung mit der Natur" (Powys 2002: 77). Die zahlreichen Implikationen, die sich mit einer Philosophic dieser Art verbinden, mochte ich an dieser Stelle unentfaltet lassen, ebenso wie ich den Fundamentalismus in der Betrachtung der Geschlechterdifferenz unwidersprochen lasse. Es geht mir an dieser Stelle lediglich darum, darauf hinzuweisen, dass sich die Tradition der positiven Altersentwurfe bis hin zu einer nahezu euphorischen Bejubelung dieser Lebensspanne steigert. Wie bei Powys so erwachst dieser Altersgenuss vor allem daraus, sich fernzuhalten „vom allgemeinen Wettrennen" (Powys 2002: 28f.). Erst dann erlangen wir „Versunkenheit mitten im offentlichen Lesesaal der Welt, das Kosten am Suppenkessel, nicht das Rtihren darin", eine Haltung „souveraner Abkehr" (Powys 2002: 28f.), die uns das Wesen der Dinge erschlieBt. Die hochfliegende Begeisterung Powys sticht aus dem Rahmen und besitzt eine ganzlich andere Klangfarbe als die aus dem Geiste antiker Besonnenheit und stoischer Weltverneinung gewonnenen Standpunkte, wie wir sie z.B. bei Cicero und Schopenhauer finden. Hier dominiert zum einen - wie schon Powys, der sich im Ubrigen als einen Bewunderer Ciceros ausgibt, feststellt - die pragmatische Haltung des „machen-wir-das-Beste-daraus" (Powys 2002: 11) sowie zum anderen eben jene abgrundtiefe Beargwohnung aller leidenschaftlichen Hingabe an das Leben. Schopenhauer - dem nichtigen Treiben der Welt entronnen Auch fur Schopenhauer verbinden sich Kindheit und Alter, denn beides sind Phasen, in denen wir mehr der Anschauung als dem Wollen hingegeben sind.6 Ist die Jugend die Zeit der Poesie, so das Alter die Zeit der Philosophic und deshalb die vergleichsweise glueklichste Zeit des Lebens. Nicht dem Gaukelbild der Wtinsche zu verfallen, nicht der GleiBnerei der Welt auf den Leim zugehen, 6 Arthur Schopenhauer „Vom Unterschiede der Lebensalter".

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sich nicht viel vom Leben zu erhoffen und sich mit einem kleinen Wirkkreis zufriedenzugeben, besonnen zu sein, die Einsamkeit auszuhalten, all dies ist nach Schopenhauer erforderlich, um das Leben einigermaBen ertraglich zu machen. Wo es nicht um Gltick, sondern um Vermeidung von Ungluck geht, da ist das Alter ein hochgeschatzter Hafen, in den wir nunmehr im Temperament geschwacht, befreit von Trieben und zukunftsorientierten Hoffhungen, einmiinden und wo wir zur Ruhe kommen konnen. Erst im Alter wachst die Erkenntnis, dass alles Gltick schimarisch und nur das Leiden real ist: „Dies gibt dem Alten eine besondere Gemuthsruhe, in welcher er lachelnd auf die Gaukeleien der Welt herabsieht. Er ist vollkommen enttauscht und weiB, dass das menschliche Leben, was man auch thun mag es herauszuputzen und zu behangen, doch bald, durch alien solchen Jahrmarktsflitter, in seiner Diirftigkeit durchscheint und, wie man es auch farbe und schmucke, doch uberall im Wesentlichen das selbe ist, ein Daseyn, dessen wahrer Werth jedesmal nur nach der Abwesenheit der Schmerzen, nicht nach der Anwesenheit der Gentisse, noch weniger des Prunkes, zu schatzen ist" (Schopenhauer 1987: 201). So sieht es Schopenhauer und gelangt in diesem Zusammenhang zu einer Reihe tiefsinniger Schlussfolgerungen und Beobachtungen uber das Wesen der Alterserfahrung. Auch wer Schopenhauers pessimistischer Willensmetaphysik mit Skepsis begegnet, wird sich der Treffsicherheit seines Sezierblickes in der Erfassung einzelner Altersphanomene kaum entziehen konnen. Die Veranderungen im Verhaltnis zur Zeit - „Man muss alt geworden sein, also lange gelebt haben, um zu erkennen, wie kurz das Leben ist" (Schopenhauer 1987: 190) oder „so wird man sein Alt- und Alterwerden daran inne, daB Leute von immer hohern Jahren Einem jung vorkommen" (Schopenhauer 1987: 193) - prasentiert er mit derselben Klarsichtigkeit, die ihn uber den Ursprung der Besitzgier im Wegschmelzen der Lebenskrafte sowie auch liber die Zusammenhange zwischen „fruh erzwungener Anstrengung" und „der nachmaligen Lahmheit und Urtheilslosigkeit so vieler gelehrter Kopfe" (Schopenhauer 1987: 193) sinnieren lasst. Auch fur Schopenhauer bedeutet das Alter nicht Verfall und Verlust, sondern Zugewinn an Einsicht und Zufriedenheit: „Nur, wer alt ist, erhalt eine vollstandige und angemessene Vorstellung vom Leben" (Schopenhauer 1987: 196) und manchmal auch von sich selbst, muss man hier hinzufugen. Allerdings und dies ist ein nicht zu (ibersehender Tatbestand - schtitzt auch bei Schopenhauer Alter vor Torheit nicht. Letztlich ist alles eine Frage des Temperaments und der Auffassungsgabe, die angeboren sind und nicht vermittelt werden konnen. Insbesondere die philosophische Kraft ist eine Gegebenheit unserer Natur und nicht das Werk der Erziehung: „Daher kommt, wie unser moralischer, so

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auch unser intellektueller Wert nicht von auBen in uns, sondern geht aus der Tiefe unsers eigenen Wesens hervor, und konnen keine Pestalozzische Erziehungskiinste aus einem geborenen Tropf einen denkenden Menschen bilden: nie! er ist als Tropf geboren und muB als Tropf sterben" (Schopenhauer 1987: 185). Das von Schopenhauer umrissene Altersgluck ist also ein Vorzug der Klugen. Vielleicht ist es aber auch nur jene von Schopenhauer angestrebte Variante weltabgekehrter Intellektualitat, die derartige Rtickschlusse zeitigt. Derm: Wer das Leben verneint, wer die lustvolle Verwicklung ins Dasein als sichere Ungliickquelle brandmarkt und deshalb die Askese anstrebt, wird kaum durch Erfahrung, selbst wenn sie schmerzlich und schwer, belehrt und bereichert. Er wird eher vermeiden sich handelnd auf die Welt einzulassen sowie verantwortlich und schopferisch sein Leben auf die Gefahr des Misslingens hin zu gestalten. Die Angst vor Selbstverlust dominiert und wird zum Gestus der praventiven Weltverneinung und schlimmstenfalls zu einer Haltung unerbittlicher Misanthropic, die die Daseinsfreude Anderer herabwurdigt. Wird auf der Basis einer solchen Grundhaltung das Alter gelobt, so ist nicht zu ignorieren, dass der dem Trubel der Dinge entkommene selbstzufriedene Alte vermutlich ein schwer ertraglicher Miesepeter ist, der den Verirrungen der Jugend keineswegs mit dem Wohlwollen Hesses gegentibersteht, sondern eher auf die Nachsicht der jiingeren Generationen angewiesen ist, um sein Leben nicht in Zank und Streit zu verbringen. Mit Schopenhauer gegen Schopenhauer anphilosophierend lieBe sich sagen: Nur dann, wenn das Leben selbst zum Lehrmeister wird, wenn die Philosophic nicht dem Leben trotzt, sondern mit dem Leben reift, kann der Altershabitus kalter Abgeklartheit in ein Bild uberzeugender Altersweisheit umgemunzt werden. Diesen Gedanken werden wir noch weiter verfolgen. Cicero - Herr bleiben bis in den Tod Der romische Philosoph Cicero ist bekannt dafur, die Bewaltigungskraft der Philosophic erprobt zu haben. Zu extreme und strenge Positionen des Griechentums verweist er angesichts der menschlichen Natur in ihre Grenzen. Fur ihn vermag einzig die vernunftmaBige Prufung aller Handlungen, die Personlichkeit zu bilden und eine verantwortungsbewusste Haltung in der Welt zu begriinden. Eine solche durchaus ins Leben verwickelte und ganz aufs Praktische gerichtete Haltung wird - so Cicero - in jedem Fall zur VergroBerung des Lebensglticks beitragen. Es versteht sich von selbst, dass das Alter vor diesem Hintergrund eine besondere Bewahrungsprobe darstellt. Was geschieht in dieser schwierigen Lebensphase? Reicht die Kraft der Philosophic aus, um auch in spaten Jahren ein sinn- und gltickerfulltes Leben fiihren zu konnen? Cicero ist 62 Jahre alt, als er

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sich an die Beantwortimg dieser Fragen macht und - wie kann es anders sein? unbeirrt von alien Vorurteilen gegen das Alter die unfehlbare Wirkung der Philosophic bei Altersbeschwerden vor Augen halt. Das griechische Vorbild fur dieses Werk Ciceros liefert Platon, der in der Schrift „Politeia" Sokrates mit Kephalos tiber das Alter sprechen lasst. Auch wenn die Ausfiihrungen Ciceros in vielem den Gedanken Platons sehr ahnlich sind, gibt Cicero dem Ganzen eine speziflsch romische Einfarbung, indem er den greisen Censor Marcus Porcius Cato, ein Paradebeispiel romischen Lebens, zur Hauptfigur seiner Abhandlung macht.7 Cato ftihrt mit zwei jiingeren, dem Griechentum gegeniiber aufgeschlossenen Mannern, ein Gesprach (iber das Alter, das unter vier Gesichtspunkten die iiblichen Irrttimer tiber ein leidvolles Alter auszuhebeln sucht: Weder zwingt das Alter zu einem untatigen Leben, noch sind der Verlust gewisser Freuden oder die Schwachung des Korpers als negativ anzusehen, noch senkt die Nahe des Todes die Wurde des Alters. „Nur Dummkopfe lasten ihre Fehler dem Alter an" (Cicero 1998: 33). Wer sich beizeiten in die richtige Denkweise einfindet, dem konnen die Naturnotwendigkeiten nichts anhaben, der ist gefeit gegen Verdruss. Klagen wir also tiber das Alter, so beweist dies nur, dass wir schon vorher nicht auf dem richtigen Weg gewesen sind. Nicht der Verlust einer bestimmten Lebensfreude gibt Anlass zum Lamentieren, sondern einzig Charakterschwache verfuhrt uns dazu. „Die besten Waffen gegen das Alter (...) sind Tugenden und ihre Betatigung" (Cicero 1998: 27), heiBt es. Und diese Tugenden gilt es schon friih auszutiben, denn gerade die Erinnerung an ein tugendhaftes Leben ist es, die das Alter angenehm werden lasst. Cicero macht uns umgekehrt klar, dass eine fragwiirdige Lebensfuhrung, die uns rtickblickend belasten muss, das Gltick des Alters vereitelt. Wer nur die Summe seiner Jahre ins Spiel bringt, um Respekt einzufordern, irrt sich: „Ansehen kann man sich nicht plotzlich durch graue Haare und durch Runzeln verschaffen, sondern ein schon friiher in Ehren gefiihrtes Leben erntet am Ende die Friichte des Ansehens" (Cicero 1998: 85). Vor diesem Hintergrund erweisen sich viele negative Phanomene, die wir an alten Menschen beobachten konnen, nicht als spezifische Merkmale des Alters, sondern als Ausdruck personlichen Versagens: „Wie Dreistigkeit und Hemmungslosigkeit eher ein Merkmal junger als alter Menschen sind, jedoch nicht aller jungen, sondern nur der ungeratenen, so ist die greisenhafte Torheit, die man gewohnlich Albernheit nennt, typisch fur nachlassige alte Menschen, aber nicht fur alle" (Cicero 1998: 57). In gleicher Weise urteilt Cicero tiber Zorn, Verbitterung und Geiz bei manchen Alten. Seine Frage „Kann es denn etwas 7 Cicero „Cato der Altere iiber das Alter".

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Unsinnigeres geben, als dass man umso mehr Reisegeld zu bekommen sucht, je kleiner der Rest des Reiseweges ist?" (Cicero 1998: 89) moniert die weit verbreitete Knauserei in spaten Jahren, fur die Schopenhauer so viel philosophische Nachsicht walten lasst. Dies mag ein Nebenaspekt sein, zentral ist, dass Cicero dem alten Menschen eine aktive Lebensweise anempfiehlt, die sich gegen Nachlassigkeit, Lethargie und fruhzeitigen Rtickzug zur Wehr setzt. Dazu gehoren korperliche Erttichtigung, gute Ernahrung und vieles, was wir zum Erhalt der Gesundheit und gegen fruhzeitige Schlaffheit tun konnen. Ein schlafriger Geist ist mehr als alles andere zu brandmarken, denn Geistesstarke ist die Macht, die uns noch als Greise im Nachlassen der physischen Spannkrafte Lebenszuversicht und Orientierung vermittelt. Wie eine Lampe mit 01 versorgt werden muss, so gilt es, Verstand und Geist zu starken, die uns als sichere Lotsen durch die Untiefen aller Lebensphasen lenken. Vor allem aber bewahrt eine straffer Geist davor, den Verfuhrungen der Lust zu verfallen. Lust loscht in jedem Lebensalter das Licht des Geistes aus. Sie ist in Ciceros Denken grundsatzlich die Feindin der Vernunft und wir dtirfen uns deshalb glucklich schatzen, dass das Alter uns auf Grund der nachlassenden Spannkrafte vor ihren schlimmsten Anfechtungen bewahrt. Das heiBt: Wenn uns das Alter von den Leidenschaften wegzieht und nur noch bescheidene Freuden zugesteht, so ist das Anlass zum Jubilieren, denn dadurch nahern wir uns dem Vernunftziel menschlicher Existenz. Die Erleichterung dartiber, im reifen Alter Trieb und Begierde loszuwerden, teilt Schopenhauer wie schon dargelegt. Trotz nicht unwesentlicher Unterschiede z.B. was die Bewertung der gesellschaftlichen Aktivitaten angeht, treffen sich die beiden Denker in diesem Punkt. Auch die Unerbittlichkeit, mit der der strenge Blick des Philosophen die verweichlichten, wehklagenden, lustversessenen Zeitgenossen beaugt, tragt gemeinsame Ziige. Dass die innere Logik einer solchen Philosophie nicht unproblematisch ist, verdeutlicht uns vor allem Sybil Grafin Schonfeldt, die in ihrer vielseitigen Altersschrift dem groBen Romer ein Kapitel widmet. Scharf verurteilt sie Cicero hier als „einen harten alten Mann (...), einen Heuchler, der selbstgefallig die menschlichen Gefuhle zu unterdrticken befiehlt" (Schonfeldt 1999: 55) und erkermt in seiner Haltung einen durch politische Niederlagen und private Verluste bedingten Altersstarrsinn, eine Kalte, die sich in Folge unuberwundener und vielleicht auch untiberwindlicher Einbriiche seiner Lebensgeschichte einstellte. Wie auch immer man mit oder gegen Schonfeldt die Zusammenhange zwischen Lebensgeschichte und Werk beurteilen mag, gewiss ist, dass auch Cicero ahnlich wie Schopenhauer eine umbarmherzige Scharfe spiiren lasst. Wer die altersbedingte Schwache in Verdacht bringt, eine angemessene Quittung fur un-

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solide Lebensffihrung zu sein, lauft Gefahr, mitleidslos genannt zu werden. Und wer die sinnlichen Freuden, vor allem die korperliche Liebe, geringschatzt, missachtet moglicherweise eine der wesentlichen Quellen des Gliicks vieler Betagter. Auch wenn es sicher zutrifft, dass wir dem vorschnellen Altersabbau entgegenwirken konnen und dass wir mit einem starken Geist mancher Heimsuchung besser standhalten, so ist es generell mehr als fragwurdig, das gltickliche Alter in erster Linie als ein Verdienst, als eine personliche Glanzleistung, hinzustellen und damit den anzuprangern, der sich am Ende vergesslich, gebrechlich, hilflos zeigt. Grafin Schonfeldt geht noch einen Sehritt weiter, indem sie in Ciceros Schrift die Diktion eines mannlichen Machtmenschen diagnostiziert, der im Grunde genommen unfahig ist, eine Schlappe hinzunehmen, und noch in den Niederlagen, die das Alter fur jeden mit sich bringt, geheime Triumphe des unbesiegbaren und unbeirrbaren Geistes zu feiern trachtet: „Das ist der alte Senator, der Chef, der King, der Mensch in seiner Macht, der es nicht ertragen kann, daB diese Macht nichts als eine Leihgabe ist, manchmal kurz, manchmal lang, dass es Stolz und Selbstverblendung schaffen, dem Manne vorzugaukeln, er konne auch den Lebenszeiten befehlen" (Schonfeldt 1999: 55). Folgt man Grafin Schonfeldt - und ich bin geneigt dazu - , so sucht Cicero mit den Belehrungen des Cato in erster Linie sich selbst zu tiberzeugen, um die Vergeblichkeiten, das Scheitern der eigenen Lebensziele auf ein ertragliches MaB herabzuschrauben. Noch war Cicero nicht wirklich alt, aber er wird eine Ahnung von den noch kommenden Gebrechen gehabt haben, wenn er die sanfte Hand der auflosenden Natur beschwort, die zum rechten Zeitpunkt eingreift: „Ein Leben endet dann am besten, wenn, solange man noch bei Verstand ist und seine Sinne beisammen hat, die Natur selbst, die ihr Werk zusammengefugt hat, es auch auflost. Wie ein Schiff und wie ein Gebaude am leichtesten von dem, der es gebaut hat, auch wieder abgebaut wird, so lost den Menschen am besten die Natur, die ihn zusammenfligte, auch wieder auf (Cicero 1998: 95). Attestiert Cicero dem Weisen eine Haltung von Gleichmut und Gelassenheit, so zeigen die Anstrengungen, die der Denker auf das Alter anwendet, wenig von einer vertrauenden Hingabe an den Ratschluss der Natur, „die wie in alien anderen Dingen, so auch im Leben ein rechtes MaB" (Cicero 1998: 109) kennt. Auch spricht sich Cicero zwar einerseits fur die Unsterblichkeit der Seele aus, ist sich aber andererseits seiner Sache keineswegs sicher. Ein solcher Irrtum konnte eine letzte Niederlage sein, aber nein, wenn es denn ein Irrtum ist, dann einer, den er gern begeht, an dem er Freude findet, solange er lebt, denn der Glaube an die Unsterblichkeit verschafft sicheren Grand. Ob dies tiberzeugend und trostreich ist, sei dahingestellt.

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Dem Verfall die Stirn bieten, mutig gegen den Abbau anleben, die Verluste ins Positive wenden, das Unvermeidliche als Gewolltes betrachten, das Leiden gering achten, nicht jammern, nicht klagen, nicht wehmtitig werden - liegt hierin nun eine besondere Kunst des philosophiedurchdrungenen Geistes? Gibt uns Cicero ein ehrliches Ideal der Gelassenheit und Souveranitat oder sind es die Krafte von Verdrangung und Ignoranz, die hier wirken? Wir werden dies nicht abschlieBend beurteilen konnen. Offensichtlich ist indes, dass solches Heldentum bei weitem nicht alien Denkern lag, die sich des Themas annahmen. Die dem stoischen Denken eigentiimliche Fahigkeit sich durch Verinnerlichung dem Zugriff des Lebens zu entziehen „fur jeden Wechselfall, fur jedes einschneidende Ungliick ein Argument bereit zu haben"8, mutet an wie ein gut bewehrter Festungswall gegen das „tragische Ungemach des Alterns"9 und die daraus erwachsenden tiefen Einsichten in das Fremdwerden der Welt. 2.2 Das Alter - die nackte Stunde der Wahrheit Simone de Beauvoir, Jean Amery und Noberto Bobbio sollen hier Beispiel geben fur eine gegenlaufige Sicht der Dinge. Wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten, so findet sich bei diesen Denkern ein gemeinsamer dunkler Grundton, der die Vergeblichkeit und Hinfalligkeit aller Dinge anklingen lasst. Existenzielle Verzweiflung und unabweisbare Widerfahrnis dominieren die Erlebniswelt dieser alternden oder alten Menschen. Faszinierend ist vor allem die sprachliche Brillanz und manchmal auch schlichte Prazision, mit der menschliche Grunderfahrungen ins Wort gesetzt werden. Wollte man das hier dargestellte Wesentliche im Erleben des Alters unter einen Oberbegriff fassen, so ware dies der Begriff der Widersinnigkeit. Die paradoxe Grundstruktur menschlicher Existenz ergreift ubermachtig das seelische Erleben. Dem eine Sprache zu geben, erscheint wie eine letzte Zuflucht. Simone de Beauvoir - Verlust und das Unrealisierbare Die geprellte Leichtglaubigkeit Wie die Erfahrungen von Zeit, Leib und Freiheit sich im Alterwerden plotzlich und uberraschend paradox verkehren, beschreibt de Beauvoir - zu diesem Zeitpunkt mit 54 Jahren erst an der Schwelle des Alters - eindrucklich im dritten Band ihrer Autobiografie:10 8 Hannah Arendt „Vom Leben des Geistes" (Arendt 1979: 308). 9 Jean Amery „Uber das Altern" (Amery 2004: 12). 10 Simone de Beauvoir „Der Lauf der Dinge".

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„Ich habe mich gegen jeden Zwang zur Wehr gesetzt, habe aber nicht verhindern konnen, daB die Jahre mich eingekerkert haben. (...) Dabei fmde ich es verwirrend, daB ich der Zukunft entgegengelebt habe, und jetzt rekapituliere ich meine Vergangenheit: Man konnte sagen, die Gegenwart sei mir abhanden gekommen. Jahre lang habe ich geglaubt, daB mein Werk vor mir liege, und plotzlich liegt es nun hinter mir: In keinem Augenblick hat es stattgefimden" (de Beauvoir 1966: 620). Worte, vielleicht ein wenig kokett fur eine erfolgreiche Schriftstellerin und Philosophin in mittleren Jahren, aber nichtsdestotrotz sehr ernst gemeint und nichtsdestotrotz eine Empfindung umreiBend, die vielen Menschen bekannt sein dtirfte: Man lebt Jahr um Jahr auf die Zukunft, den Tag x hin, an dem irgendetwas stattfinden wird. Je langer man dieses Spiel betreibt, um so deutlicher wird, dass diese Zukunft wie eine Luftspiegelung am Horizont ist, auf die man sich mit gebanntem Blick hinbewegt ohne ihr jemals wirklich naher zu kommen. Das Uberwaltigt- und Uberrolltwerden kennzeichnet auch die leibliche Erfahrung. Der Tatsache, wer wir sind und was wir sind, werden wir erst wirklich im Moment des Verlustes inne. „Ich erkenne dieses Jungmadchengesicht wieder, das auf der alten Haut haften geblieben ist. (...) An alien Ecken springt mir die Wahrheit ins Gesicht, und ich verstehe nicht recht, warum sie es darauf anlegt, mich von auBen zu packen, wahrend sie doch in mir steckt. (...) Es hat mich uberrumpelt. Oft halte ich besttirzt vor diesem unglaublichen Ding inne, das mein Gesicht ist" (de Beauvoir 1966: 620f.). Das Schwinden der Schonheit wahrzunehmen, den Riickgang der Leibeskrafte zu spiiren und damit eine Reihe besonderer, somatisch fundierter Erlebnisweisen vergehen zu sehen, wird hier als eine groBe EinbuBe, als ein trauriger Abschied durchlitten, den kein falsches Heldentum ubereilt zuzudecken trachtet: „Ich werde nie mehr trunken vor Mtidigkeit in das duftende Heu sinken. Ich werde nie mehr einsam tiber den morgendlichen Schnee gleiten. Nie mehr ein Mann. (...) Die Gewissheit, dass ich nie mehr neue Begierden in mir spiiren werde, ist noch schmerzlicher als der Verzicht: In der dunnen Luft, in der ich von nun an lebe, verwelken sie noch bevor sie aufbltihen" (de Beauvoir 1966: 622). Ubertroffen werden kann diese Gram nur von der Betrubnis, die der Tod geliebter Menschen auslost. Der Abschied von Anderen, von Bindungen zu vertrauten Menschen und Dingen kommt dem Selbstverlust gleich. Es bleibt hier ein deprimierendes Fazit: „Nichts wird stattgefimden haben". Und der ruckwartsgewandte Blick betrachtet voller Wehmut das hoffhungsvolle, lebenshungrige Madchen: „Wenn ich jetzt einen unglaubigen Blick auf das leichtglaubige junge Madchen werfe, entdecke ich voller Bestiirzung, wie sehr ich geprellt worden bin" (de Beauvoir 1966: 622f.).

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Eine nuchterne Bilanzierung oder das Drama des Existenzialisten? Gegen diese niederschmetternde Negativbilanz mag es eine Reihe von Einwanden geben, die die Biografie der ehrgeizigen Intellektuellen aufs Tapet bringen, einer Intellektuellen eben, die zeitlebens der klassischen Frauenrolle zu entgehen trachtete, die hochfliegenden Zielen nachstrebte und das Leben im Schofi einer btirgerlichen Familie verweigerte. Aber es ist zu simpel, auf diese Weise das Skandalon zum Verschwinden bringen zu wollen. Simone de Beauvoirs einige Zeit spater erschienene umfangreiche Studie uber das Alter11 entkraftet solche Einwande in doppelter Weise: einmal, indem sie hier tiber eine Fiille individueller Zeugnisse dokumentiert, dass Phanomene wie Melancholie, Empfindungen der Leere und Langeweile, der Ruckzug und das VerschlieBen vor der Welt weit verbreitet und keineswegs aus dem Rahmen fallend sind. Eher erscheint die Vorstellung einer heiteren Altersgelassenheit als eine kuhne Illusion. Derm wo das Alter positiv durchlebt wird, zeigt sich vielfach ein besonderer Wagemut, mit dem - in Entsprechung zu Brechts unwurdiger Greisin - lebenslange Entfremdungen durchbrochen werden. Zum anderen liefert das Buch neben diesen empirischen Befunden eine existenzialistische Theorie des Alters, die bestimmte alterstypische Erfahrungen im Rahmen dieser atheistischen Anthropologic herleitet und damit als menschliche Grunderfahrung philosophisch fasst. Diese Arbeit leistet Simone de Beauvoir, um eine Verschworung des Verschweigens der Wahrheit und der Verdeckung unliebsamer Tatbestande des Lebens zu durchbrechen. Die burgerliche Gesellschaft verstellt eine realistische Wahrnehmung des Alters durch Mythen, Ltigen und Klischees, wobei politische Beweggninde eine zentrale Rolle spielen. Dazu erst spater mehr. Obwohl de Beauvoir nachdriicklich die Tatsache herausstellt, dass sich nichts Allgemeingultiges uber das Alter sagen lasst, da die sozialen Einflusse eine immense Rolle bei der Bewertung des Alters spielen, ringt sie dennoch um eine philosophische Bestimmung. So kommentiert sie die (iblichen Reden von Gebrechlichkeit und Verfall mit den folgenden Worten: „Wenn man definieren will, was Fortschritt und was Rucksehritt fur den Menschen ist, so setzt das voraus, dass man sich auf ein bestimmtes Ziel bestimmt; aber a priori, absolut ist keines gegeben. Jede Gesellschaft schafft ihre eignen Werte: Nur im sozialen Kontext kann das Wort Verfall einen prazisen Sinn erhalten" (de Beauvoir 1977: 18). Andererseits aber zeichnet sie, wie wir schon gesehen haben, selbst ein Negativbild des Alters, das sich aus dem Niedergang des Vermogens zu Freiheit und Selbstbestimmung erklart. Das heiBt, sie favorisiert das existentialistische Menschenbild, das die handelnde Gestaltung der Individualist in permanen11 Simone de Beauvoir „Das Alter".

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ter unabschlieBbarer Uberschreitung des Faktischen anstrebt. Wer diesem Muster folgt, muss Alter und Tod, dureh die uns das Ruder aus der Hand genommen wird, als schwere Krankung empfinden: „Die Zeit treibt ihn einem Ziel entgegen dem Tod -, das nicht sein Ziel ist, das nicht durch einen Plan gesetzt ist" (de Beauvoir 1977:278). Entscheidend ist, dass das Alter in zunehmendem MaBe die Moglichkeit nimmt, uns mit uns selbst zu identifizieren. Erst durch die unverbliimten Reaktionen anderer Menschen werden wir uns in aller Radikalitat des Alters bewusst. Wir stehen damit im Widerspruch zwischen der inneren Evidenz unseres Fortdauerns und der objektiven Gewissheit unserer Verwandlung, das heiBt wir miissen uns einer Realitat stellen, die nur von auBen erfasst ist und von unserem Erleben her unbegreiflich erscheint. Damit fallt das Alter unter die von Sartre benannte Kategorie des Unrealisierbaren: „das Alter ist etwas, das jenseits meines Lebens liegt, etwas wovon ich keine Gesamterfahrung haben kann." Es ist etwas der freien Subjektivitat zutiefst Fremdes - „Der gealterte Mensch fiihlt sich alt auf Grund der anderen, ohne entscheidende Veranderungen erfahren zu haben; innerlich ist er nicht einverstanden mit dem Etikett, mit dem man ihn versehen hat - er weiB nicht mehr, wer er ist" (de Beauvoir 1977: 374f.). Wir leben in der Illusion fortdauernder Jugend. ,Das Herz bleibt immer jung', sagt Emilie Fontane12 und auch Freud bestatigt, dass unser Unbewusstes vom Alter nichts weiB. Das Alter hat keinen Heiligenschein, es ist ein gnadenloser, gehassiger Lehrmeister, der uns in die Begrenztheit unserer Wahlen einweist. Mancher kapituliert - so de Beauvoir - durch Uberidentifikation mit dem Angreifer, indem er weit vor der Zeit Abschied nimmt von alien Lebensaktivitaten. Oder es wird rein kompensatorisch dem Alter eine besondere moralische GroBe verliehen, indem man der Ansicht ist, dass die Schwache der Leidenschaften und des Korpers die Augen des Geistes durchdringender werden lasse. De Beauvoir halt wenig von solchen Lobhudeleien. Gegen Schopenhauer und Cicero gerichtet formuliert sie: „Zwar befreit das Alter von den Leidenschaften, aber es steigert die Bedurfhisse eben durch das Unvermogen, sie zu befriedigen: die Greise hungern, frieren, sterben daran" (de Beauvoir 1977: 354). Vor den feindlichen Gewalten des Alters, wie sie ungeschminkt von de Beauvoir dargelegt werden, nehmen die meisten Zuflucht zu den Orten der Vergangenheit, an denen sie ihre unveranderte eigentliche Wesensart wiederzufinden glauben: „Sie negieren die Zeit, weil sie ihr nicht verfallen wollen; sie betrachten ihr friiheres Ich als das, was sie weiterhin sind" (de Beauvoir 1977: 470). Doch dieses Sichergehen in Erinnerung ist triigerisch, derm die ersehnte 12 Gotthard Erler „Das Herz bleibt immer jung - Emilie Fontane" (Erler 2000).

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fraglose Identitat, deren Uneinholbarkeit das Alter untibersehbar macht, ist auch im Vergangenen nicht auffmdbar: „Ich werde die Steine wiedererkennen, aber ich werde nicht meine Plane, Wiinsche, meine Angste wieder finden: ich werde mich nicht wiederfinden", denn „die Vergangenheit liegt nicht hinter mir wie eine ruhige Landschaft, in der ich nach Belieben spazieren gehen kann und die mir nach und nach ihre verschlungenen Wege und ihre verborgenen Windungen enthiillt. In dem MaBe, in dem ich vorwarts schreite, fallt sie in sich zusammen" (de Beauvoir 1977: 474f.). Dennoch steh ich fest im Griff der Vergangenheit, denn dieses, das vollzogene, ins Werk gesetzte und mich pragende Leben, ist das Gegebene, „von dem aus ich mich entwerfe und das ich, urn zu existieren, tiberschreiten muss" (de Beauvoir 1977: 484). Dies hat fur jede Lebensphase seine Gtiltigkeit, doch die Masse der Jahre tiirmt sich auf zu einer immer undurchdringlicheren und unuberwindlicheren Wand der Faktizitat, wahrend zugleich die Krafte schwinden. Simone de Beauvoir entmystifiziert auch die Vorstellung, dass das Leben ein permanenter Fortschritt bis zum Hohepunkt des Alters als Moment der Vollkommenheit sei. Zahllose Stimmen ruft sie in den Zeugenstand, um zu zeigen, dass Entmutigung und schmerzliches Staunen tiber den Gang der Dinge dominieren. „Man verhartet sich hier, man verfault dort, man reift nie" (de Beauvoir 1977: 495), konstatiert sie lakonisch. De Beauvoirs Gedankenwelt ist getragen von der existenzialistischen Uberzeugung einer grundsatzlich uneinholbaren Seinsfiille. Selbst dann - so sagt sie - wenn unsere Wiinsche Wirklichkeit geworden sind, fiihlen wir uns auf gewisse Weise vom Leben geprellt, denn die realisierte Erwartung entspricht auf seltsame Weise niemals dem in die Zukunft projizierten Wunsch: „Das Fiirsich ist nicht" (de Beauvoir 1977: 479) - dies erkennend, bleibt am Ende nur Entmutigung und nicht selten ein sprachloses Entsetzen. Die Unabanderlichkeit der Vergangenheit, das Lebenmussen mit dem, was ich aus mir gemacht habe, kann ich nicht aufheben, denn nichts von dem, was auf mir lastet, kann ich durch einen kuhnen befreienden Zaubergriff wieder loswerden: „Ich bin, was ich gemacht habe und das sich mir entzieht, indem es mich sogleich als einen anderen konstituiert" (Sartre 1967: 433), formuliert Sartre.13 In diesem Zusammenhang darf Folgendes nicht ubergangen werden: Die Philosophin erkennt zwar, dass die auferlegte Inaktivitat und die Erfahrung der Vergeblichkeit des Alters Manner weitaus harter trifft als Frauen, da Letztere auf Grund ihrer sozialen Rolle an Fremdbestimmung und Passivitat gewohnt sind, iibernimmt aber dennoch fraglos den MaBstab des mannlichen Leitbildes. Das muss nicht weiter verwundern, wir kennen diese Grundhaltung aus ihrer 13 Jean Paul Sartre „Kritik der dialektischen Vernunft".

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grofien Emanzipationsschrift. Auch hier zeigt sich: obwohl die geschlossene und starker fremdbestimmte Existenzweise der Frau einen privilegierten Zugang zur menschlichen Grunderfahrung der Ambiguitat14 vermittelt, mithin der existenziellen Wahrheit naher ist,15 vermag de Beauvoir dennoch das traditionell Weibliche nur als eine Krankung und Herabminderung des Menschlichen anzusehen. So brandmarkt sie zwar - was hier nicht weiter ausgefuhrt werden kann bestimmte Formen imperialistischer mannlicher Selbstermachtigung als fehlgeleitet und selbstbetriigerisch, reflektiert aber in der Altersschrift nicht hinreichend, dass ein tibersteigerter mannlicher Freiheitskult die deprimierende Erfahrung des Alters ins Unermessliche steigert. So liefert sie zahllose Zeugnisse groBer Manner, denen das Alter widerwartig wurde oder die im Alter widerwartig wurden, ohne deren Erfahrungen im Blick auf die anspruchsvollen Leitbilder, denen diese folgten, zu relativieren. In diesem Punkt wagt sie in „Das andere Geschlecht" weitergehende Uberlegungen. Die kritische Betrachtung des traditionellen Geschlechterverhaltnisses lasst hier die problematische Struktur einer ausgepragten Eroberermentalitat deutlicher hervortreten. Sie verweist auf das Scheitern des Menschlichen in einem unterdrtickerischen Prozess der Selbstfindung. Der drohenden Entfremdung durch das AuBen und den Anderen entkomme ich nicht durch Uberwaltigung, sondern nur durch Geltenlassen und Anerkennung des Anderen, der wie ich „das Drama von Fleisch und Geist, von Endlichkeit und Transzendenz" (de Beauvoir 1979: 678) zu bestehen hat. Indem der andere Mensch das Ansehen eines unverzichtbaren Partners im Vollzug der Selbstfindung erhalt, besteht die Chance auf Solidaritat und Verbundenheit im Wissen um die Begrenztheit menschlicher Existenz, derm „an beiden nagt die Zeit, auf beide wartet der Tod, beide sind gleichermaBen wesentlich aufeinander angewiesen" (de Beauvoir 1979: 678). Im Zuge diffiziler Analysen weicht de Beauvoir hier die gangigen Kategorien auf und sagt uns, dass wahre Unabhangigkeit sich nur im Zulassen von Bindungen einstellt und dass umgekehrt Freiheit und Verantwortung nicht delegierbar sind: „In Wirklichkeit ist der Mann genau wie die Frau Fleisch und folglich Passivitat, ein Spielball der Hormone und der Art, eine angstliche Beute 14 Der Begriff der Ambiguitat (Doppelsinnigkeit) verweist auf die Besonderheit menschlichen Seins, als vernunft-begabtes Tier zugleich Bewusstsein und Bestandteil der Welt zu sein, das heifit, als Anwesenheit in der Welt wirklich (faktisch) zu sein, mittels seiner Vernunft aber auBerhalb der Welt zu stehen: „er weiB sich als reine Innerweltlichkeit, der keine aufiere Macht etwas anhaben kann, und erfahrt sich doch gleichzeitig als Sache, auf der schwer das Gewicht der anderen Sachen lastet" - zit. aus: Simone de Beauvoir „Fiir eine Moral der Doppelsinnigkeit" (de Beauvoir 1983: 79). 15 Vgl. hierzu: Toril Moi „Simone de Beauvoir. Die Psychographie einer Intellektuellen" (Moi 1994: 223-272).

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des Begehrens. Und im Fieber der fleischlichen Lust ist die Frau genau wie der Mann Einwilligung, freiwillige Gabe, Aktivitat. Sie leben jeder auf seine Art die seltsame Doppeldeutigkeit der Fleisch gewordenen Existenz. Bei den Kampfen, bei denen sie glauben, gegeneinander anzutreten, kampft jeder gegen sich, indem er den verschmahten Teil seiner selbst in den Partner hinein entwirft. Statt die Ambiguitat der eigenen Existenzbedingungen zu leben, versucht jeder, alles Niedrige auf den anderen abzuwalzen und sich selbst das Ehrenwerte vorzubehalten" (de Beauvoir 1979: 678). Steht die negative Bewertung der dem Alter eigenen Passivitatserfahrungen also in einem eigentumlichen Zusammenhang mit der traditionellen geschlechterbezogenen Zerteilung der Welt? Kommt diese Zerteilung einer Vertreibung der kreaturlichen und leibbedingten Erfahrung aus dem gesellschaftlich-maBgeblichen Bewusstsein gleich? Und schlagt sie sich nicht noch heute nieder, wenn wir mit Gemot Bohme erkennen miissen, dass „Geburt und Tod durch ihre Technisierung mehr und mehr ihres Naturcharakters beraubt und der Verfligung der Experten unterworfen" und „andererseits (...) ihres lebensweltlichen und kulturellen Sinnes entkleidet und zu bloBen wissenschaftlichen Fakten reduziert" (Bohme 2003: 214) werden. Es ist anzunehmen, dass das Alter als existentielle Erfahrung deshalb noch immer ein groBes Tabu der westlichen Gesellschaft ist, weil es den Einbruch des Unbeherrschbaren signalisiert. Simone de Beauvoir, die sich in ihrem biografischen Werk hemmungslos und ohne Hoffhung auf Trost ihrer Trauer hingibt, iibt eine Form der Wahrhaftigkeit, die Stein des AnstoBes werden musste. Jean Amery Sich-fremd-Werden - Ver-Nichtung Kein Ausweichen mehr vor der Erfahrung der unaufhebbar paradoxen Grundstruktur des menschlichen Daseins - das ist Signum des Alters bei Jean Amery. Der Tod, der als Unsinn „zuriickschlagt auf jeden Sinn" riickt uns zu Leibe. Durch Verfall und zunehmende Beschwerlichkeit der Lebensvollziige werden wir intim mit ihm. Und dies bedeutet fur Amery ein Debakel auf der ganzen Linie, derm das Negativum des Todes birgt nicht Positives in sich: „Das Leben ist wertlos ohne die Todesgrenze und verliert doch durch sie jeden Wert" (Amery 2004: 118). Im Heranrucken des Todes auf der letzten Lebensstrecke ist kein Trost, kein neues Aufflammen der Lebenskraft, kein trotziges „Carpe diem" mehr moglich. Wir entkommen seiner Sogkraft nicht, derm die Erfahrung mit uns selbst im Voranschreiten des Lebens iiberwaltigt uns: Im Erschrecken vor dem eigenen Spiegelbild, in der Kraftlosigkeit des Korpers oder gar in Schmerzen werden wir uns unserer selbst viel intensiver bewusst als in jungen Jahren.

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Was wir immer schon wissen, namlich, dass wir unser Ich im Verlust starker empfmden als im Vollbesitz der Krafte, bestimmt das normale Erleben des Alternden, so dass es hier zu einer eigentiimlichen Verknupfung von Selbstentfremdung und Verselbstung kommt: „Schmerzen, die wir nicht anstreben, gewahren uns Ichgewinn" (Amery 2004: 54f). Wir werden echt im Alter, wahrend das Ich, das wir in der Jugend unser eigen nannten, nie bestanden hat bzw. eine Fiktion, ein Fremdbild, eine MutmaBung iiber uns selbst darstellte: „Wir werden im Alter uns fremd, doppelt und unergrtindlich, derm wenn A. vor dem Spiegel kopfschuttelnd sagt, ,das bin nicht mehr ich', ist ihr das Subjekt so wenig bekannt wie das Pradikat" (Amery 2004: 60). Der Blick des Anderen, die Dominanz der Jugendkultur und der Verlust der kulturellen Bezugssysteme leiten schon sehr friih den existentiellen Tod ein, der darin besteht, sich nicht mehr selbst tiberschreiten zu konnen. Amery halt es fur aussichtslos, gegen die Vorgaben der modernen Gesellschaft anleben zu wollen, derm diese ist eine Welt ohne Vergangenheit und ohne Interesse am Hergebrachten. Respekt vor dem Alter ist hier nur eine kaschierte Form von Geringschatzung. Die Jugend stiehlt den Alten die Welt und bietet sie ihnen als Konsumartikel an: „Die gleiche Gesellschaft, die den Alternden zunichte macht, indem sie ihm die Zwangsjacke eines unveranderlichen Seins anlegt oder ihn gar aus dem okonomischen Prozess ausstoBt, fordert ihn auf, sein Alter zu konsumieren, wie er einst seine Jugend konsumierte" (Amery 2004: 84). Die rasanten Veranderungen machen die gegenwartige Gesellschaft zur Lastkultur, die den vernichtenden Ausschluss der Alten kaum mehr bemantelt. Die Ausftihrungen Amerys beinhalten zwar eine Anklage der modernen Lebensverhaltnisse, lassen indes keinerlei kritischen Impuls in Richtung einer politischen Veranderung erkennen. Im Gegenteil, weitaus mehr noch als Simone de Beauvoir erhebt Amery die Negativitat des Alters zu einer anthropologischen Konstante, gegen die absolut kein Kraut gewachsen ist. So demonstrieren seine Betrachtungen iiber die Zeiterfahrung im Alter in zutreffender Weise konstitutive Grundztige der menschlichen Existenz, deren wir gewahr sein miissen. In keiner Weise anerkennen diese Uberlegungen indes die Moglichkeit einer Milderung dieser Erfahrung durch ein wachsames Nachdenken, durch die Kraft des Verzeihens und den Einfluss zwischenmenschlicher Ftirsorge. Die Irreversibilitat der zeitlichen Existenz Amery beschreibt das Alter als ein Innewerden der Zeit, die zugleich entschwindet. Altern bedeutet ein Angefiilltwerden mit Zeit, die in uns lagernd zunehmend alle Gegenwart erstickt und lahmt. Wahrend der alte Mensch durch die

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gelebte Erfahrung der Irreversibilitat des Lebens gewahr wird und allmahlich alle Entfaltungsmoglichkeit verliert, durchmisst der junge, noch zeitlose Mensch die Weite des Raumes und gestaltet die Wirklichkeit. Wer auf den Tod wartet, hat keine Zukunft mehr, denn der Tod annulliert den Sinn alien Gestaltens. In Resignation und Trauer verdichtet sich das Ich, die Abgeklartheit des Alters offenbart die absurde Abgrtindigkeit der menschlichen Existenz, wahrend die Jugend durch Ichferne und ein hohes Illusionspotenzial gekennzeichnet ist. Die spat erschlossene Wahrheit ist ohne Trost und Zuversicht. Erst der Verlust der Welt, die Niederlagen im Kampf des Lebens, erst bodenlose Trauer stiften jenes Identitatsgefuhl, das mir als Schaffender endlos entglitt: „Er war schon halb entraumlicht, da entdeckte er einmal und fur immer, dass gelebte Zeit unter bestimmten Umstanden aufkommen muss fur Welt: jene war ganz sein Eigentum und seine Eigentlichkeit, durch diese aber wurde man standig dtipiert. In der prospektiven, vorgenommenen Selbstverwirklichung hoffte man, dass man der Welt sein Siegel aufpragen werde. Dann aber erweist sich, dass jede Prageform ausgeloscht wird durch eine andere. Der prospektive Wille fuhrt nicht zur Ichwerdung, auch nicht zur Besitzergreifung der Welt. Er ist nur ein atemloses Sichverlieren an fremde Krafte, die uns uberwaltigen" (Amery 2004: 33f.). Solche letzten Erkenntnisse erschlieBen sich nach Amery schneller und wirksamer dem Gescheiterten und Erfolglosen. Das Einmtinden des Lebens in saturierte Blirgerlichkeit ist dagegen reiner Selbstbetrug, ein Zustand von „PseudoEwigkeit", symbolisiert in monumentalen Grabmalern, mit denen das Btirgertum dem Tod zu trotzen scheint. Die Gemtitsruhe des Bourgeois ist vordergriindig, erreichbar nur durch die Lebensform des Jedermann und mithin die Verdrangung unerfullter Lebenstraume. Obgleich feststeht, dass keines unserer hochfliegenden Lebensziele jemals Aussicht auf Erfolg haben kann, kann Amery nur verachtlich auf das kleine Gluck der Blirgerlichkeit blicken. Es ist sicher nicht von der Hand zu weisen, dass sich hier ein Ressentiment des - nach eigenem Ermessen - nur maBig Erfolgreichen gegentiber dem Gelingen abzeichnet. Oder, um es genauer zu sagen: Amery, der vor allem an einem Erfolg als Romanautor interessiert war, ertrug es kaum, ,nur' als erfolgreicher Essayist Anerkennung zu finden, zumal man ihn, wie er meinte, lediglich als „Parade-Opfer und Leidens-Juden" (GauB 2004 unter http://www.lyrikwelt.de) gelten lieB. Die Veroffentlichung seiner Romane stieB auf wenig positive Resonanz. Es erfolgten Verrisse, in denen man seine literarischen Ambitionen eher als Fehltritte auf artfremdem Terrain einstufte. Er litt unsaglich darunter und setzte seinem Leben 1978 ein Ende, als er vergeblich auf eine Besprechung seines letzten Romans „Charles Bovary, Landarzt" wartete.

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Man kann sich fragen, ob es nicht die spezifischen Bedingungen einer hochst individuellen Erfahrung sind, die den qualerischen Pessimismus seiner beiden Hauptessays „Uber das Alter" und „Uber den Freitod" pragen. GleichermaBen ist nicht von der Hand zu weisen, dass vor allem auch die vernichtenden Erfahrungen der Konzentrationslager, in denen Amery mehr als zwei Jahre verbrachte, seine Lebenshaltung dauerhaft bestimmten. Der Hinweis auf den biografischen Zusammenhang soil hier keineswegs den Wert der seharfsinnigen Reflexionen Amerys tiber die Alterserfahrung mindern. Er soil lediglich ein Nachdenken daruber anregen, warum gerade das Aufkommen der Erinnerung als typisches Merkmal des Alters von Amery verachtlich als ein illusionarer Trost fur den Weltverlust abgewertet wird. Die Reduktion auf eine Existenzweise reiner (Er)Innerlichkeit stellt fur ihn eine Form auswegloser Gefangenschaft dar. Aber ist es nicht eher die verstandliche Abwehr der Erinnerung an eine ausweglose Gefangenschaft, die diese Einschatzung tragt? Ist nicht auch Amerys Fazit, dass keine Reue moglich ist und mithin auch kein Verzeihen und Vergeben, dem Erleidenmussen einer menschenverachtenden Todesmaschinerie geschuldet? Die Vergebung als Heilmittel gegen die Unwiderruflichkeit des Getanen kann es hier nicht geben. Aber kann es sie deshalb grundsdtzlich nicht geben? Kann es kein auf den Anderen gerichtetes Sprechen geben, das es auch in spaten Jahren noch ermoglicht, sich aus Schicksalszusammenhangen zu befreien? Ist dies nicht - um mit Hannah Arendt zu sprechen - eine Form des Anfangens und des Handelns, die auch dann noch moglich ist, wenn das aktive Leben voriiber ist? Die Erfahrung des Totalitarismus ist dem Glauben an eine gemeinsame Welt des Miteinandersprechens und -handelns diametral entgegengesetzt. Sie erstickt das Vertrauen in eine Menschlichkeit, die die Angewiesenheit auf Andere positiv bewertet und eine durch Pluralitat gebundene Freiheit zu realisieren trachtet. Die Pervertierung des Homo faber im Nationalsozialismus zeitigt jenen ,furchterregenden Solipsismus'16, den Arendt als dem Tatigkeitstypus des Herstellens eingeschrieben sieht. Meines Erachtens leidet Amery, bedingt durch die Tragik seines Lebens, an einem solchen Vertrauensverlust, was jene Empfmdung erzeugt, einer grenzenlosen Negativitat ausgeliefert zu sein. Hier ist kein Raum mehr fur Handlungsmachtigkeit und Versohnung. Das wollende Ich zieht sich aus der Welt zurtick und richtet sein tiefes Ressentiment auf sich selbst. Das Wissen um den Tod stellt sich nicht erst im Wegschmelzen der Zukunftsdimension ein, sondern es tragt das menschliche Leben von Anfang an. Erst indem wir den Blick von diesem fur alle unabweisbaren Faktum nicht ab16 Siehe: Hannah Arendt (1997: 422f.).

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wenden, beginnen wir zu philosophieren, und losen uns von einer Besinnungslosigkeit, die das Alter so schmerzlich werden lasst. Selbstzufriedenheit ergibt sich - wie Arendt in Anlehnung an Spinoza darlegt - , indem wir der Stimme des Gewissens folgen, jedoch nicht im Sinne der Befolgung gesellschaftlicher Konvention, sondern durch Priifung der Gegebenheiten nach dem Gesichtspunkt, „ob ich mit mir selbst in Frieden werde leben konnen, wenn einmal die Zeit gekommen ist, tiber meine Taten und Worte nachzudenken" (Arendt 1997: 190). In diesem Sinne bezeichnet sie das Gewissen als „die Vorwegstellung des Gesellen, der einen nur dann erwartet, aber auch immer dann erwartet, wenn man nach Hause kommt" (Arendt 1997: 190). Denkend erschlieBt sich uns immer schon das Wissen um Unwiederbringlichkeit, Unumkehrbarkeit des Lebens und auch um Unabwendbarkeit vieler Dinge. Wir erkennen aber auch, dass es nicht gelingen kann, der eigenen Lebensgeschichte ganzlich habhaft zu werden, uns uns selbst umfassend transparent zu werden. Und dieses Eingestandnis einer immer moglichen Selbstverkennung und Selbstverfehlung mag Ausgangspunkt eines tieferen Ethos sein, der sich, wenn iiberhaupt irgendetwas, als (Alters) Weisheit bezeichnen lieBe. An diesem Punkt wird man tiber Noberto Bobbios Selbstzeugnis „De senectute" - tiber das Greisenalter - sprechen mtissen. 2.3 Noberto Bobbio - Die weise Resignation Der Turiner Philosoph Noberto Bobbio schrieb sein Buch tiber das Alter hochbetagt, nicht wie de Beauvoir im 6. oder wie Amery im 7. Lebensjahrzehnt. Es ist eine sehr personliche Bilanzierung und versteigt sich kaum zu allgemeinen Ansichten tiber diese Lebensphase. Gerade durch seine Authentizitat gewinnt dieser Text eine auBergewohnliche Uberzeugungskraft. Bobbio steht in der letzten Phase eines bemerkenswert aktiven und dabei bemerkenswert erfolgreichen Lebens, das ihn neben seiner wissenschaftlichen Laufbahn auch zu politischen Wiirden gelangen lieB. Seine Versenkung in die Erfahrung des Alters hebt indes das Bewusstsein um das Unerreichbare und nicht mehr zu Erreichende hervor. Die Verlangsamung des Alters vereitelt jede Hofmung darauf, zum Ziel zu gelangen: „Ich mtisste schneller werden, um noch rechtzeitig anzukommen, start dessen erlebe ich Tag fur Tag, dass ich gezwungen bin, mich langsamer zu bewegen" (Bobbio 2002: 60). Doch die Dinge stehen noch schlimmer, derm genauer betrachtet ist unter dem Strich keinerlei Befriedigung erkennbar. Der Ertrag des Denkens und Wirkens scheint nichtig und bedeutet - schenkt man Bobbio Glauben - kaum einen Zugewinn an Lebensqualitat: „Du bist am Ende angekommen und hast doch den Eindruck am Ausgangspunkt stehen geblieben zu sein, was das Wissen um Gut und Bose betrifft.

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Alle groBen Fragen sind unbeantwortet geblieben. Nachdem du immer versucht hast, dem Leben einen Sinn zu geben, erkennst du jetzt, dass es keinen Sinn hat, sich die Frage nach dem Sinn zu stellen, und dass das Leben in seiner Unmittelbarkeit angenommen und gelebt werden muss, wie es die allermeisten Menschen tun" (Bobbio 2002: 94). Bobbio beargwohnt den Erkenntniseifer, der ihn Zeit seines Lebens umtrieb, und ihn doch lediglich „am FuB des Baumes der Erkenntnis" (Bobbio 2002: 64f.) anlangen lieB. Auch misst er den Preisen, Ehrungen und offentlichen Wurdigungen, die ihm zu Teil wurden, im Nachhinein wenig Bedeutung zu. Dauerhafte Freuden entsprangen - wie er schreibt - nicht den Frtichten seiner Arbeit: „Sie wurden mir durch mein Leben in menschlichen Beziehungen geschenkt, durch Lehrer, die mich unterrichtet haben, durch die Menschen, die ich geliebt habe und die mich geliebt haben, durch all jene, die mir immer nahe gestanden haben und mich jetzt auf dem letzten Abschnitt meines Lebens begleiten" (Bobbio 2002: 1 If.). Die ntichterne Priifung an sich selbst durchflihrend, wird Bobbio der schlichten und dennoch tiefen Erkenntnis gewahr, wie unwissend und irrtumsanfallig unser Weltverstehen ist und dass am Ende das Gelingen von Zwischenmenschlichkeit das Wesentliche darstellt. Dies ist keinesfalls als Befiirwortung des Riickzuges in die private Nische personlicher Beziehungen zu verstehen. Vielmehr verweist Bobbio hier ganzlich unakademisch auf eine Form politischen Handelns, die er auch in seinem theoretischen Werk entfaltet. Die wesentliche Einsicht, die Bobbio zuletzt ohne alle belehrende Absicht zu vermitteln sucht, liegt in seinem Bekenntnis zu einem Weg der Versohnung, der Folgendes umfasst: nicht das letzte Wort behalten zu wollen; sich davor zu huten, Diskussionen aus Prestigegrtinden zu fuhren; sich um das Dialogische zu bemtihen; den Bruch zu vermeiden: „Eine wirkliche Niederlage bedeutet es, wenn man den Feind nicht zu Freundschaft oder wenigstens zu einem aufrichtigen und dauerhaften Einverstandnis unter gesitteten Menschen bekehren kann" (Bobbio 2002: 16). Es ist fur Bobbio ein Zeichen von Schwache, wenn man der Versuchung zum Zerwtirfhis nachgibt. So ist der Dialog das eigentliche Kerngeschaft des Humanen, derm er zeugt von der Fahigkeit, sich nicht beharrlich an die eigenen Uberzeugungen zu klammern, nicht zu monologisieren oder Kontroversen zu fuhren in der Absicht den Anderen zu usurpieren oder auf subtile Weise niederzumachen. Oftmals uberlagert das Verlangen nach Wirkung den Ernst der Reflexion. Wer sich auch im Zwiegesprach auf den Monolog verlegt, verbirgt oftmals seine eigenen Absichten, auch wenn er noch so rational und feingeschliffen zu argumentieren scheint. Er lauft Gefahr im Vollzug dieser Haltung nicht nur seinen Gegner, sondern auch sich selbst iiber sich selbst zu tauschen.

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Deshalb gilt es Bobbio viel, audi die Ideen Anderer zu respektieren und „vor dem Geheimnis innezuhalten, das jedes individuelle Bewusstsein birgt, zu verstehen, bevor ich diskutiere und zu diskutieren, bevor ich verurteile" (Bobbio 2002: 120). Bobbio umreiBt eine Haltung luzider Sanftmut, die nicht unbedingt als charakteristisehes Merkmal eines Philosophen gelten kann. Der wissende Habitus straft hier in der Regel die vielzitierte sokratische Bescheidenheit des Nichtwissens Luge und befordert vielfach einen besserwisserischen objekthaften Umgang mit Anderen und sich selbst. Die Beschranktheit der eigenen Perspektive zu konzedieren, gleichzeitig AnstoB zu nehmen, Irritation zu erfahren, sich betreffen zu lassen, ist der Anfang des Philosophierens und - folgen wir Bobbios Ausfuhrungen - auch der Endpunkt aller philosophischen Einsicht. Biografische Quellen, aber auch seine Werke kennzeichnen Bobbio als einen unermudlichen Kampfer fur die Aufrechterhaltung, Durchsetzung und Ausdifferenzierung der Menschenrechte, wobei er in der Praxis vielfach eine vermittelnde Rolle zwischen gegenlaufigen Parteien eingenommen hat. Zentral fur sein theoretisches Werk ist die Entfaltung eines Toleranzbegriffs, der nicht alle Wahrheitsansprtiche beztiglich der eigenen Position fahren lasst, sondern eher eine Haltung praktischer Vorsicht umreiBt. Tragend ist hier ein aktives Vertrauen in die Vernunftfahigkeit der Anderen: „Das ist die Auffassung, die den Menschen nicht nur als von der Verfolgung seiner eigenen Interessen geleitetes Wesen begreift, sondern auch fur fahig erachtet, das eigene Interesse im Lichte des allgemeinen Interesses zu sehen und bewusst auf die Gewalt als einziges Mittel der Durchsetzung seiner Vorstellungen zu verzichten."17 Die wirklichen Feinde der Demokratie sind, wie Bobbio unmissverstandlich deutlich macht, nicht ihre erklarten Feinde, sondern ihre unkritischen Claqueure. Auch wenn Bobbio am Ende eingestehen muss, keines seiner Ziele erreicht zu haben, so erscheinen die endlosen Anstrengungen des Nachdenkens und Umdenkens, die ihn riickblickend schwindeln lassen und ihn zwingen „keuchend anzuhalten" (Bobbio 2002: 29), dennoch nicht vergebens. Zumindest dem auBenstehenden Betrachter wird augenfallig, dass das unermtidlich weitertreibende Fragen dieses Denkers jene Kompetenzen entfaltet, die nicht nur das personliche Leben angesichts der Hinfalligkeit aller Dinge ertraglich machen, sondern die auch ftlr das Uberleben einer zerrissenen und unuberschaubaren Welt unverzichtbar sind. Noch einmal sei Bobbios „Das Zeitalter der Menschenrechte" zitiert. Auch wenn die folgenden Worte keine Altersweisheiten sind, so entspricht ihr Gehalt doch genau dem, was am Ende der Wegesstrecke tibrigbleibt. Wie Bobbio in einem Gesprach anlasslich seines 80sten Geburtstages sagte, ha17 Noberto Bobbio „Das Zeitalter der Menschenrechte. Ist Toleranz durchsetzbar?" (Bobbio o.J.: 93).

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ben sich seine Grundiiberzeugungen innerhalb eines halben Jahrhunderts niemals gewandelt. Umrissen wird ein Verstandnis politischen Handelns jenseits von Pragmatismus und Machtpolitik, das einen Raum der Offentlichkeit erstehen lasst, in dem Meinungsfreiheit kein Freibrief zur Beliebigkeit wird, sondern die Entfaltung einer gemeinsamen Welt ermoglicht: „Wer an Toleranz glaubt, tut dies nicht allein auf Grund der Erkenntnis, dass Glaube und Meinungen irreduzibel sind und folglich die Vielfalt des menschlichen Geistes nicht durch Verbote eingeschrankt werden darf. Er glaubt vielmehr auch daran, dass Toleranz Friichte tragen kann und die einzige sinnvolle Moglichkeit, die Intoleranz zur Anerkennung der Toleranz zu bewegen, nicht in der Verfolgung, sondern in der Anerkennung ihres Rechtes auf Meinungsfreiheit besteht. Es ist nicht gesagt, dass der Intolerante, der in der Freiheit akzeptiert wird, den ethischen Wert des Respekts fur die Ideen anderer begreift. Fest steht aber, dass der verfolgte und ausgeschlossene Intolerante niemals ein Liberaler werden wird. (...) Eine immer gefahrdete, aber sich ausdehnende Freiheit ist einer, die beschutzt, aber entwicklungsunfahig ist, unbedingt vorzuziehen. Nur eine gefahrdete Freiheit ist in der Lage, sich zu erneuern. Eine nicht erneuerungsfahige Freiheit hingegen verwandelt sich frtiher oder spater in Knechtschaft" (Bobbio o.J.: 103f.). Die Resignation des alten Marines mag bedeuten, dass er irgendwann des Werdens und dieser aufreibenden Auseinandersetzung mit Anderen miide wurde. Dies mindert indes nicht den Wert gelungener Zwischenmenschlichkeit, die sich, wie Bobbio auch zuletzt betont, im Bestand lebenslanger Freundschaften und Beziehungen manifestiert. Wenn die Kammern der Erkenntnis nichts mehr aufzunehmen vermogen, bleibt die Gedachtniswanderung durch Reminiszenzen vergangener Begegnungen und Erlebnisse. „Man sagt: am Ende bist du das, was du gedacht, geliebt, vollbracht hast. Ich mochte hinzufugen: du bist das, was du erinnerst" (Bobbio 2002:37f.). Beizeiten so zu leben, dass die erinnernde Begegnung mit mir selbst auszuhalten ist, Freund und nicht Gefangener der eigenen Taten sein zu konnen, sie nicht verdrangen oder leugnen zu mussen, dies scheinen Bobbios Leben und Werk nahe zu legen. Sein Leben war dabei keineswegs frei von schwerwiegenden Fehltritten. So biederte er sich als junger Intellektueller den Faschisten an, urn in seiner Universitatskarriere nicht blockiert zu werden. Als dieser Opportunismus in spateren Jahren an die Offentlichkeit dringt, versucht Bobbio indes nicht, sein Verhalten herunterzuspielen, sondern gesteht seine Schuld ein: ,Jch, der ich meine faschistische Jugend umgeben von Anti-Faschisten verbracht habe, werde heute von Gewissensbissen geplagt; ich schame mich vor allem vor denen, die acht Jahre im Gefangnis abgesessen haben."18 18 Zitiert nach Carl Wilhelm Macke „Ein Meister des Dialoges. Zum Tod von Noberto Bobbio" (Macke 2004: o.S.).

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3. Abschlussbetrachtung Die zunehmend lange Altersphase des Menschen ist nur insofern ein biologischer Sonderfall, als sie sich der kulturschaffenden Kraft des Geistes verdankt. Es ist deshalb auBerst problematisch, die menschliche Langelebigkeit unter Gesichtspunkten der Biologie zu diskutieren, vom Uberlebenskampf der Generationen zu sprechen, in dem sich gemaB den Gesetzen der Evolution der Lebensanspruch der jungen Generation gegen die unproduktiven Alten durchsetzen wird. Auch wenn es Schirrmacher letztlich um eine Verbesserung der Lebenssituation alter Menschen geht, unterliegt seinem Bestseller „das Methusalemkomplott" die zutiefst sozialdarwinistisch gepragte Uberzeugung, dass schon bald die Jungen eine gnadenlose „Kosten-Nutzen-Rechnung aufinachen" (Schirrmacher 2004: 54ff.) werden, der die Alten zum Opfer fallen mussen, so sie nicht beizeiten, und das heiBt sofort, massiv dagegen mobil machen. Selbst Euthanasieprogramme und erzwungene Selbstmorde werden vorstellbar. „Die Jugend wird den Darwinismus entdecken" (Schirrmacher 2004: 131). Schirrmacher entfaltet vor diesem Hintergrund in martialischen Worten ein dtisteres Zukunftsszenario von Verteilungskampfen und der Revolutionierung menschlicher Beziehungen ein heute noch niedlicher Saugling, wird morgen der Vollstrecker einer mitleidslosen Ideologic sein. Neben den eigenen Uberlebensinteressen ist es die Angst vor Niedergang und Tod, die die Jugend seit jeher gegen die Alteren aufbringt. Man mag Schirrmachers Thesen beurteilen, wie man will, sie ftihren vor Augen, wohin eine unreflektierte und unkontrollierte Fortsetzung einer einzig nach Leistungs-, Effizienz-, und Machtkriterien ausgerichteten Denkweise schlimmstenfalls ftihren konnte. Die destruktive Dynamik einer rein instrumentellen Rationalitat miindet in die umfassende Verfiigung iiber die Freiheit Anderer. Das Problem der Uberalterung wird sich in den Kategorien einer reinen Arbeitsgesellschaft nicht losen lassen Die gesellschaftliche Integration und Partizipation alterer Menschen kann nicht auf die Ausweitung einer Nutzung ihrer okonomischem Potenziale reduziert werden, etwa durch Verlangerung der Lebensarbeitszeit und ahnliche MaBnahmen. Es kann deshalb auch nicht nur darum gehen, die Alten fit zu halten, sie von den Jungen lernen zu lassen, um ihren Nutzwert aufrecht zu erhalten. Auch wenn es nicht von der Hand zu weisen ist, dass sich im Zuge der geschichtlichen Entwicklung die „breite Palette von Fahigkeiten und Reserven" (Riley/Riley 1992: 441) 19 alterer Menschen erheblich gewandelt hat, auch wenn der Mythos vom altersbedingten Abbau langst wissenschaftlich widerlegt ist (Riley/Riley 1992: 438f.) und altere Menschen unter derzeitigen Bedingungen vielfach ein Leistungsstreben abbauen mussen, das 19 Siehe auch den Aufsatz insgesamt.

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ihnen ganz selbstverstandlich ist, so lassen doch gerade die philosophischen Quellen erkennen, dass das Alter als Abschnitt zunehmender Sinnorientierung nicht der okonomischen Verwertbarkeit geopfert werden darf. Die gesteigerte Tendenz zu Besinnung und Bilanzierung, das Nachdenken tiber ungeloste Konflikte und Lebensfragen, die nachweislich fur diese Lebensphase zentral sind (Staudinger/Dittmann-Kohli 1992: 408-436),20 besitzen eine hohe gesellschaftliche Relevanz, um den Sachzwangen leerer Akkumulation von Gtitern und Macht, die wir furchten miissen, entgegenzuwirken. „Gerade im Alter mag es gelingen, sich von einer tibermaBigen Einbindung in vorherrschende Sinnstrukturen der Gesellschaft zu befreien. Es sind dies Werte, die den einzelnen zum Schuldner gegentiber den grenzenlosen Anspriichen anderer und gegentiber einem erdriickenden Netzwerk nie erreichter Ideale und Standards im Bereich von Arbeit und Beruf, aber auch Aussehen hatten werden lassen" (Schneider 2005: 429). Die hier angesprochene Chance des Alters, der weltlichen Betriebsamkeit nicht bloB funktionierend, sondern denkend und fragend zu begegnen, ist nur dann moglich, wenn durch die besondere Situation des Ruhestandes eine Besinnung und Uminterpretation der eigenen Lebensform Raum finden kann. Die Beendigung der Erwerbstatigkeit sollte demnach nicht allein eine Frage der Fitness von Korper und Geist sein. Wenn die Kierkegaard zugeschriebene Einsicht zutrifft, dass das Leben ,vorwarts gelebt' und nur ,ruckwarts verstanden' wird, dann sollte der zum Verstehen notwendige Stillstand, den die moderne Arbeitswelt nur wenigen Privilegierten zubilligt, wenigstens im Alter erfolgen. Dies meint nicht, dass man aufhoren soil, Projekte zu haben oder vital am Leben teilzunehmen, sondem allein, dass man aus der Tretmuhle des Immergleichen, den meistenteils stressigen und belastenden Konditionen des Berufs, entlassen wird, um selbstbestimmter agieren zu konnen und auf andere Weise in der Gesellschaft wirksam zu werden. BekanntermaBen ist genau dieser Ubergang in das Pensionsalter fur viele Menschen oft eine auBerst schwierige Hurde, die zu nehmen nicht immer gelingt. Es ist sogar zu vermuten, dass das AusmaB der Fremdbestimmung sowie der durchlebten beruflichen Strapazen mit dariiber entscheidet, welche Chancen einer neuen Lebensqualitat sich eroffiien konnen. Apathie, Langeweile, Depression und Lebenstiberdruss sind gelaufige Alterssymptome, die nicht selten ihre Wurzel in der schon fruhzeitigen Aufgabe sinnorientierten Nachdenkens haben. „Wenn der Rentner an der Sinnlosigkeit seines gegenwartigen Lebens verzweifelt, so deshalb, weil ihm die ganze Zeit hindurch der Sinn seiner Existenz ge20 Beispiel dafiir mogen auch die Selbstzeugnisse einiger prominenter Frauen sein: Regine Schneider (Hg.) (2005): „Funfundfiinfzig plus. Die Kunst des Alterwerdens - prominente Frauen erzahlen".

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stohlen worden ist. Ein Gesetz, ebenso unerbittlich wie das eherne Gesetz, hat ihm nur gestattet sein Leben zu reproduzieren, und ihm die Moglichkeiten, Rechtfertigungen dafur zu finden, verwehrt", schreibt de Beauvoir (1977: 710). In der Misere vieler Alten zeigt sich - so die Philosophin - das Scheitem unserer Zivilisation, die den Menschen verweigert durch angemessene Bildung und Weiterbildung lebenslang ein aktives und niitzliches Mitglied der Gesellschaft zu sein, wobei es vor allem darum gehen muss, ein reflektiertes, vor sich selbst gerechtfertigtes Leben fuhren zu konnen. Die Altersbilanzierung Bobbios erschliefit im Zusammenklang von spaten Weisheiten und tiefer Resignation etwas Wesentliches: Die im lebenslangen Engagement gewonnene Einsicht in den Wert sozialer Bindungen ist in Anbetracht der Entsolidarisierung und Zersplitterung der Lebenswelt eine immer noch richtige, aber eben darum auch niederdriickende Einsicht. Einsichten dieser Art sind ein auBerordentliches Potenzial, das wachzurufen aporetisch anmutet: Um aus der Lebenserfahrung alterer Menschen flir eine zukiinftige Gesellschaft schopfen zu konnen, bedarf es eines Bewusstseinswandels, der sowohl ein Abweichen vom Jugendkult impliziert als auch ein Zuriicktreten von rein okonomischen Leitlinien, derin „solange wir die Gedanken zum Altem durch die Miihlen von Kommerz und Markten laufen lassen, kommen wir zu den bekannten, peinlichen Resultaten nackter Generationsanspriiche" (Druyen 2005: 25). Ein solcher Bewusstseinswandel ereignet sich aber nur dann, wenn man begonnen hat, die Grenzen und Irrtumsanfalligkeit der eigenen Auffassungen und Zielvorgaben zu erkeimen. Hierzu veranlassen vor allem schwierige Lebensereignisse und Krisensituationen, in denen eine tatige Verarbeitung des Erlebten gefordert ist. In fortgeschrittenen Jahren ist die Wahrscheinlichkeit, eine Reihe solchermaBen aktiver Konfliktbewaltigungen vollzogen zu haben, groBer als in jungen Jahren und es ist tatsachlich so, dass altere Menschen „einen flexibleren Stil der Auseinandersetzung mit Lebensereignissen" (Staudinger/Dittmann-Kohli 1992: 423) zeigen. Folgt man den Darlegungen des franzosischen Soziologen Alain Ehrenberg, so ist aber gerade der Konflikt aus der Mode gekommen. Die Liberalisierung der Lebensformen, die Aufweichung traditioneller Hierarchien sowie die Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen in den westlichen Gesellschaften zeitigen nach Ehrenberg einen Subjekttypus, der nur sich selbst gehoren will und seine eigenen Regeln schafft. Dieser neue Mensch trachtet nach Selbstentfaltung und Wohlbefmden, ohne die notwendige Begrenzung durch die Gegebenheiten der sozialen Wirklichkeit zu durchdenken. Er erfahrt diese Grenzen infolgedessen nur negativ als personliche Unzulanglichkeit, was nach Ehrenberg die Ursache fur die Zunahme von Depressionserkrankungen ist. Mehr und mehr

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begegnet die therapeutische Praxis diesen Leidensformen mit Psychopharmaka oder mit bestimmten Psychotechnologies die das Befinden stimulieren. Es zeichnet sich also im Zuge der Individualisierungsprozesse ein Zustand ab, in dem das psychische Gleichgewicht zum herstellbaren Produkt wird, nicht jedoch Ergebnis einer aktiven Auseinandersetzung mit den Ansprtichen des AuBen darstellt. Der psychologische Mensch - ein Begriff des Soziologen Philip Rieffverlangt nach Aufhebung des Leidens, urn sein Leben in „der ,authentischsten' Fulle" (Ehrenberg 2004: 136ff.) zu leben. Es geht hier in einer reduktionistischen Weise um korperliche Intensitat und eine Enthemmung des Gefiihlslebens, um ganz bei sich sein zu konnen. Viele Psychopraktiken vermitteln den Kick, der vorubergehend die innere Leere anfullt. Die identitatsstiftende Relevanz der zwischenmenschlichen Auseinandersetzung wird nicht mehr erkannt, der Konflikt gemieden. Eine Reifiing der Personlichkeit kann unter diesen Bedingungen nicht mehr erfolgen. Ein Altern auf dieser Basis wird entweder die Quantitat der Depressionserkrankungen ins Unermessliche steigern und/oder den bisher eher seltenen Typus des infantilen Greises zum Massenphanomen werden lassen. Es bedarf dann nicht langer der Diagnose der Altersdemenz, um zu erklaren, dass das Leben zu zerfasern vermag wie ein lochriges Gewebe. Was bleibt angesichts solcher Schreckensvisionen? - Man kann sich mit der Wirklichkeit nicht einverstanden erklaren und sich vor ihr in eine private Enklave zuruckziehen. Seit der stoischen Lehren eines Epiktet oder Cicero pflegt der menschliche Wille die Fahigkeit, sich nicht mit der Realitat einzulassen. Dies mag der Beschwichtigung von Furcht und Angst dienen, die Kosten, wie sie weiter oben bezuglich der Alterslehre Ciceros angeflihrt wurden, sind dennoch hoch. Die gegenwartige Altersdebatte muss unbedingt vorangetrieben werden, denn wie Druyen formuliert „zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist das Alter das Nadelohr, durch das wir zu neuen und besseren Einsichten gelangen konnen" (Druyen 2005: 25). Gerade uber die Thematisierung des Alters und der damit verkniipften existenziellen Grenzerfahrungen gelangen andere als nur mehr rein monetare Gesichtspunkte in den Blick der Offentlichkeit. Die anwachsenden dunklen Gefahren von Apathie und Indifferenz, die der scheinbaren Freiheit der Wohlstandsgesellschaft entspringen, konnen nur durch eine Wiederbelebung der Denkfahigkeit gemindert werden. „Das Denken entsteht (...) aus der Desintergration der Wirklichkeit und der entsprechenden Entzweiung von Mensch und Welt, woraus sich das Bedurfhis nach einer anderen, harmonischeren und sinnvolleren Welt ergibt."21 Doch gleichermaBen entzweit 21 Hannah Arendt „Vom Leben des Geistes" (Arendt 1979: 154); „Doch nichts, was mit sich selbst identisch ist, was wahrhaft und absolut Eines ist, wie A=A ist, kann mit sich selbst im Einklang

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ist der Denkende mit sich selbst, insofern das Denken immer ein Nach-Denken ist, das den Sinnhorizont vollzogener Lebensspannen nachtraglich zu ermessen sucht. Diese Teilung und Begegnung in mir selbst ist die Voraussetzung dafur, das Erleben anderer zu verstehen, indem ich mich in meiner Vorstellung an ihre Stelle begebe. Was das Alter angeht, so kann ich ohne groBen Aufwand der Vernunft erfassen, dass ich in absehbarer Zeit an den Platz vorgertickt sein werde, den nun noch ein anderer einnimmt. In diesem Sinne ist das Alter, wie Druyen schreibt, „nicht nur ein demografischer Einschnitt, sondern vielmehr eine existenzielle Aufgabe, mit der wir unsere soziale Kompetenz und Verantwortung wiedergewinnen konnen" (Druyen 2005: 25). Vorherrschend sind gegenwartig zweifellos eine Vielzahl von Mechanismen, die Alter und Tod verdrangen. Grenzenloser Aktivismus, Vergnligungen aller Art, der Glaube an die Allmacht der Wissenschaft sowie an die grenzenlose Wohlfahrt der Dienstleistungsapparate (iberdecken das existenzielle Band, das uns mit den Benachteiligten der Gesellschaft verbindet, zu denen die Alten gehoren. Auch wenn das Alter die Begrenztheit der menschlichen Grundsituation radikalisiert, so ist diese dennoch kein spezifisches Merkmal des Alters. Es ist auch heute noch - trotz der Veranderungen des menschlichen Selbst in Gestalt einer unermesslichen Subjektmtidigkeit - oftmals nur um den Preis seelischer Qualen moglich, sich dem Ernst der Gestaltung unserer „einmaligen Ganzheit, die wir faktisch schon sind" (Rentsch 1992: 291) zu entziehen. „Wir miissen unsere ganze jeweilige (einmalige) Situation sowohl sein als auch gestalten" (Rentsch 1992: 291).

stehen oder nicht stehen; man braucht immer mindestens zwei TOne, um einen harmonischen Klang zu erzeugen" (Arendt 1979: 182).

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Semantiken des Alters. Diskursinterventionen durch Bildlektiiren von Giorgione, August Sander und On Kawara Karen van den Berg Lehrstuhlfur Kulturmanagement & inszenatorische Praxis, Zeppelin University, Friedrichshafen

1. Den Gegenstand hervorbringen Spatmoderne Gesellschaften beobachten an sich selbst nicht nur ein Uberalterungsproblem, sie haben die Kategorie „Alter" offenkundig zu einem ihrer relevantesten sozialen Ausdifferenzierungsmerkmale erhoben.1 Und gerade die Dynamik der Debatte um den demografischen Wandel zeigt, dass „Alter" zu einer immer maBgeblicheren Beobachtungsformel wird. Doch fokussiert der Blick auf das Alter nicht einfach ein gegebenes Naturphanomen; vielmehr bringt er seinen Gegenstand auch mit hervor: „Altern ist nicht allein ein unentrinnbarer physiologischer Prozess", schreibt Riidiger Kunow (2005: 23), „ist nicht allein, wohl nicht einmal primar, von biologischen Prozessen determiniert, sondern von dem Arsenal an soziokulturellen Bedeutungen, mit denen die biologische Ordnung in eine kulturelle Ordnung tibersetzt wird" (Kunow 2005: 23). Versteht man Alter(n) dementsprechend nicht nur als naturliche Tatsache mit festgeschriebenen Merkmalen, dann gilt es zu rekonstruieren, was mit dem Begriff jeweils gefasst wird bzw. welche Semantiken des Alters in welchen Diskursen hervorgebracht werden und schlieBlich welche Effekte die dem Alter zugeschriebenen Merkmale etwa auf soziale Interaktionen und Subjektivierungspraktiken2 haben; denn die Anwendung der Beobachtungsformel „Alter" bedeutet (wie im Falle anderer Beobachtungsformeln auch) immer zugleich, dass man den unter dieser Formel beobachteten Gegenstand spezifischen gesellschaftlich erzeugten Erwartungsmustern unterwirft und somit auch die Erwartungsmuster und die an ihnen orientierten Praktiken reproduziert. 1 Sigrun-Heide Filipp und Anne-Kathrin Mayer etwa resiimieren in ihrer iiberblicksartigen Arbeit „Bilder des Alters": „Unsere Gesellschaft ist nicht altersblind, vielmehr gilt das Alter als eines der relevanten Merkmale hinsichtlich gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse" (Filipp/Mayer 1999: 11) und verweisen auf empirische Untersuchungen, die belegen, dass soziale Netzwerke vor allem durch „Altersgleichheit" gekennzeichnet sind (ebd.: 20). 2 Der Begriff „Subjektivierungspraktiken" geht auf Foucault zuriick. Er geht davon aus, dass es keine universell giiltige Form des Subjekts gibt, sondern Subjekte durch die Lebenspraxis gebildet und konfiguriert werden (Foucault 2005: 906).

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Dies hat denn audi bereits die friihe soziologische Altersforschung herausgearbeitet (vgl. etwa Parsons 1962: 33). Gerade aber aufgrund der groBen gesellschaftlichen Tragweite des Uberalterungsthemas erzeugt es Unbehagen, dass die Rede iiber die alternde Gesellschaft - vor allem in ihrer medialisierten Form - von einer raunenden Rhetorik der Beunruhigung beherrscht wird.3 Hier stehen Endzeitszenarien emphatischen Postulaten, wie dem Mythos von „neuen Alten", entgegen.4 Insofern scheint es lohnend Aufschluss daruber zu verschaffen, was denn eigentlich in der zunehmend emotional gefarbten Debatte unter dem Label „Alter" verhandelt wird. Und je mehr Bedeutung dieser Kategorie beigemessen wird, desto wichtiger ist eine Analyse der unterschiedlichen Semantiken, die von ihr erzeugt werden. Die Kategorie Alter bedarf einer Beobachtung zweiter Ordnung.5 Hierin besteht denn auch das Anliegen der nachstehenden Untersuchung. Sie versteht sich als eine Intervention in den Diskurs, die Beobachtungen liefert, welche quer zu gangigen Auffassungen des Altersproblems liegen. Um dabei zunachst ein gewisses Spektrum von Alterssemantiken zu umreiBen, beginnen die Ausfuhrungen mit einer knappen kulturwissenschaftlichen Perspektivierung des Altersdiskurses. Da in diesem Zusammenhang immer wieder von „Bildern des Alters" die Rede ist oder „neue Bilder des Alterns" gefordert werden (vgl. Filipp/Mayer 1999), sehien es sehr nahe liegend, tatsachlich einmal Bildmaterial - in diesen Fall Kunstwerke - in den Diskurs einzuspielen. Es folgen deshalb drei Bildlekttiren, anhand derer Alterssemantiken erschlossen werden, die unerwartet erscheinen mogen. Die Lektiiren reichen hier von einer Auffassung des Alters als Verganglichkeit und ubiquitare Gefahrdung des souveranen Subjekts in Giorgiones Renaissance-Portrat „La Vecehia", tiber August Sanders Fotografie mit dem Titel „Gebreehlicher Alter", in dem sich Alter gleichermaBen als Habitus und Bestimmung erweist, bis hin zu On Kawaras „Date Paintings", die samtliche Konventionen des subjektiven Verhaltnisses zur Zeit und damit auch den Altersbegriff in Frage stellen. Ein wichtiges Kriterium fur die Auswahl der Beispiele bestand darin, dass sie paradigmatische und eminente Interpretationen des Verhaltnisses von Altern

3 Gemeint sind hier Formulierungen wie Sloterdijks Rede von einer neuen „Weltmacht der Alten" (Sloterdjkl996:7). 4 Zu einer kritischen Betrachtung dieses Mythos von den neuen Alten vgl. Lehr/Niederfranke (1991:39). 5 Einen umfassenden Beitrag in dieser Richtung liefert etwa die systemtheoretisch orientierte Untersuchung von Irmhild Saake (1998). In diesem Rahmen betrachtet sie Alter als eine kommunikative Zuschreibung: „Kommunikationen statten den einzelnen mit verschiedenen, unvermittelten personalen Attributen aus" (Saake 1998: 204).

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und Subjektivierung liefern. Und hierin - so die These, die ich im Folgenden erortern mochte - scheint mir ein Schliissel flir Auffassung und Bewertung des Alterns zu liegen. Bei den Betrachtungen kommt es deshalb weniger darauf an zu zeigen, dass sich die Kulturen des Alterns bzw. die Altersstile in der Geschichte gewandelt haben, als vielmehr darauf, ein Bewusstsein daflir zu schaffen, dass mit dem Label „Alter" selbst etwas je anderes gemeint ist. Hier klarere Unterscheidungen zu treffen, ist nicht nur von theoretischem Interesse, man kann sich als Ergebnis einer solchen Diskursbeobachtung auch einen praziseren Blick auf die Problemlagen und Chancen erhoffen.

2. Altersstil und Weltverhaltnis Wenn es zutrifft, dass mit dem Label „Alter" jeweils etwas ganz anderes gemeint ist, so geht dies in doppelter Hinsicht gegen den Strich traditioneller kunst- und kulturwissenschaftlicher Forschungen zum Alter, die im Wesentlichen Arbeiten zu Altersstilen sind. Deren Vertreter gehen - inspiriert von entwicklungspsychologischen Untersuchungen - davon aus, dass Lebens-, Ausdrucks- und Verhaltensmodi im Alter signiflkant anders sind als in anderen Lebensphasen.6 Dartiber hinaus kultivieren sie zumeist aber auch eine historisch generalisierende Betrachtung des Altersstils. Der Altersstil und Spatstil wird als anthropologische Konstante gesehen, d.h. er wird nicht nur innerhalb eines Oeuvres und einer Biografie von anderen Schaffensphasen unterschieden, sondern tiber alle Epochen, Gattungen, biografische und soziokulturelle Bedingtheiten hinweg als mit vergleichbaren Merkmalen ausgestattet betrachtet: „There is undoubtedly what I may call, translating from the German, an old-age-style, a special character common to nearly all their work", stellt der Kunstwissenschaftler Kenneth Clark (1972: 5) fest. In diese Richtung gehen beispielsweise auch Theodor W. Adornos Uberlegungen zum Altersstil, wenn er in seiner Asthetischen Theorie schreibt: „Gibt es etwas wie eine (ibergreifende Charakteristik grofler Spatwerke, so ware sie beim Durchbruch des Geistes durch die Gestalt aufzusuchen" (1973: 139). Auch stellt Adorno das „Antiharmonische" als Charakteristikum des Spatstils alter Meister heraus (ebd.: 168). Die Kunstwissenschaftler Clark und Rudolf von Arnheim betonen das Auflosungsmoment in ktinstlerischen Spatwerken, einen „trancen-

6 Beispielhaft hierfiir seien genannt: Labouvie-Vief et al. (1989) sowie von Scheidet/Eickelbeck (1995: 30f).

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dental pessimism", einen „mistrust of reason" (Clark 1972: 21)7 bzw. eine „Interesselosigkeit gegentiber Kausalbeziehungen" (Arnheim 1991: 371). Zunachst war die kunstwissensehaftliche Spatstilforsehung aus dem Impuls entstanden mit einer vorherrschenden Geringschatzung aufzuraumen: die Spatwerke alter Meister wie etwa Rembrandts und Tizians galten noch im 19. Jahrhundert als kraftlos; alternde Ktinstler wurden, wie es der Kunsthistoriker Reynold Pritikin formuliert, mehr oder weniger als Imitatoren ihrer selbst betrachtet: „Traditionally, the older artist is patronized at best quaint or at worst a pathetic self imitator of a great early career" (Pritikin 1990: 638). Die Spatstilforscher wie von Arnheim und Clark hoben jedoch gerade die Auflosungsmomente als spezifische Qualitat hervor und wiesen bisherige normative Bewertungen zuriick. Vergleichbar sprechen Philosophen wie Martin Heidegger in Sein und Zeit oder Odo Marquard tiber den Altersstil, wenn sie mit dem Alter einen spezifischen Modus des In-der-Welt-Seins in Verbindung bringen, einen Modus, dessen Besonderheit im Leben auf das Ende zu besteht. So schreibt Marquard: „Unser Blick auf die Wirklichkeit ist durch unsere Zukunft bestechlich. Aber wir mtissen sterben: darum nimmt diese Bestechlichkeit mit zunehmendem Alter ab, weil unsere Zukunft weniger wird und schlieBlich ein Ende hat: durch den Tod" (Marquard 1996: 474). Nach Marquard besteht aber hierin gerade keine Bedrohung, sondern vielmehr eine Chance und ein Freiheitsmoment: „Mortalitat ermoglicht Liberalitat, auch und gerade fur die Theorie. DaB die eigene Zukunft gegen Null schrumpft, laBt die Rucksichten beim Hinsehen und Sagen ebenfalls gegen Null schrumpfen" (ebd.: 475). Das nahende Ende und das Endlichkeitsbewusstsein im Alter ist insofern besonders theoriefahig: „darum muss man - philosophisch - gerade die Endlichkeit geltend machen und betonen, um sich von der Last der Vollendungsillusion zu befreien" (ebd.: 473). Diese existentiell-philosophischen Betrachtungen zeigen eine groBe Nahe zum kunstwissenschaftlichen Diskurs und seiner Hochschatzung des Altersstils. Clarks „mistrust of reason" geht in eine vergleichbare Richtung, denn auch 7 Clark (1972: 2 If.) schreibt: „Now let me try to summarise the characteristics of the old-age-style as they appear, with remarkable consistency, in the works of the greatest painters and sculptors. A sense of isolation, a feeling of holy rage, developing into what I have called transcendental pessimism; a mistrust of reason, a belief in instinct. And in a few rare instances the old-age myth of classical antiquity - the feeling that the crimes and follies of mankind must be accepted with resignation. All this is revealed by the imagery of old men's pictures, and some extent by the treatment. If we consider old-age art from a more narrowly stylistic point of view, we find a retreat from realism, an impatience with established technique and a craving for complete unity of treatment, as if the picture were an organism in which every member shared in the life of the whole."

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Clark vertritt die Ansieht, dass sich im Spatwerk ein spezifisches Freiheitsmoment einstellt. Ahnlich beschreibt es Adorno in einem mit Hans Mayer gefuhrten Rundfunkinterview, das unter dem Titel „Avantgardismus der Greise" ausgestrahlt wurde, wenn er von den fur die Spatstil-Genies typischen Uberschreitungen spricht, und der „Ktindigung der Kunst durch die Kunst", die hier stattfmdet (Adorno 2001, 11966: 144).8

3. Sinnlosigkeitsverdacht und andere, bessere Alte Dieser robusten Tradition einer altersstilorientierten Betrachtungsweise, welche Alten bestimmte Verhaltensmodi und Eigenschaften attestiert und von einem altersbedingten Weltverhaltnis ausgeht, wurde jedoch verschiedentlich auch widersprochen. Gerade der vereinheitlichende Blick auf „die Alten", der auf der einen Seite Orientierungen produziert, ist auf der anderen Seite Quelle einer „self-fulfilling prophecy" und kann die Transformation der Lebenslagen alter Menschen, die auf diese Kategorien reduziert werden, erschweren. In diesem Sinne hat etwa Talcott Parsons in seiner Untersuchung „The Aging in American Society" herausgearbeitet, dass sich die Handelnden im Prozess der Interaktion stets an Erwartungsmustern orientieren (Parsons 1962: 31) und so Verhaltensskripte standig reproduziert, aber auch modifiziert werden. Dass auch die Altersforschung selbst einen nicht unerheblichen Anteil an der Produktion von Erwartungsmustern hat, wird im Mainstream der Forschung nur selten thematisiert.9 Dabei war gerade eine Transformation von Erwartungsmustern ein entscheidender Impuls fur die Etablierung der gerontologischen Forschung seit den 1960er Jahren.10 Ihr grofies Projekt war eine Positivierung von Altersbildern (vgl. bspw. die Arbeitsgruppe Alternsforschung Bonn 1972; Hohmeier/Pohl 1978). Jurgen Hohmeier und Hans-Joachim Pohl etwa wandten sich in ihrem Band Alter als Stigma oder wie man alt gemacht wird gegen die 8 Zum Altersavantgardismus vgl. auch van den Berg (2005: 256ff.) sowie Joachim Landkammers Versuch, den asthetischen Begriff des Alters- bzw. Spatstils auf die heutige alternde Gesellschaft zu ubertragen und fiir die gegendwartsdiagnostische Interpretation von deren soziokulturellem „Spatstil" nutzbar zu machen (Landkammer 2005). 9 Fur ein Bewusstsein dieser Funktion wissenschaftlicher Diskurse pladierte zuletzt beispielsweise Kunow (2005: 33), wenn er schreibt, dass „disziplinare Diskurse ihren Gegenstand nicht einfach beschreiben, sondern ihn zuallererst hervorbringen." 10 1965 wurde die Zeitschrift „The Gerontologist" gegrundet, 1966 wurde in Nurnberg die Deutsche Gesellschaft fur Gerontologie" (DGG), die neben Medizinern auch Soziologen und Psychologen und Wissenschaftler anderer Disziplinen umfasste. 1970 ubernahm der Internist Rene Schubert den ersten Lehrstuhl fur Geriatrie in Bundesrepublik. 1988 wurde von Wolf D. Oswald und Siegfried Kanowski die interdisziplinare „Zeitschrift fur Gerontopsychologie & -psychiatrie" gegrundet (http://www.dggg-online.de/wir/geschichte.php).

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Diskriminierung alter Menschen und betonten die Rolle der Fremdzuschreibung. Sie begriffen Alter als „Stigma, das seine Trager ausgrenzt" (Hohmeier/ Pohl 1978: 7). Ihnen zufolge resultiert das „soziale Problem ,Alter' (...) wesentlich aus dem Altersstigma" (ebd.). Ganz explizit ging es ihnen deshalb darum, Alter zu „entstigmatisieren".11 Alte als defizitare, marginalisierte Randgruppe anzusehen ist demnach ein Phanomen, das sieh insbesondere in der Leistungsgesellschaft herausbildet (vgl. Hohmeier/Pohl 1978: 16). Dass Alter in hohem MaBe problematisiert wird, hangt in dieser Argumentation mit der Okonomisierung und Verberuflichung der Gesellschaften und der Kategorie des Ruhestands zusammen, also mit einer zweckrationalistischen Perspektivierung. „Positive aging", „sucessfull aging" und Begriffe wie die „Neuen Alten" kursieren seither, und das „Kompetenzmodell" wird immer vehementer dem „Defizitmodel" des angewiesenen Alten entgegengehalten.12 Dieses Motiv der Positivierung pragt die gesamte Debatte bis heute. Doch bleiben viele Positivierungsansatze selbst einem okonomischen Utilitarismus verhaftet, wenn sie allzu sorgfaltig unter Beweis stellen mochten, dass Alte vor allem kompetente, selbstandige und veranwortungsbewusste Burger sind, die etwa durch ehrenamtliches Engagement gesellschaftliche Aufgaben ubernehmen konnen und wollen wie dies zuletzt beispielsweise auch der Bremer Burgermeister a. D. Henning Scherf mit aller Vehemenz auf sich und seine Generation bezogen postulierte. Doch auch der Soziologie und Altersforscher Martin Kohli bezeichnet die „Beteiligung am gesellschaftlichen Projekt" (Kohli 1993: 23) als Ziel unseres tatigen Lebens und setzt damit „Sinn" und die Wahrnehmung gesellschaftlicher Aufgaben gleich. Eine derartige Reduktion des Lebenssinns (im Alter) auf die direkte Beteiligung an gesellschaftlichen Aufgaben etwa in Form von ehrenamtlichem Engagement wurde derm auch verschiedentlich alsfragwurdigeHumankapitalisierung der Alten kritisiert (vgl. Saake 1998: 88; Schroeter 2006: 54). Alte werden hier als Ressource betrachtet, die es nicht zu verschwenden gilt.13 Ein wichtiges Motiv gerade der soziologischen Altersforschung ist die Dekonstruktion von Stereotypen. Schematische und teilweise dysfunktionale Bilder der Alten werden auf der Basis empirischer Forschungen und Erhebungen uberschrieben. Ahnlich agiert auch die differenzielle Gerontologie, die darauf zielt, Alte nicht als opake Masse zu betrachten und erstens betont, dass „Men11 „Alter laBt sich entstigmatisieren" schreiben Hohmeier/Pohl (1978: 29) und bringen damit das Anliegen ihrer Arbeit auf den Punkt. 12 Eine Zusammenfassung der Forschungshistorie bieten Flipp/Mayer (1999, vgl. hier insbes.: 30). Einen Uberblick iiber die Forschungsentwicklungen bietet auch Saake (1998). 13 Ahnlich argumentierte bereits Parsons (1964: 240), der in seiner strukturfunktionalistischen Perspektivierung die Alten zugeschriebene Stellung als Ressourcenverschwendung bezeichnet.

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schen (...) mit steigendem Lebensalter nicht gleicher, sondern ungleicher" werden (Hopflinger 2003: 101), zweitens annimmt, dass Alte in Zukunft anders alt werden, und dass der Modus des Alterns sich je nach historischen Erlebnishintergriinden und wechselnden Lebensumwelten andert. Es ist die Rede von einem Generationenwandel des Alters und entsprechend werden empirische Untersuchungen durchgefuhrt, die eine zunehmende „Differenzierung von Altersverlaufen" (Saake 1998: 73) unter Beweis stellen: „In einer dynamischen Gesellschaft verlaufen biologische, psychische und soziale Prozesse des Alterns sehr unterschiedlich, und ein Grundmerkmal des Alterns neuer Generationen ist die ausgepragte Heterogenic zwischen gleichaltrigen Menschen" schreibt der Schweizer Soziologe Francis Hopflinger (2003: 101). Je starker jedoch die Probleme des demografischen Wandels in den Blick geraten, desto mehr scharft sich die pessimistische Sichtweise des Alterns; Altern scheint heute nicht mehr „Stigma", das Schlimme ist nicht mehr (wie noch bei Hohmeier/Pohl 1978) „alt gemacht zu werden" und einer entsprechend marginalisierten, sozial benachteiligten Gruppe anzugehoren, schlimm wird jetzt die bedrohliche Kulisse einer Mehrheit von Alten. Die Alten erscheinen nicht mehr als „Fremde in einer Gesellschaft von Jiingeren" (Sloterdijk 1996: 8), sondern es zirkulieren Beschreibungen wie etwa die des Philosophen Peter Sloterdijk, der von den Alten als „neue(r) Weltmacht" (ebd.: 7) bzw. von dem „Gespenst einer Mehrheit der Alten" (ebd.: 8) spricht. Entsprechend ergeben sich nun auch neue Sinnfragen; so fragt etwa der Hirnforscher Manfred Spitzer „Warum werden wir alt?" (Spitzer 2001: 7) und versucht dies mit den besondern Lebensanforderungen der Spezies Mensch zu begrunden.14 Altern steht in einem ganz neuen und eminenten Sinne unter „Sinnlosigkeitsverdacht" (um eine Wendung Hans Blumenbergs zu gebrauchen, vgl. Blumenberg 1988). Alter und Altern wird nicht zuerst fiir die Alten selbst fragwtirdig und bedrohlich, sondern fur die Gesellschaft insgesamt. Finalitatsszenarien haben Konjunktur: die „Alternde Gesellschaft" als evolutionares Endstadium. Der amerikanische Kulturwissenschaftler Robert P. Harrison schreibt beispielsweise, dass wir es „mit einer massiven biokulturellen Transformation" und mit immer jugendlicher erscheinenden Alten zu tun haben. Er stellt eine zunehmende Infantilisierung unserer Gesellschaft fest, in der „die Weisheit" - statt die Fortschrittdynamik zu entschleunigen - „nur noch untatige Beobachterin" ist (Harrison 2005: 45). 14 Spitzer sucht nach Antworten auf diese Frage in der Tierwelt und untermauert am Beispiel der Elefanten, warum es funktional sein k5nnte, dass Mitglieder in sozialen Gemeinschaften alt werden und in ihren Korpern Erinnerungen tragen.

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Die Sinnprobleme moderner Gesellschaften, die vielfach - und vielleicht am pragnantesten von Hans Blumenberg - mit der Kontingenzkultur der nachchristlichen Ara begiiindet wurden (Blumenberg 1988, 11982: 57) 15 , scheinen sich insofern durch das Problem der Uberalterung geradezu paradigmatisch zuzuspitzen.16 Demgegeniiber wirken gegenwartsdiagnostische Beschreibungen der „neuen Kulturen des Alter(n)s" oder der „Whoopies" („well off old people") immer auch euphemistisch, derm gerade aktive lebenslustige Alte stehen nicht nur unter dem Generalverdacht des Parasitentums, sondern empflnden sich haufig selbst als Parasiten.17 Die Erosion der Generationenbeziehungen hat neue perfidere Formen von „ageism" und Altersdiskriminierung evoziert und den Blick auf das Thema Alter radikal gewandelt. Das Unheimliche am „Notstandsgebiet" der „Seniorenwelt" (Sloterdijk 1996: 18) scheint nicht, dass die Alten die anachronistischen Anderen sind, das Unheimliche scheint auch nicht, dass wir selbst alt werden, sondern, dass die Gesellschaft alt wird und sich vor dem Kollaps sozialer Sicherungssysteme furchtet. Derm gerade im Wohlfahrtsstaat ist Altern „zum gesellschaftlichen und politischen Negativum" (Bauer 2006: 7) geworden und scheinbar immer weniger ein Problem des individuellen Gelingens.

4. Weniger Subjekt - Altern als Verschwinden des Selbst Es mag erstaunen, dass Alte auch in der Geschichte der westlichen Zivilisation kaum positiver betrachtet wurden als heute. Jedenfalls spricht einiges gegen die weit verbreitete Annahme, dass in traditionellen Gesellschaften alten Menschen grundsatzlich eine hohe Wertschatzung entgegen gebracht wurde. Bereits in der klassischen Antike etwa lasst sich beobachten, dass die Alten im Wesentlichen irrelevant waren bzw. keine wichtige gesellschaftliche Rolle spielten (vgl. Wagner-Hasel 2006: 17; Rosenmayr 2000: 151 u. 156) - hierin scheint sich die gesamte abendlandische Tradition signifikant zu unterscheiden von Stammes-

15 „Die nachchristliche Ara hat eine Kontingenzkultur. Sie ist gepragt von dem Grundgedanken, dass nicht sein muB, was ist" (Blumenberg 1988: 57). 16 Irmhild Saake betont in ihren theoretischen Untersuchungen iiber das Alter, dass der Umgang mit dem Tod und dem Sterben zur „Sinngebungsoperation" (Saake 1998: 207) schlechthin fuhrt und dass deshalb das Thema Alter „Sinn als orientierende Kategorie" (ebd.: 239) besonders gefragt sei, zugleich aber ein Mangel an Sinnangeboten bestiinde. 17 „Das neue Stereotyp vom lebenslustigen Alten Menschen veranlafit etwa ein Drittel der iiber 60Jahrigen von heute zu der Sorge, als ,Parasiten' der Gesellschaft abgelehnt zu werden" schreiben Lehr und Niederfranke (1991: 39) unter Berufung auf das Institut fur Demoskopie. Ein jungeres Beispiel fur Alterdiskriminierung ist der Fall Dietrich: Vor knapp zwei Jahren hat der Rassismus gegen Alte politische Wellen geschlagen. Der Vorsitzende der Jungliberalen Jan Dietrich musste wegen seiner Aufforderung „Gebt den LSffel ab" am 13. Marz 2005 zuriicktreten.

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gesellschaften mit „Senioritatsprinzip" und „prestigetrachtiger Stellung der Alten", in denen diesen, wie Leopold Rosenmayr (2000: 145 u. 148) es formuliert, die „kulturelle Deutungsmacht" (ebd.: 148) zukommt. Offenbar waren es nicht erst die viel zitierte Arbeitsteiligkeit, die Entfremdung, der Zweckrationalismus der Industriegesellschaften und der Sozialstaat, die das Defizitmodell der Alten hervorbrachten. Dies zeigt sich auch in den Kiinsten: die Geschichte der Kunst ist voll von Bildern und Allegorien, in denen Alter, Verganglichkeit und Hasslichkeit eng verkniipft sind. Da es im Folgenden nicht darum geht, einen bildgeschichtlichen Uberblick verschiedener Alters-Stereotypen zu liefern, sondem vielmehr darum wenige, bedeutende Semantiken des Alters zu entfalten, werden nur solche Beispiele behandelt, die sich auf besonders elaborierte Weise mit der Stellung des Subjekts und dem Zusammenhang von Altern und Subjektivierung befassen. Die Betrachtungen beginnen mit einem ebenso beruhmten wie ratselhaften Werk von Giorgone, das unter dem Titel „La Vecchia" (dt.: „Die Alte") bekannt ist und zwischen 1506 und 1508 datiert wird.18 Das 68 x 59 cm grofte Bild (Abb. 1), das heute in der Galleria delPAccademia in Venedig ausgestellt ist, zeigt das Brustbild einer alten Frau. Aus dem Armel ihrer linken Hand schwingt eine Banderole mit dem Schriftzug „Col Tempo" (dt.: mit der / durch die Zeit). Mit einer fast reglosen, stummen Geste weist die Hand der Frau mitten auf ihre Brust. Durch tiefe Falten, das dunne graue Haar, die schlaffe Haut wie auch ihre vorgebeugte Haltung tragt die Dargestellte deutliche Anzeichen der prekaren Leiblichkeit einer gebrechlichen Alten. An die Briistung, die zugleich eine Distanz zum Betrachter markiert, scheint sie sich sttitzend anzulehnen. Der Scheitel ist nachlassig gezogen, Haarstrahnen fallen aus dem schief sitzenden Kopftuch, eine iibergeworfene Decke schtitzt die Schulter. Gerade die Haarstrahne und der geofmete Mund, der ein offenkundig nicht mehr ganz vollstandiges Gebiss preisgibt, verweisen auf Ermtidung und Hinfalligkeit. Die Farbigkeit wirkt fahl und erdig zugleich. Seltsam ist aber vor allem der Blick mit seinen unterschiedlich hohen Augen. Die Alte blickt uns an und dabei kann der Mund wie zum Sprechen geoffnet erscheinen. Der Blick, der Mund, die Geste und die Banderole, all das appelliert an den Betrachter, fordert ihn auf merkwiirdig unbestimmte und zugleich direkte Weise heraus, sich zu dem Dargestellten zu verhalten.

18 Die neuesten Forschungsergebnisse zu Giorgiones Malerei und auch zu diesem Bild sind in dem Begleitband zur Wiener Ausstellung „Giorgione. Mythos und Enigma" zusammengefasst (Ferino-Pagden 2004).

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Abb. 1: Giorgione „La Vecchia", 1506-1508, Ol auf Leinwand, 68 x 59 cm, Galleria dell'Accademia, Venedig

Das Bild ist eigenartig. Und es fragt sich, ob sein ursprunglich zugedachter Gebrauch je eindeutig war. Handelt es sich urn ein Portrat oder ein „memento mori", wie Erwin Panfosky vermutete (vgl. Ballarin 1979: 235)? Welche Funktion hatte dieses Bild? Der urspriingliche Zusammenhang ist nicht mehr erhalten und die Quellenlage gibt keinen eindeutigen Aufschluss, wen das Bild darstellt und in welchem Kontext es entstanden ist. Auf die Angaben in einem fruhen Inventareintrag, dem „Catalogo Vendramin" von 1567-1569, geht die Vermutung zuruck, das Bild zeige die Mutter des Kunstlers, doch gelten diese Angaben nicht als gesichert (vgl. Ballarin 1979: 235).

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Abb. 2: Albrecht Dttrer „Avarizia" / „Alte mit Geldbeutel", 1507, Ol auf Leinwand, 35 x 29 cm, Kunsthistorisches Museum, Wien

Dem Giorgione-Kenner Salvatore Settis zufolge lasst sich ein Eintrag aus dem Jahr 1601 auf dieses Bild beziehen. Hier wird das Bild als von einem Deckel geschutzt beschrieben, auf dem ein in schwarzem Leder gekleideter Mann abgebildet ist (vgl. Koos 2004: 3). Demnach hatte Giorgione eine in der Malerei des 16. Jahrhunderts durchaus verbreitete Bildform neu interpretiert: gemeint sind jene Bildnisse junger Menschen, die mit Deckeln, Ruckseiten, Inschriften versehen wurden, welche Vanitasmotive zeigten. Durers „Avarizia" im Kunsthistorischen Museum in Wien (Abb. 2) etwa ist ein solches Beispiel - sie war die Riickseite des Bildnisses eines jungen Mannes. Bei Gioriones „Vecchia" ist die allegorisierende Darstellung jedoch selbst ein Portrat. Und, wie Settis jiingst plausibel machen konnte: das Bild der „Vecchia" war den Quellen zufolge das zu schiitzende Objekt - vom Bildnis des jungen Mannes abgedeckt und nicht, wie sonst ublich, umgekehrt. Wie immer die Quellen auch zu deuten sind, das radikal Neue ist, dass bei Giorgione das „memento mori" portrathafte Ztige erhalt, was eine radikale Neubestimmung des konventionellen Bildsinns bedeutet. Wahrend die Funktion konventioneller Bildnisse in der damals ublichen Auftragskunst wesentlich darin bestand, die Dargestellten so zu reprasentieren, wie sie in erwartbaren Kontexten (fur die potenzielle Nachwelt) erinnert und gesehen werden wollten, lasst sich das Bild der „Vecchia" nicht in gleicher Weise zweckhaft bestimmen. Wozu dieses Bild diente, welchem Reprasentationszusammenhang es zugedacht war, ist aufgrund

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der Singularity des Bildtyps nicht ohne weiteres rekonstruierbar und gibt Ratsel auf. Genau jenes Irritationsmoment bzw. jene spezifische Unscharfe aber wurde haufig als Giorgiones kunstlerische Strategic ausgelegt. Er reproduzierte keine herkommlichen, entzifferbaren Ikonograflen und benutzte auch nicht die allseits bekannten Allegorien, sondern revolutionierte den traditionellen Bildgebrauch grundlegend. Er tat dies, indem er Bildformen entwarf, bei denen es gerade darauf ankam, die Ratselhaftigkeit der Welt erfahrbar zu machen. So gilt seine Malerei als enigmatisch und Settis spricht in Bezug auf Giorgiones Malerei vom „versteckten Sujet" (vgl. den gleichnamigen Titel Settis 1978). Merkwurdig am Bild der „Vecchia" und zugleich interessant fur den hier zu diskutierenden Kontext ist seine Ausdeutung des Verhaltnisses von Symbolisierung, Allegorisierung und Subjektivierung. Der Kunstwissenschaftler Gottfried Boehm hat in seiner grundlegenden Arbeit zur Portratmalerei der italienischen Renaissance eindrucksvoll herausgearbeitet, dass die „Vecchia" zwar „zum idealisierenden, allegorisierenden oder gar genremaBigen Bildnis" tiberleite und insofern „kein selbstandiges Bildnis" sei (Boehm 1985: 107), dennoch aber lieBe uns der „ ,realistische' kunstlerische Blick, den die Darstellung widerspiegelt, (...) auf das Modell schlieBen, das dem Maler saB" (ebd.: 107f). Das aktionale Moment der Geste, das MaB der dargestellten Zeit (das etwa durch die Drehung und Perspektivierung der Figur im Raum und den halb geofmeten Mund ins Spiel kommt), aber gefahrde „die Autonomic des Individuums" (ebd,: 107), so dass sich hier nicht von einem selbstandigen Bildnis sprechen lasst. Boehm hat in seiner Abhandlung eine Definition des Bildnisses geliefert, die nur jene Bildnisse als selbstandig anerkennt, in denen uns ein substanzhafter „Jemand" begegnet, mit dem wir meinen potenziell kommunizieren zu konnen, den wir glauben verstehen bzw. den wir meinen „als ihn selbst zu erfassen" (ebd.: 68). Er nennt vier hermeneutische Grundphanomene, die ein selbstandiges Bildnis ausmachen: Die Dargestellten zeichnen sich erstens durch ihre Stummheit und die Rtickfiihrung jeder bildlichen Artikulation auf sich selbst aus (ebd.: 26), weisen zweitens eine Mitte, ein inneres Zentrum auf, in dem sich der Kern ihres Selbst verrat bzw., in dem wir den „virtuellen Fluchtpunkt eines Charakters" (ebd.: 36) zu erblicken glauben; auch erkennen wir drittens die Dargestellten als einem Modell ahnlich, obwohl wir sie niemals gesehen haben (ebd.: 28), und schlieBlich zeigt sich viertens in ihrer Haltung eine „Kraft eines Handelnkonnes"; die Handlung selbst aber kommt eher im „modus potentialis" vor (ebd.:29). 19 19 Boehm schreibt weiter: „Selbstandige Portrats zeigen durchaus Menschen, die eine Rolle spielen, die Inhalte ihrer Umwelt verkorpern. Entscheidend fur ihren Bestand als Individuum bleibt aber

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Was Boehm hier als Gattungsbegriff des selbstandigen Portrats einfuhrt, umschreibt eine ganz spezifische Bildform, die auf der Vorstellung eines autonomen Individuums basiert, jenem Individuum, das in starkem Sinne Subjekt bleibt und sich selbst als „Garant des eigenen Handelns und der Erkenntnis" (ebd.: 10) begreift. Dieses Selbstverstandnis wurde immer wieder als eine der groflten Errungenschaften der Renaissance beschrieben - zuerst vom Kulturhistoriker Jacob Burckhardt.20 Wenngleich dieser Leseweise der Epoche verschiedentlich widersprochen wurde, so spricht die Ausbildung der Portratmalerei dieser Zeit doch eine eindeutige Sprache; zumindest fmden wir hier vielfach Darstellungen, die einer ganz bestimmten Rhetorik des Subjekts folgen bzw. in denen sich die Dargestellten wie sich selbst ermachtigende Individuen zu prasentieren scheinen. Diese Rhetorik schwingt auch in Giorgiones „Vecchia" mit. Doch wird das Individuum im Modus des Verlusts gezeigt. Alle individuellen und spezifischen Texturen des Gesichtes sind Hinweis auf eine durchlebte Geschichte, fuhren aber nicht auf einen Kern, der sich uns offenbart und den wir verstehen konnten. Gerade im Vergleich zu anderen Portrats Giorgiones, wie etwa dem Bildnis eines venezianischen Edelmannes in der National Gallery in Washington (Abb. 3), wird dies deutlich. Auch dort weist der Dargestellte eine fur ein Bildnis starke Aktionalitat auf, doch ist die verzeitlichende Geste hier zugleich Ausdruck des Selbstbewusstseins. Die Transitorik der „Vecchia" aber ist eine andere. In dem MaBe, in dem die Geste der Hand auf ein Zentrum deutet, schwingt der Impuls der Banderole zugleich weg von der Person in ein Irgendwo. Hier wird im wortlichen Sinne etwas aus der Hand gegeben.

die Beachtung jener Grenze, an der sich der Selbstverweis des Portratierten auf sich zum Fremdverweis, zur Subsumation unter auBere Inhalte umakzentuiert. (...) Das dargestellte Individuum enthalt eine unauflosbare Pragung, die das Zentrum seiner Besonderheit markiert (...). Erst einen Solchen, an dem wir entdecken konnen, dafi er iiber seine okkasionelle Pragung hinaus sich uns zuzuwenden vermag - in Blick, Geste, Haltung - werden wir wirklich einen Jemand und keinen Niemand nennen" (ebd.: 24). 20 Burckhardt bestimmte die Renaissance als Epoche, in der das Individuum erwachte: es „erhebt sich mit voller Macht das Subjektive, der Mensch wird geistiges Individuum (...) und erkennt sich als solches" (Burckhardt 1948,11860: 70).

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Abb. 3: Giorgione „Bildnis eines venezianischen Edelmanns", um 1508-1510, Ol auf Leinwand, 76,2 x 63,5 cm, National Gallery of Art, Washington

Wichtig ist aber noch etwas anderes: namlich die Art, wie die Perspektive des Bildes die Relationierung von Dargestelltem und Betrachter entwirft. Auch Boehm stellt dies fest und schreibt hierzu: „Wirklich singular ist die von Giorgione gewahlte Verortung der Person (...). Waren wir es bislang gewohnt, den Portratierten tiber den Betrachter (im Pathosportrat) oder auf gleicher Ebene mit ihm (bei der Ethoshaltung) prasentiert zu sehen, so haben wir es hier mit dem hochst seltenen Fall von Draufsicht zu tun. Die Alte schaut zu uns herauf, und die Oberkante des parapetto verdeutlicht diesen Sichtwinkel zusatzlich. Die charakteristische Fall-Linie von Portrat zum Betrachter herab, zumindest: auf ihn zu, kehrt sich um" (ebd.: 110).21 Irritierend am Bild aber erscheint auch der Blick der Dargestellten und seine Relation zur Transitorik der Geste. Obwohl die Geste der Hand mit der Banderole auf Verzeitlichung zu insistieren scheint, entsteht in dieser betonten Temporalisierung keine Aktivitat. Der Vergleich zum Washingtoner Bildnis macht dies nochmals deutlicher: In dem MaBe, in dem uns der zugleich kritische wie herablassende Blick des Marines wie ein Pfeil zu treffen vermag, versinkt der Blick der Alten gleichsam fragend in sich selbst. Zu diesem Eindruck tragt nicht zuletzt der geofmete Mund bei. Er betont eine Momentaneitat und temporali21 Hierin sieht Boehm einen klaren Hinweis auf die Verbildlichung des Komplexes „Zeit und Verganglichkeit" (ebd.).

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siert die Dargestellte, deutet aber doch nicht wirklich auf eine aktive Handlung; eher scheint er vor allem die Zentrierung der Person in sich selbst zu verhindern. In dem Bild gehoren - dieser Leseweise des Bildes folgend - mithin nicht Zeit und Aktivitat zusammen, sondern Zeit, Unterwerfung und Dekonstruktion. „Was im Gesicht zu lesen ist hat zweifellos mit dem Alter der Frau zu tun" (ebd.: 109), schreibt Boehm und sieht „in diesem Bildnis den ProzeB der Verganglichkeit als einen ProzeB des Alterns bildmaBig dargestellt." Dabei bezieht sich der allegorische Inhalt der Inschrift „auf das Altern eines Individuums, das wir an einem Modell beobachten konnen. Insofern sind Altern und Individualis t noch nicht identische Gesichtspunkte: das gelebte Leben gehort nicht zu einer personlich gewiirdigten Person, sondern zu einer Stellvertreterin, an der es modellhaft sichtbar wird" (ebd.). Anders als bei Dtirers „Avarizia" geht es dabei offenbar jedoch nicht urn den Typus einer Alten oder die Verkorperung eines der drei Lebensalter, auch scheint nicht die Allegorie der Alterstufe gemeint (sonst wurde die Portrathaftigkeit kaum Sinn machen), sondern das, was sich durch die Zeit vollzieht - und zwar nicht losgelost von der dargestellten Person. Interpretiert man diese Beobachtungen und denkt sie einen Schritt weiter in unserem Themenzusammenhang, so scheint das Bild Verganglichkeit als Weltverhaltnis zu thematisieren. Die Spuren, welche die Zeit hinterlasst, zeigen sich an einem konkreten Fall. Dabei wird die Wirkung der Zeit zwar einerseits an einem bestimmten „Jemand" sichtbar, andererseits aber zerstort genau diese Temporalisierung die Autonomic des dargestellten Subjekts. Und dafur, dass es bei der „Vecchia" urn eine solche Dekonstruktion geht, spricht die Verwendung der ublichen Bildnisrhetorik: die Brustung, das Dreiviertelprofil, der dunkle Hintergrund. Das selbstandige Bildnis klingt an und damit jenes ihm zugehorige souverane Subjekt, jedoch wird dieses nur noch als abwesendes reprasentiert. Ubersetzt man diese Deutung in die Frage nach moglichen Semantiken des Alterns, so werden hier die Idee des selbstverantwortlichen Subjekts und der Tribut der Zeit in einen Widerspruch gebracht; wobei Zeit bzw. Verganglichkeit durch die Form der Erwahnung auf der Banderole als transzendentale Macht erscheint. Die Zeit, die Verganglichkeit und das Altern haben eine entsubjektivierende Wirkung; sie gefahrden und zerstoren das souverane Subjekt. Interessant ist, dass es nicht die korperlichen Gebrechen und die Bedtirftigkeit sind, die dabei ausschlaggebend zu sein scheinen, sondern der Verlust eines Kernbestands, der Verlust eines offensichtlichen Selbstbewusstseins, welches sonst den Dargestellten im selbstandigen Bildnis eigen ist. Giorgiones „Vecchia" fehlt jene Mitte, jener ruhende Kern, aus dem heraus ein sich selbst zur Handlung ermachtigendes Subjekt agieren konnte. Sie ist als Ganze der Zeit unterworfen. Der sich

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in der Bildniskunst der Renaissance sonst spiegelnde Glaube an die Idee des souveranen, selbstandigen Subjekts, in dem der gesamte Kosmos aufscheint, dieser Glaube ist von Anfang an gefahrdet durch sein Ende. Insofern lasst sich Giorgiones „Vecchia" als ein Bild interpretieren, in dem Alter nicht als Lebensphase mit spezifischem Weltverhaltnis erscheint, nicht als Lebensabschnitt mit signifikanten Auspragungen, sondern als eine Grunddisposition des Subjekts an sich. Giorgione bringt offenbar alles andere als einen modernen Subjektoptimismus zur Darstellung. Vielmehr scheint eine Deutung nahe liegend, die den Bildsinn dieser Tafel darin sieht, dass sie zusammen mit ihrem Pendant, dem Bildnis des jungen Mannes, darauf verweisen sollte, dass das Alter dem Subjekt von Anfang an eingeschrieben, ihm als Moment der Gefahrdung immer schon eigen ist. „Menschen sind endlich, ihr Leben ist kurz, ihre Zeit ist Frist" (Marquard 1996: 469). Es besteht eine gewisse Verwandtschaft zwischen dem starken Subjektbegriff, wie er sich im selbstandigen Bildnis zeigt, und der Philosophic des Alterns wie Odo Marquard sie vorstellt: dem Leben auf das Ende zu; wobei Marquard das, was wir bei Giorgione als das gefahrdende Moment gesehen haben, als Chance zur Liberalitat interpretiert. Und was bei Giorgione die Macht der Verganglichkeit zu sein scheint, erweist sich bei Marquard als Endlichkeitsbewusstsein: „Diese nicht-teleologische Endlichkeit ist die Bedingung, unter der Menschen teleologisch sein konnen: ihre Tode sind starker als ihre Ziele" (ebd.). Die Technologien der Subjektivierung, urn eine Begrifflichkeit von Michel Foucault (1986, 1994) zu gebrauchen, sind allerdings ganz unterschiedlich. Fur Giorgione gilt es, Endlichkeit offenbar nicht zu interpretieren, sie wirkt bei ihm - der hier vorgeschlagenen Interpretation folgend - als alles gefahrdende Gegebenheit und Angriff auf die Identitat. Bei Marquard scheint Endlichkeit eher ein Naturphanomen, dessen Erkenntnischancen es auszuloten gilt. Doch trotz aller Unterschiede, die hier zu benennen waren, ist in beiden Fallen Altern gleich Verganglichsein und Verganglichsein eine Eigenschaft des Subjekts.

5. Letzte Menschen - Alter als Habitus Wollte man soziologische Semantiken des Alters von philosophischen unterscheiden, so lieBe sich die Differenz vor allem darin sehen, dass Altern in der Soziologie weniger als Angelegenheit des verganglichen Subjekts beschrieben wird, sondern vielmehr als Lebenslage, die bestimmte gesellschaftliche Positionierungen und Funktionen impliziert. Einen soziologischen Blick in diesem

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Sinne zeigt auch August Sanders Fotografie mit dem Titel „Gebrechlicher Alter" von ca. 1930 (Abb.4). Die Fotografie ist Teil von Sanders groBem Portratkonvolut „Menschen des 20. Jahrhunderts", das der Fotograf ab 1925 anlegte und bis zu seinem Tod immer wieder erweiterte und neu konfigurierte (vgl. Keller 1980: 1 If.). Es kann als sein nie ganz vollendetes Lebensprojekt gelten, das ihm schlieBlich einen bedeutenden Platz in der Fotografiegeschichte einbrachte (vgl. G. Sander 1976: 26). Der aus dem Westerwald stammende und viele Jahre in Koln arbeitende Fotograf (1876-1964) stellte in diesem Opus zwischen 500 und 600 Portratfotografien zusammen, die er teils im Zuge von Auftragsarbeiten und teils in eigenem Auftrag fertigte. Erstmals veroffentlichte er dieses Konzept 1929 unter dem Titel „Antlitz der Zeit" im Kurt WolffiTransmare Verlag mit einer Auswahl von 60 Fotografien. Spater teilte und systematisierte er die Auswahl in sieben Gruppen und entwarf damit ein eigenwilliges typologisches Panorama der Gesellschaft: „Der Bauer", „Der Handwerker", „Die Frau", „Die Stande", „Die Ktinstler", „Die GroBstadt" und als siebte Gruppe: „Die letzten Menschen" (vgl. Keller 1980: 7). Die Gruppe „Die letzten Menschen", die den Schluss des Konvoluts bildete, enthielt Fotos von Blinden, Zwergenwtichsigen, Invaliden, das Bild einer toten Frau auf dem Sterbebett und den hier betrachteten „Gebrechlichen Alten". Das Bild „Gebrechlicher Alter" zeigt einen alten Mann gestiitzt auf zwei Handstocke eine DorfstraBe entlang gehend, die auf ein Gehoft zufuhrt. Der Alte tragt durch den weiBen Bart und die gebeugte Haltung deutliche Merkmale eines Greises. Sein zersehlissener Kittel und die Miitze legen die Vermutung nahe, dass er der einfachen landlichen Bevolkerung angehort. Seine Stocke hat er seitlich zu seinem Korper gestellt, seine FuBe sind noch in Richtung auf das Gehoft zu gerichtet, so dass er eine Drehung vollzieht und in dieser zu verharren scheint. Sein Mund ist leicht geofmet und die Augen blicken ein wenig uberrascht. Es liegt eine gewisse zugespitzte Zeitlichkeit in seinem Blick, etwas Gebanntes, so als wurde er nur einen kurzen Moment verweilen und innehalten, sich aber im nachsten Augenblick wieder umwenden und seinen Weg fortsetzen. Dabei lassen die Handstocke, die stark gebeugte Haltung, die Stellung der FuBe und die eingeknickten Kniekehlen darauf schlieBen, dass er seinen Weg nur extrem langsam zurticklegen wird. Die Umrisse der Figur zeichnen sich im Bereich des Oberkorpers scharf ab, es liegt ein Lichtschimmer auf den Konturen; die Umgebung dagegen verschwimmt. Sander hat nicht nur die Kontexte, an denen er seine Personen ablichtete, sondern auch die Positionierung der Portratierten im Bild stets sehr sorgfaltig

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Abb. 4: August Sander „Gebrechlicher Alter", um 1930, Fotografie

kalkuliert, um durch die Verortung einen symbolischen Deutungsraum zu erzeugen. Hier steht der Alte in der rechten Bildhalfte und gibt die linke frei. Die groflte Flache im Bild nimmt die Strafte ein, auf der er geht. So wird er iiberdeutlich als einer, der unterwegs ist, inszeniert. Dabei scheinen die Hauser sein Ziel. Ein besonderer Kunstgriff Sanders aber besteht darin, dass der Alte in das Bild hineingeht und sich seine FtiBe von uns als Betrachtenden abwenden. Er geht nicht auf uns zu, - was flir einen Fotografen eine nahe liegende Perspektive ware - sondern von uns weg. Diese arrangierte Drehung, in welcher der Fotografierte verharren musste, der Blick von hinten, lasst sich als Inszenierung einer bestimmten Relationierung zum Betrachter lesen, die ein spezifisches In-derWelt-Sein meint.

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Das Herausragende an Sanders Arbeit besteht, wie vielfach betont wurde (vgl. etwa Keller 1980: 39), in dem Gelingen einer prazisen Balance zwischen einer Typologisierung und der Wurde des Einzelnen. Sander zeigt Bauern, Bettler, Handwerker, Arbeitslose, Industrielle, Kiinstler, „Fahrendes Volk", „verfolgte Juden", berufstatige Frauen mit der immer gleichen Sachlichkeit und Prazision und exponiert dabei den je fur sie charakteristischen Habitus. „Der Habitus ist nichts anderes als jenes immanente Gesetz, jene den Leibern durch identische Geschichte(n) aufgepragte lex insita, welche Bedingung nicht nur der Abstimmung der Praktiken, sondern auch der Praktiken der Abstimmung ist", schreibt Pierre Bourdieu (1987: 111).

Abb. 5: August Sander „Abgebauter Seemann", 1928, Fotografie

Abb. 6: August Sander „Revolutionare", 1928, Fotografie

So steht der „Abgebaute Seemann" (Abb. 5) breitbeinig und mit den Handen in der Tasche auf eine Briicke, die „Revolutionare" (Abb. 6) kauern auf der Treppe einer Arbeitersiedlung und stecken die Kopfe zusammen, der „Kunstgelehrte" (Abb. 7) sitzt erhaben auf einem Biedermeierstuhl - zu ihm schauen wir von unten herauf. Er streckt seine auf dem Schofl liegende Hand im rechten Winkel aus. Stets scheinen Gebarde und Korperlichkeit abgestimmt auf die Funktionen und Existenzbedingungen und zwar scheinbar in jenem unbewussten, eingepragten Sinne, den Bourdieu mit dem Habitusbegriff beschreibt. Und das heiflt

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Abb. 7: August Sander „Kunstgelehrter" 1932, Fotografie

zugleich: sie sind hierdurch nicht unfrei oder gleichsam in Rollen gepresst, vielmehr ist ihr Habitus „Erzeugungsgrundlage" von Subjektivitat (ebd.: 104).22 Sander lichtet seine Modelle nicht im Atelier ab, sondern in den ftlr sie typischen Umgebungen. Dabei verzichtet er auf alles Pittoreske, auf jede fur seine Zeit iibliche Pathosformel oder wie er selbst es formulierte: „ohne „Posen und Effekte" (zit. n. Keller 1980: 10) - eine Strategic, die seine Fotografie immer noch aktuell erscheinen lasst: „Ich will weder Kritik noch eine Beschreibung dieser Menschen geben, sondern nur mit meinen Bildern ein Stuck Zeitgeschichte schaffen" (Sander 1976: 29). Dabei liegt seine spezifische Leistung darin, dass es ihm gelingt Typen zu zeigen, ohne zugleich Klischees auszubilden. Immer nimmt er Feinheiten der Personlichkeit in den Blick und sieht jenes Mal3 an Kontingenz, das am starren Klischee vorbeifuhrt. Der Habitus ist nicht nur ein der Gesellschaftsgruppe zugehoriger, sondern auch ein jeweils individueller. So auch beim „Gebrechlichen Alten". Sander bietet keinen voyeuristischen Blick auf einen tattrigen Greis, sondern eine Form der Begegnung im Blick. In diesem Blick erweist sich der Alte zwar nicht als eminentes Subjekt (im Sinne von Boehms Individuum), von dem wir meinen alles mogliche zu wissen - aber er erscheint als ein lebendiger Jemand, dem wir fluchtig begegnen und der uns mit seinem Blick nachdriicklich deutlich macht, dass er da ist (war), ein Jemand, der uns durch seine so und nicht anders gepragte Haltung etwas 22 Der Habitus ermoglicht nach Bourdieu allererst die Freiheit als „Spontaneitat ohne Willen" (ebd.: 105).

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dariiber verrat wie er gelebt hat. Dabei lasst sich in seinem Ausdruck durchaus eine Spur von Stolz erkennen und im festen Griff seiner erstaunlich jung wirkenden Hande zeigt sich ein Moment von Entschlossenheit. Was hier - wie in vielen Bildern Sanders - beeindruckt, ist die unhintergehbare Zugehorigkeit der Person zu ihrer Umgebung. Sie wirkt wie ein dem Leib eingepragter Erfahrungsgrund. Das, was der Alte tut, seine Lebenspraxis, scheint er wie eine Bestimmung in sich aufgenommen zu haben; sein Unterwegssein scheint nicht von dem zu trennen, was er ist. Alter erweist sich in dieser Leseweise des Bildes als Position, die man innerhalb eines gesellschaftlichen Kontextes einnimmt und wird damit eher Aufgabe denn Problem. Wie der Seemann gehort auch der „Gebrechliche Alte" einem Kontext zu und ist mit seiner Form der Lebenspraxis Teil eines Systems. Alter stellt somit eine Facette im Spektrum des tibergeordneten Ganzen einer Gesellschaft dar, und so ist wohl auch die Einordnung des Bildes in den Fotokonvolut zu verstehen. Entsprechend ist bei Sander auch das Subjekt nicht die alles entscheidende Instanz, von der aus sich die Welt bestimmen lieBe. Gerade durch den groBen Zusammenhang des Konvoluts von Portrats zeigt sich die Gesellschaft als entscheidende Instanz; von dieser aus fmdet das Subjekt seinen Ort wenn auch ganz am Schluss unter den „letzten Menschen".23 Im Vergleich zu unserer Lekture von Giorgiones „Vecchia" konfiguriert sich das Subjekt gleichsam in umgekehrter Richtung. So gesehen zeigen sich vollkommen verschiedene Subjektformen, weil es denn auch, wie Foucault bemerkt, „keine Universalform Subjekt gibt, die man tiberall wiederfmden konnte", sondern im „Gegenteil, (...) das Subjekt durch Praktiken der Unterwerfung oder auf autonomere Weise, durch Praktiken der Befreiung, der Freiheit konstituiert wird" (Foucault 2005: 906). Wenn wir davon ausgehen, dass es unterschiedliche Subjektformen gibt, die sich aufgrund der je anderen Subjektivierungspraktiken ausbilden, so zeigt Giorgiones Bild nach der hier erorterten Interpretation eine Subjektform, die den Anspruch des Individuellen und Selbstandigen in sich tragi Und fur diese ist Altern als nahendes Ende ungleich dramatischer als fur Sanders Alten, denn es bedeutet Verlust der Souveranitat. Sloterdijk hat in seinen Uberlegungen zur alternden Gesellschaft zu zeigen versucht, dass das Subjekt der Modeme, der „individualistischen Grundstromung gemaB" (Sloterdijk 1996: 16), sich selbst nicht mehr im Generationenverband begreift, sondern „der geborene Dissident seiner Herkunft" sei und so „die Problemfigur des freien Alten" (ebd.) entsttin23 Und hier steht der Alte zwar ganz am Ende unter den „Letzten Menschen", doch fallen diese aus dem Gefuge nicht heraus, sondern sind Teil eines Ganzen.

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de. Ihm zufolge hat sich, indem sich Individualismus als allgemeiner „Daseinsstil durchgesetzt hat" (ebd.: 19) jenes Band der Schuld gelost, „das die Generationen als ein Ensemble von Ungleichen aneinanderkntipft (...), ein Band der in der Zeit fallig werdenden Schuld zwischen Generationen" (ebd.: 8). Er unterstreicht die Undankbarkeit der Jungen gegentiber den Alten in der Moderne: „Es liegt mir daran, die These herauszuarbeiten, dafi bis zum Beginn der modernen Weltverhaltnisse in alien hochkulturellen Generationenbeziehungen ein Fundus von radikalen Verschuldungen der Jungeren bei den Alteren verwaltet wurde zusammengesetzt aus Erziehungsschuld, Still-Schuld, Austragungsschuld und schlieBlich Zeugungsschuld oder Sehopfungsschuld. Schuld meint hier jedesmal das Band, durch das die Nachkommen in einer offenbar irreversibel asymmetrischen Bindung an die Vorleistung der alteren Generation zuruckgebunden werden"(ebd.: 11). Nach Sloterdijks Analyse mtisste Sanders „Gebrechlicher Alter" insofern als vormodem gelten, weil der Sinn von Sanders Fotokonvolut - nicht nur nach der hier plausibilisierten Interpretation, sondern auch nach den AuBerungen des Kiinstlers selbst - darin besteht, genau jene funktionalen Bindungen als Grundlagen der Subjektivierung verstandlich zu machen. Doch entspricht Sanders „Alter" weder Sloterdijks Idealtyp des historischen Alten (an dessen Existenz im Ubrigen ja auch Zweifel angemeldet wurden) noch seinen „freien Alten". Sanders Alter verkorpert eben nicht jene angeblich so geschatzte Senioritat, die sich aus dem Abhangigkeitsverhaltnis der Generationen ergibt. Er tragt keinen Ausdruck der Macht, der Weisheit oder Erhabenheit und wird auch nicht als einer gezeigt, der Abhangigkeiten erzeugen wtirde. Und doch scheint er nicht allein auf sein Ende zuriickgeworfen, sondern vielmehr einer Umgebung und einer Zeit zugehorig. Alter wird so keineswegs als angenehme und leichte Angelegenheit beschonigt, doch gewinnt es durch die Kontextualisierung eine identitdtsstiftende Symbolhaftigkeit.

6. I'm still Alive. Altera ohne Bedeutung Wenn verschiedene Gesellschaftsformen verschiedene Kulturen und Praformierungen des Alterns aufweisen und sich in ihnen, wie Foucault gezeigt hat, unterschiedliche Subjektformen ausbilden (vgl. Foucault 2005), so lieBe sich Alter als Arrangement beschreiben, das durch Praktiken und Formen des Identitatsmanagements bzw. durch die Thematisierung in Interaktionen erzeugt wird. Auch Identitat ware nicht transzendentale Gegebenheit, sondern eher eine permanente Zuschreibungsoperation (vgl. Nassehi 1994: 51) und die Form des

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Abb. 8: On Kawara „Date Paintings, 1966"

Alter(n)s hatte so gesehen auch inszenatorischen Charakter. Daraus folgt jedoch nicht, dass Altersidentitaten vollkommen bewusst und durch absichtvolle Konzepte und fiktive Konstruktionen beliebig modellierbar waren, sondern vielmehr, dass sie abhangig von Praktiken und Umfeldern sind und sich performativ ausbilden. Kennzeichnend ftir das Umfeld, in dem sich heute Altersidentitaten entwickeln und realisieren, ist die grofte Bedeutung, die dem Alter beigemessen wird, und die Emotionalitat, mit der das Thema diskutiert wird. So scheint es nicht abwegig in diesem Zusammenhang von einem (selbst)disziplinierenden Blick auf das Alter zu sprechen. Wie aber verandern sich Formen des Alterns und Altersidentitaten, wenn das Alter in zunehmendem MaBe einem solchen disziplinierenden Blick ausgesetzt ist? Und was heiBt Altern, wenn fur Alte keine erstrebenswerten gesellschaftlichen Rollenmodelle verftigbar scheinen? Es ist bezeichnend, dass ein Japaner in seinem kunstlerischen Werk die Abwesenheit von Sinn und Bedeutung im Lebensvollzug thematisiert. Der inzwischen vorwiegend in New York lebende, 1933 geborene On Kawara fuhrt mit seiner Arbeit vor Augen, was zu gewinnen ist, wenn wir auf alle subjektiven, konventionellen oder gesellschaftlich vereinbarten Bedeutungen unseres individuellen Lebens verzichten. Seit dem 15. Januar 1966 arbeitet der Konzeptkiinstler an seiner Serie der sogenannten „Date Paintings" (Abb. 8). Das Konzept dieser Malerei besteht darin, dass sie genau an dem Tag gefertigt wird, dessen Datum sie zeigt. Seit der Entstehung der ersten „Date Paintings" malt On Kawara an jedem Tag, wann immer er es schafft, ein solches Bild. Wenn es ihm nicht gelingt, sein Werk an

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genau dem Tag fertig zu stellen, dessen Datum es tragt, wird es vernichtet. Ein weiteres Merkmal dieser Bilder besteht darin, dass die Datumsinschrift immer der jeweiligen Landessprache des Entstehungsortes angepasst wird. In ihrer Ausfuhrung wirken die „Date Paintings" zunachst wie gedruckt. Bei genauerem Hinsehen lasst sich jedoch erkennen, dass die Lettern mit auBerster Akribie, mit dunnem Pinsel und in lasierenden Schichten von Hand gemalt sind. Auf diese Weise ist keine Handschrift, aber doch die individuelle Fertigung erkennbar. Man sieht Spuren eines variierenden Fertigungsprozesses, welche die Bilder als Einzelprodukte kenntlich machen. Kawara halt so ganz betont an den Methoden der traditionellen Bildproduktion fest, anonymisiert sie jedoch so weit, dass das Aussehen der Bilder sich dem eines maschinell gefertigten Produkts annahert, was paradoxerweise eine besonders konzentrierte und mtihevolle Handarbeit verlangt (Abb. 9-12). Dabei tritt der Ktinstler sein Tageswerk nicht an, um einer Eingebung zu folgen oder um sich auf die Suche nach unerwarteten Formfindungen zu begeben, sondern um einen Ritus zu vollziehen. Dass im Zuge dessen dennoch etwas Einmaliges, Unwiederholbares entsteht, ist nicht abhangig von schopferischen Potenzialen, sondem ergibt sich schlichtweg aus der prinzipiellen Einmaligkeit eines jeden Augenblicks im Fluss der Zeit. Mehr noch als bei vielen anderen Gegenwartskunstlern ist fur die Rezeption der Werke von On Kawara das Wissen um den konzeptionellen Rahmen, in dem seine Bilder entstehen, von grundlegender Bedeutung. Die Tatsache, dass jedes Bild genau das Datum desjenigen Tages zeigt, an dem es entstanden ist, ist ebenso ausschlaggebend, wie das Wissen darum, dass der Ktinstler sein Leben bis heute dieser Tatigkeit verschrieben hat. Hierdurch erhalten die Bilder eine Einmaligkeit, wirken gleichsam wie Ikonen der Unwiederholbarkeit eines jeden Moments in der Zeit (vgl. hierzu Felix 1980). Das mag insofern paradox klingen, als sie zugleich ihre Austauschbarkeit zeigen, insoweit als wir sie auch als eine Serie unschopferischer Wiederholungen des immer Gleichen betrachten konnen. Neben den „Date Paintings" produziert Kawara noch weitere Serien, welche noch deutlicher das autobiografische Moment seiner Arbeit zeigen. Ebenfalls seit 1966 etwa arbeitet er an der Serie „I Read". Sie besteht aus Ordnern, in die er mit seinen Unterstreichungen und Bemerkungen versehene Zeitungsartikel einheftet und so etwas von dem nachvollziehbar macht, was er gelesen hat. Seit 1968 fertigt er zudem taglich die Kopie einer Landkarte oder eines Stadtplans und zeichnet hierin ein, wohin er gegangen ist. Auch diese Blatter archiviert er unter dem Titel „I Went" in Ordnern (Abb. 13).

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Im gleichen Jahr begann er daruber hinaus jeden Tag aufzulisten, wen er getroffen hat und betitelte diese Serie „I Met". Zwischen 1969 und 1979 versandte Kawara auBerdem Postkarten an Freunde, auf denen stand „I got up ...". Weiterhin verschickte er in unregelmaBigen Abstanden Telegramme an Bekannte mit der Nachricht: „I am still alive. On Kawara". Mittlerweile fullen die pedantischen Archive seiner biografischen Datenvermerke viele Regale. Fast vier Jahrzehnte lang betreibt der Kunstler nun diese Arbeit. Die Jahresproduktion seiner „Date Paintings" schwankt dabei zwischen 30 und 241 Arbeiten. Die Buchfuhrungsblatter zu „I Went" und „I Met" entstehen dagegen taglich.24 Aber was erfahren wir aus diesem Archiv uber die Person, die es erstellt? An keiner Stelle gewahrt der autobiografische Archivar einen Blick ins Gesicht. Dem Betrachter bietet sich nichts als die Spur des Gewesenen. Und dieses Gewesene ist die Variation des immer Gleichen, es gelingt hierin nicht, Entwicklungen abzulesen und einen konsistenten Sinnzusammenhang herzustellen dieser bleibt reine Spekulation. Wir erfahren nichts daruber, warum Kawara sich mit wem getroffen hat, warum er wohin gegangen ist, ob er an dem Tag, an dem er das „Date Painting" vom 22. Oktober 1990 herstellte, etwas Einschneidendes erlebt hat. Einblicke in sein privates Leben zu verweigern gehort ebenso zur Strategic des Kunstlers wie Einblicke in eine reine Datenidentitat zu gewahren. Er liefert nichts zur Interpretation von Beweggrunden, liefert keine Anhaltspunkte zum Sinngehalt seines Tuns, sondern allein eine archivierbare AuBenbeobachtung seiner selbst in Daten und Koordinaten. Und gleichwohl manifestiert sich in Kawaras Werk nichts anderes als die Einzigartigkeit der Zeit eines Subjekts, wenn auch auf auBerst abstrakte Weise. Jedes „Date Painting" ist untrennbar verkniipft mit der von On Kawara daran verbrachten, unwiederbringlichen Lebenszeit. Die subjektiv erlebte Zeit des Kunstlers, in der er mit der Produktion des Werkes befasst war, ist zwar immer schon vergangene, zugleich aber in dem Bild als eminenter Moment gespeichert. Und gerade weil die Bildrhetorik sich an Datenerfassungsmethoden orientiert, wird das Intentionslose und Gewohnliche zum Besonderen.

24 Bemerkenswert vor dem Hintergrund dieser biografischen Arbeit ist, dass weder Fotografien des Kunstlers existieren noch die sonst ublichen Interviews, die Auskunft uber Leben und Werke gaben. D.h. On Kawara zeigt der Offentlichkeit nicht mehr als das, was aus seinen Arbeiten hervorgeht. Diese Vermeidung jeglicher Form von erzahlter Biografie oder Kommunikation uber Absichten zeigt, wie radikal der Kunstler das Leben seiner Tatigkeit unterordnet - zumindest wird fur die Offentlichkeit kein Leben On Kawaras neben seinem Werk erkennbar. Viel eher entsteht der Eindruck, als ob jeder Tag unter der Pramisse geschahe, dass gewisse Aspekte des Tagesgeschehens festgehalten werden, um in das groBe Werk des biografischen Archivs einzugehen.

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Abb. 9: On Kawara ,„Today' Series No. 23, 1991 ,,9.45", 1991, Acrylfarbe auf Leinwand, 25,5 x 33 cm

Abb. 10: On Kawara „,Today' Series No. 23, 1991" ..11.51" 1991, Acrylfarbe auf Leinwand, 25,5 x 33 cm

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Abb. 11: On Kawara „,Today' Series No. 23, 1991" ,,12.08", 1991, Acrylfarbe auf Leinwand, 25,5 x 33 cm

Abb. 12: On Kawara „,Today' Series No. 23, 1991" ,5.45", 1991, Acrylfarbe auf Leinwand, 25,5 x 33 cm

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Abb. 13: On Kawara „I went", Ordner, 1973

Oder anders gesagt: Es ist das Gewohnliche am Leben, was seine Einmaligkeit ausmacht. Es ist allein die Zeit eines Jemand, die hier investiert wurde und dabei wird ausgeblendet, welche konkreten Gedanken und Empfindungen im Spiel waren. Keine moglichen „Auswirkungen von sich verandernder Zeit auf ein vorgegebenes Subjekt" werden dokumentiert, wie auch die Kunsthistorikerin Anne Rorimer (1992: 231) feststellt, sondern die abstrakte Idee individuell erlebter Zeit an sich. Diese wird zum Monument erhoben. Ihrer Unwiederbringlichkeit wird gedacht. In Bezug auf unsere Altersthematik lasst sich diese Arbeit auf zweierlei Weise lesen. Einer optimistischen Interpretation zeigt sich hier, dass das subjektive Erleben der Zeit als solche keiner weiteren personlichen Sinnerfullung bedarf, auch keiner Narration, denn dieses Erleben ist bereits hinreichender Sinn, ist das, worauf es ankommt. Kawara legt eine gigantische Spur ohne Geschichte und konkrete Erinnerungen. Er erzahlt nichts. Keine seinem Tun zugrunde liegenden Intentionen werden geboten. Das Faszinierende aber in der optimistischen Lektiire von Kawara ware: auch ohne dass die Dinge einen Sinn haben, bleibt es wichtig sie zu tun. Eine pessimistische Lesart dagegen erkennt in Kawaras Obsession des Aufschreibens den permanenten Hinweis darauf, dass die Zeit unwiederbringlich vergeht, dass das Gravierende am Leben iiberhaupt darin besteht, dass jeder

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Moment immer schon vorbei ist und dass das, was wir zeigen und sagen, immer schon gewesen ist. Vermutlich ware On Kawara fur jeden Biografieforscher und jeden Psychologen ein erstaunlicher Forschungsgegenstand, stellt doch seine Arbeit in beiden Leseweisen die Bedeutung jedes evolutiven Moments radikal in Frage. Und wenn sich nichts entwickelt, sich weder das Weltverhaltnis noch irgendein Sinn zu verandern scheint, ja diese offenbar nicht einmal relevant sind, dann macht auch das Alter keinen Unterschied; auBer dem, dass wir mehr gewesene Zeit gesammelt haben und die Zeit, in der wir noch am Leben - „still alive" - sind, immer kurzer wird. Das ist ein Existenzialismus ganz eigener Art: einer ohne starkes Subjekt. Alt zu sein bringt entsprechend auch keine neuen Lebensmodi oder -stile hervor, es lasst uns lediglich weiter vorriicken in der Zeitskala und weitere gewesene Momente sammeln. Die Deutung der Welt andert das nicht. Die Bereinigung des Memento-Mori-Konzepts von jedem narrativen und sinnhaltigen Moment aber macht es nur umso radikaler. Derm die Lebenszeit an sich ist der unschatzbare Wert, nicht die Ereignisse, die in ihr konkret erlebt werden. Zugleich aber erscheint sie dadurch - und damit waren wir wieder bei der optimistischen Deutung - auch als das hochste Gut. Was wir moglicherweise lernen konnen von dieser radikalen Position, ist, dass neben der Moglichkeit, Alter mit unterschiedlichen Bedeutungen zu versehen, auch die Chance besteht, es mit weniger Bedeutung zu versehen. Auch wenn in Kawaras Arbeit die Zeit als konstitutives Moment des Lebens exponiert wird, so kommt es doch nicht darauf an sie mit individuellen Intentionen zu fullen. In Kawaras Sicht mtissen wir Zeit weder erzeugen noch verantworten. Vielmehr liefert er ein Vorbild, wie man sich geradezu priesterlich und meditativ ihrer Prdsenz widmet - und damit zugleich permanent ihrer Verganglichkeit bewusst wird. Das Alter spielt dabei keine wesentliche Rolle, zumindest nicht als neue Lebenslage oder als Neubestimmung von Sinn, es verandert allein unsere Position auf einer Skala.

7. Zum Schluss nur Tentatives Man karm Kunst als eine Lebens- und Reflexionsform im Modus des „als ob" beschreiben. So liefern denn auch die vorstehenden Bildlekturen keine Losungsvorschlage fur die Probleme der alternden Gesellschaft. Mit ihrer Hilfe sollten denn auch vielmehr die Semantiken innerhalb des Altersdiskurses dynamisiert werden. Die Betrachtungen sollten Reflexionsangebote streuen und offen legen wie voraussetzungsreich iiber Alter gesprochen wird. In diesem Sinne

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konnte gerade On Kawaras Arbeit, wenn man sie als Stimme in der Altersdebatte versteht, dazu anregen, die Reichweite der Beobachtungsformel „Alter" selbst grundlegend zu (iberprufen und zu fragen, wie relevant diese Kategorie ist, was mit ihr beschrieben wird und was durch die Fokussierung auf sie womoglich auch aus dem Blick gerat. Die Problematisierung des Altersthemas hat heute fraglos eine hohe Dringlichkeit gewonnen, aber die daraus resultierende emotionale Rhetorik scheint wenig fruchtbar. Mit den Bildbeispielen sollte deshalb in diesem Zusammenhang der Bliek geweitet werden. Die Interpretation von Giorgiones „Vecchia" sollte zeigen, dass sich Altern nicht nur als Lebensabschnitt verstehen lasst, der irgendwann beginnt, sondern auch als Grunddisposition des Subjekts. Zugleich konnte dieses Beispiel ersehlieBen, wie das Verstandnis der Altersproblematik mit einem sich wandelnden Subjektbegriff zusammenhangt. In der Interpretation von Sanders „Gebrechlichem Alten" envies sich Alter als Aufgabe und identitatsstiftende Bestimmung - auch ohne Senioritatsprinzip und ohne ehrenamtlichen Tatigkeiten. So liefert gerade dieses Bild ein tiberdenkenswertes Sinnangebot. Die Lekttire von On Kawaras Arbeit legt nahe, Alter schlicht als Position auf der Skala der verfligbaren Lebenszeit zu betrachten, einer Zeit, die dadurch jedoch nicht per se mehr oder weniger wert ist. Die Differenzen der Bildlektiiren sollten zeigen, dass Alter(n) nicht nur biokulturelles Phanomen ist, das unterschiedlich interpretiert wird, sondern vielmehr selbst als Suchbegriff verstanden werden muss. Wenn wir von Alter sprechen, dann haben wir es mit einem Phanomen zu tun, das durch Formen und Perspektiven der Beobachtung erzeugt wird. Insofern konnen neue, auch an der Kunst orientierte Perspektivierungen, die Sache selbst zu einer anderen machen.

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Abbildungsnachweis Abb. 1 Giorgione „La Vecchia", 1506-1508, Ol auf Leinwand, 68 x 59 cm, Gallerie dell'Accademia, Venedig unter http://www.wga.hu/indexl.html (Abruf 1.03.07). Abb. 2 Albrecht Durer: Avarizia / Alte mit Geldbeutel, 1507, Ol auf Leinwand, 35 x 29 cm, Kunsthistorisches Museum, Wien unter http://www.hegel-system.de/de/gif/Alte.jpg (Abruf 1.03.07). Abb. 3 Giorgione „Bildnis eines venezianischen Edelmanns" um 1508-1510, Ol auf Leinwand, 76,2 x 63,5 cm, National Gallery of Art, Washington, Inv.: 1939.1.258. In: Boehm (1985: 87). Abb. 4 August Sander „Gebrechlicher Alter", um 1930, Fotografie. In: Sander (1980: 430). Abb. 5 August Sander „Abgebauter Seemann", 1928, Fotografie. In: Sander (1980: 408). Abb. 6 August Sander „Revolutionare", 1928, Fotografie. In: Sander (1980: 430). Abb. 7 August Sander „Kunstgelehrter", 1932, Fotografie. In: Sander (1980: 213). Abb. 8 On Kawara „Date Paintings, 1966"6. In: Felix (1980: 52). Abb. 9-12 On Kawara „,Today' Series No. 23, 1991, „9.45'7„11.5rV„12.08'7„5.45", 1991, Acrylfarbe auf Leinwand, 25,5 x 33 cm. In: H. Weidemann (Hg.) (1994): On Kawara. June 9, 1991. Aus der „Today" Series (1966-...). Ostfildern. o. Seite. Abb. 13 On Kawara „I went", 1973. In: K. Schampers (Hg.) (1992): On Kawara. Date paintings in 89 cities. (Ausst. Kat. Boymans-van Beuningen Museum Rotterdam). Rotterdam. S. 193.

Ganz schon alt. Zum Bild des (weiblichen) Alters in der Werbung. Eine semiotische Betrachtung Barbel Kuhne Selbstdndige Designtheoretikerin, Hannover

1.

Ein paar Fakten vorweg Die Geburtenrate ist in vielen westlichen Landern auf einem sehr niedrigen Niveau und wird es weiter bleiben. Man rechnet in Deutschland mit 1,4 Kindern pro Frau bis zum Jahr 2050, d.h. auch die Anzahl der potenziellen Mutter wird immer kleiner... Die Lebenserwartung nimmt weiter zu. Nach einer mittleren Annahme wird ein 2050 geborener Jungen 81,1 Jahre, ein Madchen 86,6 Jahre, das sind rund 6 Jahre mehr als heute... Die geburtenstarken Jahrgange wachsen in die hoheren Lebensalter hinein, das fiihrt in den nachsten Jahren und Jahrzehnten zu einer Zunahme der Sterbefalle... Die Bevolkerungszahl schrumpft, je nach Variante der Vorausberechnung wird die Bevolkerungszahl Deutschlands im Jahr 2050 zwischen 67 und 81 Mio. liegen... Der Anteil der Menschen unter 20 Jahren wird dann von heute einem Funftel auf ein Sechstel sinken, der Anteil der iiber 60-Jahrigen steigt von rund einem Viertel auf mehr als ein Drittel... Die liber 80-Jahrigen machen die am starksten wachsende Bevolkerungsgruppe aus. Diese wird sich verdreifachen und konnte 2050 bei ca. 12 Prozent liegen... 1962 gab es 224 Hundertjahrige in Deutschland, im Jahr 2000 waren es iiber 5000... Das Erreichen eines sehr hohen Lebensalters wird also in Zukunft zum Normalfall werden...

All das ist bekannt und wird derzeit eher als Schreckensszenario, derm als positive Entwicklung wahrgenommen. Das hat zahlreiche Ursachen. Eine davon besteht in dem Fehlen von positiven Leitbildern, die ein neues Verstandnis vom

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Alter angesichts der demografischen und damit verbundenen gesellschaftlichen Entwicklimg vermitteln. Gesellschaftlichen Kriterien und Konventionen folgend beginnt Alter (im Sinne eines hoheren Lebensalters) heute bereits mit 50 Jahren (oft eher) und reicht dann bis weit tiber den 80. Geburtstag hinaus: Das sind mindestens 30 Jahre Lebenszeit, fur die es bisher keine verbindlichen positiven Rollen und Vorbilder gibt. In der kollektiven Vorstellung vom alten und vom sehr alten Menschen existieren ganz im Gegenteil fast ausschlieBlich negative Assoziationen wie Gebrechlichkeit, Langsamkeit, Verfall oder Sterben. Noch fehlen die Bilder, die tiber defizitare Vorstellungen und Klischees von GroBelternidylle und jugendlicher Faltenarmut hinaus eine asthetische Eigenstandigkeit entfalten. Es geht darum, Zeichen zu finden, die ein vielschichtigeres, realistischeres und auch positiveres Bild des Alters formulieren.

2. Werbung. Funktion und Aufgabe Die Gesellschaft setzt sich seit jeher in sinnfalligen Bildern mit den Phasen des Lebens und seinen Erscheinungen auseinander, hier zeigen sich kollektive Wtinsche und Werthaltungen. Gegenwartig sind es die Bilder der Medien, die kollektive Vorstellungen sichtbar machen. „Was wir tiber unsere Gesellschaft, j a tiber die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien" (Luhmann 1996: 9). Besonders die Werbebilder interessieren aufgrund ihrer wirklichkeitsspiegelnden Kraft (vgl. Stockl 1997) „als symbolische Reprasentanten psychosozialer VerfaBtheit, ihre visuellen und verbalen Formulierungsleistungen als potentielle Quellen im Rahmen einer Geschichtsschreibung kollektiver Befindlichkeiten" (Gries et al. 1995: 15). Werbung ist also mehr als nur der an okonomischen Interessen ausgerichtete Dialog zwischen Produzent und Konsument. Die Bilder der Werbung lassen Aussagen zu tiber kollektive Ideale, an der Art und Weise ihrer Darstellung werden gesellschaftliche Anschauungen sichtbar, wobei sie ebenso gesellschaftliche Prozesse und Entwicklungen dokumentieren, wie tibergeordnete kulturelle Muster immer wieder neu prasentieren und interpretieren. Unter kulturellen Mustern versteht man in diesem Zusammenhang die Biindelung von kulturgeschichtlichen Erfahrungen, normativen Begriffen, kollektiven Werten und Ideen. Kulturelle Muster in der Werbung beziehen sich z.B. auf Familienbilder (die intakte Kleinfamilie wird hier nur zogerlich von anderen Familienformen abgelost), Rollenbilder (wie werden die „perfekte Frau", der „erfolgreiche Mann" visualisiert), Darstellungen von Lebensphasen wie „die gluckliche Kindheit", „das sorglose Alter" oder das Bild der Natur (vgl. Kiihne

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2002). Kulturelle Muster unterliegen einem standigen Wandel, was zu einer regelmaBigen „Uberarbeitung der Bilder" flihrt. Werbung ist dabei ein Spiegel, mehr noch ein Zerrspiegel der Gesellschaft. Realitaten werden abgebildet und verfremdet, verzerrt, (iberhoht und neu gedeutet, aber niemals negiert. Der Bezug zur gesellschaftlichen Realitat, wie fern er im Bild auch erscheinen mag, bleibt vorhanden. Die Aufgaben der Werbung sind Information und Motivation. Unter Information versteht man die geplante, offentliche Ubermittlung von Wissen iiber ein Produkt oder eine Leistung mit dem Ziel, die marktrelevanten Einstellungen und Verhaltensweisen der Adressaten im Sinne des Werbenden zu beeinflussen (vgl. Felser 1997). Zu unterscheiden ist dabei zwischen thematischer, also sachlicher Information und unthematischer Information, d.h. der Ubermittlung von Anmutungen und Stimmungen. Die Motivation geht vorwiegend mit letzterer einher. Sie auBert sich in einem Aktivationszustand, der zu Zuwendung oder Ablehnung flihrt. Angesichts weitgehend gesattigter Markte informiert Werbung immer weniger iiber die tatsachliche Beschaffenheit eines Produkts oder eines Zustands, sondern betont zunehmend die damit verbundenen emotionalen Aspekte. Diese unthematischen Informationen laden die sachliche Botschaft emotional auf und tiberlagern sie. Denn „die Realitat im Markt ist nicht die objektive Beschaffenheit einer Ware, sondern die subjektive Vorstellung von dieser Ware" (Spiegel 1970: 58). Das Zeichensystem der Werbung enthalt damit mehr und mehr Elemente, die sich von der rein sachlichen Information entfernen und nur durch ihre Verankerung in einem kollektiven Verstandnis auf vielfaltige Weise wirksam werden. Hierbei handelt es sich um die Thematisierung und Instrumentalisierung kollektiver Wiinsche mit dem Ziel, Produkte und Botschaften emotional aufzuladen. Emotionale Aufladung heiBt, es werden ein oder mehrere Unterscheidungsmerkmale eines Produkts oder einer Marke kommuniziert, die in erster Linie das Image ausmachen. Rational erfassbare Informationen wie Beschaffenheit, Zusammensetzung, technische Details oder Verbrauchernutzen werden nachrangig formuliert oder bleiben unerwahnt. Die dritte Aufgabe der Werbung liegt in der Sozialisation, eine Funktion, die selbst vielen Werbeschaffenden nicht gelaufig ist. Denn die Gesamtbildsprache der Werbung bietet Normen und Modelle nicht nur fur das Konsumverhalten, sondern auch fur das Sozialverhalten insgesamt an und gibt den oftmals nur unscharf wahrgenommenen kulturellen Mustern eine Form. Wie oben beschrieben, entfernen sich Werbebotschaften mittlerweile sehr weit vom eigentlichen Produkt und auBern sich in Bildern mit ubergeordnetem Inhalt, die Grundthemen der Gesellschaft beriihren - Liebe, Beziehung, Familie, Freundschaft, Natur -

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und diesbezuglich MaBstabe zu setzen in der Lage sind. Werbung hat also nicht nur geschmacksbildende, sondern auch meinungsbildende Funktion. Eine nicht zu unterschatzende Aufgabe, denn die Anhaufung der Angebote, die Ausweitung der Konsumpotenziale und das Verschwimmen des Realitatsbegriffs erzeugen Unsicherheit beim Einzelnen (vgl. Schulze 1995). Orientierungslosigkeit und Enttauschung als Begleitfaktoren des erlebnisorientierten Lebens - so seltsam es klingt, Werbung scheint in der Lage, Struktur und Orientierung zu vermitteln. Die Uberlebensfahigkeit der Werbung trotz aller Enttarnungen weist auf ein Orientierungsbediirfnis hin, das Ziige von Angst und dadurch bedingter Glaubensbereitschaft hin wider bessere Einsicht tragt. Unsicherheit erzeugt ein asthetisches Anlehnungsbedurfnis, das sich in Mentalitaten, Gruppenbildungen, typischen Handlungsstrategien und neuen Formen der Offentlichkeit niederschlagt. Ohne kollektive Muster waren viele durch das Programm, so zu leben, wie sie wollen, philosophisch uberfordert (Schulze 1995: 43).

Das ist fur das Kommunikationsdesign Herausforderung und Chance zugleich und eroffhet der Werbung ein Aufgabenfeld, das als solches noch nicht in Ganze erkannt wurde. Quantitativ wie qualitativ besteht mit diesem Medium die Chance nicht nur groBe Teile der Gesellschaft zu erreichen, sondern auch zu beeinflussen im Hinblick auf ein Umdenken und einen Bewusstseinswandel angesichts der demografischen Entwicklung.

3. Kurzer Riickblick in die Medien- bzw. Werbegeschichte Bisher waren altere Menschen in den Medien kaum prasent, „sie erscheinen nicht in der Mode, nicht in der Werbung, nicht in der Presse" (Eymold 2000: 44). Hinsichtlich der Haufigkeit ihres Auftretens in Fernsehen und Werbung waren sie bereits vor zwanzig Jahren unterreprasentiert und sind es - verglichen mit dem Bevolkerungsanteil - heute mehr denn je. Ein Faktum, das angesichts der demografischen Entwicklung erstaunt. „Massenmedien reflektieren gesellschaftliche Wirklichkeit und schaffen im ProzeB der Selektion und Produktion wiederum Wirklichkeit eigener Art" (Bosch 1988: 131). Alte und hochaltrige Menschen zahlen zu der am starksten wachsenden Bevolkerungsgruppe - eine gesellschaftliche Realitat, der die Medien jedoch nicht einmal ansatzweise gerecht werden. Der Prozess der Selektion und der Produktion scheint hier also nicht an demografischen Realitaten, sondern an gesellschaftlichen Vorstellungen ausgerichtet zu werden. Die von Jugend und Jugendlichkeit gepragten Bilder uberlagern und verdrangen die soziale Wirklichkeit. Altern und Alter finden in den Medien bisher nicht statt.

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Hinzu kommt: Auch das Verhaltnis der Geschlechter entspricht, was ihre quantitative und qualitative Erscheinung in den Medien angeht, nicht der gesellschaftlichen Realitat. Bosch stellt in ihrer Untersuchung von Altersdarstellungen in unterhaltenden Programmen fest, dass alte Menschen [hier sind die tiber 60Jahrigen gemeint, B.K] nur ea.15% aller Handlungstrager ausmachen, wobei Manner ca. viermal so oft und wesentlich langer gezeigt werden als Frauen (vgl. Bosch 1986). Jtirgens konstatiert sogar einen Anteil alterer Frauen von teilweise unter 25% an der Darstellung alterer Menschen insgesamt in den elektronischen Medien (vgl. Jtirgens 1994). Das Bild des Alters in den Medien orientierte sich in der Vergangenheit an einem vorwiegend defizitaren Altersmodell. Vor 30 Jahren wurde der alte Mensch in diesem Bereich tiberwiegend als gebrechlicher, leidender Greis beschrieben (vgl. Horn/Naegele 1976). Auch vor 20 Jahren herrschten negative Formulierungen vor. Der alte Mensch erschien „als krank, behindert, miide, sexuell desinteressiert, in seinen Denkablaufen gehemmt, vergeBlich, unorientiert, rigide, isoliert und unproduktiv" (Lehr/Schneider 1984: 32). 10 Jahre spater kam Jurgens bereits zu vielschichtigeren Ergebnissen (vgl. Jtirgens 1994). Seine Typologie der Erscheinungsformen alterer Menschen beschreibt acht Typen: Clown, Aristokrat, Exzentriker, Experte, Berufstatiger, Hausfrau, GroBeltern, Immer-Junge. Die Medienanalyse (ohne Werbesendungen) mit zeitlichen und typologischen Angaben zum Auftreten von alteren Menschen im Bild zeigt eine Konzentration auf die drei Typen „Experte", Exzentriker" und „(Noch)-Berufstatiger", alle mannlich, die mit zweistelligen Prozentzahlen einen relativ hohen Anteil ausmachen. Die Darstellung von Frauen bleibt, sofern es sich nicht um frauentypische Auspragungen wie GroBmutter oder Hausfrau handelt, weitgehend selten. Die Geschlechterverteilung in Werbespots stellt sich ahnlich dar. Die relative Typenhaufigkeit konzentriert sich hier, anders als bei den Programmanteilen, auf den „Clown". Mit 25% nimmt er vor den „(Noch)Berufstatigen" (14,8%) und den „GroBvatern" (8,3%) einen relativ hohen Anteil ein. Jurgens kommt zu dem Schluss, dass „altere Menschen in der Werbung am besten ,funktionieren\ wenn sie als Clowns der Lacherlichkeit preisgegeben werden. (...) Insgesamt ergeben sich bei der Altendarstellung in der Werbung - im Gegensatz zu den aufgezeigten Verhaltnissen bei anderen Sendungsarten - deutliche Argumente fur eine qualitativ begriindete Diskriminierung" (Jurgens 1994: 56). Dartiber hinaus kann angesichts der Darstellung vorwiegend aktiver und jung gebliebener alter Menschen das Prinzip des umgekehrten Stereotyps vermutet werden. Dabei handelt es sich um ein vermeintlich realitatsfernes, tiberzogenes Bild, das den alteren Menschen z.B. in Ausiibung

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ungewohnlicher Freizeitaktivitaten zeigt und vom Betrachter als unrealistisch und unglaubwiirdig eingestuft werde, „da diese Tatigkeiten fur die meisten alteren Personen als untypisch angesehen und daher als nicht ernst gemeint bewertet werden. Durch die Klassifizierung als humoristische Darstellung wird das ursprtingliche Stereotyp intensiviert. So entsteht ein sich selbst verstarkender Bewertungszirkel" (Frohriep et al. 2000: 120). Die Zielgruppe der tiber 55-Jahrigen gilt heute, und nicht erst seit heute, als „der lukrativste Zukunftsmarkt tiberhaupt" (Lewis 1996: 5). Weder unter quantitativen noch unter qualitativen Aspekten sind altere Menschen aber als Zielgruppe der Werbung adaquat erfasst. Fur die Vernachlassigung dieser Gruppe scheint es mehrere Ursachen zu geben: Die Jugend der Kreativen und das daraus resultierende mangelnde Verstandnis fur die altere Zielgruppe erschweren eine Identifizierung mit der Zielgruppe und damit einhergehend eine differenziertere Auseinandersetzung mit dem Bild des Alters. Die Vielzahl von gangigen Vorurteilen gegentiber alteren Konsumenten sind nur schwer auszuraumen, obwohl die Alteren von heute und morgen sich z.B. hinsichtlich ihres Mode- und Freizeitverhaltens deutlich von fruheren Generationen unterscheiden (vgl. Kaupp 1997). Eine weitere Ursache scheint in der Fokussierung auf die Zielgruppe der 18bis 49-Jahrigen zu liegen, einer Zielgruppenfestlegung, die in den 1970er und 1980er Jahren groBte Berechtigung durch die demografischen Gegebenheiten hatte, heute als Marketingstrategie aber zu versagen droht (vgl. Stipp 2004). Die altere Zielgruppe ist dabei mindestens so heterogen wie andere Altersgruppen. Korperliche und geistige Veranderungen und Beeintrachtigungen bei der Untersuchung biologischer, psychologischer und sozialer Aspekte des Alterns sind festzustellen, auf die aber unter Marketingaspekten hervorragend, auch zum Nutzen anderer Bevolkerungsgruppen, reagiert werden konnte. Denn die heute alteren Menschen sind entgegen gangigen Vorstellungen gegentiber WerbemaBnahmen aufgeschlossener als angenommen (vgl. Brtinner 1997: 227). Nur werden sie nicht gern als alt bezeichnet. Diese Tatsache hat zahlreiche Wortschopfimgen hervorgebracht. „New seniors" werden die alteren Menschen nun genannt, „oldies, greys, wrinklies, new olds, retirees, woopies [well-off older persons, eig. Anm.], recycled teenagers, relaxers, second beginners, senior citizens" etc. Ein tief verwurzeltes defizitares Altersbild einerseits, ein optimistischeres Bild des Alters neueren Datums andererseits, jedoch basierend auf Vorstellungen von Krankheit und Verfall. Eine Ablosung der Jugendkultur durch die Al-

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terskultur wurde bereits vor zwanzig Jahren avisiert (vgl. Sihler 1986), dieser Forderung wurde bis heute jedoch nicht nachgekommen. Ein wirklicher Paradigmenwechsel hinsichtlich der Darstellung von Alter und Altwerden in unserer Gesellschaft ist noch nicht festzustellen. Trotz ihrer demografischen Prasenz wird alten Menschen in der Werbung also noch kein angemessener Platz eingeraumt. Besonders Frauen im hohen Alter sind unterreprasentiert. Das allein lasst Ruckschliisse zu auf die gesellschaftliche Einstellung gegeniiber alten Menschen, im speziellen alteren Frauen. In der Realitat nicht wahrgenommen, wurden sie nicht zum Bildthema der Medien. Ein erstes Umdenken zeichnet sich ab. Die Werbebranche reagiert auf die demografische Entwicklung zwar zaghaft, formuliert jedoch bereits Bilder, die tiber defizitare Vorstellungen und Klischees von GroBelternidylle und jugendlicher Faltenarmut in der Lage sind, eine asthetische Eigenstandigkeit zu entfalten. Auch Unternehmen, die eher fur jiingere Zielgruppen produzieren, wagen sich an das Altersbild - aus unterschiedlichen Griinden. Die folgenden Beispiele scheinen geeignet, Eckpunkte einer neuen Sichtweise auf das Alter auszuloten.

4.

Die Schonheit des Alters. Ein Blick in die Wirtschaftswerbung

Oui Die doppelseitige Anzeige aus der Herbstkampagne 2001 (Abb. 1) zeigt ein Frauenportrat, schwarz-weiB fotografiert, formatfullend und im Anschnitt ins Bild gesetzt. Im Profil gezeigt schaut die Frau nach links aus dem Bild heraus (von den Betrachtenden aus gesehen). Sie stutzt in Stirnhohe den Kopf in ihre rechte Hand, ein schmaler Ring ist an ihrem Ringfinger zu erkennen. Ihr glattes weiBes Haar tragt sie offen und schulterlang. Das Ohr ist bedeckt. Die Frau schaut nach vorn, die Augen klar und weit geoffhet. Der Mund ist geschlossen, ein leichtes Lacheln scheint auf ihren Lippen zu liegen. Die Haut ist faltig. Zahlreiche Pigmentflecken sind zu sehen. Die Frau tragt ein dunkles Oberteil, vermutlich einen schmal geschnittenen Blazer mit halbem oder dreiviertel Arm, der rechte Unterarm ist frei. Der Hintergrund ist flachig grau mit einigen unscharfen Verlaufen. Im oberen rechten Viertel des Bildes ist in serifenloser Schrift der Text „Gute Mode zahlt nicht Ihre Falten" zu lesen. Der Slogan „A female force in fashion", in Versalien gesetzt, befindet sich am rechten unteren Bildrand und endet mit der Bild-Wortmarke „Oui", gesetzt in Kleinbuchstaben auf Mittelachse in einem schwarzem Quadrat.

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Abb. 1: Gute Mode zahlt nicht Ihre Falten (Qui 2001)

Fasst man diese Anzeige als semiotisches System auf, so sind die beschriebenen Gestaltungselemente als Zeichen zu verstehen, die eine spezifische Bedeutung vermitteln. Die Semiotik gilt als eines der wichtigsten Instrumente, um asthetische Phanomene zu verstehen. Die Verkntipfung der auBeren Form eines Zeichens mit seiner Bedeutung kann dabei einerseits auf Erfahrung beruhen, - Falten und weiBes Haar kennen wir als Begleiterscheinung des Alters - andererseits willkurlicher, auf Konvention gegrundeter Art sein - die Buchstabenfolge „a-l-t" und nicht „t-l-a" bezeichnet die Erscheinungsformen des Alters. Dariiber hinaus sind diese Zeichen angefullt mit einer Vielzahl von iibergeordneten Konnotationen im Sinne eines sekundaren semiologischen Systems, wie bei Roland Barthes beschrieben. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die gezielte Verfremdung oder Uberhohung eines Inhalts (vgl. Barthes 1992). Falten, graue Haare, die gebeugte Haltung, die phanotypischen Erscheinungsformen werden dabei ihrerseits zum Signifikanten fur diejenigen Begriffe, die mit dem Alter verbunden werden. In der kollektiven Vorstellung sind dies bisher fast ausschlieBlich nega-

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tive Assoziationen wie Langsamkeit, Vergesslichkeit, Krankheit, die positivere Konnotationen tiberlagern oder gar nicht erst zulassen. Bei dem vorliegenden Motiv handelt es sich um eine alte Frau. Dafiir sprechen die phanotypischen Auspragungen, von Jiirgens als morphologische Marker bezeichnet (vgl. Jiirgens 1994): Falten, weiBes Haar, die sogenannten Altersflecken, eine gebeugte Haltung. All das sind Merkmale, die wir als Zeichen des Alters erkennen und einordnen. Weitere Zeichen des Alters, wie getnibte Augen, eine Seh- oder Horhilfe, eine unmoderne Frisur wie z.B. ein Knoten, sind hier nicht festzustellen. Ganz im Gegenteil tragt die Abgebildete ihr Haar offen. Ihre Augen strahlen. Ein leichtes Lacheln scheint auf ihren Lippen zu liegen. Sie blickt aus dem Bild heraus, scheint jemanden oder etwas anzusehen, der oder das ihr Freude bereitet bzw. sich an eine schone Begebenheit zu erinnern. Weitere Elemente gelten ebenfalls als bedeutungtragende Zeichen, z.B. Aufnahmetechnik, Komposition, Blickfiihrung. Die Schwarz-WeiB-Fotografie ist kontrastreich, ohne schonungslos zu wirken. Die Helligkeit liegt auf Haar, Gesicht und Hand. Dunkle Partien finden sich im Hals- und Dekolleteebereich. Auffallend ist die geringe Tiefenscharfe. Die Scharfe liegt auf dem Gesicht, schon bei der Hand und dem Haar beginnt die Unscharfe, die sich weiter in den Hintergrund hineinzieht. Hell-Dunkel-Kontrast sowie die Scharfe-UnscharfeRelation lenken den Blick der Betrachtenden und damit den Betrachtungsschwerpunkt auf das Frauengesicht. Nichts lenkt davon ab, keine Accessoires oder Gegenstande, nicht die Typografie. Diese ist sehr zuriickhaltend gewahlt. In kleiner PunktgroBe, zweizeilig gesetzt strukturiert sie die Flache im oberen rechten Viertel der Anzeige, wobei die erste Zeile „Gute Mode zahlt" fur sich bereits bedeutungtragend ist, die zweite Zeile diese Bedeutung thematisch verschiebt. Der Slogan, in Versalien gesetzt, erscheint in englischer Sprache, die Bild-Wortmarke enthalt das franzosische Textelement „oui". Die Dreisprachigkeit und die unterschiedliche Setzungsart - Aussagesatz in normaler GroB- und Kleinschreibweise, Versalien beim Slogan, Gemeine beim Logo - eroffhen der zuriickhaltenden Typografie einen weit groBeren Bedeutungsraum als auf den ersten Blick angenommen. Die dafiir vorausgesetzte sprachliche Kompetenz suggeriert Weltlaufigkeit (vgl. Urban 1994). Bild und Text erganzen aneinander nicht zwangslaufig, der Text ist eine informative Zugabe, die dazu dient, die Bildwirkung um die Aspekte Modernitat und Flexibility zu erweitern. Daher vielleicht die Mehrsprachigkeit in unterschiedlicher Setzung, eher eine textliche und typografische Spielerei als eine formale Notwendigkeit, um die Bildwirkung im Hinblick auf die Markenpersonlichkeit abzurunden.

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Die zentrale Frage in der Semiotik lautet: Wie entsteht Bedeutung? Bedeutung entsteht, indem Zeichen im Vergleich zu anderen Zeichen wahrgenommen werden. Das Zeichensystem der Werbung setzt sich zusammen aus bekannten Zeichen und neuen, in diesem Kontext unerwarteten Zeichen. Die Ausgewogenheit zwischen der bekannten und der unbekannten Information ist dabei von groBer Bedeutung nicht nur fur das Verstehen, sondern auch fiir das Erinnern der Botschaft. Bekannte Elemente ermoglichen die Einordnung der Zeichen und bilden den Hintergrund fur die neue Information. Umberto Eco verweist in diesem Zusammenhang auf das Spannungsfeld zwischen der „Treue zum Code" und der „Anfechtung des Codes" (vgl. Eco 1972). Unter Code versteht man ganz allgemein eine bestimmte Menge von Regeln, die der auBeren Form eines Zeichens eine spezifische oder unspezifische Bedeutung zuordnen (vgl. Sottong/ Mtiller 1998). Um erfolgreich zu kommunizieren, muss zwischen dem Sender und dem Empfanger einer Botschaft ein beiden gemeinsamer Code bestehen. Zum gewohnten Code des Alters gehoren in der kollektiven Wahrnehmung Falten, graues oder weiBes schutteres Haar, eine alterstypische Frisur wie ein Knoten oder Dutt, ein getrubter Blick, unmoderne Kleidung, eine gebeugte Haltung, langsame Bewegungen, die Anmutung von Leiden und Krankheit. In diesem Fall wird jedoch ein Bild des Alters kommuniziert, das den bestehenden Code ,anficht', den gewohnten Zeichen also nicht entspricht. Zu sehen ist eine Frau, die zum Zeitpunkt der Aumahme 80 Jahre alt ist. Mit ihr sehen wir gleichzeitig eine nach kollektiven Mafistaben gut aussehende Frau, lange offene Haare, ein schmales Gesicht, ein strahlender Blick. Ein hohes Alter wurde in unserem Kulturkreis bisher nicht mit dem Begriff „Schonheit" in Verbindung gebracht. Dies ist ein Begriffspaar, das unserem Code nicht entspricht und deren Verkntipfung geeignet erscheint, die Treue zum Code in Frage zu stellen. Die nachdenkliche Haltung, der Blick aus dem Bild heraus, die Abwendung von den Betrachtenden (letzteres ein Gestaltungselement, das in der Bildsprache der Werbung eher untiblich ist), dies sind weitere Zeichen, die fur eine Anfechtung sprechen. Sie zeugen von einer Haltung, die Zustimmung nicht notig hat und Autonomic signalisiert. Ein Selbstbewusstsein, das sich per Imagetransfer auf die Marke tibertragt. Eine weitere Anzeige dieser Kampagne zeigt die gleiche Frau in ahnlicher Haltung (Abb. 2). Hier wird mit fast identischen Bildelementen ein anderes Altersbild kommuniziert. Das macht deutlich, wie sich durch geringfligige Verschiebung der Zeichen die unthematische Botschaft verandern kann. Zu sehen ist das gleiche Modell, gleich gekleidet, in ahnlicher Haltung. Aufhahmetechnik, Komposition und Blickfuhrung entsprechen dem vorangegangenen Motiv. Ver-

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andert wurden lediglich Details. Das Haar ist zuriickgestrichen, woraufhin das linke Ohr und ein Teil der Halspartie zu sehen sind. Dadurch wird ein Eindruck von Verletzlichkeit erzeugt. Die Augen sind nicht so weit geoffhet, der Blick scheint miide, etwas getrubt. Diese Frau scheint niemanden anzusehen, sondern ins Leere zu blicken. Beide Hande sind zu sehen, sie halten ein etwas geneigtes Glas, darin eine klare Fliissigkeit. Auch dies sind Zeichen, die Bedeutung vermitteln. Der Eindruck von Verletzlichkeit, der miide Blick, das geneigte Glas, hier wird weniger die Schonheit des Alters kommuniziert, sondern Begriffe wie Wiirde, Respekt, Lebensende (die Neige des Lebens) konnotiert, fur die mit dem vorliegenden Motiv eine neue Form gefunden wurde, wobei die Bildmetapher des geneigten Glases nicht tiberbewertet werden sollte, schlieBlich ist das Glas gefullt. Text und Bild gehen eine groBere Einheit ein als im vorangegangenen Motiv. Der Slogan „Gute Mode hat Respekt vor Ihrem Leben" steht im linken oberen Viertel der Anzeige. Der Dreiklang der Elemente Gesicht, Glas, Text offeriert den Betrachtenden ein groBeres Assoziationsfeld. Offenheit und Verletzlichkeit werden durch die Haltung des Kopfes, die zuruckgestrichenen Haare, die ,Freilegung' von Ohr und Hals vermittelt. Nachdenklichkeit und Mtidigkeit rtihren her von dem Blick, der Haltung der Hande.

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Der Bildvergleich macht deutlich, welches die Zeichen sind, die ein Altersbild definieren. Es sind weniger die Falten selbst als der Blick, die Haltung, die Haare, die die Vorstellung vom hohen Alter verandern konnen. Interessant ist auch die Rolle der Betrachtenden. Bei dieser Kampagne werden diese allein durch den Slogan direkt angesprochen, die Frauen blicken die Betrachtenden nicht an, visuell wird der Zugang zum Bild also nicht erleichtert. Durch die direkte Anrede fmdet ein Dialog auf der Textebene start, nicht auf der Bildebene. Eine tatsachliche Identifikation der Betrachtenden mit der abgebildeten Person ist nicht intendiert, sondern das visuelle Motiv ist darauf angelegt, die Markenphilosophie zu verdeutlichen und zu transportieren. Die weiteren Bilder dieser Kampagne belegen dies. Bei gleicher Komposition zeigen sie zwei unterschiedliche Portrats ebenfalls hochaltriger Frauen in gleicher Aurhahmetechnik.

Abb. 3: Gute Mode sieht nicht nur die Schonheit der Jugend (Oui 2001)

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Ein heiteres, gelassenes Altersbild formuliert Abb. 3. Diese Frau sitzt lassig zuriickgelehnt, den rechten Arm hinter den Kopf genommen. Sie ist im Profil abgebildet und schaut ebenfalls nach links aus dem Bild heraus. Ihr glattes, graues Haar ist kurz geschnitten, ihr Gesicht geschminkt. Der Fokus der Blickfuhrung liegt wieder auf dem Frauengesicht. Die seidig glanzende, helle Bluse erhellt dieses Bild. Es finden sich nur wenige dunkle Stellen, die sich z.T. aus dem Faltenwurf der Bluse ergeben. Dunkelster Punkt ist die Bild-Wortmarke in der rechten unteren Bildecke. Die bedeutungtragenden Zeichen dieses Bildes sind auch hier das faltige, aber geschminkte Gesicht, die strahlenden Augen, das graue Haar in kurzer Frisur, die edle Bluse. Zeichen, die sich ebenfalls in dem Spannungsfeld von Treue und Anfechtung des Codes bewegen. Die vielen Lachfaltchen der hier uber 90-jahrigen Frau betonen den Eindruck eines glticklich gelebten Lebens. Der Slogan ist im linken oberen Viertel der Anzeigenseite platziert. Den Aussagesatz „Gute Mode sieht nicht nur die Schonheit der Jugend" erganzen die Betrachtenden unwillkurlich um den Zusatz „sondern auch die Schonheit des Alters". Eine direkte verbale Ansprache findet hier zwar nicht start, was durch den latenten Aufforderungscharakter des Aussagesatzes aufgefangen wird. Der Blick nach links aus dem Bild heraus ist ein Gestaltungselement, das sich durch die gesamte Kampagne zieht und auf einen groBen Bedeutungsraum verweist. Wahrnehmungspsychologisch gesehen ist die Blickrichtung nach rechts die dynamischere. Von links nach rechts wird gelesen, nach rechts wird umgeblattert, nach rechts geht es weiter, geht es vorwarts. Der Blick nach links (wie gesagt, immer von den Betrachtenden aus gesehen) ist ein Blick zurtick, ein Blick nach hinten, auf das meist zeitlich Zurtickliegende. Die Komposition dieser Anzeigen und die damit gekoppelte Blickfuhrung fur die Betrachtenden kalkuliert diese Betrachtungsweise mit ein und kennzeichnet damit eindeutig den Blick zurtick auf das gelebte Leben. Das letzte Beispiel bildet die Ausnahme (Abb. 4). Eine dunkelhaarige Frau, im Halbprofil abgebildet, schaut in diesem Fall nach rechts aus dem Bild heraus. Ihr Kinn sttitzt sie auf ihre mit Ringen geschmuckte Hand. Die schwarzen Haare tragt sie in einem Pagenkopf mit tiberlangem Pony. Bekleidet mit einem Rollkragenpullover ist die Halspartie hier bedeckt.

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Abb. 4: Oui. A female force in fashion (Oui 2001)

Die Zeichen des Alters sind auch hier vorhanden: faltige Haut, ein etwas verkniffener Mund, hangende Lider, eine knochige Hand. Ebenso wie in den oben besprochenen Motiven fehlen aber andere gewohnte Zeichen: das graue bzw. weiBe schtittere Haar, die unmoderne Frisur, die Zuriickhaltung im Hinblick auf kosmetische Mittel. Der strenge, etwas mude Blick aus halb geschlossenen Lidern signalisiert noch mehr als im ersten Beispiel ein Selbstbewusstsein, das die Betrachtenden nicht braucht. Keine nach herkommlichen MaBstaben schone Frau ist hier eine Personlichkeit abgebildet, die unkonventionell und autark erscheint. Die verwendeten Zeichen dieser Anzeige lassen das Alter stolz, unnahbar, tiberheblich erscheinen. Die gegensatzliche Blickrichtung und die Abbildung im Halbprofil unterscheiden dieses Motiv jedoch von den vorhergehenden. Vielleicht wurde diese Unterscheidung gewahlt, urn den strengen, hochmiitigen Gesamteindruck dieses Altersbildes etwas abzumildern und zumindest formal eine Hinwendung zu den Betrachtenden zu signalisieren.

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Dove

• wrinkled? • wonderful? Will society ever accept 'old' can be beautiful? Join the beauty debate.

campaignforrealbeauty.co.uk •

Dove

Abb. 5: wrinkled? wonderful? (Dove 2005)

Mit dem Bild einer 96-jahrigen Frau stellt die Korperpflegemarke Dove ebenfalls ein neues Bild des Alters vor (Abb. 5) und verknupft damit das Bild des Alters auf eindeutige Weise mit dem Schonheitsbegriff. Im Gegensatz zu den Kampagnenmotiven von Oui blickt diese Frau die Betrachtenden direkt an, lachelnd, ihre dunklen Augen strahlen. Um den Kopf tragt sie ein Tuch, an den Ohren dezenten Schmuck, ihre Schultern sind nackt. Auch sie hat Falten und Altersflecken. Mit etwas Rouge auf den Wangen, getuschten Wimpern, nachgezogenen Brauen und unauffalligem Lippenstift wirkt sie aufgeschlossen und den Betrachtenden zugewandt. Das Foto der hochaltrigen Frau ist im Anschnitt zu sehen. Freigestellt vor weiBem Hintergrund nimmt das Portrat den linken Teil der Anzeige ein, auf der rechten Halfte findet sich die Textebene. Die Komposition der Anzeige sieht also gleiche Anteile fur Bild und Text vor, wobei das Portrat den Blick auf sich zieht, der dann weitergelenkt wird auf den Slogan hin zu Webadresse und Firmenlogo rechts unten, die Anzeigenseite beschlieftend. Welches sind hier die Zeichen, die Bedeutung tragen? Der direkte Blick in das faltige Gesicht, das offene Lacheln, die nackten Schultern - nichts scheint vom Bild des Alters abzulenken. Die Presentation der alten Frau ist jedoch eine andere: Das Seidentuch verhullt die Haare, das vermutlich schtittere und weiBe Haar als vertrautes Alterszeichen wird somit ausgeblendet. Auch Make-up und Accessoires verandern den Eindruck. Die Frau bedeckt auf modische Weise ihre Haare, lasst ihre Schultern aber nackt. Die Nacktheit der Schultern und der

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Halspartie, im vorhergehenden Beispiel noch als Zeichen der Verletzlichkeit interpretiert, hier stehen sie fur Selbstbewusstsein und Stolz auf den eigenen Korper. Das Fehlen des Hintergrundes betont den Zeichencharakter der Fotografie und stellt sie auf eine Ebene mit dem Text. Die Textebene weist auf der rechten Anzeigenseite neben dem Portrat den Slogan „Wrinkled? Wonderful?" als ebenfalls zentrales Bildelement auf. In klarer, serifenloser Schrift gesetzt ist er zweizeilig hinter jeweils einem Kastchen angeordnet und fllhrt auf die erklarende Zeile „Will society ever accept ,old' can be beautyful? Join the beauty debate." hin, die das zentrale Thema der Kampagne, eine Orientierung hin zu einer „wirklichkeitsnaheren und weiter gefassten Definition von Schonheit" (http://www.dove.uk, gesehen am 24.2.2005) umschreibt. Konsequent durchkomponiert erfahrt die Blickfuhrung keinerlei Irritation. Der Text suggeriert den Betrachtenden eine Wahlmoglichkeit. Sie werden einbezogen in eine Form der Interaktion. Da daran aber keine aktive Handlung gebunden ist, wirkt diese Anzeige weniger provokant, sondern eher einladend. Tatsachlich wird auf der Internetseite des Unternehmens ein Diskussionsforum angeboten. Mimik, Blick, der spannungsreiche Wechsel von Nacktheit (der Schultern) und Bedecktheit (des Kopfes), Accessoires sind die Zeichen, die dem Code nicht entsprechen. Die formalen Mittel gewahrleisten die Treue zum Code. Das Portrat, ein lachelndes Frauengesicht, modische Accessoires sind Bildelemente, die die Sehgewohnheiten der Betrachtenden zunachst nicht irritieren. Doch bereits das Fehlen des Hintergrundes ist ein Verweis darauf, dass das Bild des Alters herausgenommen ist aus seinem eigentlichen Kontext. Die Freistellung betont den Zeichencharakter des Altersbildes. Eine Anfechtung des Codes erfolgt dariiber hinaus durch den Inhalt. Das hier kommunizierte Zeichen des Alters in Form von Schonheit und Vitalitat stellt gewohnte Vorstellungen in Frage. Mit der Verkntipfung der Begriffe „Alter" und „Schonheit" gelingt es, den Code ,anzufechten' und dariiber, Aufmerksamkeit zu erzielen und Wahrnehmungsweisen in Frage zu stellen. Die „Campaign for real beauty" ist bereits die vierte Plakatserie fur die Marke „dove" und kommuniziert ebenso wie die vorangegangenen Kampagnen ein Frauenbild, das Schonheit nicht mehr an der Perfektion des Korpers, sondern an Ausstrahlung und Personlichkeit des Menschen messen mochte. Ging es bisher um KorpermaBe oder die Beschaffenheit von Haut und Haar, wird in der vorliegenden Kampagne eher das Lebensalter zum Thema gemacht. Analog zu den bisherigen Kampagnen werden mehrere Motive gezeigt, zu denen das nachfolgende Bild einer Frau mit langen, grauen Haaren („grey - gorgeous") und das zuvor besprochene Motiv des hohen Alters („wrinkled - wonderful") gehoren.

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Das Untemehmen Lever Faberge verfolgt mit diesen Kampagnen das selbsternannte Ziel, „echte" Frauen in der Werbung zu zeigen, die sich in ihrer Haut wohl fuhlen (vgl. http://www.dove.uk, gesehen am 24.2.2005).

• grey? f • gorgeous? Why can't more women feel glad to be grey? Join the beauty debate.

campaignforrealbeauty.co.uk • T>ove Abb. 6: grey? gorgeous? (Dove 2005)

Das zweite im Rahmen dieser Fragestellung interessierende Motiv dieser Kampagne ist das Bild der grauhaarigen Frau (Abb. 6). Sie tragt einen schwarzen Rollkragenpullover und schaut die Betrachtenden halb uber die Schulter an, ebenfalls lachelnd, mit strahlenden Augen. Das lange glatte Haar fallt ihr tiber die Schultern, sie tragt keinen Schmuck, ist aber sehr gepflegt zurechtgemacht. Im Gegensatz zum zuvor besprochenen Motiv ist die Farbigkeit hier eine andere. Die warmen Tone von Hautfarbe, Tuch und Goldschmuck werden durch ein kalteres Farbspektrum abgelost. Der Pullover ist schwarz, die Haare silbergrau, die Haut ist blass, wirkt aber frisch, auch durch die Farbe auf Wangen und Lippen. Die Augen sind dunkel. Auch dieses Foto ist freigestellt. Die Komposition ist der vorhergehenden Anzeige vergleichbar. Bedeutungtragende Zeichen sind Farbigkeit, Haltung, Kleidung und Haare. Gerade uber die Frisur werden widerspruchliche Signale ausgesandt: Die Haarfarbe verweist auf das Alter, der Schnitt auf die Unkompliziertheit und Unbekummertheit der Jugend. Ganz im Gegensatz zum vorab besprochenen Motiv bedeckt diese Frau ihren Korper - der Pullover verdeckt Dekolletee und Halspartie - und lasst ihre Haare offen. Der Blick halb tiber die Schulter hat etwas Einladendes, Aufforderndes und richtet sich direkt an die Betrachtenden. Fast ein Schwarz-WeiB-Bild werden Akzente durch das dunkle Rot der Lippen und

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das Rouge gesetzt. Die Farbigkeit konnotiert eine Lebendigkeit, Energie, Dynamik, die dem Lebensalter zu entsprechen scheint. Diese Frau gehort noch nicht in die Gruppe der Hochaltrigen. Deutlich jiinger als das vorab besprochene Modell transportiert dieses Altersbild jugendliche Aspekte der Marke und erreicht dartiber die junge Zielgruppe. Die Textebene ist analog dem ersten Motiv aufgebaut. Auch hier wird die Alliteration verwendet, um neben der sprachlichen auch die inhaltliche Ubereinstimmung zu signalisieren. Die serifenlose Schrift wirkt klar, offen und pragnant und entspricht dabei dem vorgestellten Altersbild, wobei die GroBe der Schrift noch einmal auf die deutliche Gleichwertigkeit von Text und Bild verweist. Beide - Text wie Bild - sind auf WeiB gestellt, wodurch sich auch eine formale Verkntipfung ergibt. Anders als bei der Kampagne von Oui funktioniert das Bild aber nicht ohne den Text. Das Fehlen des Hintergrundes nimmt den Motiven die ikonische Qualitat und betont ihre symbolische Bedeutung. Formal wie inhaltlich werden sie dadurch zu Zeichen eines neuen Alterbildes. Die Kampagne „A female force in fashion" von Oui wie auch die C a m paign for real beauty" von Dove stellen gewohnte Zeichen in Frage, indem sie dem hohen Alter Werte zuordnen, die kollektive Vorstellungen um ungewohnte Aspekte erganzen. Alter, so wird hier kommuniziert, kann neben den bekannten Konnotationen eben auch schon, verletzlich, aufgeschlossen, strahlend und dynamisch sein. Diese positiven Konnotationen sind vor dem Hintergrund des jeweiligen Marketingkonzepts zu betrachten. Hier ist zu unterscheiden zwischen Sozialmarketing und Wirtschaftswerbung. Die Wirtschaftswerbung dient der Markenund Unternehmensprasenz auf dem Markt. Ihr Ziel liegt in der Markenerinnerung und der Absatzsteigerung. Ziel des Sozialmarketings hingegen ist es die Betrachtenden tiber einen Zustand oder einen Missstand zu informieren und bei ihnen einen Bewusstseinswandel und eine Verhaltensanderung hervorzurufen. Fiir beide Bereiche gilt: Werbung wird als Kommunikationsstrategie eingesetzt, um konkrete Botschaften zu ubermitteln. Mit der Unterscheidung in Sozialmarketing und Wirtschaftswerbung geht ein spezifischer Grad an Instrumentalisierung und Thematisierung eines Bildmotivs einher. In den Bildbeispielen des nicht-kommerziellen Bereichs handelt es sich dabei in erster Linie um die Thematisierung eines Inhalts. Das Bild des Alters wird z.B. verwendet, um auf die Belange alter Menschen hinzuweisen. Der Appell an das Mitgeflihl und die Verantwortung der Betrachtenden ist dabei eine ubliche Kommunikationsstrategie. Die Kampagnen der Wirtschaftswerbung instrumentalisieren eher, sie verwenden Bilder, um ein Produkt oder eine Aussage mit un-

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thematischen Informationen zu umgeben. So wurde das Bild des Alters seit vielen Jahren lediglich dafiir eingesetzt, „alterstypische" Produkte zu bewerben. Altersbilder finden sich z.B. in der Kommunikation der Pharmaindustrie oder von Banken und Versicherungen. Die vorangegangenen Beispiele gehen dartiber hinaus. Sie konnotieren ein positives, selbstbestimmtes, sogar heiteres Alter. Das Alter wird hier in erster Linie instrumentalisiert, urn die Unternehmensphilosophie zu kommunizieren. Die Kampagne von Oui spricht dabei die Frau „als individuelle Personlichkeit" an. „Sie ist unabhangig von Diktaten, frei von Vorurteilen und vertritt eine extrovertierte Haltung." Gleichzeitig sollte sie in der Lage sein, Produkte aus dem „Premium-Segment" zu erstehen (vgl. http://www.oui.de, gesehen am 30.9.2006). Das hier vorgestellte Bild des Alters richtet sich an eine kaufkraftige weibliche Zielgruppe mittleren Alters von 20 bis 49 Jahren, die sich in dem visualisierten Altersbild sicher (noch) nicht selbst wiederfmden wird. Gleiches gilt fur die Zielgruppe der Marke Dove, die als noch junger einzuschatzen ist. Das Altersbild dient also weniger der personlichen Identifikation als der werblichen Umsetzung der Markenpersonlichkeit. Grenzuberschreitung, der Bruch mit den Konventionen und die Abwendung vom Mainstream, so lauten die Kernthemen beider Marken. Das mag gelungen sein. Die Kampagnen stellen ein Altersbild vor, das gangigen Klischees vom hohen Alter deutlich nicht entspricht und die kollektive Vorstellung um durchaus positiv zu bewertende Motive bereichert. Hier ist nochmals zu unterscheiden zwischen den einzelnen Funktionen eines Zeichens. Jedes Zeichen, wie komplex es sich auch darstellt, ist als triadisches System zu verstehen, wobei der Signifikant die Form des Zeichens beschreibt und das Signifikat die Bedeutung umfasst. Form und Bedeutung der hier vorgestellten Zeichen wurden bereits ausfiihrlich besprochen. Die dritte Ebene ist die bedeutungtragende Ebene, auch Interpretant genannt, auf der Form und Bedeutung eine Einheit eingehen, sodass die Betrachtenden die Form eines Zeichens unwillkurlich mit der Bedeutung in Verbindung bringen. Durch die formalen Mittel wird der Zeichencharakter der Kampagne Dove starker betont. Die abgebildeten Frauen sind ihrer Individualist enthoben, sie werden zu (Marken-) zeichen des Unternehmens. Bei der Kampagne von Oui wird der Einzelbildcharakter der Motive hingegen starker in den Vordergrund gertickt, formal strukturierende Elemente wie Text, Komposition und Blickfuhrung sind eher unauffallig (nichtsdestotrotz aber vorhanden). Der Blick richtet sich starker noch auf das Portrat des alten Menschen, dessen Personlichkeit zum Bildthema wird, betont durch die Aufhahmetechnik und den Anzeigenaufbau. Beide Kampagnen formulieren Zeichen, die den gewohnten Bedeutungsraum des Alters in Frage stel-

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len. Sie bieten Signifikanten an, die bekannte Formen, wie Falten, Flecken, weiftes Haar, mit neuen Formen, wie Blick, Haltung, Frisur, Accessoires, Kleidung verbinden. Auf diese Weise entstehen Zeichenformen, die in der Lage sind, zugehorige Bedeutungen im Hinblick auf den Interpretanten zu verschieben und so den Code des Alters neu zu definieren.

5. Intermezzo: Der alternde Korper Das alte Gesicht ist bereits ein unvertrautes Zeichen in der Werbung. Noch viel mehr ist es der alternde Korper. Nacktheit gar scheint ein Tabu zu sein. Nur sehr vereinzelte Beispiele zeigen den alternden Korper teilweise oder ganz entbloBt.

Eines dieser Beispiele ist ein Motiv aus der Kampagne des Energieunternehmens Eon (Abb. 7). Es zeigt eine Szenerie im Schwimmbad. Zu sehen ist eine hellhautige Frau im weiBen Badeanzug, ihre weiBen Haare sind zu einem Knoten am Hinterkopf zusammengenommen. Die Frau befmdet sich auf einem Sprungbrett, mit dem Riicken zum Wasser. Ihre Arme sind weit ausgebreitet, Beine und FiiBe sind gestreckt. Die FtiBe bertihren das Brett nicht, die Frau scheint sich mitten im Sprung zu befmden. Das Foto wurde aus starker Ober-

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sicht aufgenommen, so dass man unter der Abgebildeten die schimmernde Wasseroberflache sehen kann, oben links am Rand im Anschnitt den Beckenrand mit Startblocken. Das Becken ist leer. Hellste Stelle des Bildes ist die Wasseroberflache unter bzw. hinter der Frau, dunkelste Stelle das in das Bild von unten hineinragende Sprungbrett. Komposition und Blickftihrung lenken den Blick also eindeutig auf die springende Frau. Was sind die Zeichen, die Bedeutung tragen? Haarfarbe und Beschaffenheit der Haut verraten den Betrachtenden, dass es sich hier um eine alte Frau handelt. Die Frisur ist hier sogar bewusst eine „alterstypische", um die Zuordnung zur Altersthematik auch zu gewahrleisten. Der weiBe, schlichte Badeanzug, die Haltung, die Figur, der thematische Kontext Schwimmen bzw. Springen sind Zeichen, die den augenscheinlich alten Menschen aber in einen neuen Zusammenhang setzen. Sie vermitteln den Eindruck von Schlichtheit, Konzentration, Spannkraft. Das Farbspektrum von WeiB und Blau konnotiert Ktihle, Reinheit und Klarheit. Intensitat in Verbindung mit Klarheit und Frische, dieser Assoziationsraum verweist auf eine Bedeutung, die beides miteinander verbindet. Hier geht es um alternative Energien, im Speziellen um Energie aus Wasserkraft. Mit dieser Anzeige wird Alter neu deflniert als Symbol fur Konzentration und Intensitat, aber auch Tatkraft, Haltung und Zielstrebigkeit. Das Zeichen des Alters wird eingesetzt, um fur das Begriffspaar ,alt und neu' eine ungewohnte Form zu finden. An das Thema Sexualitat im Alter wagen sich die deutschen Agenturen noch nicht so recht heran. Ein Blick uber die Grenzen beweist aber, dass z.B. in den Niederlanden oder in England das Thema weitaus unverkrampfter angegangen wird. Ein Motiv aus der Kampagne ftir Adidas (Abb. 8) zeigt den Blick in ein hausliches Badezimmer. Wir sehen eine Badewanne, hellblaue Kacheln, ein Eckregal an der gefliesten Wand uber der Wanne, davor ein hellblauer Hocker, ein Vorleger. Kleidungsstticke sind im Raum verteilt, auch ein Paar Sportschuhe. Vor der Tur hangt ein geblumter Vorhang. Kein ,Designerbadezimmer' also, doch die beiden in der Badewanne wirken sehr frohlich. Es handelt sich um ein alteres Paar, das sich in der Wanne gegeniiber sitzt und sich gegenseitig einseift. Die Zeichen des Alters sind hier eindeutig. Das schtittere Haar des Mannes, sein faltiges Gesicht, die weiBen Haare der Frau, hochgesteckt zu einem Dutt, sprechen fur ein hohes Alter. Die oben beschriebene etwas altmodische Badezimmereinrichtung erganzt diesen Eindruck. Die Textebene verweist auf den Vorteil von sportlicher Betatigung im Hinblick auf die Beziehung: „Runners marriages last longer". Eine etwas zynische Art, den Produktvorteil zu beschrei-

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ben. Der Text gibt Informationen uber dieses Paar: Die Beiden sind verheiratet und das schon eine ganze Weile.

Abb. 8: Runners marriages last longer (Liirzers Archiv 2001)

Die Anfechtung des Codes erfolgt durch die Darstellung von Intimitat. Die beiden alten Menschen sind offensichtlich nackt und ebenso offensichtlich miteinander beschaftigt. Sie blicken sich gegenseitig an, die Betrachtenden werden in diese intime Situation nicht miteinbezogen. Der voyeuristische Blick in die Privatsphare ist in der Werbung nicht neu. Die Szenerie, die Situation, die Accessories, all das wirkt alltaglich und im Auge der Betrachtenden gewohnt. Ein Wahrnehmungsbruch ergibt sich durch das Alter der Protagonisten und die visualisierte Korperlichkeit. Intimitat bzw. Korperlichkeit und Alter, das scheinen unvereinbare Elemente zu sein, die in der vorliegenden Anzeige einen selbstverstandlichen Charakter bekommen. Gerade diese Alltaglichkeit ist es, die den Wahrnehmungsbruch noch verstarkt. Alter und Korperlichkeit ist in der Werbung (und auch sonst) ein unbekanntes Begriffspaar, so dass jede diesbezugliche Darstellung noch einem Tabubruch gleich kommt. Die dartiber hinaus vermittelte Anmutung von Alltaglichkeit und Normalitat, also das deutliche ,NichtBetonen' des Besonderen, gibt diesem Zeichen eine groBe Bedeutung. Denn diese Anzeige richtet sich an eine jtingere Zielgruppe, die mit diesem Motiv

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nicht nur ein positives, sondern auch ein selbstverstandliches Bild von der Paarbeziehung im Alter bekommen konnte. Die Nacktheit und offensichtliche Freude am Korper des Anderen - hier wird ein Tabu beruhrt, indem es auf asthetische Weise visualisiert und damit enttabuisiert, d.h. in den Kanon des Normalen, Alltaglichen aufgenommen wird. Mit dieser Anzeige ist es gelungen einer jiingeren Zielgruppe glaubwiirdig zu vermitteln, dass Korperlichkeit und die Freude am Korper des Anderen selbstverstandlich zum Alter dazu gehoren kann.

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Abb. 9: Proef Ben (Liirzers Archiv 2002)

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Die Zeichen des Alters sind auch in der Anzeige von Ben, einem niederlandischen Mobilfunkanbieter offensichtlich (Abb. 9). Die Schwarz-WeiB-Fotografie zeigt in Nahaufhahme eine altere Frau mit offenem weifien Haar und einer dunklen Jacke sowie einen alteren Mann mit schiitterem weiBen Haar und ebenfalls dunkler Kleidung. Um den Hals scheint er ein Halstuch oder einen Schal zu tragen. Die faltigen Gesichter, das lange weiBe Haar der Frau, das schuttere Haar des Marines signalisieren ein hohes Lebensalter. Die wallende Haarpracht und die dunkle Daunenjacke konnotieren hingegen Lebenslust und Tatkraft. Es ist aber der Kuss, der den Code ,anficht'. Der leidenschaftliche Kuss mit geoffnetem Mund und geschlossenen Augen ist das Zeichen, das im Besonderen den Vorstellungen vom Alter und vom Verhalten im Alter nicht entspricht. Das aus Untersicht aufgenommene Schwarz-WeiB-Foto ist gepragt durch die Diagonale von links unten nach rechts oben. Daraus ergibt sich eine Unterteilung in einen helleren und einen dunkleren Bildraum. Der hellere Bildraum ist durch das weiBe Haar, den Hintergrund und die Helligkeiten in den Gesichtern gekennzeichnet, der dunklere Bildraum im Wesentlichen durch die dunklen Jacken und die Schatten an Hals und Gesichtern. Formal gesehen finden wir den Kuss im goldenen Schnitt des Bildes. Er bildet das zentrale Bildelement, auf ihn richtet sich der Blick der Betrachtenden als erstes, um sich dann das weitere Bild zu erschlieBen. Uber die Diagonale gelangt er zum Schriftzug und erklarendem Copytext. In WeiB und Blau gesetzt ist der Schriftzug zugleich hellstes als auch einziges farbiges Gestaltungselement und daher geeignet, neben dem inhaltlich dominierenden Motiv des Kusses eine formale Entsprechung und Wertigkeit herzustellen. Mit dem Slogan „Proef Ben" informiert die Kampagne tiber ein Angebot der Telefongesellschaft Ben, wobei es um eine Art Probiervertrag mit 60 Gratisminuten geht. Die Plakatserie umfasst acht Motive mit unterschiedlichen Paaren, von denen das hier abgebildete das einzige im hohen Lebensalter ist. Das Alter wird also nicht durchgangig thematisiert, sondern als Teil einer Adressatengruppe aufgefasst, wobei es um die Vielseitigkeit und die Differenziertheit in der Ansprache der Zielgruppe geht. Der alternde Korper und die Korperlichkeit des Alters sind Bildthemen, die in der Werbung bisher ausgesprochen selten visualisiert wurden. Daraus kann man schlieBen, dass diese Themen - wie Geburt, Tod, Sterben und Krankheit weiterhin zu den Tabuthemen der Branche gehoren. Versteht man Werbung aber als Medium und Gestaltungsmittel von Offentlichkeit und offentlichem Raum ist die Ausklammerung dieser Inhalte nur schwer nachzuvollziehen. Nicht erst seit Oliviero Toscani und seinen z.T. auBerst provokanten Kampagnen fur Be-

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netton weiB man, wozu Werbung in der Lage ist: namlich ausnahmslos alle gesellschaftlich relevanten Themen aufzugreifen und in den offentlichen Diskurs mit einzubringen. Ein vergleichsweise harmloses Bildthema wie der altemde Korper fehlt bisher in der Bildsprache der Werbung. Hier konnten neue Zeichen gefunden werden, die nicht nur dem Alter Korperlichkeit zubilligen, sondem den Blick auf Korper und Korperlichkeit insgesamt etwas entspannen, was Nattirlichkeit, Glaubwtirdigkeit und Authentizitat angeht.

6.

Die Bediirftigkeit des Alters. Ein Blick in das Sozialmarketing

Diakonie

DiakonieJ

Abb. 10: Sprich mit mir. Fiir mehr Menschlichkeit in der Altenpflege (Diakonie 2003)

Vom 1. bis zum 31. Oktober 2003 wurde in ganz Niedersachsen mit einer groB angelegten Kampagne fur mehr Menschlichkeit in der Altenpflege geworben. Es ging darum, der Verdrangung des Alters in der Gesellschaft entgegenzuwirken. Die Plakate, Anzeigen und Postkarten zeigen die Gesichter alter Menschen und

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bilden einen Schwerpunkt der Kampagne der Evangelischen Kirchen und ihrer Diakonie in Niedersachsen. Hinzu kamen unterschiedliche Aktionen, Gesprachskreise, Gottesdienste und Schulungen, die das Thema „Altenpflege" inhaltlich aufbereiten. Die Kampagne richtet sich an die allgemeine wie kirchliche Offentlichkeit, die Angehorigen von Pflegebedurftigen, die Pflegenden, die Medien, Politiker und Kostentrager (vgl. http://www.menschlichkeit-in-der-altenpflege.de, gesehen am 17.2.2005). Das vorliegende Motiv (Abb. 10) zeigt das Gesicht einer alten Frau, formatfullend, zu drei Bildseiten im Anschnitt zu sehen. Es ist ein Gesicht mit ausgepragten Falten. Jede Pigmentierung ist sichtbar, nichts von der auBeren Erscheinung des Alters bleibt verborgen. Die Augen sind dunkel, stechend, unter muden Lidem, die Nase lang und gerade, der Mund geschlossen, verkniffen. Tiefe Falten verlaufen abwarts zu beiden Seiten der Nase und des Mundes. Die kurzen, weiBen Haare sind nur im Ansatz zu sehen, die buschigen Augenbrauen sind dunkel. Haltung des Kopfes, Mimik, Blick, der Verlauf der Falten, diese Zeichen vermitteln den Eindruck einer verschlossenen, hochmtitigen alten Frau. Sie blickt die Betrachtenden streng an, von oben herab. Diese starke Untersicht suggeriert Uberheblichkeit und Arroganz. Der radikale Anschnitt des Portrats kurz tiber den Augenbrauen und am Kinn erzeugt den Eindruck von Nahe und hoher Intensitat. Der Blick wird nicht gefuhrt, sondem unmittelbar fokussiert auf Augen, Nase und Mund. So nahe kommen die wenigsten Betrachterinnen und Betrachter einem fremden Menschen. Der direkte unmittelbare Augenkontakt zwingt zur Aufinerksamkeit - und zur Reaktion, die in Hinwendung oder Abwendung bestehen kann. Beides ist kalkuliert. Die iibergroBe Nahaufiiahme ist das Gestaltungselement, das in erster Linie Bedeutung vermittelt. Die vorangegangenen Portrats zeigen das Gesicht aus einer als angemessen empfiindenen Entfemung, nicht nur Kopf, sondem auch Hals und Schultem, manchmal der ganze Korper sind zu sehen. Die Betrachtenden ftihlen sich angesprochen, aber nicht unmittelbar involviert. Ganz im Gegensatz zu dem hier besprochenen Motiv. Das alte Gesicht lasst den Betrachtenden kein Ausweichen. Zuwendung oder Abwendung sind mogliche Reaktionen, nicht aber ein gleichgtiltiges „Zur-Kenntnisnehmen". Die Textebene steigert diesen Eindruck. Die Headline „Sprich mit mir." steht dabei in deutlichem Widerspruch zur Bildwirkung und vermittelt ein Spannungsfeld zwischen der Unnahbarkeit des alten Menschen und seiner emotionalen Bediirftigkeit.

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Ohne den Text hatten wir das Bild einer alten Frau vor uns, beeindruckend fotografiert, stolz, unnahbar, etwas abschreckend, aber doch alltaglich und - so man im Alltag naher hinschaut - gewohnt. Der Text erganzt das Bild um die sachliche Information, die notwendig ist fiir das Verstehen der Werbebotschaft. Er besteht aus der Headline („Sprich mit mir.") und der Einheit von Slogan („Fur Menschlichkeit in der Altenpflege") und Logo (Diakonie). Der einzeilige Satz „Sprich mit mir." ist in einer serifenlosen Schrift gesetzt. Die weiBen Buchstaben iiberlagem in relativ groBer Schrift das Bildmotiv in Hohe der Stim und korrespondieren mit dem weiBen Haar, den Lichtpunkten im Gesicht und dem Hintergrund. Text und Bild ergeben auf diese Weise eine Einheit. Klar und schlicht ist dieser Satz formuliert und visualisiert - die Bitte bzw. Forderung steht der Frau sozusagen auf der Stim geschrieben - doch gerade diese Einfachheit betont die Brisanz des Inhalts. Miteinander zu sprechen setzt Nahe voraus. Eine Nahe, fur die die Betrachtenden eine groBe emotionale Distanz tiberwinden miissten. Die visuelle Konfrontation, die so manche bereits als Distanzlosigkeit empfmden, verstarkt sich durch die verbale Botschaft.

Abb. 11: Streite mit mir. Fiir mehr Menschlichkeit in der Altenpflege (Diakonie 2003)

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Den demografischen Gegebenheiten entsprechend besteht die Kampagne aus drei Frauenportrats und einem abgebildeten Mann. Die Plakate sind hinsichtlich der Bild- und Textebene formal identisch aufgebaut. Die Nahaufiiahme eines alien Gesichts, das Fehlen jeglicher Accessoires, die serifenlose Schrift, die schlicht formulierte Bitte, die direkte Ansprache der Betrachtenden (iber Bild und Text entsprechen dem vorangegangenen Motiv. Das Motiv „Streite mit mir." (Abb. 11) ist dabei sicher das herausfordendste, offensivste der Kampagne. Auch dieses in Untersicht aufgenommen schaut diese Frau eher angriffslustig auf die Betrachtenden herab. Eine emotionale Bediirftigkeit wird hier am wenigsten visualisiert und verbalisiert. Die emotionale Distanz ist also nicht so groB wie bei den anderen Motiven, die Betrachtenden mogen sich auf einen Streit einlassen wollen oder nicht, die Hemmschwelle ist niedriger als im vorangehenden Motiv und manifestiert sich eher auf der Textebene.

Abb. 12: Bete mit mir. Fiir mehr Menschlichkeit in der Altenpflege (Diakonie 2003)

Das Motiv „Bete mit mir." (Abb. 12) zeigt den Blick in ein mannliches Gesicht- auch dieses faltig, mit etwas wassrigen Augen und leicht geoffiietem Mund. Die weiBen Haare sind im Ansatz zu sehen. Die Bediirftigkeit richtet sich

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hier auf den religiosen Aspekt. Verbalisiert wird das gemeinsame Beten, ein Wunsch, der das Bedtirfiiis nach Gemeinsamkeit spiritueller Art ausdriickt. An dieser Stelle fallt die Zuordnung von visueller und verbaler Information auf, die der thematisierten Bedurftigkeit ein ,Gesicht' gibt.

Abb. 13: Beriihr mich. Fur mehr Menschlichkeit in der Altenpflege (Diakonie 2003)

Das Motiv „Beruhr mich." (Abb. 13) verbalisiert Bedurftigkeit auf ahnlich elementare Weise wie das erste Motiv dieser Kampagne. Ein schmales Frauengesicht ist zu sehen, mit vielen Falten und Faltchen, die Augen hell, durchscheinend, die Pupillen klein unter mtiden Lidem. Eine lange, gerade Nase, der Mund geschlossen, etwas verkniffen. Die weiBen Haare sind zuriickgenommen, vielleicht zu einem Knoten zusammengesteckt. Diese Frau wirkt einsam, resigniert und traurig. Die inhaltliche Verkntipfimg der Begriffe „Alter" und „Bedurftigkeit" entspricht in alien vier Kampagnenmotiven auf unterschiedliche Weise den kollektiven Vorstellungen. Die Bedurftigkeit manifestiert sich auf der Textebene und wird unterschiedlich formuliert. „Beruhr mich." ist eine Aufforderung, die sich im Gegensatz zu den anderen Motiven auf die korperliche Bediirftigkeit richtet.

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Der Wunsch nach Bertihrung thematisiert den Mangel an korperlicher Interaktion, eine fehlende Umarmung, ein Streicheln oder den Kuss auf die Wange. Die anderen Textelemente weisen auf das Defizit der Kommimikation hin - Sprechen, Streiten, Beten - und suchen den Dialog. Die vier Titel - „Sprich mit mir.", „Streite mit mir.", „Bete mit mir.", „Beruhr mich." - bilden das Spektrum emotionaler Bedtirftigkeit ab, um das es hier geht. Die Motive visualisieren und verbalisieren die Defizite in der Altenpflege, die uber die Grundversorgung hinausgehen. Beruhrung und Dialog sind Tatigkeiten, die nicht dem Fachpersonal vorbehalten bleiben, sondem alle angehen, also potenziellen Betrachtenden dieser Plakate. Daher ruhrt die Brisanz dieser Kampagne. Nahe in Verbindung mit Provokation und der Aufforderung zu Reaktion sind Zeichen, die dem Thema Alter als nicht angemessen empfunden werden. GroBe und Platzierung der Plakate sind ebenfalls Zeichen, die Bedeutung vermitteln. Die 18/1-Plakate sind an zentralen Punkten des offentlichen Raums zu sehen, an groBen Kreuzungen, U-Bahn-Aufgangen etc. Der dadurch entstehende monumentale Charakter der Bilder lasst eine Konfrontation mit dem Alter und seinen Bediirfiiissen unausweichlich erscheinen. Der Blick in das fremde alte Gesicht wirkt im Kontext des urbanen Raums besonders eindrticklich. Aber auch widersprtichlich, da es sich nicht um einnehmende Gesichter bzw. Mitleid heischende Bilder handelt, wie wir sie aus anderen Bereichen des Sozialmarketings kennen. Dies sind keine groBaugigen, glatten Kindergesichter, sondem fast schon Gesichtslandschaften, die auf ein jeweils wechselvolles gelebtes Leben verweisen. Das Alter erscheint nicht bemitleidenswert und annihrend, sondem streng, fordemd, erschreckend, fast abschreckend, ein Wahmehmungsbmch, der sich zwischen Appell und emotionaler Ansprache bewegt. Mit der Thematisiemng geht also auch eine Instmmentalisiemng des Alters einher, um einen Bewusstseinswandel auch auf der emotionalen Ebene zu erreichen. Dartiber hinaus vollzieht sich eine Anonymisiemng. Denn trotz der dargestellten Personlichkeit jedes Einzelnen gibt es keine visuellen Hinweise auf Lebensumstande, personliche Werte oder individuelle Dinge der abgebildeten Person. Hinzu kommt die bewusste ,Alltaglichkeit' der Gesichter. Sie sind nicht wirklich schon im landlaufigen Sinne, zeichnen sich auch nicht durch eine groBe Personlichkeit aus. Es sind ganz normale Menschen, die hier zu sehen sind. Dieser Eindmck von Austauschbarkeit erhoht die Wirkung auf die Betrachtenden. Jede und jeder konnte es sein. Die Nachbarin. Die eigene Mutter. Man selbst in naher oder femer Zukunft. Die Anonymisiemng ist gekntipft an die Moglichkeit zur Identifikation. Der unmittelbare Blick in das alte Gesicht macht es zum Alter selbst.

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1st die Treue zum Code inhaltlich grundsatzlich gegeben, findet die Anfechtung hier auf formaler Ebene statt. Die unmittelbare Konfrontation mit dem Alter, die Monumentalitat der Abbildungen und die Prasenz, die der alte Mensch dadurch im offentlichen Raum bekommt, sind neue Zeichen, die dem Bild des Alters ein ungewohntes und scharfes Profil geben.

7. Ganz schon alt. Fazit und Ausblick Die demografische Entwicklung fiihrt zu einer Umbruchsituation, zu einer gesellschaftlichen Neuorientierung. Die drei Aufgaben der Werbung - Information, Motivation, Sozialisation - vorausgesetzt, ist dieser Wandel in den Bildem der Werbung ablesbar, quantitativ wie qualitativ. Eine der wichtigsten und anspruchsvollsten Aufgaben des Kommunikationsdesign wird es dabei sein, Bilder zu entwickeln, die ein neues Verstandnis vom Alter und vom Altwerden in unserer Gesellschaft vermitteln. Hochaltrigkeit gepaart mit Weiblichkeit kam in der Werbung bisher so gut wie gar nicht vor. Allein aus diesem Grund kommt den hier besprochenen Frauenbildem eine besondere Bedeutung zu. Sie stehen in deutlichem Gegensatz zu gewohnten Bildem und Vorstellungen und sind geeignet, Eckpunkte einer neuen Sichtweise auf das Alter auszuloten. Uber bekannte und allzu gewohnte Bilder von GroBeltemidylle und jugendlicher Faltenfreiheit hinaus wird es ermoglicht, die Frau im hohen Alter plotzlich mit anderen Augen zu sehen. Es ergeben sich Assoziationsraume, in deren Mittelpunkt die Begriffe Schonheit, Verletzlichkeit, Stolz, Starke bzw. Schwache stehen. Sich an unterschiedliche Zielgruppen wendend, thematisieren und instrumentalisieren die hier vorgestellten Kampagnen und Einzelanzeigen das Alter auf jeweils eigene Weise. Gemeinsam ist den Anzeigen die Neuinterpretation des Alters, der Versuch, Zeichen zu fmden bzw. zu entwickeln, die eine neue Sichtweise auf das Alter anbieten. Mit Hilfe des Wahmehmungsbruchs, der sich aus dem Wechselspiel von Provokation und Asthetisierung ergibt, eroffiien diese Kampagnen ein neues, bisher unbekanntes Bild und verandem ,das Alter im Kopf auf radikale Weise. Die Anzeigen sind darauf angelegt, Muster und Konventionen in Frage zu stellen. Dabei wird deutlich, dass es nicht darum geht ,Alter' vollkommen neu zu definieren, sondem um die thematisch/unthematische Erweiterung des visuellen Spektrums. Gezeigt werden bekannte Zeichen wie Falten, Flecken, weiBes Haar, doch der Fokus verschiebt sich und richtet sich auf Blick, Gestik, Frisur und Kleidung, die Prasentation des alten Menschen insgesamt. Diese neuen Zeichen des Alters vermitteln, zumindest was die Wirtschaftswerbung angeht.

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Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen. Die Bildsprache des Sozialmarketing ist auf eine andere Zielsetzung bin angelegt. Den angestrebten Bewusstseinswandel bei den Betrachtenden rufen vertraute Zeichen in formal neuem Zusammenhang hervor. Das Medium der AuBenwerbung wird genutzt, um vertrauten Bildem eine fast schon aggressive Form und dem Alter damit eine ungewohnte Prasenz im offentlichem Raum zu geben. Diese Zeichen vermitteln fiir sich genommen ein optimistisches, positives, schones Alter bzw. ein resigniertes, einsames, bediirftiges Alter. Dies sind die Eckpunkte fiir zukiinftige Altersdarstellungen in der Werbung. Die Verknupfiing des jeweiligen Markenkems mit dem hier vorgestellten Bild des Alters soil dabei provozieren und Konventionen in Frage stellen. Es ist bezeichnend, dass Provokation auf diese Weise tatsachlich fimktioniert. Auch dies ist ein Zeichen, das Bedeutung tragt und Hinweise darauf gibt, wie weit der Weg zu einem selbstverstandlichen Umgang mit dem Bild des hohen Alters in der Werbung noch ist. Es geht also nicht nur darum, Zeichen zu fmden, die ein vielschichtigeres, realistischeres und auch positiveres Bild des Alters formulieren, sondem auch darum, die visuelle Rezeption soweit zu beeinflussen, dass das schone, das verletzliche, das sexuelle und das bedtirftige Alter einen selbstverstandlichen Platz in den Medien unserer Zeit fmdet. Das eroffhet dem Kommunikationsdesign ein Aufgabenfeld, das neben der Geschmacksbildung auch die Meinungsbildung umfasst. Quantitativ wie qualitativ besteht mit dem Medium Werbung die Chance, nicht nur groBe Telle der Gesellschaft zu erreichen, sondem auch zu beeinflussen im Hinblick auf ein Umdenken und einen Bewusstseinswandel angesichts der demografischen Entwicklung. Das Ziel muss sein, neue Zeichen zu fmden, die nicht nur den Bedeutungsraum des Alters erweitem, sondem auch iiber das kollektive Altersbild hinaus ein neues Verstandnis von Schonheit und Asthetik vermitteln. Das bedeutet, Jugendlichkeit, Perfektion, Straffheit und Klinstlichkeit des Korpers visuell zu ersetzen durch Nattirlichkeit, Selbstbewusstsein, Authentizitat und Bedurftigkeit - in alien Lebensaltem.

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Abbildungsnachweis Abb. 1-4:

„Oui - a female force in fashion". Qui Gruppe Miinchen, RG Wiesmeier, 2001

Abb. 5-6:

„Campaign for real beauty" der Pflegeproduktlinie Dove, Lever Faberge, 2005

Abb. 7

ADC-Jahrbuch 2001, Mainz 2001

Abb. 8

Liirzers Archiv 4/2001, Leadas Delaney, London

Abb. 9:

Ltirzers Archiv 4/2002, KesselsKramer, Amsterdam

Abb. 10-13:

Kampagne „Pflege" der Evangelischen Kirchen und ihrer Diakonie in Niedersachsen, 2003

Der gefahrliche Aufbruch zum Selbst: Frauen, Altern und Identitat in der amerikanischen Kultur. Eine anokritische Einfiihrung Roberta Maierhofer Institutfur Amerikanistik, Universitdt Graz

1. Einleitung Hat sich in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts die Kategorie „Geschlecht" (gender) als methodischer Ansatz in der Literatur- und Kulturtheorie etabliert, so spielt seit den 90er Jahren die Kategorie „Alter" im kulturwissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Diskurs eine wesentliche Rolle. War der Begriff „Alter" bis Mitte der 80er Jahre nur fur Gerontologlnnen von Interesse, die sich in soziologischen und medizinischen Studien mit den sogenannten ReaHtaten des Alters befassten, wird Alter seither zunehmend als kulturell definierte Kategorie wahrgenommen. Vormals wurden kulturelle Darstellungen von Alter in Literatur und Film - falls iiberhaupt beachtet - nur als Spiegel der Gesellschaft gelesen, ohne das subversive Potenzial fiktionaler Texte, gesellschaftsverandemd zu wirken, wahrzunehmen. Wenn ich davon spreche, dass Alter zunehmend als kulturell definierte Kategorie wahrgenommen wird, ist damit gemeint, dass Altern nicht nur als ein rein biologischer, soziologisch analysierter und medizinisch relevanter Vorgang gesehen wird. Vielmehr wird deutlich, dass nicht nur der individuelle Lebenszusammenhang, sondem auch das kulturelle Umfeld und die Rollenbilder fur ein selbstbestimmtes Altern des Individuums entscheidend sind. Die bereits etablierte kultur- und literaturwissenschaflliche Auseinandersetzung mit Fragen des Anders-Seins, ob beztiglich Geschlecht, Rasse, Ethnizitat, Sexualitat oder des postkolonialen Diskurses, miissen daher um den Aspekt des Alters erweitert werden. Die Vorstellung, dass individuelle Identitat nicht nur in Literatur, sondem auch in der Gesellschaft kulturell determiniert ist, verandert namlich den Begriff „Alter". So wie die feministische Theorie eine Unterscheidung zwischen biologischem und gesellschafllich konstruiertem Geschlecht vomimmt, so mtisste zwischen chronologischem und kulturell festgelegtem Alter differenziert werden.

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2. Altern als kulturelles Phanomen Als eine der ersten Stimmen, die die kulturellen Implikationen der Definition von „Alter" anspricht, weist Susan Sontag auf einer Konferenz des Instituts fur Gerontologie 1973 auf die Schnittpunkte von Alter und Geschlecht hin und zeigt damit die enge Verbindung dieser beiden Kategorien, die die Matrix meines Ansatzes darstellen. In ihrer Prasentation spricht Susan Sontag von den unterschiedlichen MaBstaben („double standard of aging"), die in Bezug auf das Altern bei Mannem und Frauen angelegt werden, und sie unterscheidet zwischen „Alter" („old age") und Alterwerden („aging").^ Sie defmiert „Alter" als ein Faktum menschlicher Existenz, als eine qualvolle Prtifiing, der sich Manner wie Frauen auf ahnliche Weise unterziehen mussen (Sontag 1975: 31), und Alterwerden als eine Qual der Phantasie, eine gedachte Krankheit, eine Pathologie - die durch die Tatsache gekennzeichnet ist, dass mehr Frauen als Manner darunter leiden. (Sontag 1975: 3If) So spricht Sontag davon, dass Manner ein hohes Alter erreichen, dass Frauen aber alt werden oder, genauer, dass sie „alter" werden. Altern ist ein weibliches Phanomen, da Frauen als alt angesehen werden, sobald sie nicht mehr sehr jung sind. Sontag hat daher Altern nicht als eine biologische Notwendigkeit defmiert, sondem als eine gesellschaftliche Verurteilung, bestimmt durch die Art, wie die Gesellschaft den Freiraum von Menschen, sich selbst zu imaginieren, einschrankt. (Sontag 1975: 36)^ Aufgrund der zugewiesenen Geschlechterrollen wird Alter traditionell in Bezug auf Frauen als das Fehlen von etwas („nicht mehr jung") defmiert, wahrend Manner durchaus im Alter Prestigegewinn erfahren konnen. In ihrer Abhandlung iiber das Alter weist auch Simone de Beauvoir (1990) trotz der groBen Nachteile, die sie fur altemde Menschen unabhangig vom Geschlecht aufzeigt - daraufhin, dass es zwar den Begriff des „schonen Greises" gibt, jedoch keinen entsprechenden Begriff fiir alte Frauen. Sie fiihrt das auf die geschlechtlich unterschiedlich zugeschriebenen Rolleneigenschaften zurlick. Da die mannlich dominierte Gesellschaft vom Mann nicht Frische, Sanftheit und Anmut der korperlichen Erscheinung verlange, konne ein Aussehen, dass durch weiBe Haare und Falten gepragt ist, durchaus die Eigenschaften von Starke und Intelligenz ausdriicken und stehe somit nicht im Widerspruch zum mannlichen Ideal, sondem betone sogar dessen korperfeme Implikation (de Beauvoir 1990:252) 1 Vgl. den gleichnamigen Beitrag „The Double Standard of Aging" von 1975. 2 Baba Copper, die in ihrem Buch Over the Hill Reflections on Ageism Between Women. Freedom (1988), die Probleme lesbischer Frauen im Alter behandelt, wirft Sontag einen altersfeindlichen Zugang vor. Es ist jedoch unbestritten Sontags Verdienst, Alter als kulturelles Phanomen diagnostiziert zu haben.

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Trotz der Universalitat des Alterungsprozesses ist Alter demnach eine kulturell und gesellschaftlich definierte Kategorie und bedingt in der Folge fur jeden andere Realitaten, wobei Frauen aufgrund der gesellschaftlichen RoUenzuschreibungen starker von der Diskriminierung aufgrund ihres Alters betroffen sind als Manner. Es sind also die engen gesellschaftlichen Vorstellungen, die Frauen einschranken und ausgrenzen, und nicht die Tatsache des Altems an sich. Jugend wird als eine Metapher fiir Energie, ruhelose Mobilitat und den grundsatzlichen Zustand des Verlangens gesehen, alles Eigenschaften, die traditionell mit „Maskulinitat" assoziiert werden, und Alter wird mit Inkompetenz, Hilflosigkeit, Fassivitat, Konkurrenzunfahigkeit und Nettsein gleichgesetzt, Eigenschaften, die als feminines Stereotyp definiert werden (Sontag 1975: 32). „Ageism" - die systematische Stereotypisierung und Diskriminierung von Menschen aufgrund ihres Alters - verstarkt also die diskriminierenden Aspekte des weiblichen Rollenbildes. Dabei wird davon ausgegangen, dass die auBere Erscheinung, das Aussehen, Identitat bestimmt. Dies ist Teil der Ideologic, die Frauen und Alter als das „andere" gegentiber Maskulinitat und Jugend positioniert, die als die menschliche Norm in der westlichen Gesellschaft angesehen werden.

3. Ein neuer kritischer Ansatz: Anokritizismus Angesichts der derzeitigen sozialen Situation alter Menschen mag meine These, dass in literarischen Darstellungen Altem als eine positive, befahigende Erfahrung gezeigt wird, als ein wenig naiv und als eine die Tatsachen des Altems vemiedlichende und romantisierende Interpretation erscheinen. Mir liegt es jedoch fern, Alter als Qualitat an sich zu etablieren. Das heiBt, ich beziehe mich nicht auf Altem oder chronologisches Alter als eine Kategorie der Erfahmng, der Bedeutung oder des Werts an sich. Altsein per se ist nicht ein zentrales Merkmal des Selbst, noch ist es an sich Urspmng von Verstehen. Identitat defmiert sich vielmehr erst in einem Wechselspiel von Veranderung und Kontinuitat, sie ist nicht als zeitlich statische Einheit zu denken. Im Gegenteil, eine solche Sicht wiirde ein wahres Verstehen des Selbst sogar verhindem. Gerade Frauenleben werden durch so markante Verandemngen bestimmt, dass haufig fiir die weibliche Existenz der Begriff „Metamorphosen" verwendet wird, um die Verandemngen, die sich in deutlich voneinander unterscheidenden Korperzeichen ausdrticken, zu benennen (vom Kind zur Frau, zur Geliebten, zur Mutter, zu den Wechseljahren). Feministische Wissenschaftlerinnen haben dies oft als Gmnd angefiihrt, wamm sich Frauen - ungeachtet der gesellschaftlichen

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Missachtimg - in kulturellen Manifestationen positiv tiber den Alterungsprozess geauBert haben. Vorsicht ist jedoch geboten, wenn man rein korperliche Veranderungen als die entscheidenden Faktoren fiir Altem bewertet. Wie Sozialwissenschaftlerlnnen argumentieren, werden Veranderungen weder durch Chronologie noch durch Biologie ausgelost, sondem durch entscheidende Ereignisse in bestimmten Lebensphasen und deren individuellen Handhabung (Greer 1992: 47). Alter erweist sich in unserer Gesellschaft zumeist als Defizit und damit als Anlass zur Diskriminierung. Forschungsergebnisse und die Erkenntnisse aus der Auseinandersetzung mit der Unterscheidung zwischen dem Selbst und dem Anderen, dem Wir und dem Ihr, zwischen mannlich und weiblich als einer binaren Struktur, die eine Gruppe gegentiber der anderen einschrankt und ausgrenzt, konnen uns auch helfen, die Polarisierung von alt und jung zu tiberdenken, mit dem Ziel, diesen Gegensatz zu uberwinden. Gerade die feministische Forschung, die sich seit ihren Anfangen gegentiber einer Festlegung der Person aufgrund ihrer Korperlichkeit gewehrt hat und ein Menschenbild propagiert, das sich von stereotypenhaft festgelegten Vorstellungen beziiglich Verhaltensmuster, Charaktereigenschaften und Rollenzuschreibungen auf biologischer Grundlage befreit hat und deren kulturelle Determiniertheit erkennt, kann fur die alterswissenschaftliche Forschung von enormer Bedeutung sein und fur den gerontologischen Bereich methodische und theoretische Hilfestellungen bieten. Ich fordere in meinem Forschungsansatz, dass feministische Theorien in der alterswissenschafllichen Forschung sowohl auf Frauen wie Manner angelegt werden sollen. Durch einen feministischen Ansatz kann Altem - so meine These - als Befreiung aus der Enge der gesellschaftlich bestimmten Rolle, als Moglichkeit einer Selbstbestimmung, als ein Prozess der Starkung gewertet werden, und erlaubt auch einen anderen Blickwinkel auf die „Gesellschaft der Alten", um so festgelegte Standpunkte zu tiberdenken und neu zu defmieren. Hier kann feministische Methodik hilfreich sein. Der Feminismus hat erfolgreich auf die Zusammenhange zwischen dem Personlichen und dem Politischen hingewiesen. Der feministische Diskurs wurde bestimmt durch das Erkennen der Zusammenhange zwischen Sexualitat, Macht und der politischen Kontrolle liber den weiblichen Korper durch das Patriarchat. Als Antwort auf Darstellungen von Frauen in ihrer bloBen Korperlichkeit betont die feministische Theorie die sexuelle Selbstbestimmung und die Kontrolle tiber den eigenen Korper und fordert durch die Zurtickweisung der Verdinglichung die Anerkennung der Frauen in ihrer gesamten Menschlichkeit, Wtirde, Integritat und Unantastbarkeit als menschliches Wesen. Ein feministischer Ansatz erlaubt es daher, den Alte-

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rungsprozess radikal zu defmieren, darin revolutionares Potenzial zu erkennen, um sich liber patriarchalische Paradigmen menschlicher Entwicklung hinauszubewegen. Diese feministische Position muss jedoch nicht nur fur den alterswissenschaftlichen Bereich erst entwickelt werden, sondem sie muss auch innerhalb der feministischen Forschung noch starker etabliert werden. In der Tradition Elaine Showalters, die eine Auseinandersetzung mit der Geschichte, der Form, den Themen, den Genres und dem Aufbau von Texten von Schriftstellerinnen forderte und dafiir den Begriff „gynocriticism pragte" (Showalter 1985) fordere ich eine Suche nach einer spezifischen weiblichen Kultur des Altems. Germaine Greer verwendet den Terminus „anophobia", um die Angst vor alten Frauen zu benennen (vgl. Greer 1992). Ich schlage nun die Einfahrung des Begriffs „anocriticism" vor, um den Aspekt des weiblichen Altems zu untersuchen, um ein Verstandnis zu generieren, was es bedeutet, in Margaret Morganroth Gullettes Formulierung „durch Kultur gealtert" zu sein („aged by culture", Gullette 1997: 6-7). Der von mir gepragte Begriff „anocriticism" benennt einen interpretatorischen Ansatz, der vor allem die Autoritat der individuellen weiblichen Erfahrung im Alter/n als Widerstand versteht, die Erfahrung beliebiger Einzelner zur Norm zu erheben und zu generalisieren.

4. Frauen, Altern und Identitat So wie feministische Theorie zwischen Sexualitat und Geschlecht unterscheidet, so sollte eine Unterscheidung zwischen chronologischem Alter und den mit alten Menschen assoziierten Stereotypen vorgenommen werden, um einen Ausweg aus dem eingrenzenden binaren Gegensatz von jung und alt zu finden. Ausgehend von der Pramisse, dass Alter - ahnlich wie Rasse, Klasse und Geschlecht - nicht durch den anatomischen Korper des Individuums naturbedingt Oder unvermeidbar vorgegeben ist, gilt es zu untersuchen, wie Altersidentitat in Literatur und Gesellschaft konstruiert wird. Durch eine Untersuchung, wie „Jugend" oder „Alter" eine festgelegte Bedeutung zu einem bestimmten Zeitpunkt und in einem bestimmten Kontext erlangt, sowie durch die Betonung des notwendigen Zusammenhanges dieser beiden Begriffe kann ein Verstandnis dafur erreicht werden, dass das, was wir als typisch Jung" in einer bestimmten Gesellschaft ansehen, teilweise davon abhangt, was wir in Unterscheidung dazu als „alt" defmieren und umgekehrt. Diese Einsicht fuhrt zum Ergebnis, dass das, was altersneutral - namlich allgemeingiiltig - erscheint, implizit als mannlich und jung angesehen wird und somit das Weibliche und Alte ausschlieBt.

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Wenn feministische Literaturwissenschaft sich das Ziel setzt, die Welt durch eine Neubewertung der Vergangenheit zu verandem, und dazu anregt, dass Literatur von einem neuen Gesichtspunkt aus betrachtet und bewertet wird, so stellen sich Kulturwissenschaftlerlnnen auf dem Gebiet der Alterswissenschaften einer ahnlichen Herausforderung. Sie nehmen eine vergleichbare politische Haltung ein, mit dem Ziel, nicht nur die Welt zu interpretieren, sondem durch eine Bewusstseinsanderung die Beziehung zwischen Text und Lesenden und in der Folge zwischen Lesenden und Welt neu zu defmieren (Fetterly 1977). Daraus ergibt sich, dass der Kulturwissenschaft in der Bewertung und Aufarbeitung weiblicher Rollenmodelle eine wichtige Aufgabe zufallt. Kulturelle Texte geben Aufschluss und Anregung zugleich tiber Moglichkeiten selbstbestimmten Altems. Ausgehend von der feministischen literaturwissenschaftlichen Methode, durch die sich die Leserin der einschrankenden traditionellen Leseart verweigem kann, werden kulturelle Zeugnisse weiblichen Altems radikal neu gelesen. Der haufigen Interpretation, alte Frauen als bedtirftig, hilflos und verbraucht zu sehen, wird eine Leseart entgegengesetzt, die nun auf die Briiche und Kontinuitaten in einem menschlichen Leben hinweist und somit auf die Vorztige weiblichen Altems. Diese kulturwissenschaftliche Methode kann liber den wissenschaftlichen Bereich hinaus Rollenmodelle fur weibliches Altem aufzeigen und die Moglichkeit bieten, Lebenszusammenhange narrativ zu erfassen und somit die einzelne zu einer Interpretin der eigenen Geschichte werden zu lassen. Literatur nun, die sich mit Altem beschaftigt, zeigt vordergrundig eine Gemeinsamkeit auf: das Schreiben ist durch ein personliches Engagement und durch ein politisches Anliegen motiviert, um einerseits auf die eigene Situation hinzuweisen, und andererseits ein Bewusstsein fiir die Probleme alter Menschen zu schaffen. So richtet sich Dorothy Sennet im Vorwort einer Kurzgeschichtenanthologie mit dem Appell, „Wir sind ihr, alt geworden", direkt an ihre Leserschaft, wobei sie sehr wohl eine Identifikation mit dem Anderen - dem jtingeren Du - impliziert. Der humanistische Anspmch, der hinter der Forderung nach Identifikation einerseits auf einer allgemein-menschlichen und andererseits auf einer personlich-involvierten Ebene steht, liegt darin, den Wert des Einzelnen und die Wtirde des Individuums unabhangig von Klasse, Rasse, Geschlecht und Alter anzuerkennen. Das Einbeziehen der eigenen Person, der eigenen Lebenssituation in die Beschaftigung mit sozialen Phanomenen ist der erste Ansatzpunkt zu einer gesellschaftlichen Verandemng, worauf schon der feministische Slogan „das Private ist politisch" verweist. In der Verknupfung von Altersforschung und feministi-

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schen Anliegen fmdet sich vor allem ein gemeinsamer Punkt: das Erkennen des eigenen im anderen. Simone de Beauvoir, die umstrittene Vordenkerin im Bereich der Altersforschung, formuliert das folgendermaBen: Horen wir auf, uns selbst zu belugen; der Sinn des Lebens ist in Frage gestellt durch die Zukunft, die uns erwartet; wir wissen nicht, wer wir sind, wenn wir nicht wissen, wer wir sein werden; erkennen wir uns in diesem alten Mann, in jener alten Frau. Das ist unerlasslich, wenn wir unsere menschliche Situation als Ganzes akzeptieren wollen. Dann werden wir das Ungliick des Alters nicht mehr gleichgiiltig hinnehmen, wir werden uns betroffen fuhlen; wir sind es (Beauvoir 1990: 8)

Alter und Altem muss jedoch als ein kontinuierlicher Prozess gesehen werden, der nicht an die Chronologie der Jahre gebunden ist, als eine Auseinandersetzung des Individuums mit sich verandemden Lebensumstanden. Ein erster Schritt zu einem veranderten Verstehen von Alter konnte die Erkenntnis sein, dass bei der Beschreibung von Lebensphasen das Instrumentarium zur Beschreibung der Altersabstufungen fehlt. Kathleen Woodward, eine der wenigen Literaturwissenschaftlerlnnen, die sich mit Literatur und Altem beschaftigt hat, argumentiert, dass die westliche Kultur ohne differenzierte Altersabstufungen auskommt und nur die Binaritat jung - alt, die hierarchisch angeordnet ist, kennt. Jugend ist der positive Bezugspunkt, um zu bestimmen, wer als alt klassifiziert wird. Kulturelle Darstellungen des Alterungsprozesses und des Alters bleiben daher haufig gefangen in vordergnindig negativen Stereotypen, wobei Jugend, vom subjektiven Standpunkt aus bestimmt, eine nicht festgesetzte Markierung darstellt, eine Kategorie, die beinahe unendlich erweiterbar und flieBend ist. Die Bezeichnung „alt" wird im Alltag oft nur in der Relation „alter als ich" verwendet (vgl. Woodward 1991: 6). Ausgehend von einem psychoanalytischen Ansatz zeichnet Woodward in ihrer Analyse literarischer Texte ein tristes Bild des Alterungsprozesses. In Einklang mit dem Titel ihres Buches - „Die Unzufriedenheit mit dem Altem" - prasentiert Woodward alte Menschen als Opfer, am Rande der Gesellschaft vegetierend und ohne Hoffiiung auf Erlosung. Ich stimme Woodwards Analyse zu, was die gesellschaftliche Akzeptanz von Alter betrifft, mochte aber behaupten, dass die negative Interpretation der Darstellung des Alters bestimmt wird durch ihre Erwartungshaltung und ihre literaturwissenschaftliche Methode, die zu einer bestimmten Textauswahl anregen. In meinen Untersuchungen habe ich viele Texte gefiinden, die an Chancen des Alters zu denken erlauben (vgl. Maierhofer 2003). Bedingt wird dieser positive Zugang durch eine literaturwissenschaftliche Methode, die in der Fiktionalitat die Moglichkeit erkennt, Realitat zu transzendieren und vorgefasste Meinungen der Leserlnnen in Frage zu stellen. Desweiteren ist eine Definition

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des Selbst notwendig, die menschliche Identitat ganzheitlicher bestimmt. Gesellschaftliche Werte werden so kritisch gepriift und eine Gegenwelt assoziiert. Literarische Texte, die auf diese Art neu-interpretiert werden, konnen „Richtlinien" anbieten flir eine standig wachsende Bevolkerung von alten Menschen. Frauen zwischen 40 und 60 sind beispielsweise die am starksten anwachsende Bevolkerungsgruppe. Der Begriff des zweiten Erwachsenenalters („second adulthood") benennt die Tatsache, dass heutzutage Frauen im Alter von 50 Jahren im Durchschnitt noch weitere 30 Jahre, oft aber auch mehr, zu leben haben.^ Nicht nur die Gesellschaft simplifiziert den Alterungsprozess, auch die Entwicklungspsychologie zeichnet den Lebenszyklus als eine Fallkurve, wie die Anthropologin Sharon Kaufinan in ihrer Kritik dieser These festgestellt hat. Bin Mensch „steigt auf und entwickelt sich, indem er Wissen, Fahigkeiten, Eigenschaften, Macht und Selbstbewusstsein erlangt, bevor er „absteigt", indem er einige oder all diese Eigenschaften verHert. Das altemde Individuum wird so interpretiert, dass es sich gegen diesen unweigerlichen Fall stemmt und versucht, an dem Erreichten festzuhalten, oder sich wiirdevoll dem unausweichlichen Fall stellt (vgl. Kaufinan 1986: 5). Diese Theorie vemachlassigt jedoch die Erfahrungen des Einzelnen von Altem und Alter und die literarischen Texte. Im Gegensatz zur popularen Auffassung, dass Alter eine unveranderliche Phase im Leben sei, formulieren alte Leute personliche und kulturelle Symbole ihrer Vergangenheit immer wieder aufs neue, um in einem sinnvollen, koharenten System ihr Selbst zu verstehen. Durch diesen kreativen Prozess generieren sie Gegenwartigkeit. Dies wird auch bestatigt durch die Tatsache, die Kaufinan in ihrer Untersuchung hervorhebt und die in der von mir eingesehenen Literatur ebenfalls nachzuweisen ist, dass Altem nicht an sich als sinnvoll erlebt wird, sondem Sinn darin geftinden wird, Identitat auch im Alter immer wieder aufs neue zu begrlinden. Kaufinans Interesse gilt daher dem Umgang der alten Leute mit Veranderungen auf einer Basis des Verstehens der Kontinuitat und Bedeutung ihres bisherigen Lebens.

5. Die alte Frau als Reprasentantin der Menschheit Identitat wird nicht festgeschrieben als ein statischer Punkt in der Vergangenheit und ist nicht durch die kurze Zeit der Jugend defmiert. Sharon Kaufinan verwendet den Begriff des „zeitlosen Selbst" („ageless self) (Kaufinan 1986: 5), um die kontinuierliche Definition des Ichs zu beschreiben, die fortwahrend 3 Vgl. http://www.rho.Org/html/older_overview.htm#introduction (gesehen am 06.09.2005).

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und kreativ ist, ein Begriff, den ich fur die Neubewertung literarischer Texte sehr nutzlich fmde. Die amerikanische Schriftstellerin Meridel LeSueur (1998) verwendet den Begriff „Reifen", wenn sie vom Altem spricht, und ersetzt dadurch die lineare, quantitative Funktion der Dimension Zeit durch eine qualitative Funktion, die letztlich die Moglichkeit bietet, eine ganzheitliche Identitat als Person zu erlangen. Ursula LeGuin stellt in ihrem Aufsatz „The Space Crone" (1976) weibliches Altem als exemplarisch und richtungsweisend nicht nur fur ein menschliches Altem, sondem auch fur ein menschliches Leben insgesamt dar. In ihrer Abhandlung beschaftigt sich LeGuin mit einer NeuBestimmung der Weiblichkeit, die eine Neu-Bestimmung des Menschlichen ist, indem sie das Leben in Schwangerschaften einteilt und somit Altem unter dem Aspekt der standigen Neubestimmung der eigenen Identitat im Wechselspiel von Verandemng und Kontinuitat beschreibt. LeGuin vergleicht die Wechseljahre der Frau mit den Verandemngen von der Jungfraulichkeit zum Frausein. Wahrend die „erste Schwangerschaft", die Sexualisiemng der Frau, ein Schritt vom Sakralen zum Profanen sei, bestehe nun in den Wechseljahren, der „dritten Schwangerschaft", die Moglichkeit, wieder den sakralen Bereich zu erreichen und eine Weise („crone") zu werden als Vorbereitung auf die endgiiltige Schwangerschaft, die Frauen wie Manner austragen miissen: den Tod. In ihrer Auseinandersetzung mit den verschiedenen Phasen eines Frauenlebens bewertet sie somit auch die Wechseljahre neu: So wie Jungfi-aulichkeit als Moglichkeit weiblicher Selbstbestimmung, die eine Unabhangigkeit vom Mann impliziert, in einer manner-dominierten Welt keinen Wert habe, so wtirden auch die Wechseljahre als bedeutungslos angesehen. Beide Formen der Weiblichkeit werden nur als Zeit der Vorbereitung akzeptiert, einerseits auf die Gebarfahigkeit, andererseits auf den Tod. LeGuin begrlindet diese Beschrankung der sozial akzeptierten Weiblichkeit auf die fioichtbaren Jahre der Frau durch die Angst einer patriarchalischen Gesellschaft vor starken, unabhangigen, selbstbestimmten Frauen. Frauen, die einen biologisch eingebauten Initiationsritus haben, sollen sich daher auf die Starken der Weiblichkeit besinnen, die ein Frauenleben ausmachen. Frauen miissen die Chancen ihrer Korperlichkeit nutzen und nicht versuchen, den Mannem gleich zu sein, um diesen, die nicht diesen „eingebauten" Initiationsritus haben, vorbildhaft zu sein. Es ist ihre Fahigkeit, auf Verandemngen zu reagieren und sich auf neue Lebensabschnitte einzustellen, die die Starke einer Frau begriindet und ihr auch die Moglichkeit bietet, im Alter mit veranderten Lebens- und Rollenbedingungen umzugehen. Ein Frauenleben wird durch andere Ziele bestimmt als das Leben eines Mannes. Gesellschaftliche Anerkennung ist meist kein Kriterium

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fiir die Bewertung weiblicher Leistung. Wie LeGuin feststellt, ist die Belohnung flir Tatigkeiten ohne Sozialprestige, wie Pflegen, Dienen und Erziehen, ein „menschliches Herz":"* Sicherlich ist die Anstrengung, unverandert und jung zu bleiben, wenn der Korper ein so eindrucksvolles Signal der Veranderung gibt, wie den Wechsel, galant; aber dumm, selbstaufopfemde Galantrie, besser ziemend fiir einen Jungen von 20 als fur eine Frau von 45 Oder 50. Lasst die Athleten jung und lorbeergeschmiickt sterben. Lasst die Soldaten die Tapferkeitsmedaillen erringen. Lasst die Frauen alt sterben, weiB-gekront mit menschlichem Herzen (LeGuin 1976: 5).

Durch die Einbeziehung der gesellschaftlichen Bedingungen, die Frauen bestimmen, erlaubt LeGuins essentialistischer Ansatz in einem alltaglichen, konventionellen Frauenleben einen Wert zu entdecken, der unsere Menschlichkeit ausmacht. Sie entwirfl ein Szenario, in der ein Raumschiff von einem anderen Planeten auf der Erde landet mit dem Wunsch, dass ihnen als AuBerirdische das Menschsein erklart werde. LeGuin wurde in einer billigen Warenhauskette nach einer sechzigjahrigen Frau suchen, die hinter dem Tresen bedient, deren Leben determiniert war durch Frauenarbeit, wie Gebaren und Aufziehen von Kindem, Putzen, Waschen und Verkaufen. Nur eine Frau, die Anfang und Ende des menschlichen Lebens miteinschlieBt und somit die gesamte conditio humana verkorpert, lasst LeGuin als wtirdige Reprasentantin der Menschheit gelten. In den vorangegangenen Abschnitten babe ich versucht aufzuzeigen, was die Literaturwissenschaft, die Kulturwissenschaft und die feministische Forschung der Alterswissenschaften anzubieten hat und welchen Stellenwert die Auseinandersetzung mit Literatur in Form von Lesen und Interpretieren fiir den einzelnen im Prozess des Altems haben kann. Aber es bleibt noch die Frage des besonderen Aspektes der amerikanistischen Forschung und deren Relevanz fur die europaischen Alterswissenschaften. Ich bin der festen Uberzeugung, dass ich als Amerikanistin der europaischen Altersforschung einen besonderen Aspekt anzubieten habe: Die Vielfalt und Pluralitat der amerikanischen Literatur bedingt, dass die amerikanistische Literaturwissenschaft oftmalig Vorreiterin fflr Entwicklungen in anderen humanistischen Disziplinen ist. Das Fach der Amerikanistik eignet sich aus zwei Grlinden besonders fur eine Auseinandersetzung mit alterswissenschaftlichen Themen. Zum einen weist die amerikanische Kultur durch ihre vielschichtigen, innovativen und multi-ethnischen Texte viele Beispiele fiir Darstellungen von alten Frauen auf, die der Eindimensionalitat tradierter Stereotypen weiblichen Altems entgegenwirken. Zum anderen kann 4 Diese und alle folgenden Ubersetzungen aus dem Englischen stammen von der Verfasserin.

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die amerikanische Kultur gleichzeitig durch ihre Betonung des Individuums richtungweisend sein fiir die Moglichkeiten des Einzelnen, enge gesellschaftliche Grenzen zu iiberwinden. Gerade alte Menschen sind genotigt, in einer vom Wert Jugend gepragten Gesellschaft Grenzen zu iiberschreiten, die ihre eigene Entfaltung beschranken, um so zu einer selbstbestimmten Identitat zu finden. Amerikanistik als kulturwissenschaftliches Fach hat durch die Methode, kulturelle Manifestationen in die Matrix von „Rasse, Klasse und Geschlecht" zu stellen, den geisteswissenschaftlichen Diskurs entscheidend gepragt, und ich schlage in meinem Forschungsansatz eine Erweiterung dieser Definition des Individuums um den Aspekt des Alters vor. Die bereits angesprochene Betonung der amerikanischen Kultur der Selbstfmdung des Einzelnen, die in einer Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen und stereotypen Zuweisung aufgrund von korperlichen Merkmalen („Rasse, Klasse, Geschlecht und Alter") stattfmdet, bietet viele Beispiele fur selbstbestimmtes Altem quer durch die Generationen,

6. Eine anokritische Interpretation: „To Da-duh, in Memoriam. 1967" von Paule Marshall Ich mochte nun als letzten Aspekt einen Text vorstellen, der durch die Auseinandersetzung einer jungen Protagonistin mit einer alten Frau ein Beispiel dafur bietet, dass Altem nicht auf einen statischen Moment in der Zeit fixiert ist, sondem uns als Teil eigener Identitatsbildung das gesamte Leben begleitet. Entsprechend der gerontologischen Theorie (vgl. Cole et al. 1993), die besagt, dass es fur ein gesundes und erflilltes Altem wichtig ist, sich selbst in den Kontext der Geschichte einzuordnen und seine Lebensgeschichte zu erzahlen, mochte ich diesen Text fur alle Lebensstufen als eine Auseinandersetzung mit der eigenen Identitat anbieten: in jungen, mittleren wie alten Jahren. Rtickblicke und Erinnemngen dienen somit nicht den Geschehnissen der Vergangenheit Oder dem Konstmieren einer Chronologic, sondem zur Konstituierung einer Identitat im Hier und Jetzt und als Defmitionshilfe fiir den Einzelnen, also als Aufbmch zum Selbst. In der alterswissenschaftlichen Forschung, die geme literarische Texte in der Altenbetreuung, in der Therapie von AlzheimerPatientlnnen und auch als Freizeitbeschaftigung fiir altere Menschen einsetzt, wird traditionell zwischen zwei Arten von Literatur unterschieden: Geschichten vom altemden Anderen - Eltem, GroBeltem und altere Menschen in der Gemeinschaft, und Geschichten vom altemden Selbst - die Hauptperson als Gegenstand der Fiktion. In der ersten Gmppe setzt sich der Erzahler oder die

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Erzahlerin in mittleren Jahren durch Beobachten oder Zuhoren mit dem Leben von alteren Menschen auseinander. In der zweiten ist Altem etwas, was mit dem Autor oder Erzahler geschieht. Diese Kategorisierung von Literatur betont meines Erachtens zu sehr die binaren Pole von Selbst und dem Anderen. Geht man von einer Definition der Identitat des Individuums aus, in der das Subjekt sich in einem standigen Prozess der Neuorientierung definieren muss, von einer flieBenden Identitat, kann man die starren Gegensatze von Jung und Alt, Selbst und Andere auflosen und das Individuum als gleichzeitig das Selbst und das Andere postulieren und den Aspekt betonen: „ich bin du - altgeworden." Gerade in der afi-oamerikanischen Literatur, in der die mundliche Tradition eine so groBe Rolle spielt, konnen Erinnerungen und Ruckblicke AnstoB und Notwendigkeit sein fur eine Neubestimmung und Positionierung des Selbst. Dieses Erinnem im Erzahlen erlaubt jedoch nicht eine klare Unterscheidung des Damals und Heute, der Vergangenheit und der Gegenwart. Paule Marshalls Kurzgeschichte „Fur Daduh, in Memoriam.1967" (1983a), in der sie ein Zusammentreffen mit ihrer bereits verstorbenen GroBmutter schildert, ist nicht nur eine Huldigung an die GroBmutter, sondem stellt auch eine Neupositionierung des erwachsenen Selbst der Erzahlerin dar, in die sie gleichzeitig ihre Vergangenheit als kleines Madchen, ihre Gegenwart als erwachsene Frau in den sogenannten mittleren Jahren und ihre Zukunft als alte Frau mit einschlieBt. Die Geschichte, die Marshall ihre „autobiografischste" nennt, erinnert an einen Besuch, den sie als neunjahriges Madchen aus New York ihrer GroBmutter in Barbados abstattet. Marshall beschreibt die GroBmutter als eine Figur, die stellvertretend steht fur all ihre Vorfahren, schwarzen Frauen und Manner aus Afrika und der neuen Welt, die ihr Sein ermoglicht haben und von denen sie glaubt, dass deren Geist ihr Leben und Wirken kontinuierlich beleben. Diese Figur der alten Frau steht jedoch nicht nur fiir ihre Vergangenheit in diesem abstrakten Sinn, sondem reprasentiert das junge Madchen als eine alte Frau. Die Rivalitat, die zwischen GroBmutter und Enkelin in der Geschichte dargestellt wird, ist die Auseinandersetzung des jungeren Ichs mit dem alteren, das versuchen muss im Laufe ihres Lebens die vielfaltigen Aspekte ihrer Identitat zu vereinbaren und lemen muss, dass auch der Aspekt „Alter" definierend sein kann fiir die eigene Identitat: Unsere Beziehung war eine komplexe - eng, liebevoll aber wetteifemd. In dem Jahr, das ich mit ihr verbrachte, fand zwischen uns ein subtiler Machtkampf statt. Es war, als ob wir beide wussten, dass ich auf einer Ebene jenseits der Worte in die Welt gekommen war, nicht nur um sie zu lieben und ihre Linie fortzusetzen, sondem um ihr Leben zu nehmen, damit ich leben konnte (Marshall 1983a: 95).

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Die GroBmutter steht fur verschiedene Aspekte: in sozialer Hinsicht fur ihre kulturelle Herkunft, auf der personlichen Ebene flir ihr eigenes Selbst. Die Geschichte ist auf viele Gegensatze aufgebaut: hell-dunkel, Neue-Alte Welt, landliche, traditionelle versus industrialisierte, modeme Gesellschaft. Wenn am Beginn der Geschichte eine klare Unterscheidung getroffen wird zwischen GroBmutter und Enkelin und mit dem Gegensatzpaar des Selbst und des Anderen in Verbindung gebracht wird, dann endet die Geschichte mit einem Verschmelzen der beiden Charaktere. In ihrem Essay: „Das Entstehen einer Schriftstellerin: Von den Dichtem in der Kiiche" erklart Paule Marshall ihre Theorie des gleichzeitigen Benennens und Akzeptierens der Gegensatze des Lebens: In der Linguistik gibt es die Theorie, dass das Idiom eines Volkes, eine Art, wie es Sprache verwendet, nicht nur seine grundsatzlichen Werte und seine Welt widerspiegelt, sondem auch seine Vorstellung von Wirklichkeit. Meine Mutter und ihre Freundinnen haben vielleicht durch den Begriff „schon-hasslich", um damit beinahe alles zu beschreiben, einen von ihnen wahrgenommenen grundsatzlichen Dualismus ihres Lebens ausgedriickt: die Vorstellung, dass eine Sache gleichzeitig auch dessen Gegenteil ist und dass diese Gegensatze, diese Widerspriiche das Ganze ausmachen (Marshall 1983b: 9).

Wenn nun Marshall die GroBmutter als eine Vorfahrenfigur einflihrt, die ihr Sein erst ermoglichte und die ihr Leben noch bestimmt, dann positioniert sie diese Figur als ein imaginiertes alteres Ich, da sie einerseits zurtickgreift auf die Vergangenheit, andererseits aber eine Zukunft projiziert. Marshall spricht davon, dass ihre GroBmutter beide Seiten der Gegensatze licht und dunkel, tot und lebendig verkorpert und somit die Binaritat verschmilzt: [...] sie war gefangen zwischen dem Sonnenlicht auf ihrer Seite des Gebaudes und der Dunkelheit drinnen - und fiir einen Moment erschien sie beides zu beinhalten: das Licht in dem langen, strengen, altmodischen, weiBen Kleid, das sie trug, und dem WeiB in ihren Augen, was ein Gefuhl einer Vergangenheit, die noch lebte, in unsere geschaftige Gegenwart iibermittelte; die Dunkelheit in ihren schwarzen, hohen Schuhen und ihrem Gesicht, das sichtbar wurde, als sie naherkam (Marshall 1983a: 96).

Ihre GroBmutter wird als jung und alt. Kind und Frau geschildert: Es war so nackt und ausgehohlt dieses Gesicht, wie eine Totenmaske [...] Aber ihre Augen waren lebendig, beangstigend fiir jemanden so alt, mit einem klaren Licht, das flackerte aus den dammrigen, bewolkten Tiefen wie die Zunge einer Echse, bereit, alles in Reichweite aufzuschnappen. Die Augen verrieten die Neugierde eines Kindes gegentiber der Welt und ich fragte mich kurz, als ich sie sah, ob sie nicht eine Art Kind und gleichzeitig eine Frau sei. Vielleicht war sie beides, Dunkelheit und Licht, Vergangenheit und Gegenwart, Leben und Tod - alle Gegensatze in ihr enthalten und vereint (Marshall 1983a: 96f).

Wahrend ihre Schwester auf die Familienahnlichkeit mit ihrem Vater angesprochen wird, wird ihr die Familienzugehorigkeit abgesprochen, indem die GroBmutter zu ihrer Mutter sagt, „Wo hast Du diese mit dem wilden Blick her?" In

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ihr erkennt jedoch die GroBmutter eine Seelenverwandte, indem sie sie mit den Worten „Komm mit, meine Seele" (1983a: 98) bei der Hand nimmt. Auf der Reise zum Haus der GroBmutter wechseln sich Enkelin und GroBmutter beim Fiihren und Gefahrtwerden ab. Wahrend ihres Aufenthalts auf Barbados nimmt die GroBmutter die Enkelin auf Spaziergange durch die Zuckerrohrfelder mit, wo sie Barbados und New York vergleichen. Durch diese Begegnungen lassen sie sich jeweils auf fremde und unbekannte Welten ein und offiien sich fur ein Verstandnis der Identitat der Anderen. Da sich die GroBmutter im Gegensatz zur EnkeUn der Ambivalenzen dieser Begegnungen bewusst ist, im Wissen, dass ein Anerkennen der Anderen das Selbst verandert, begegnet sie der EnkeHn als Teil ihrer eigenen Identitat, was durch die Bezeichnung der EnkeUn als ihre Seele deutlich wird. Wenn die GroBmutter die EnkeHn schHeBHch am Ende dieses Aufenthaltes zu einer hohen Palme fuhrt, die die GroBmutter reprasentiert, kommt es zu einer letzten Auseinandersetzung zwischen GroBmutter und Enkelin. In Anbetracht der hohen, majestatischen Palme verlangt die GroBmutter von ihrer Enkelin zu wissen, ob es irgendetwas in New York gabe, was so hoch sei. Das kleine Madchen, dass die Bedeutung ihrer Antwort ahnt, mochte geme vemeinen, aber zu diesem Zeitpunkt in ihrem Leben kann sie ihr Selbst nur dadurch definieren, indem sie sich abgrenzt und von Anderen unterscheidet. Sie antwortet ihrer GroBmutter daher stolz mit „Wir haben Gebaude in New York, die sind hundertmal groBer." Die GroBmutter versteht diese Antwort als eine Zuruckweisung und Ausloschung ihrer Identitat und reagiert mit Unglauben, Wut und schHeBHch Verzweiflung und Resignation: „das kleine, trotzige Licht in ihren Augen (Bernstein, wie die Flamme der Kerosinlampe, die sie in der Dammerung anztindetet) begann zu verloschen" (1983a: 103f). Nach diesem Gesprach versucht die GroBmutter nicht mehr die Gegensatze zwischen ihrer Welt und der der Enkelin zu iiberbriicken und erscheint der Enkelin „plotzHch als unbeschreibHch alt." Am Anfang ihres Besuchs zeigt die GroBmutter der Enkelin die Plantage mit Stolz und der Gewissheit, ihr etwas Wichtiges bieten zu konnen, und nahert sich der Welt der Enkelin mit Interesse und Neugierde. Sie lauscht ihrer Beschreibung von Schnee und der urbanen Landschaft von New York und schaut ihr beim Tanzen und Singen zu. Die Enkelin ahnt, dass ihrer Welt im Vergleich zu der ihrer GroBmutter etwas fehlt, und reagiert anfangs schamhaft und peinlich beruhrt: „Nein," sage ich mit gesenktem Kopf, „wir haben so etwas nicht in New York" (Marshall 1983a: 101). Aber sie fmdet bald zu ihrem stolzen Selbstvertrauen zuriick, der Eigenschaft, die ihre GroBmutter bei ihrer ersten Begegnung als eine Starke, die ihnen beiden gemeinsam ist, erkennt und als „Wildheit" bezeichnet hat, und wider-

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setzt sich, indem sie selbstbewusst die positiven Seiten ihrer Welt beschreibt. Ihren ersten, klaren Widerstand gegen ihre GroBmutter formuliert sie, als die GroBmutter versucht, die Interrelation ihrer beiden Welten herzustellen, indem sie ihr zeigt, wo der Zucker, den sie in New York isst, herkommt, und ihre Enkelin darauf antwortet, dass sie aufgrund von Karies kaum Zucker isst. Als die Enkelin das Empire State Gebaude als hoher als den hochsten Berg, den ihre GroBmutter kennt, beschreibt, zieht sich die GroBmutter zurlick und demonstriert nicht mehr den Stolz und das Vertrauen in ihre Lebensart. Sie erinnert jedoch, als eine letzte Geste der Versohnung, ihre Enkelin vor der RUckreise nach New York daran, ihr eine Postkarte des Empire State Gebaudes zu schicken. Obwohl die GroBmutter stirbt, bevor die Enkelin ihr diese Postkarte schicken kann, stellt der Text selbst die Beziehung zwischen den Generationen her. Das Leben der Enkelin wird endgultig mit dem der GroBmutter verbunden: „Sie starb und ich lebte, aber immer, sogar bis zu diesem Tag im Schatten ihres Todes" (Marshall 1983a: 106). Als die Enkelin fiir eine kurze Zeit alleine lebt, um die zwei Welten von Alt und Jung mit einander zu versohnen, indem sie in einem Studio iiber einer lauten Fabrik in New York Bilder der tropischen Landschaft von Barbados zeichnet, bezeichnet sie diese Phase ihres Lebens als „Abbitte leisten." Aber die zwei Welten werden nicht durch das Offensichtliche versohnt. Die endgiiltige Versohnung fmdet im Schreiben der Geschichte statt, im Aufzeichnen der Erinnerung, wo die Erwachsene als ein Verbindungsglied zwischen jungem Madchen und alter Frau die Bedeutung der Beziehung versteht. Rtickblickend auf die Begegnung mit ihrer GroBmutter, kann sie nun in ihren mittleren Jahren ihre Identitat in der Verbindung zwischen jungem, mittlerem und altem Selbst erkennen. Die Auseinandersetzung mit der GroBmutter ist nicht eine Auseinandersetzung mit der Anderen, sondem mit dem Selbst und erlaubt eine Akzeptanz der verschiedenen Lebensstadien des Ichs. Es gibt vielfaltige Beispiele fur solche Texte, wenn man sich einer konventionellen Leseart des Textes widersetzend dem Werk nahert. Somit gelangt man zu einer Neubestimmung zwischenmenschlicher Beziehungen, einer Forderung nach einer Lebensform, die das Zusammenleben von Menschen verschiedener Altersgruppen erlaubt, und Identitat nicht auf einen Zeitmoment der Jugend, sondem auf die gesamte Lebensspanne erweitert anerkennt. Die Verwirklichung dieser Aufgabe kann aber nur dann erfolgen, wenn die Kulturwissenschaflen ihre Verantwortung fur die Gestaltung unserer Zukunft bewusst wahmehmen und zur Geltung bringen. Der oft zitierte Akt der „revision", der Durchsicht alter Texte auf neue Sichtweisen und Verstehensmodelle hin, des Betretens eines Textes von einem neuen methodischen Ansatz aus, sollte zu einem erwei-

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terten Bewusstsein der eigenen Identitat und damit auch des Alterungsprozesses fiihren. Die Geisteswissenschaften, und insbesondere die Literatur- und Kulturwissenschaften, besitzen ein machtiges Potenzial: Sie konnen anhand von Entwtirfen und Modellen zeigen, dass die Welt gestaltbar und somit veranderbar ist. Dass sich uns die Welt nicht einfach naturgegeben prasentiert, zeigt sich gerade in unserem Umgang mit Alter und Altem. Ich mochte mit einem Zitat von Kathleen Woodward schlieBen, das eine Briicke zwischen den Generationen und den Geschlechtem baut und so eine positive Perspektive eines anokritischen, also eines altersbewussten kulturwissenschaftlichen Ansatzes erlaubt: „Der Altersunterschied ist der einzige Unterschied, den wir alle gemeinsam haben, wenn wir lang genug leben. Das Thema Altem ist eines, das uns alien gehort" (Woodward 1991: 23).

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Zur Symbolik des korporalen Kapitals in der „altersloseii Altersgesellschaft" Klaus R. Schroeter Institutfur Sozialwissenschaften, Universitdt Kiel

1. Einleitung Alte Menschen wurden und werden mitunter auch heute noch geme als Vereinsamte und Zuruckgelassene dargestellt. Dieses bereits in der Historic verfalschte Bild diffUndierte nahezu ungebrochen in die Modeme, sodass sich die modeme Soziale Gerontologie dazu berufen sah, mit ihren Leitbildem des „aktiven", „erfolgeichen" und „produktiven Altems" ein konzeptionelles Gegengewicht zu den defizitaren Vorstellungen von Alter und Altsein vorzulegen. In diesem Zusammenhang fallt auch dem Korper cine wachsende Aufmcrksamkeit zu. Mit der Erkenntnis, dass Altcrungsprozesse immer auch korperhch erfahren werden und das Alter(n) stets auch iiber den Korper (re-)prasentiert wird, ist heute niemand mehr zu tiberraschen, denn: „Wo auch immer ein Individuum sich befmdet und wohin auch immer es geht, es muB seinen Korper dabeihaben" (Goffinan 2001: 152). Uberraschender hingegen ist, dass cine Wissenschaft, wie die Soziale Gerontologie, dem Korperthema bislang nur wenig Aufinerksamkeit geschenkt hat. Zu erklaren ist diese Korperscheu vielleicht aus der Sorge heraus, dass eine Thematisierung des altemden und an Kraften nachlassenden Korpers die alten defizitaren Vorstellungen von Alter und Altsein neu beleben konnte, die man eigentlich uberwunden zu haben glaubt(e). In der Altemswissenschaft wird zumeist zwischen der physischen, psychischen und sozialen Dimension des Altems unterschieden, wobei die Thematisierung und Behandlung der physischen Dimension i.d.R. der Geriatric und die der psychischen resp. psychologischen und sozialen Dimension der Sozialen Gerontologie zugesprochen wird. Letztere wurde lange Zeit im Gefolge der strukturfunktionalen Theoriebildung von dem Gedanken des sozialen Riickzugs und des gesellschaftlichen Funktionsverlustes alter Menschen getragen. Die darin eingelagerte Annahme des Rollenverlustes im Alter lieB den alten Menschen als zurtickgezogen und passiv erscheinen. Der alte Korper stand dabei keineswegs im Zentrum der Betrachtung und wurde (sofem iiberhaupt) nur unter dem Aspekt seiner schwindenden Kraft und Funktion thematisiert. Der tiefere Sinngehalt, die Symbolhaftigkeit und soziale Konstruktion des Korpers wird in der Sozialen Gerontologie jedoch bis heute weitgehend ignoriert.

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Mit den folgenden LFberlegungen wird diese Liicke nicht zu schlieBen sein, doch mit der visuellen Empirie des „doing age" und der damit verwobenen Korporalitdt soUen zwei Fassetten der Verwirklichung des Alterns (Schroeter 2007c) angesprochen und in den Kontext des Alterns in der Konsumgesellschaft gestellt werden. Dazu wird zunachst im Ruckgriff auf die Soziologie Bourdieus die heuristische Figur des korporalen Kapitals eingefuhrt. Sodann werden im Bezug zum dramatologischen Ansatz von Goffinan und in Analogic zur konstruktivistischen Genderforschung die korporalen Performanzen im Alter unter dem Aspekt des „doiiig age" vorgestellt. Im Anschluss daran wird das Verschwinden des Alters in der den gesellschaftlichen Imperativen von Fitness und Wellness gehorchenden Konsumgesellschaft thematisiert. AbschlieBend wird in Ktirze angedeutet, wie der modeme Mensch als Entrepeneur seines eigenen Lebens Korper und Gesundheit auch im Alter in eigener Verantwortung zu „managen" hat.

2. Korporales Kapital Wurde der Korper in der Soziologie lange Zeit nur am Rande thematisiert,^ so nimmt die Korpersoziologie mittlerweile an Fahrt auf. Nachdem zunachst im anglo-amerikanischen Bereich - insbesondere durch die Arbeiten von Bryan Turner (1984) angestoBen - vor allem im Ruckgriff auf die theoretischen Vorlagen von Bourdieu, Elias, Goffinan und Foucault neue Theorieofferten vorgelegt wurden, gewinnt die Korpersoziologie nun auch hier zu Lande zunehmend an Kontur (vgl. u.a. Gugutzer 2004; Schroer 2005). Dabei kreist der Korperdiskurs im Wesentlichen um die drei Konzepte der naturahstischen, sozialkonstruktivistischen und phanomenologischen Auffassungen vom Korper. In der orthodox naturalistischen Sicht erscheint der Korper als eine universelle „natiirliche" biologische Entitat. Die sozialkonstruktivistischen Ansdtze gehen davon aus, dass die Korper immer auch sozialen und gesellschaftlichen Interventionen ausgesetzt sind, sodass deren Formationen als im historischen und sozialen Kontext kontingent erscheinen. Und der phdnomenologische Ansatz rtickt vor allem die leiblich-affektive Dimension der Korpererfahrung in den Vordergrund der Betrachtung (vgl. Shilling 1997). In den Anfangen der Soziologie wurde der Korper zumeist als ein auCergesellschaftliches und zur „Natur" gehorendes Phanomen angesehen, dessen Bearbeitung und Thematisierung in den Zustandigkeitsbereich der Naturwissenschaften gehorte. Doch implizit fmdet der Korper bereits bei den Klassikem des Faches - insbesondere bei Spencer, Marx, Simmel, Weber, Durkheim, spater dann auch bei Mead, Parsons und Elias - seine Beachtung. Vgl. dazu vor allem Turner (1984) und Shilling (1997).

Zur Symbolik des korporalen Kapitals in der „alterslosen Altersgesellschaft"

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Die Erkenntnis, dass der Korper gleichermaBen als Medium/Instrument, als Produkt und als Produzent von Wirklichkeit (Klein 2005) ftingiert, ist nicht zuletzt der Boudieu'schen Soziologie geschuldet, in dessen Habitus-Theorie soziale, psychische und korporale Strukturen in ein komplementares Verhaltnis zueinander gesetzt werden. Bourdieu (1979: 199) sieht den Korper voUer „verborgener Imperative" und begreift die Hexis^ - als unbewusste Einverleibung der Praxisstrukturen - als ein funktionales und strategisches Mittel im distinktiven Kampf um die sozialen Positionierungen in den sozialen Feldem. Der Korper erweist sich somit gleichsam als eine BezugsgroBe ftir den Identitatsprozess wie auch als Distinktionsmedium zur sozialen Positionierung. Das legt den Gedanken nahe, den Korper als eine individuell und kollektiv zu „bearbeitende" Ressource und als eine spezifische Form von Kapital - als korporales Kapital - zu betrachten. Bourdieu (1987) spricht zwar gelegentlich vom korperlichen Kapital Oder vom Korper-Kapital, er behandelt den Korper aber nicht als eine eigenstandige Kapitalart, sondem lediglich als eine Subform des kulturellen Kapitals, als inkorporiertes kulturelles Kapital, das den objektivierten Klassengeschmack „verkorpert". Das korporale Kapital ist in alien Phasen des Lebens eine individuell und kulturell zu erfahrende und zu bearbeitende GroBe. Korper wachsen und reifen, bauen und sterben schlieBlich ab. Korper werden trainiert und therapiert, rehabilitiert und repariert, sozial diszipliniert und asthetisch modelliert. Sie werden gespiirt, erfahren und erlebt und bereiten sowohl Lust und Vergniigen als auch Schmerzen und Leid. Den Korper als physisches (Bourdieu 1987; Shilling 1997) oder korporales Kapital zu betrachten, heiBt ihn als „Korperding" und als objektivierbares MaB zu sehen. Auch das korporale Kapital lasst sich in andere (okonomische, soziale, kulturelle symbolische) Kapitalien konvertieren. Zum einen lassen sich Korper oder Telle davon unmittelbar „verauBem". Dabei ist keineswegs nur (aber eben auch) an das „Ersatzteillager Korper" gedacht, wenn Blut, Haare oder Organe gespendet, verkauft oder geraubt werden, sondem auch an all die Falle, in denen der Korper als Arbeitskraft, Anschauungs- oder Dienstobjekt gegen Entgelt oder Sowohl der griechische Begriff der „Hexis" als auch der lateinische Ausdruck des „Habitus" bezeichnen zunachst einmal eine Haltung bzw. ein Gehabe. Bourdieu verwendet die beiden Begriffe jedoch in einem unterschiedlichen Kontext. Der Habitus steht dabei fur die (nicht zwangslaufig bewusst) verinnerlichten Wahmehmungs- und Deutungsschemata, wahrend die Hexis die „eingefleischten" (inkorporierten) Gesten und Posituren, ein „Haltungsschema" (scheme postural) darstellt, z.B. „ein bestimmtes Gehen, eine spezifische Kopfhaltung, ein Verziehen des Gesichtes" oder „die jeweiligen Arten, sich zu setzen, mit Instrumenten umzugehen" (Bourdieu 1979: 190).

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Zuwendung zur Verfiigung gestellt und der Wert des Korpers dabei auf dem „freien Markt" ausgehandelt wird. Wenn soziales Kapital die Verfugbarkeit sozialer Beziehungen bzw. den Zugang oder die Zugehorigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen bestimmt, ist leicht vorstellbar, wie sich aufgrund vorhandener oder schwindender korporaler Kapitalien (z.B. Kraft, Starke, Fitness, Attraktivitat, Behinderung, Gebrechlichkeit) soziale Partizipationen, Inklusionen und Exklusionen erschlieBen lassen. Zum anderen lassen sich kulturelle Kapitalien inkorporieren, sodass sie zur habituellen Disposition einer Person werden, die dann z.B. als Kompetenz im kognitiven oder als Geschmack im asthetischen Sinne ftingieren. Das inkorporierte kulturelle Kapital wird damit zum festen Bestandteil des Habitus, der als Wahmehmungs- und Deutungssystem die ideagene Basis sozialen Handelns stellt und seinen korperlichen Ausdruck in der leiblichen Hexis erfahrt. Als korporale Bindung des Habitus wird die leibliche Hexis zur eingeschriebenen „Gedachtnissttitze" (Bourdieu 2001: 181). Sie reprasentiert als sensitive und motorische Eigenheit des Haltungs- und Fassungsgefliges nicht nur die nach auBen sichtbaren und in die Korper eingeschriebenen Zeichen (u.a. Korperhaltungen, Gebarden- und Mienenspiel), sondem auch die /^/Ahaftigen Ersptimisse und Empfmdungen. Insofem wird dem kognitiven Habituskonzept ein sowohl leiblicher als auch korperlicher Unterbau zugewiesen: Dem Habitus wird Spiirsinn und leibliches Wissen eingehaucht, der Leib wird zum ontologischen Sockel der Reflexion (Gugutzer 2002). Weder Habitus und Hexis noch Korper und Leib sind empirisch, sondem nur analytisch voneinander zu trennen. Sie sind stets aufeinander bezogen und ineinander verschrankt. Kapitaltheoretisch gewendet, heiBt das also, dass Korper und Leib Ressourcen und Kapitalien darstellen, die in Form von Materie oder in verinnerlichter bzw. inkorporierter Form „bearbeitet" werden. Kapital „ist akkumulierte Arbeit, entweder in Form von Materie oder in verinnerlichter, inkorporierter Form" (Bourdieu 1983: 183). Auch in den Korper wird Arbeit investiert, z.B. durch Training, Emahrung, Kosmetik, Pflege usw., sodass die iiber Korper-Arbeit erzielten Erscheinungsformen des korporalen Kapitals durch ihre symbolisch wahrgenommene Gestalt (z.B. als schone, kraftige, makellose, gepflegte, gesunde, ftinktionstiichtige oder vice versa als unansehnliche, schwache, kranke, behinderte oder gebrechliche Korper) sozial bewertet werden. Und da verwundert es nicht, wenn - (iber Gesundheits-, Fitness-, Wellness- und Schonheitsprogramme gesteuert - kraftig in den Korper investiert wird, um Fitnessfantasien, Schlankheitsidealen und Gesundheitsvorstellungen gerecht zu werden und um

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auch im Alter das eigene Attraktivitats- und „BQ2Lchtungskapital" (Koppetsch 2000) zu erhalten oder gar zu steigem. Anders als noch in der Industriegesellschaft, als der menschliche Korper in den normalen Arbeitsprozessen standig bewegt, trainiert, gestarkt und letztlich auch ausgezehrt wurde, muss der Korper in der modemen Kommunikationsgesellschaft eher den Mangel an Bewegung aushalten. Die alltagliche Korperarbeit geschieht nicht mehr primar am Arbeitsplatz, sie ist in die Fitnesscenter ausgelagert worden, in denen an modemen Korpermaschinen (Ergometer, Body Transformer, Crosstrainer, X-Vibe usw.) Bindegewebe gefestigt, Muskeln aufund Fettpolster abgebaut, Ausdauer trainiert und Korper in Form gebracht werden. Hier wird im Schulterschluss von Medizin und Sport harte Korperarbeit geleistet, um ein korporales Kapital aufzubauen bzw. zu erhalten, mit dem sich auch auBerhalb der Sportstudios soziale Gewinne erzielen lassen. In der modemen Gesellschaft ist der Korper zu einer Fiktion der Chancen und Optionen und zu einer Frage der Wahl und Entscheidung geworden. Doch mit der Wahlmoglichkeit ist zugleich auch eine Pflicht verbunden, den Korper nach den gesellschaftlich praferierten Normvorstellungen zu modellieren, was eine massenhafte Standardisiemng und Uniformiemng der Korper zur Folge hat. Korperarbeit und KorperstyUng sind keine Erfmdungen der Modeme. Bereits Kracauer hatte in seiner Studie (iber „Die Angestellten" einen „Andrang zu den vielen Schonheitssalons" und den „Gebrauch kosmetischer Erzeugnisse" beobachtet. „Aus Angst, als Altware aus dem Gebrauch zurtickgezogen zu werden, farben sich Damen und Herren die Haare, und Vierziger treiben Sport, um sich schlank zu halten" (Kracauer 1971: 25). Doch in einer Gesellschaft, in der die spezifische Denkweise der Okonomie zunehmend Einzug in die alltagliche und private Lebensfiihmng erhalt und in der der Einzelne immer mehr zum Gestalter seines eigenen Korper und Lebens wird, haben Korper und Gesundheit unter dem „neoliberalen Diktat" eine sichtbare Aufwertung erfahren. Und dabei ist keineswegs nur an die Sport- und Modewelt zu denken. Auch wenn Schlankheit und Fitness die gesellschaftlich praferierten Ausdmcksformen des korporalen Kapitals sind und sich korperliche Attraktivitat auf dem Gesellschaftsmarkt leichter verkaufen lassen, so haben auch die abnehmenden Korperkapitalien ihren Marktwert. Der gesamte Pflege- und Betreuungssektor lebt vom Kapital der korporalen Vulnerabilitat (Schroeter 2004a, 2006).

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3. Korporale Performanz: „Doing age" Das Alter ist mehr als eine soziale Rolle, mehr als eine individuelle Eigenschaft und auch mehr als ein bio-physisches Kontinuum. Altem ist soziale Praxis und als solche auch ein Mechanismus, durch den situative Handlungen zur Reproduktion sozialer Strukturen beitragen. Aus einer sozialkonstruktivistischen Perspektive betrachtet, zeigen wir uns gegenseitig durch signifikante Symbole unser „wahres" oder „vermeintliches" Alter an. Wir geben uns durch altemstypisch codiertes Aussehen, durch Kleidung, Tatigkeiten, Korperhaltungen oder Gesichtsztige als Alte, Junge, als jung Gebliebene oder alt Gewordene, als irgendwo zwischen Jung und Alt Anzusiedelnde zu erkennen. Das Altem atmet aus der sozialen Vermittlung und ist das Ergebnis sozialer Praxis. Altem ist ein fortlaufender Prozess interaktiver Prasentationen. Insofem ist „doing age" (Schroeter 2007a-c,) eine soziale Konstruktion von Altemsdifferenz. Die Akteure zeigen sich durch symbolische Zuschreibungen gegenseitig ihre Altersgmppenzugehorigkeit an. Sie visualisieren und performieren ihr Alter. Und so lasst sich in Abandemng einer popularen Alltagserkenntnis auch sagen: Man ist nicht nur so alt, wie man sichfuhlt, sondern so alt, wie man sich darstellt und wie man handelt. Diese Uberlegung speist sich zum einen aus der der philosophischen Anthropologic Plessners entlehnten Annahme einer jegHchen menschlichen „Ausdmcksweisen vorgelagerte(n) Notwendigkeit des Ausdriickens iiberhaupt" (Plessner 1975: 323). Zum anderen geht sie aus dem dramatologischen Ansatz Erving Goffinans hervor, nach dem die Menschen ihr Handeln wechselseitig darstellen und mit entsprechenden Deutungsanweisungen versehen. Das eigene Alterwerden wird im Wechselspiel und im Vergleich mit anderen erfahren, mit anderen Personen gleichen und auch unterschiedlichen Alters. Aber es ist nicht nur der „konkrete andere" in der unmittelbaren Face-to-Face-Interaktion, der hier Zeichen setzt, auch der „verallgemeinerte andere" stellt Anspruche und weckt Erwartungen, was zuweilen Irritationen hervormft: Die sozialen und gesellschaftlichen Erwartungshaltungen wirken ebenfalls wie ein Spiegel. Die Handlungen und Kommentare der Mitmenschen reflektieren die eigene Wirkung auf andere, sie stellen aber auch Anfordemngen und Herausfordemngen an eigene Handlungsmuster. „Doing age" steht fur die Darstellung (Performanz) und Inszeniemng des Altems. Performanz und Inszeniemng sind nicht identisch. Beide gehoren zum Phanomen der Theatralitat, wobei Performanz den vor korperlich anwesenden Zuschauem bewusst oder unbewusst vollzogenen Darstellungsakt „durch Korper und Stimme" und Inszeniemng den spezifischen Modus der Zeichenverwendung (also: aktuelles Design, Mode, Kosmetik usw.) und damit jene „Kul-

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turtechniken und Praktiken" meint, „mit denen etwas zur Erscheinung gebracht wird" (Fischer-Lichte 2000: 20). Beide Aspekte stehen fur (re)prasentative Interaktion und setzen Korporalitat voraus. „Doing age" steht in struktureller Homologie zum „doing gender" (West/ Zimmerman 1991). Insofem kann die Altemsforschung von der sozialkonstruktivistischen Genderforschung lemen. Wenn man Hirschauers (1994) Ansatz der „situativen Geschlechtskonstruktion" auf das Alter libertragt, hieBe das, dass auch die soziale Konstruktion des Altems ereignishaft geschieht. Die Altersdifferenzierung kann dann in signifikanten sozialen Interaktionen aktualisiert, fortgesetzt oder aufrechterhalten, oder aber auch in den Hintergrund treten. Hirschauer geht davon aus, dass Geschlecht durch eine institutionelle Infrastruktur katalysiert wird, die sich auf verschiedene grundlegende Stabilitaten sttitzt (Hirschauer 1994: 680ff.). Die lassen sich zwar nur zum Teil auf das Alter projizieren, well das Alter im Unterschied zum Geschlecht keine statische, sondem eine sich im Laufe des Lebens verandemde GroBe ist. Dennoch lassen sich einige dieser Stabilitaten auch auf das Alter ubertragen: Durch die kognitive Stabilitdt des Wissenssystems wird das Alter gewissermafien naturalisiert und universalisiert, insofem das alltagliche Altersverstandnis durch (natur)wissenschaftliche Konstruktionen^ abgesichert und durch (sozial)wissenschaftliche Erhebungen (z.B. durch die geradezu routinemaBig als unabhangige Variable mitgefuhrte Kategorie „Alter" bei verschiedenen Fragestellungen) stabilisiert wird. Die Alterszugehorigkeit wird individualgeschichtlich durch verschiedene Geddchtnisformen verankert. Das biografische Geddchtnis fungiert als eine Art Altemshabitus, der die im Sozialisationsprozess an das Alter gekniipften Erwartungen, Neigungen, Erlebnisse und Erfahrungen als Wahmehmungs- und Bewertungsmatrix abspeichert. Das korporale Geddchtnis verkorpert die in der Hexis eingeschriebenen Sozialisationserfahrungen von der ersten korperlichen Zuwendung durch die Eltem uber die Geschlechtsreife bis hin zur korperlichen Vuhierabilitat im Alter. Das Geddchtnis der Mitwisser (Angehorige, Freunde, Bekannte) stellt die sich verandemde Altemsprasentation zum Beispiel durch Umgangsformen und Erwartungshaltungen gewissermaBen auf Dauer. Durch das Geddchtnis derAkten wird die

Die Humanbiologie definiert das Alter als „eine bei alien Menschen mit zunehmendem Lebensalter (...) sich schleichend entwickelnde, progressiv verlaufende und nicht umkehrbare (irreversible) Verminderung der Leistungsfahigkeit von Geweben und Organen des Organismus (korperliche und geistige Einschrankungen)" (Schachtschabel 2005: 53f.).

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Alterszugehorigkeit u.a. in Geburtsurkunde, Familienbuch, Personalausweis, Patientenbriefen, Sterbeurkunden usw. dokumentiert. Die semiotische Stabilitdt verweist auf einen Zusammenhang verschiedener Zeichen. Dazu gehoren sowohl die sprachlichen Zeichen (etwa Vomamen, Formen der Anrede), stereotype Verhaltens- und Darstellungscodes (etwa Haltimgen, Gesten, Sprechweisen) als auch materielle Artefakte (etwa altemstypisch codierte Kleidungsstucke, Kosmetika, Statussymbole usw.) und korporale Indizien wie Korperstatur, Korperhaltung, Gesichtsztige, Haare, Haut usw. Allerdings bedarf es zur Verstetigung von Altersdifferenzen auch einer das Alter strukturell reproduzierenden Sozial- und Gesellschaftsordnung. Auch wenn in der postmodemen Gesellschaft die ehemals klar markierten Altersstufen und die damit verbundenen Erwartungshaltungen zunehmend verwischen, so existiert doch in Analogic zu den von Hirschauer (1994: 686) genannten „geschlechtskatalysierenden Sozialarrangements" cine ganze Reihe von mehr oder weniger institutionalisierten Ordnungsmustem, die altersdifferenzierte Interaktionen generieren: vom altersdifferenzierten Bildungssystem bis hin zu altersgruppenspezifischen Partizipationsstrukturen in Sport, Kultur und Freizeit. Nun ist die Wahmehmung des eigenen Alters zu einem GroBteil auch korper- und leibgebunden. Korper und Leib offiien gewissermaBen die Ttir zur sozialen Welt. Der Leib vermittelt dem eigenen Ich die sinnliche Wahmehmung der Welt. Der „Leib ist sozusagen der Nullpunkt des Koordinatensystems" (Schiitz 1982: 215), mit dessen Hilfe sich der Mensch die Welt erschlieBt. Leib und menschliche Existenz sind nicht voneinander zu trennen. Der Leib erscheint als „ein besonders geeignetes Vermittlungsglied zwischen der Welt des AuBen und des Innem" (Schutz 1981: 92), das ein dem Erkennen vorausgehendes „somatisches Lebensgefuhl" (ebd.: 157) vermittelt."^ So wie die korporalen Kompetenzen in Kindheit und Jugend auf das „noch nicht" verwiesen, auf das „noch-nicht-Konnen" das „noch-nicht-Dazugehoren" In den spateren Schriften von Schutz bleibt der Leib zwar eine grundlegende GroBe fiir das Handeln und die Sinnkonstruktion, doch der entscheidende Schlussel zum Zugang zur Lebenswelt ist das Bewusstsein, wobei sich Ego und Alter als geschlossene Einheiten gegeniiberstehen. Hier ist Merleau-Ponty (1966) viel radikaler, bei ihm wird die intersubjektive Kommunikation zur „Zwischenleiblichkeit" (intercorporeite). Die Wahmehmung des anderen wird nicht wie bei Schutz auf einen kognitiven Vorgang reduziert, sie ist ein leiblicher Akt, in dem kognitives Erkennen und leibliches Empfinden zusammentreffen. In einem ahnlichen Zusammenhang spricht Schmitz (1985: 84ff.) von Einleibung, und meint damit zunachst einmal den durch die Anwesenheit eines anderen Menschen, Gegenstandes, Bildes, Gerausches usw. hervorgerufenen Effekt auf das eigene leibliche Empfinden.

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usw.), SO mahnen die korporalen Kompetenzen im Alter den verbliebenen Abstand zur ideell gesetzten Grenze des „nicht mehr" (Konnens, Dazugehorens usw.) an. Der Korper bringt einem im Alter die Grenzen immer naher. Die Grenzen des korperlich Moglichen zeigen sich in den alltaglichen Handlungsmustem, wenn es einem schwerer fallt, die Kellertreppe hinauf- und hinabzusteigen, wenn man sich zum Zubinden der Schnursenkel hinsetzen muss oder wenn die Beweglichkeit insgesamt eingeschrankt ist. Dabei ist das Altersempfmden nicht unfrei von Stimmungen, wenn mitunter der Eindruck liberwiegt, noch ganz passabel fur das Alter auszusehen oder wenn es Situationen gibt, in denen man merkt, dass die friihere Ausdauer und Energie fehlen, dass jetzt alles etwas langsamer geht, dass man an Gewicht zugenommen hat, Falten und schrumpelige Hande an sich entdeckt und einem das Gesicht im Spiegel fremd und alter erscheint. Es sind mitunter Situationen, die im Alltag gar nicht reflexiv erfasst werden, sondem sich einfach habituell einlagem. Der Alltag birgt eine Ftille von korperlich-physischen Belastungen, und die alltagliche Lebenswelt liefert immer auch korporale Dispositionsspielrdume, innerhalb derer der korperlichen Konstitution entsprechend alltagliche Aufgaben und Herausforderungen zu bewaltigen sind. Dabei werden die gesptirten korperlichen Veranderungen jedoch keineswegs nur mit einem Misston des Bedauems zur Kenntnis genommen. Sie werden als „normale", mitunter auch als storende, Begleiterscheinungen des Alterwerdens wahrgenommen. Aber im Allgemeinen wird der Korper mitsamt seinen Veranderungen akzeptiert. Und es ist auch keineswegs so, dass die korperliche Gewinn-Verlust-Bilanzierung immer negativ ausfallt oder mit Wehmut verbunden ist. Die Akzeptanz des alter werdenden Korpers wachst mit der Zeit. Die korperlichen Veranderungen treten in der Regel nicht abrupt auf, sie schleichen sich mit der Zeit heran. Und die Zeit gewahrt die Chance zur Reflexion und zur Bewusstmachung der korperlichen Neuordnung. Die korperlichen Begleiterscheinungen des Alterwerdens bleiben nicht im Verborgenen. Sie werden durch auBerlich sichtbare Zeichen auch in den alltaglichen Interaktionen nach auBen getragen - z.B. durch dunne, graue oder ausfallende Haare, durch Alterspigmente, trockene oder faltige Haut, zittrige Hande, verlangsamte Handlungsablaufe usw.). Diese Zeichen wirken dann als alterssignifikante Symbole, als Bedeutungstrager, die iiber eine konkrete Situation hinausweisen und nicht isoliert, sondem innerhalb von Symbolsystemen (Geertz 1983) funktionieren, in denen sie soziale Deutungen, Wahmehmungsmuster und Ordnungsschemata reprasentieren.

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Nun werden auch im Alter soziale und korporale Strategien eingesetzt, um ein bestimmtes Gesicht zu wahren oder einen bestimmten Eindruck zu vermitteln. Darstellung und Fassade (Goffinan 1996) sind Telle des „doing age". Dazu zahlen zum einen das Btihnenbild (z.B. die eingerichtete Wohnung, der gepflegte Garten, das Auto) und die Requisiten (z.B. Sport- und Freizeitausrustung, Hometrainer, Gesundheitskost, kosmetische Utensilien) als die szenische Gestaltung des Handlungsortes. Zum anderen gehoren dazu aber auch die personliche Fassade (z.B. Geschlecht, auBere Erscheinung, Korperstatur, Korperhaltung, Haare, Sprechweise, Gesichtsausdruck, Gestik sowie altemstypisch codierte Statussymbole, Konsumguter, Kleidung) und die soziale Fassade, d.h. die mit einer bestimmten sozialen Rolle verbundenen sozialen Erwartungshaltungen (etwa: wie „man" sich als alterer Mensch zu verhalten und zu kleiden hat). Die dramatische Gestaltung des Altems mag man sowohl in den habituell gesteuerten als auch in den z.T. biihnenwirksam inszenierten Hinweisen auf die Bedeutung und Besonderheit der eigenen Tatigkeit erkennen. So z.B., wenn durch die pointierte Hervorhebung des eigenen Erfahrungswissens oder durch den Hinweis auf friiher Erlebtes oder Erhttenes gleichsam eine soziale Distanz zu anderen Altersgruppen erzeugt wird. Gleiches gilt wohl auch flir die Darstellungstechnik der Idealisierung als dramatische Steigerung der hinter dem eigenen Verhalten und den Erwartungen der Zuschauer stehenden Werte (z.B. durch anspruchsvolle Lekttire, bewusste Emahrung, autonome Zeitgestaltung, demonstrative Kontemplation). Zum „doing age" als Teilbestand des dramaturgischen Alltagshandelns gehoren aber auch die unwahren Darstellungen und Tduschungen. Dazu zahlen nicht nur bewusste Liigen und die Verbreitung falscher Tatsachen, sondem auch Uberund Untertreibungen sowie die Bekanntgabe ,4ialber Wahrheiten". So bewegen sich die individuellen Einschatzungen, Wahmehmungen und AuBerungen zum eigenen (kalendarischen) Alter und zum subjektiven Wohlbefmden und Gesundheitszustand mitunter irgendwo in der breiten Grauzone zwischen Wahrheit und Luge, wenn nach dem Motto verfahren wird, dass zwar nichts gesagt werden darf, was nicht wahr ist, aber auch nicht alles gesagt und gezeigt werden muss, was relevant und wahr ist. Und so wird das wahre Alter manchmal verschwiegen, und die Falten des altemden Korpers werden durch Kosmetik und Kleidung kaschiert. Aber ebenso gilt auch die Umkehrung, dass man sich im Alter ganz anders flihlen kann als man aussieht, geradeso als triige man eine Maske, durch welche die sich dahinter versteckende wahre Identitat verhlillt wird. Das individuelle Selbst wird quasi zum Gefangenen des altemden Korpers, der die wahre Identitat nicht langer physisch zum Ausdruck bringen kann.

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Die Mask-of-Ageing-Hypothese (Featherstone/Hepworth 1991) geht davon aus, dass mit zunehmendem Alter eine Diskrepanz zwischen dem inneren Selbst und der auBeren korperlichen Erscheinung entsteht. Diese Vorstellung korrespondiert mit der in der Tradition der Kontinuitatstheorie stehenden Ageless-SelfHypothese (Kaufinan 1986), nach der es in den aufeinander folgenden Altersgruppen eine Diskrepanz zwischen subjektiven Alterserfahrungen und dem chronologischen Alter gibt. Die Kontinuitatstheorie geht mit ihrer Unterscheidung zwischen einer „inneren" und „au6eren Kontinuitat"^ davon aus, dass Menschen im mittleren und hoheren Lebensalter versuchen, bestehende innere und auBere Strukturen zu bewahren. In diesem Sinne kampfen altere Menschen darum, sich kontinuierlich wie sich selbst zu fiihlen (vgl. Erikson et al. 1986: 131), sobald sie nicht langer ihr lebenslanges Erscheinungsbild und ihre Aktivitaten aufrecht erhalten konnen, aus denen sie ihren Selbstsinn („sense of themselves") hergeleitet haben. Die Spannung zwischen dem inneren subjektiven Erleben und dem auBeren Erscheinungsbild spiegelt sich in der Altersmaske. Diese erscheint als „pathologisch" und „abweichend", wahrend das innere, wesentliche Selbst als „normar' gilt. Die Altersmaske verweist auf die Diskrepanz zwischen dem auBeren Korper und dem inneren Wohlbefmden. Die sichtbare korperliche Hiille erscheint als nichts anderes als eine Maske, die das wirkliche Selbst nur verdeckt, so ist der auBere Korper nichts anderes als eine Uberlagerung des immer noch jugendlichen inneren Selbst. Sowohl die Mask-of-Ageing- als auch die Ageless-Self-Hypothese beruhen auf der dualistischen Trennung von Korper und Geist. Die Vorstellung des alterslosen Selbst ftiBt auf der mentalitatsgestiitzten Selbsteinschatzung, in der der Korper untergeordnet und unsichtbar bleibt. Dadurch wird es moglich, ein „erfolgreiches Altem" zu prasentieren, das den sozialen Kontext weitgehend auBer Acht lasst. Das Mask-of-Ageing-Modell lasst sich hingegen als korperbezogene Selbsteinschatzung lesen, die jedoch immer dann prekar erscheint, wenn korperDie innere Kontinuitdt („intemal continuity") bezeichnet das Fortbestehen psychologischer Muster unterschiedlicher Art (u.a. Temperament, Gefiihle, Praferenzen, Fahig- und Fertigkeiten, Dispositionen, Einstellungen, Wertvorstellungen, Uberzeugungen, Weltanschauung). Sie lasst Handlungen vorhersagbar und kalkulierbar erscheinen und fiihrt insofem zu einem Anwachsen des individuellen Sicherheitsempfmdens. Ohne eine innere Kontinuitat waren die Menschen hoffnungslos verwirrt. Die externe Kontinuitat („external continuity") bezeichnet die erinnerte Struktur physischer und sozialer Umwelten, sozialer Beziehungen und Handlungen. Die Wahrnehmung extemer Kontinuitat leitet sich aus dem Erleben der gewohnten Umwelt, dem Verfolgen bekannter Interessen, dem Nachgehen vertrauter Fahig- und Fertigkeiten sowie aus den Interaktionen mit wohlbekannten Menschen her. Externe Kontinuitat ist insofem das Fortbestehen sozialer Beziehungen und offenkundigen sozialen Verhaltens (vgl. Atchley 1993: 12f.).

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liche Abbauprozesse einsetzen und die korporale Vulnerabilitat gesellschaftlich gespiegelt wird (vgl. Oberg 1996).^

4. Altern in der Konsumgesellschaft Die mit wachsendem Alter entdeckte Diskontinuitat von innerem Selbst und auBerer Erscheinung bzw. chronologischem Alter ist dabei jedoch von der strategischen Praxis zu unterscheiden, den Altenmgsprozess durch kosmetische oder modische Lancierungen zu verschleiem. In diesem Fall haben wir es mit einer sozialen Fassade im Sinne einer Maskerade (Woodward 1988, 1991) zu tun, mit der die sozialen und physischen Alterszeichen bewusst verborgen werden. Sie ist Ausdruck der Ablehnung des Alters und ein Versuch, das Alter gewissermaBen wegzuwischen oder auszuloschen. Mit Blick auf die bunten Bilder der Werbe- und Modewelt mag leicht der Eindruck entstehen, als sei die Maskerade zumindest ein gangiges Handlungsmuster fiir die Menschen im Dritten Lebensalter. Denn in der modemen Erlebnis- und Inszenierungsgesellschaft gewinnt der Korper auch im Alter eine stets wachsende Bedeutung. Die modeme Gesellschaft ist auf Konkurrenz und Austauschbarkeit ausgerichtet. Da gehort das Distinktionsbestreben zum integralen Muster der individuellen Lebensfiihrung. Dabei gewinnen Korperarbeit und Bodystyling zunehmend an Bedeutung. Die modeme Medien- und Bildergesellschaft verlangt nach Korpem, die zur Inszenierung taugen. Und so rtickt der Korper als konsumierende GroBe ins Blickfeld der somatischen Gesellschaft (Baudrillard 1981; Falk 1994). Als „unverfalschbares Anzeigeinstrument" (Goffinan 1981: 110), das den Stellenwert des Einzelnen in der Gesellschaft zu bestimmen hilft, wird der Korper nach den dominierenden Vorstellungen der Konsumgesellschaft model-

Diese Lesart ist geradewegs eine Umkehrung des Etikettierungsansatzes (vgl. Hohmeier 1978). Wendet man diesen auf das Alter an, so waren altere Menschen aufgrund einer primaren Abweichung von der jugendzentrierten Gesellschaft - z.B. durch altemde Korper, Verlangsamung des Bewegungsapparates, Nachlassen der Krafte usw. - mit symbolhaften Etikettierungen versehen (z.B. graue Haare, faltige und alterspigmentierte Haut, Gehstock usw.), die sie als alt ausweisen. Diese korperlich bedingten Etikettierungen wirken nicht nur wie ein auBerliches Stigma, sie verlangen auch eine Neuinterpretation der gesellschaftlichen Altersrolle. Der altere Mensch spiirt nicht nur die gesellschaftlichen Vorerwartungen anderer Menschen, er empfmdet es auch als leichter und psychosozial ,kosteng(instiger', sich diesen Erwartungen anzupassen, sodass er die gesellschaftlichen Erwartungen intemalisiert und inkorporiert. Er passt sich den veranderten Rollenerwartungen an und ,fiigt' sich den altersgemaBen Rollenerwartungen, indem er die gesellschaftlichen Fremdbilder in sein Selbstbild integriert.

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liert und gleichermaBen als Medium der Selbstvergewisserung, Selbstdarstellung und Selbstinszenierung zum Einsatz gebracht. In der modemen Gesellschaft erscheint der Korper nicht mehr als „schicksalhaft" von Gott oder Natur gegeben, sondem als individuell trainiert und gepflegt. Er ist zu einer Fiktion der Chancen und Optionen, zu einer Frage der Wahl und Entscheidung geworden. Das korporale Kapital wird zum sichtbaren Ausdruck einer gesunden oder ungesunden Lebensweise. Und so ist mit der Wahlmoglichkeit zugleich auch eine Pflicht verbunden, den Korper nach den gesellschaftlich praferierten Normvorstellungen zu modellieren, was eine massenhafte Standardisierung und Uniformierung der Korper zur Folge hat. In einer Gesellschaft, die heute zunehmend Bewegungsarmut aushalten muss und in der in Ermangelung korperlicher Arbeit die Korpermaschinen in die Fitnesscenter verlegt wurden, wird „Unsportlichkeit (...) geradezu zu einem gesellschaftlichen Stigma" (Prahl 2002: 211). „Sportivitat" (Kaschuba 1989) ist zu einem Leitwert der modemen Gesellschaft geworden. Sportlichkeit NQxkorperi Gesundheit, Gelenkigkeit, Schlankheit und Attraktivitat. Das sportive Amalgam aus Fairness, Fun und Fitness entspricht den okonomischen Markt- und Machtverhaltnissen mit seinen zentralen Leitbildem von Individualismus, Konkurrenz, Teamgeist und Flexibilitat. Die auf die Modellierbarkeit des Korpers zielenden Angebote unterliegen ebenso wie die wissenschaftlich legitimierten Empowermentstrategien der Sozialen Arbeit und die mehr oder weniger vagen Vorstellungen eines erfolgreichen oder produktiven Altems (vgl. Schroeter 2002, 2004b) den gesellschaftlichen Imperativen von Fitness und Wellness (Schroeter 2007d). Sie richten sich an den formbaren und „flexiblen Menschen" (Sennett 2000). Plastizitat und Flexibilitat sind die Voraussetzungen der Konsumgesellschaft, „alle Formen sollten geschmeidig, alle Zustande befi'istet, alle Gestalten umgestaltbar und alle Formen umft)rmbar sein" (Bauman 2005: 201), so auch der Korper. Durch das gesellschaftliche Credo der Fitness und Wellness werden Korper als Instrument und Korperarbeit als Technik der Selbstdisziplinierung den Erfordemissen der (post)modemen Gesellschaft angepasst. Fitness und Wellness sorgen fur das Wohlbefmden im Dienste eines gesunden und leistungsfahigen Lebens. Sie sind die geeigneten Leitbilder der Konsumgesellschaft, weil sie keine Obergrenze kennen (Bauman 2005). Stets kann man an seiner Fitness arbeiten oder versuchen, das Wohlbefinden zu perfektionieren. Korper konnen immer noch schneller, noch starker oder noch schoner gemacht werden. Und so wird das unbandige Verlangen nach (korperlicher und leiblicher) Selbstvervollkommnung kaum

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erloschen, es wird vielmehr stets weiter und aufs Neue durch die bunte Angebotspalette auf dem Konsumentenmarkt der Korperindustrie angetrieben. Fitness und Wellness sind positive Leitbilder der Konsum- und Leistungsgesellschaft, denen sich kaum jemand entziehen kann. Sie sind zu normativen Leitbildem geworden. Und wer da nicht mitmachen will (oder kann), gilt als „nicht normal". Und deshalb ist das „Gegenteil von Wellness nicht Krankheit oder der kranke Korper, sondem eine Art von Wahnsinn: der Unwille oder die Unfahigkeit, sich wie ein vemiinftiges Subjekt zu verhalten" (Greco 2004: 196). Bereits vor zwanzig Jahren hat David Ekerdt (1986: 243) in seinen Gedanken zur „busy ethic" auf die soziale Erwiinschtheit vielseitiger Aktivitaten im Alter hingewiesen. Seither ist machtig in das Untemehmen „aktives Altem" investiert worden, und die Inszenierung eines „busy body" (Katz 2000) im Alter ist zwischenzeitlich zu einer Strategic hochsten Wertes geworden. Wer hier nicht mithalt, wird kurzerhand zum „Storfall" (Schachtner 1988) erklart. Die lange Zeit der Jugend zugesprochenen Eigenschaften der Flexibilitat, Spontaneitat und Expressivitat diffiindieren langst in die Altersphase, sodass heute auch von einem „uniage behavioral style" (Powell/Longino 2001: 203) gesprochen wird. Die vormals jungeren Generationen vorbehaltenen Kultur-, Sport- und Gesundheitsrequisiten werden langst auch fiir Altere vermarktet, um Gesundheit, jugendliche Frische und Selbstvervollkommnung bis ins hohe Alter zu erhalten. Doch der angesprochene transgenerative Verhaltensstil ist keineswegs eine postmodeme Erscheinung. Mitte der 1950er Jahre hatte Rudolf Tartler (1955: 328ff) in seinen Uberlegungen zur Nivellierung der Generationsmerkmale bereits festgestellt, dass sich die Handlungs- und Haltungsweisen der Jugend nicht wesentlich von denen der Erwachsenen unterscheiden und ihre „Erfahrungslagen" gleichartig geworden seien. Neu hingegen ist, dass sich die korperliche Konstitution der Alteren in den vergangenen Jahrzehnten stets verbessert hat. Altere Menschen erscheinen heute sowohl in ihrer expressiven als auch in ihrer impressiven Befmdlichkeit vergleichsweise jiinger und vitaler als ihre Vorgangergenerationen. So haben z.B. Oberg und Tomstam (2001) gezeigt, dass das Fitness- und Jugendlichkeitsideal als eine Art „Einheits-Alters-Phanomen" alle Altersstufen durchzieht.^

In ihrer auf Schweden bezogenen Studie fiihlten sich drei Viertel der von ihnen befragten Frauen und Manner im Alter von 20 bis 85 Jahren jiinger („feel age"), wtinschten jiinger zu sein („ideal age) und waren der Uberzeugung, dass andere sie jiinger einschatzten als sie tatsachlich waren („look age"). Und mehr als die Halite der 65- bis 75-Jahrigen und fast die Halfte der 75- bis 85Jahrigen betrachteten sich selbst gar als jugendliche Personen. Fiir die in dieser Studie erfassten Hochbetagten (75-85 Jahre) gait, dass sie sich um zwanzig Jahre jiinger fiihlten als sie wirklich

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Wenn wir heute einen Blick in die bunte Medienwelt werfen, dann sehen wir „zur Schau gestellte" alte Koqjer, die gar nicht alt erscheinen. Sie sind Ausdruck von Perfektionismus und eines unsichtbar gemachten Alters. Insbesondere die Werbung hat die Zielgruppe der Alteren, insbesondere die der „best ager" langst erkannt. Die groBen Megatrends, wie Convenience, Wellness und Gesundheit werden von der Generation 50+ stark mitgetragen. Und so arbeitet die Werbeindustrie kraftig an der VerheiBung der Gestalt- und Korrigierbarkeit des alter werdenden Korpers. Auch wenn man sich den Verlockungen der Werbeindustrie zu entziehen versucht, wirken diese Bilder doch ermuntemd und manipulierend auf die distinktiven Lebensstile alterer Menschen. Und so wird ein ganzes Arsenal an Programmen gestartet - von Diaten und Schlankheitskuren, tiber sportive Trends (vom ehemaligen Trimm-Trab, Aerobic bis zum modemen Nordic Walking), Angebote der Beauty-Farms und Wellness-Oasen, Lifestyleund Anti-Aging-Praparate bis zur kosmetischen Chirurgie -, die sich allesamt als Offerten an den Korper lesen lassen, seinen Symbolwert in der Gesellschaft zu steigem. In der modemen Gesellschaft, „die sich verzweifelt auf Jugend schminkt" (Bloch 1982: 40), schwebt uber alien Lebensaltem das Jugendlichkeitsideal, sodass der Kampf gegen das Altem bereits in der Lebensmitte zur sozialen Pflicht wird (Hepworth/Featherstone 1982). Und auch wenn altere Menschen heute wie selbstverstandlich tiber den realen und fiktiven Laufstieg der Modewelt flanieren, sind vor allem die jungen, faltenlosen und wohlgeformten Korper begehrenswert. Jugend, Schonheit und Dynamik sind die Schwungrader der Konsumgesellschaft, die auch einen grundlegenden Einfluss auf die Wahmehmung und auf das Empfmden des Altems in modemen Gesellschaften haben. „Das Alter gilt als der groBte Feind der Schonheit und muss mit alien Mitteln bekampft werden" (Degele 2004: 207). Der Schonheits- und Jugendlichkeitskult soil insbesondere die Frauen ansprechen. Dass auch altere Manner dem Jugendkult und Schonheitsideal unterliegen, wird vergleichsweise selten thematisiert. Korperliche Attraktivitat ist aber ein Anliegen beider Geschlechter, und zumindest in der jiingeren Generation arbeiten Manner ganz gewaltig an ihrem korperlichen Erscheinungsbild. Die Bedeutung des Korpers ftir altere Manner noch starker herauszuarbeiten als bislang geschehen, scheint jedoch ein Desiderat sozialgerontologischer Forschung.

waren, und die tiber 80-Jahrigen waren der Ansicht, wie 70-Jahrige auszusehen, fiihlten sich wie sechzig und wiinschten, funfzig zu sein (ObergA'omstam 2001: 20).

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5. Fazit In den Rationalitaten der modemen Gesellschaft erscheinen Fitness und Wellness nicht nur als eine visualisierte Gesundheit, sondem auch als sichtbar gemachte Form distinktiver Lebensftihrung und Lebenshaltung. Sie sind die symbolisch nach auBen getragenen Formen des korporalen Kapitals. Bin trainierter Korper symbolisiert Ausdauer, Disziplin und Beharrungsvermogen, Tugenden, die auch in auBersportlichen Bereichen Gewinn bringend eingesetzt werden konnen. Wer fit aussieht und sich „weH" fiihlt, gilt als erfolgreich und zukunftsfahig. Fit-Sein bedeutet „den Anforderungen der Gesellschaft ohne negative Komplikationen entsprechen und fiir sich die Moglichkeiten der Gesellschaft problemlos nutzen zu konnen" (Beuker 1993: 6). Fitness und Wellness stehen fiir Attraktivitat und Schonheit, und die entsprechenden Programme dafiir sind Wege zur Steigerung des korporalen Kapitals. Sie versprechen gesellschaftlichen und beruflichen Erfolg. Wer sich auf dem gesellschaftlichen Markt der Moglichkeiten durchsetzen und erfolgreich sein will, der muss auch seinen Korper einsetzen. Und dazu hat er in eigener Verantwortung sowohl fiir Fitness und Wellness als auch fiir Gesundheit und Leistung zu sorgen. Diese Eigenverantwortung wird nicht durch bloBe Repression erzwungen, sie hat sich in den Kopfen der Akteure habitualisiert und in ihre Korper eingeschrieben. Die wissenschaftlich etablierte und massenmedial transportierte Erkenntnis des Zusammenhangs von gesunder Emahrung, sportivem Engagement und Gesundheitsft)rderung hat sich in den Wahmehmungsschemata breiter Bevolkerungsteile eingelagert. Die Auseinandersetzung mit gesundheitsfi)rdemden Lebensformen (u.a. regelmaBige Bewegung, maBiger Genussmittelkonsum, Nikotinverzicht, vitaminreiche Kost) miissen nicht qua Dekret verordnet werden. Sie werden von einer zunehmenden Anzahl von Menschen (vor allem aus den mittleren und gehobenen sozialen Milieus) als individuelle Strategien im Umgang mit den Gesundheitsrisiken fi-eiwillig praktiziert. Mit Hilfe der Technologien des Selbst (Foucault 1993), die es den Individuen erlauben, selbst oder mit Hilfe von anderen, eine Reihe von Handlungen am eigenen Korper, der eigenen Seele, der eigenen Gedanken und Seinsfiihrung vorzunehmen, werden Korper und Gesundheit individualisiert und privatisiert. In individueller Selbstverantwortung werden Gesundheit und Fitness durch Bewegungs- und Entspannungsprogramme, durch Emahrungs-/ Diatplane und Vitaminpraparate zu steuem versucht. In der modemen Gesellschaft wird das Rufen nach Autonomic und eigener Starke, nach Kompetenzaktivierung und eigener erfolgreicher und produktiver Lebensgestaltung bis ins hohe Alter immer lauter. „Ressourcen erkennen, Ressourcen erweitem, Ressourcen nutzen" - so klingt der Schlachtruf der modemen

Zur Symbolik des korporalen Kapitals in der „alterslosen Altersgesellschaft"

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Selbstkontrolle. Das sich in der Modeme kristallisierende Menschenbild gleicht dem eines „Untemehiners". Der modeme Mensch, ob jung oder alt, krank oder gesund, wird zum Entrepreneur seines eigenen Lebens. Der „homo oeconomicus" modemer Gesellschaften ist ein „Untemehmer seiner selbst" (Foucault 2004: 314), der in sein eigenes Lebensprojekt investiert, indem er Kompetenzen langsam und stetig entwickelt, Adaptionstechniken und Strategien der Stressbewaltigung aufbaut und sich durch mentales und physisches Training „fit" halt. Mit untemehmerischem Kalktil wird dem „Risiko" Krankheit oder Alter vorzubeugen versucht. Das manageriale Denken greift tief in den Willen der einzelnen Akteure. Uberall nistet der Machbarkeitsgedanke. Der Einzelne wird in die personliche Verpflichtung und Verantwortung genommen. Verantwortung und Risikominimierung sind die Vektoren, die sich auch im Alter einen Weg schlagen. Flankiert werden diese richtungweisenden Leitmotive durch die Diskurse (u.a. Gesundheitserziehung und -forderung, Pravention und Rehabilitation, Empowerment und Kompetenzaktivierung, aktives, erfolgreiches und produktives Altem) der Humanwissenschaften, die sich nahtlos in die regulierenden Strategien der Bio-Politik einfugen, wenn sie auf die Kontrollierung und Normalisierung des Menschen bzw. auf die „Maximalisierung des Lebens" und auf die „Verantwortung fur das Leben" (Foucault 1983: 148, 170) zielen. Damit wird gleichermaBen der gouvememental eingeschlagene als auch der lebensweltlich zu erprobenden Weg der Selbstakzentuierung geft)rdert und legitimiert. Wohlbefmden (Wellness) und Gesundheit (Fitness) werden zum regulativen Ideal, zur modemisierten Formel des „survival of the fittest" - oder, wenn man das korporale Kapital der Attraktivitat mitberiicksichtigt, des „survival of the prettiest". Die allgemeine Grammatik wird zunehmend auch auf das Alter zu ubertragen versucht. Doch im sogenannten vierten oder fiinften Alter stoBt diese korporale Grammatik an ihre Grenzen. Noch ist „(d)ie Krankheit (...) nicht abgeschafft, aber ihr Ende: der Tod, ist verbliiffend zuruckgedrangt." Doch entgegen aller Fitness-Philosophien hangt der „utopische Apfel der Verjungung (...) noch in ziemlicher Feme" (Bloch 1982: 528, 535).

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Empiric des Alterns

Geschlechter - Lebenslagen - Altern^ GertrudM. Baches Centre for Research on Ageing and Society, Vechta University

1. Geschlecht und Altern - bekanntes Thema mit Forschungsliicken Die gesellschaftliche und individuelle Bedeutung des Zusammenwirkens von gender and ageing waren lange Zeit kein angemessen bearbeitetes Thema deutschsprachiger Alter(n)swissenschaft oder gar Frauen- und Geschlechterforschung. Erst langsam und sporadisch werden diese Themen auch in der Gerontologie und Alter(n)ssoziologie aufgegriffen (vgl. Fooken 1987, 1994; Backes 1993a, 1993b, 1999a, 1999b, 2002, 2005b, 2006; Hopflinger 1994; PerrigChiello/Hopflinger 2000, 2001), z.T. auch in der feministischen Kritik der Sozialsysteme (vgl. Kickbusch/Riedmiiller 1984). Erste weitergehende Ansatze finden sich z.B. in der Auseinandersetzung mit den ,Auswirkungen weiblicher Langlebigkeit auf Lebensformen und Generationenbeziehungen" (Hopflinger 2000, 2002a) und des Ubergangs von Frauen vom Erwerbsleben in den Ruhestand (vgl. Clemens 1993, 1997) sowie neuerdings auch in der Betrachtung des „anderen" Alter(n)s von Mannem (vgl. Fooken 1986, 1999; Hopflinger 2002b). Die Notwendigkeit auch das Alter nach Geschlecht zu unterscheiden und unter diesem Fokus einer weitergehenden Analyse zu unterziehen, werden durch entsprechende Zahlen und Fakten immer wieder belegt (vgl. Backes 2001, 2003). Studien zu Lebenslauf, Altern und zu Lebenslagen im Alter differenzieren mittlerweile meist nach Geschlecht oder arbeiten die Besonderheit des weiblichen Alter(n)s im Unterschied zum mannlichen heraus; dabei werden zum Teil erhebliche geschlechterspezifische Unterschiede und Ungleichheiten deuthch (Sorensen 1990). Dennoch besteht weiterhin eine Lticke zwischen der herausragenden gesellschaftlichen und individuellen Bedeutung von „gendered life course and ageing" (kurz: „gender and ageing") sowie ihrer Implikationen fur Lebenslagen bis ins hohe Alter auf der einen Seite und ihrer bisher eher bescheidenen wissenschafllichen Bearbeitung, zumindest im deutschsprachigen Bereich, auf der anderen Seite (fxir den angloamerikanischen Sprachraum dagegen vgl. Arber/Davidson, Ginn 2003; Arber/Ginn 1995; Moen 1996, 2001; O'Rand 1995, 1996). So geschieht die geschlechterspezifische Differenzierung entweder primar auf einer

1 Dieser Beitrag ist eine zusammengefugte und aktualisierte Fassung von einigen friiheren Publikationen der Autorin zu diesem Thema.

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deskriptiven Ebene, etwa bei der Beschreibung ungleicher Lebensdauer (hier interessiert immer wieder die Frage, weshalb Frauen eine hohere Lebenserwartung haben als Manner) und ungleicher Betroffenheit von sozialen Problemen im Alter, insbesondere als Hochaltrige. Oder man konzentriert sich auf das „weibliche" Alter(n) im Sinne des Alter(n)s von Frauen und ihren sozialen Problemen im Alter. Man spricht vom „feminisierten Alter" (Tews 1993; Kohli 1990), was nicht nur quantitativ gerechtfertigt erscheint durch den weitaus hoheren Frauenanteil oder qualitativ, indem weibliche Vergesellschaftungsformen das Leben im Alter zu bestimmen scheinen. Mannem wird sogar eine Angleichung an weibliche Vergesellschaftungsformen im Alter zugeschrieben, da ihre geschlechtstypische Vergesellschaftung liber Erwerbsarbeit mit den Eintritt ins Alter beendet sei. Eine tiefergehende Analyse der Geschlechterverhaltnisse im Lebens(ver)lauf und ihrer Auswirkungen auf die Lebenslagen beider Geschlechter bis ins Alter steht hier noch aus. Dariiber hinaus werden vor allem in der offentlich-politischen Diskussion die mit sozialen Problemen alter und hochbetagter Frauen einhergehenden gesellschaftlichen Belastungen und Kosten (etwa durch Pflege) betont. Der hohe Anteil von Frauen an der Gruppe der durch starkes Ansteigen von Multimorbiditat, Demenzerkrankungen und Pflegebediirftigkeit gekennzeichneten Hochaltrigen wird in einer Kostenbilanz mit der ktirzeren Lebensdauer von Mannem verglichen und eine hohere Belastung des sozialen Umfelds und der Gesellschaft konstatiert. Dabei werden in aller Regel nur die offentlich sichtbaren Lasten und Ressourcen betrachtet, privat erbrachte (z.B. betreuende, pflegende) Leistungen von Frauen, die offentliche Leistungen erganzen und z.T. ersetzen, jedoch vemachlassigt. Bei Mannem dagegen werden die nachbemflichen Tatigkeitsressourcen in den Vordergmnd gestellt (vgl. KohH/Ktinemund 2000). Diese auch durch entsprechende wissenschaftliche Studien gestutzte Zuschreibung lasst einseitig Frauen als Last und Manner als Ressource erscheinen. Ftir die Frauen-, Geschlechter- und Alter(n)sforschung wirft das Feld der Geschlechterbeziehungen und -verhaltnisse und des Zusammenhangs zwischen Geschlecht und Alter(n) gerade mit Blick in die Zukunft zahlreiche Fragen auf. Die theoretische Fundierung hat zweifelsohne Anleihen zu nehmen etwa bei Ansatzen zu Sozialstruktur, sozialer Ungleichheit und Lebenslagen, zu Geschlechterarbeitsteilung und zu Geschlechter- wie Alter(n)skonstmktionen. Entsprechend liegt ein Schltissel zu einer angemessenen Analyse der vielschichtigen individuellen und gesellschaftlichen Bedeutung und Folgen von „gender and ageing" - so meine These - in einer Analyse der Vergesellschaftungsformen beider Geschlechter und ihrer Verwobenheit tiber den Lebens(ver)lauf so-

Geschlecht - Lebenslagen - Altem

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wie deren Zusammenhang mit Lebenslagen. In modemen Gesellschaften handelt es sich dabei in der Kegel um hierarchisch komplementar strukturierte, in sozial ungleicher Weise aufeinander bezogene Geschlechterverhaltnisse bis ins Alter. Hinsichtlich einer fundierten empirischen Analyse ware neben entsprechend theoretisch basierten Studien die Einrichtung eines Survey zu Lebenslagen der Geschlechter im Lebens(ver)lauf sinnvoll. Dabei sind die sich wandelnden Lebens- und Arbeitsbedingungen von Frauen und Mannem von besonderer Bedeutung, wenn es um die Prognose und Prevention von individuellen, sozialen und gesellschaftlichen Problemen des Alter(n)s geht. Im Folgenden werden einige wichtige Aspekte von geschlechterspezifischen Lebenslaufen und ihren Implikationen fur Alter(n) und Lebenslagen bzw. Lebenslagen bis ins hohe Alter exemplarisch herausgearbeitet. In den eher deskriptiven Abschnitten 2 und 3 werden zunachst die empirischen Grundlagen fur die Analyse der sich wandelnden Geschlechterverhaltnisse und -beziehungen tiber den Lebenslauf mit Konsequenzen fur die Lebenslagen bis in Alter gelegt. Die empirischen Dimensionen der Lebenslagen (materielle Situation, Beschaftigung, soziale Vemetzung und Gesundheit) bilden hier die konzeptionelle Grundlage. Abschnitt 2 handelt von der sozialen Ungleichheit im geschlechterspezifischen Lebenslauf und den Lebenslagen sowie den potenziell kumulativen sozialen Risiken bei alteren Frauen. Abschnitt 3 geht auf soziale Wandlungsprozesse in ihren Auswirkungen auf weibliche und mannliche Lebens- und Arbeitsverhaltnisse im Geschlechterlebenslauf ein. Es geht um neue Risiken, riskante Chancen und Widerspriiche in den Geschlechterlebenslaufen sowie um deren Auswirkungen auf ktinftiges Alter(n). SchlieBlich wird in Abschnitt 4 die These von der (hierarchischen) Komplementaritat der Geschlechterverhaltnisse bis ins Alter analytisch verankert. Die Konzepte des „gendered life course" bzw. des „ageing as a gendered process" auf der einen Seite und der „Lebenslagen" auf der anderen Seite bilden hier die konzeptionellen Eckpunkte. AbschlieBend geht es in Abschnitt 5 um eine Bilanz und einen knappen Ausblick auf Forschungsfragen und zu erwartende Entwicklungen.

2.

Empirische Perspektiven auf Ungleichheiten in Lebenslaufen und Lebenslagen der Geschlechter Lebenslagen dient hier (in Abschnitt 2 und 3) primar als empirisch-deskriptives Konzept sozialer Ungleichheit zur systematischen Darstellung der individuellen Lage im sozialen Kontext, abgebildet am Beispiel zentraler Dimensionen wie der materiellen Lage (Einkommen, Wohnen), der sozialen Einbindung durch

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Beschaftigung (Arbeit) und soziale Vemetzung, und der gesundheitlichen Lage und Versorgung (auch Pflege). Bei einer weitergehenden Nutzung des Konzepts der Lebenslagen sind objektive wie subjektive Dimensionen einzubeziehen (etwa diagnostizierte Erkrankungen und subjektiver Gesundheitszustand). Ebenso sind jeweils historische Zeit (Kohorte) und individuelle Lebenszeit (Lebenslauf und Biografie) und damit die Veranderbarkeit der Lebenslagen im gesellschaftlichen wie individuellen Entwicklungsprozess (sozialer Wandel, individuelle Veranderung) zu beachten. Die sozial ungleichen Lebenslagen im Geschlechterlebenslauf stehen damit in einem direkten Bezug zu anderen Dimensionen sozialer Differenzierung wie Klasse, Schicht, Region, Ethnie oder Religion (siehe Abschnitt 4; zum Konzept der Lebenslage vgl. Hradil 1987; Clemens 1994; Backes 1997b). Orientiert an diesem Konzept der miteinander verwobenen Dimensionen sozialer Ungleichheit bedeutet Altwerden und Altsein als Frau unter den derzeitigen historischen und biografischen Bedingungen ein zweifaches Risiko fur die Lebenslagen: Die mit dem Alter(n) strukturell drohenden sozialen Probleme (hinsichtlich materieller Sicherung und Wohnen, Beschaftigung und gesellschaftlichem Eingebundensein, sozialer Vemetzung, Gesundheit/Pflege und des Angewiesenseins auf andere) sind bei heute alten Frauen starker ausgepragt als bei heute alten Mannem. Im Zusammenwirken mit anderen Merkmalen sozialer Differenzierung entstehen bei ihnen mit dem Alter(n) haufiger sozial problematische Lebenslagen (wie Armut, Erwerbslosigkeit, Angewiesensein auf Hilfe durch Fremde). Geschlechterarbeitsteilung bedeutet fur die Mehrzahl der heute alten Frauen, dass zumindest liber langere Zeiten ihres Lebenslaufs die Ehefrauen- und Familienrolle (trotz anderer Erfahrungen wahrend des Krieges und unmittelbar danach) primar war bzw. ist und Erwerbsarbeit zumindest normativ nicht oder nur voriibergehend der eigenstandigen Existenzsicherung zu dienen hatte. Die ,alten' bzw. ,traditionalen' Risiken bestanden in der primaren Familienbindung und einer entsprechenden psychosozialen Abhangigkeit der Existenzsicherung und Sinngebung. So weisen Studien zu Frauen im Alter durchgangig darauf hin, dass diese dann nicht nur zufriedener, sondem auch gestinder, gesicherter und besser sozial eingebunden leben, wenn sie Kontakte und Beschaftigungsbereiche auBerhalb des Hauses batten und haben, dass eine Konzentration auf die Familie nicht nur eher Armut im Alter, sondem auch eher gesundheitliche, soziale und psychische Beeintrachtigungen mit sich bringt, und dass - etwas verklirzt formuliert - qualifizierte und kontinuierliche Bemfsarbeit die beste „Ge-

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roprophylaxe" (Vorsorge flir das Altem) ist (vgl. Lehr 1977, 1982; Szinovacz 1982; Clemens 1992, 1993, 1997). Insgesamt zeigt sich, dass weibliches Alter(n) derzeit in unserer Gesellschaft widerspruchlicher, ambivalenter und sozial problematischer als mdnnliches ist. Das bedeutet andere und im Prinzip mehr Beeintrdchtigungen, aber auch andere und hdufig vielfdltigere subjektive Bewdltigungsformen. Ein kurzer Uberblick zur Lebenslage heute alter Frauen im Vergleich zu heute alten Mamiem soil dies verdeutlichen (vgl. Lehr 1978; Fooken 1994, 1999; Backes 1983, 1999b, 2001; Kruger 1983; Gather et al. 1991; Hopflinger 1994; Stuckelberger/Hopflinger 1996). Aufgrund ihrer geschlechtsspezifisch meist diskontinuierlichen Erwerbsverlaufe, ihres in der Regel niedrigen beruflichen Status und ihrer primaren Orientierung an Ehe und Familie sind Frauen im Alter haufiger und schwerwiegender als Manner von materieller Armut betroffen. Im Zusammenhang mit ihren Lebens- und Arbeitsverhaltnissen sind sie bislang starker auf familiale Kontakte und Beschaftigungen verwiesen. Oft sind diese eher unfreiwillig und setzen die Zwange und Widerspriiche ihres „Frauenlebens" fort. AuBerdem sind sie haufiger auf Unterstutzung durch Dritte - auch auBerhalb der Familie - angewiesen und starker von Gewalt und Vemachlassigung betroffen. Frauen haben zwar eine hohere Lebenserwartung als Manner, sind aber mit zunehmendem Alter haufiger von chronischen Krankheiten, psychosozialen Notlagen und Pflegebediirftigkeit betroffen. Lebensdauer und Qualitat der Lebenslagen stehen hier eher im umgekehrt proportionalen Verhaltnis zueinander. Innerhalb dieser geschlechtsspezifisch weiblichen Altemsproblematik gibt es sehr unterschiedliche Auspragungen. Je nach Lebens- und Arbeitsverhaltnissen, nach Alter, Schicht, biografischen Besonderheiten, personlichem Lebensstil und subjektiven Einstellungen, nach Region, Lebens- und Wohnumfeld, famiUalen Bedingungen und personlichen Interessen ergibt sich die konkrete Lebenslage der Frau im Alter. Besonders deutlich zeigen sich Altemsrisiken bei einer Kumulation von Benachteiligungen im Lebensverlauf: zum einen bei Frauen, die aus unteren Sozialschichten stammen, selbst sozial nicht aufgestiegen sind, in infirastrukturell schlechter ausgestatteten Regionen leben, gesundheitlich und bezuglich ihrer sozialen Kontakte sowie ihrer Versorgungschancen beeintrachtigt sind; und zum anderen bei Frauen, die materiell und immateriell benachteiligt sind, bei denen Armut, Isolation, Beschaftigungslosigkeit oder Uberlastung und Krankheit zusammentreffen, die kaum Moglichkeiten haben, EinbuBen in einem Bereich durch Ressourcen in einem anderen zu kompensieren. Die quantitativ und qualitativ jeweils „anderen" weiblichen und mannlichen Altemschancen und -risiken zeigen sich z.B. daran, dass vor allem Frauen sich

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heute typischerweise mindestens zweimal, normalerweise sogar viermal mit dem Verlust fur sie lebenslauf- und lebenslagenbestimmender Aufgaben undBeziehungen auseinander zu setzen haben. In der modemen Gesellschaft lassen sich bei einem GroBteil der jetzt alteren und alten Frauen vier geschlechtstypische riskante Einschnitte des Altems unterscheiden (Backes 1993a, 1993b, 1999a, 2001; vgl. auch Fooken 1994, 1999; Perrig-Chiello/Hopflinger 2000; Perrig-Chiello/Hopflinger 2001). Diese Umbruchphasen werden hier in Skizzenform beschrieben und exemplarisch entsprechenden Veranderungen im Verlaufe des Altems bei Mannem gegeniiber gestellt. Insgesamt handelt es sich um ein Forschungsfeld mit sehr vielen offenen Fragen, zu denen vielfach nur erste begrtindete Vermutungen und punktuelle Ergebnisse vorliegen. Erstens: Im mittleren Lebensalter, wenn die Kinder das Haus verlassen und die Frau sich bezUglich ihrer Lebens- und Arbeitsperspektiven neu orientiert. Selbst wenn das Ideal der ,weiblichen Normalbiografie' (Erwerbsarbeit, Unterbrechung oder Reduzierung wegen Kindererziehung, Erwerbsarbeit) und die Konzentration auf die Familie heute langst brtichig zu werden beginnen, zumindest eher selten angestrebt werden, und Frauen vielfaltigere Lebensmuster entwickeln, sind die traditionellen gesellschaftlichen Bilder von Frauenleben langlebiger. Sie bewirken Sanktionen fur diejenigen, die sich anders verhalten oder es versuchen. Selbst ledige Frauen ohne Kinder mit ungeteilter Berufsorientierung sind im mittleren Lebensalter anderen Stigmata und Ausgrenzungen ausgesetzt als Manner. Auch bei ihnen werden Weiblichkeit und Attraktivitat an Jungsein gemessen und u.U. daran, ob sie Existenz sichemde Erwerbsarbeit unbedingt ,notig haben'. Entsprechende Selbstbilder sind bekannt. Die besten Voraussetzungen zur Bewaltigung dieses Lebensabschnitts bestehen bei ausgepragten Interessen und Kontakten auch auBerhalb der Familie. Das konnen neben beruflichen auch andere Formen der Vergesellschaftung sein, etwa ehrenamtliches Engagement. Ftir Manner hingegen stellt das mittlere Lebensalter i.d.R. (noch) keine vergleichbare Herausforderung an eine Um- oder Neuorientierung dar. Allerdings kommen auf sie in dieser Lebensphase zunehmend Anforderungen im Zusammenhang mit der besonderen Position als altere Arbeitnehmer zu, wie Notwendigkeit des Umlemens, ggf. Statusverlust und Umsetzung, Notwendigkeit des vorzeitigen Ausscheidens aus dem Erwerbsleben (vgl. Clemens 2001; Barkholdt 2001; Herftirth/Kohli/Zimmermann 2002). Auch erwerbstatige Frauen bleiben hiervon keineswegs verschont (vgl. Clemens 1997, 2001), obgleich weder Offentlichkeit noch Wissenschaft hiervon ausreichend Notiz nehmen. Zweitens: Im sogenannten ,Alter' (ab 60/65 Jahre), der Zeit, in der mit Ende der eigenen Erwerbsarbeit der Frau und/oder der des Mannes i.d.R. das Ruhe-

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standsalter beginnt. Hier geht es zunachst um die Bewaltigung des eigenen Aufgabenverlustes, zudem die Hausfrauenrolle - entgegen gangiger Vermutungen keinen gleichrangigen Ausgleich darstellt (vgl. Clemens 1993, 1997). Hinzu kommt die Bewaltigimgsarbeit, die Frauen flir ihre Manner mitleisten, wenn diese aus ihrem Beruf aussteigen (Backes 1987b). Die neuen Lebensperspektiven gehen mit vielschichtigen Verlusten und Anforderungen - flir Frauen und Manner - einher. Je nach bisherigen Lebens- und Arbeitsbedingungen sind die Ressourcen zur Bewaltigung unterschiedlich entwickelt. Am besten geht es auch hier wieder denjenigen mit ausgepragten auBerhauslichen Kontakten und Aktivitaten sowie Arbeitsbedingungen, die ihnen Raum fiir die Entwicklung weiterer Kontakte und Interessen lassen oder HeBen. Dies ist bislang eher bei Mannem der Fall. Dass Frauen fiir den famiHalen, hauslichen Bereich eher zustandig waren und sind, kann fiir sie in dieser Ubergangssituation Chance und Halt, aber auch Risiko und Einengung sowie zusatzliche Belastung bedeuten. Umgekehrt sind Manner aufgrund ihrer primar auBerhauslichen Orientierung eher frei flir die Entwicklung neuer Aktivitaten im Ruhestand, fmden u.U. aber auch zunachst weniger Orientierung im familialen Umfeld (vgl. Clemens 1997; Gather 1991, 1996). Drittens: Beim Verlust des (Ehe-)Partners, der haufig fiir Frauen spatestens gegen Ende des 7. und im 8. Lebensjahrzehnt eintritt. Hier mtissen Frauen sich emeut grundlegend umstellen, nicht nur personliche, sondem oft materielle Verluste hinnehmen. Gleichzeitig entstehen neue Spielraume und Freiheiten, die Anforderung und Uberforderung, Chancen und Begrenzungen deutlich werden lassen. Freiheit von etwas und zu etwas bestehen nebeneinander. Beide konnen widersprtichlich sein und als ambivalent empfimden werden: frei von der Last der Pflege des Mannes, aber auch frei im Sinne von arm an vertrautem Gesprach, Geborgenheit und Nahe. Oder frei zu neuen Kontakten, was eine Chance sein, aber auch Angst und ungewohnte wie ungewollte Anstrengung bedeuten kann. Manner kommen heute noch vergleichsweise seltener in diese Lage: Sie sind haufiger im Alter noch (einmal) mit einer deutlich jtingeren Partnerin verheiratet bzw. leben mit dieser zusammen, werden also auch selten mit der Notwendigkeit der Pflege ihrer Partnerin konfrontiert. Viertens: Wenn der Verlust der eigenstdndigen alltdglichen Lebensfilhrung eintritt, insbesondere im Pflegefall und bei materiellem Angewiesensein auf Dritte. Die Abhangigkeit von der Untersttitzung durch Angehorige oder Fremde macht Frauen haufig mehr zu schaffen als Mannem (vgl. Lehr 1986). Dieser Einschnitt wird von vielen am meisten von alien Altemsproblemen gefiirchtet und zu verhindem versucht. In dieser Einstellung ist vermutlich mit ein Grund

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fur die bei alten Frauen vergleichsweise hohe Dunkelziffer der Armut zu sehen. Pflegebediirftigkeit wird fiir sie zum entscheidenden Umbruch in ungewollte materielle und immaterielle Abhangigkeit. Ihre Probleme als Hochbetagte in Heimen wie auch im privaten Umfeld sind vielschichtig. Objektive Lage und subjektive Problematik des Umgangs mit dem Angewiesensein auf Andere treffen zusammen. Damit verbunden ist das Thema Gewalt gegen altere Frauen (z.B. in stationaren und hauslichen Pflegekontexten), das erst allmahlich enttabuisiert wird. Mit dem Wandel weiblicher und mannlicher Lebens- und Arbeitsbedingungen verandem sich auch diese vier typischen Umbriiche zeitlich und in ihrer Bedeutung. Und es kommen neue hinzu, z.B. durch Scheidung, Erwerbslosigkeit (Backes 1993b, 1999a) oder (erzwungene) Mobilitat. Derartige Entwicklungen zeichnen sich bereits bei einigen heute alten Menschen ab. Sie nehmen kontinuierHch zu: So sind immer mehr Frauen von einer Pluralisierung weiblicher Lebensformen betroffen (vgl. Herlyn/Vogel 1989, 1991; Ostner 1990; Beck-Gemsheim 1983; Beck/Beck-Gemsheim 1990), die auch Konsequenzen im Hinblick auf ihre Alter(n)schancen haben wird.

Empirische Perspektiven auf Geschlechter-Lebenslaufe und Wandel des Alterns bei Frauen und Mannern 3.1 Wandel der Lebens- und Arbeitsverhaltnisse und Lebenslagen Mit zunehmender Erwerbsintegration, Emanzipation von der ,typisch weiblichen' Familienorientierung, Individualisierung und Pluralisierung der Lebensformen gehen ftir Frauen und Manner Veranderungen einher, die im Hinblick auf ihr Alter(n) und ihre Lebenslagen bis ins Alter Widerspruche, Risiken und Chancen beinhalten. Bereits bei heute alteren und alten Frauen und Mannern hat sich das bunte Mosaik von Lebensbedingungen und Lebensformen erweitert und neue Schattierungen erfahren. Weibliche Arbeits- und Lebensverhaltnisse sind heterogener und komplexer geworden und beinhalten mehr als zuvor Aufgaben und Anforderungen, die miteinander nur unter hohem personlichem Einsatz und Eingebundensein in helfende soziale Netze zu vereinbaren sind (vgl. BeckGemsheim 1986). Die Unterschiede zwischen verschiedenen ,Typen' des Manner- und vor allem Frauenlebens im Alter werden groBer. Der Ubergang zwischen beiden ,weiblichen' Risikotypen - dem ,traditionellen, alten' und ,modemen, neuen' - ist flieBend. So waren auch fruher Frauen zur eigenstandigen Existenzsicherung bei gleichzeitiger Familienarbeit gezwungen, wahrend

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sich auch heute (noch) Frauen am traditionalen Ehe-Modell ohne eigenstandige Erwerbsarbeit orientieren. Frauenarbeit bleibt aber (noch) eine relativ unzuverlassige und ungenugende Grundlage fiir eigenstandige Existenzsicherung, und dies nicht nur in unterprivilegierten Schichten. Insgesamt lasst sich zwar eine Auflosung der ausschheBlichen Orientierung an der traditionellen Frauenrolle feststellen (vgl. Feldmann-Neubert 1991). Allerdings geht diese Befreiung vom biografischen Zwang zur Ehefrauen- und Mutterrolle einher mit einer nur vermeintlichen Wahlfreiheit zwischen kontraren Lebensformen (Familien- oder Erwerbsorientierung). Diese bedeutet im Normalfall ein nicht auflosbares Entscheidungsdilemma und ein Leben mit Widerspruchen. Die Frau muss entweder auf das eine oder das andere verzichten, ohne dafur das jeweils andere mit Sicherheit ganz leben zu konnen. Beides gleichzeitig kann sie allenfalls und meist nur unvollstandig realisieren, wenn sie zur Mehrfachbelastung und dem Ausbalancieren der widersprtichlichen Anforderungen bereit ist. Fiir Manner stellt sich dieses Entscheidungsdilemma bis heute normalerweise nicht. Beruf und Familie sind fur sie parallel moglich, ohne dass sie vergleichbare berufliche Nachteile oder familiale Arbeitsbelastungen zu tragen hatten. Der Gewinn an personlicher Freiheit hat zur Kehrseite einen Verlust an sozialer Sicherheit, der teilweise durch staatliche Sicherungssysteme ausgeglichen werden muss (Buhr et. al. 1988: 655). Diese sind jedoch bislang so gut wie nicht daraufhin ausgerichtet, sondem tragen ihrerseits weiter zu einer geschlechtsspezifischen Diskriminierung bei (vgl. Weg 1988; Riedmuller 2000). So sendet derzeit die Rentenversicherung „widerspruchliche Signale" fur die Erwerbsbeteiligung von Frauen aus (Backer 2001: 185f.; vgl. auch Michaelis 2000; Schmahl 2000). Angesichts der zunehmenden Pluralisierung und Individualisierung der Lebensformen sowie Auflosung der primaren Orientierung an den traditionalen Geschlechterrollen erweist sich die in Deutschland in vielerlei Hinsicht eher anachronistische sozial-, familien- und arbeitsmarktpolitische Orientierung an den bisherigen mannlichen und weiblichen ,Normalbiografien' und am traditionalen Rollenmodell als weiteres soziales Risiko fiir Frauen (vgl. Ostner 1983, 2000; Hohmann-Dennhardt 1988; Gerhard 1990; Deutsches Institut far Altersvorsorge 2000; vgl. auch BMFSFJ 1996: Siebter Familienbericht). Den Einsparungen und der positiven Sanktionierung des Modells der zumindest zeitweilig nichterwerbstatigen Ehefrau und Mutter entspricht der sozialpolitische Trend zur Propagierung unbezahlter (Frauen-)Arbeit in Familie und im sozialen Bereich. ,Mutterlichkeit' wird emeut als soziale Ressource und ideologischer Wert entdeckt und zu fbrdem versucht (vgl. Riedmuller 2000). Man be-

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greift Frauen, insbesondere im mittleren Lebensalter, auf der Suche nach sinnvoller Tatigkeit, weniger nach Erwerbsarbeit und materieller Eigenstandigkeit. Entsprechend schreibt man primar ihnen das soziale Ehrenamt und die private Betreuung und Pflege alter und kranker Menschen zu (Wand 1986; Backes 1987a, 1991, 2001). Dabei wird ideologisch auf ein langst tiberholtes, in seiner idealisierten Form niemals gtiltiges traditionales Familienmodell zuriickgegriffen. So treffen denn auch SparmaBnahmen und unerledigte Reformvorhaben im sozialen und gesundheitlichen Bereich noch immer verstarkt - insbesondere altere und alte - Frauen. Dies gilt sowohl fur die Belastung der ,weiblichen' Arbeitskraft in Familie, ,Selbsthilfe' und Sozialberufen, als auch fiir ihre Moglichkeiten, selbst Hilfe in einer angemessenen Form in Anspruch nehmen zu konnen (vgl. Peace 1986). Auch fur Manner entstehen neue Lebens- und Arbeitsmuster, die bis ins Alter hinein durchschlagen werden: Im Zuge veranderter Bedingungen am Erwerbsarbeitsmarkt (haufigere Unterbrechung, z.B. durch Erwerbslosigkeit; Notwendigkeit regionaler Mobilitat) und in ersten Ansatzen auch im Zusammenhang mit veranderten familialen Anforderungen (die notwendige Vereinbarung von Familie und Beruf fur die Partnerin stellt auch Anforderungen an den Mann) beginnt die mannliche ,Normalbiografie' brtichig zu werden, entstehen Wahlmoglichkeiten und -notwendigkeiten, und dies alles bringt bislang unbekannte Mehrfachbelastungen mit sich. Eine Kompensation durch die Anpassungsleistung der Frau/Partnerin kann zunehmend weniger selbstverstandlich erwartet werden. Stattdessen werden auch vom Mann neue Balanceleistungen zwischen Beruf und Familie oder Privatleben erwartet, sofem er nicht auf traditionale Partnerschaftsmodelle zuriickgreifen kann oder will. Und diese wiederum lassen sich bei unsicherer Erwerbsperspektive und zumindest zeitweise ungesicherter Existenz und veranderten Frauenleitbildem seltener realisieren. Die wachsende Zahl von Alleinlebenden ist vermutlich auch mit diesen Entwicklungen im Zusammenhang zu sehen. Insgesamt handelt sich gerade bei diesem Feld der sich verandemden Mannerlebens(ver)laufe bis ins Alter hinein um ein weitgehend unerforschtes Gebiet, dessen Bearbeitung fiir die Zukunft der Soziologie des Alter(n)s - in Kombination mit den Veranderungen auf Seiten der Frauen m.E. unverzichtbar sein wird. 3.2 Neue Risiken, riskante Chancen und Widerspriiche Bei den oben beschriebenen Trends handelt es sich um Indikatoren der Individualisierung und Pluralisierung des (weiblichen und mannlichen) Lebens und Arbeitens. Frauen- wie Mannerlebenslaufe bewegen sich immer starker im

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Spannungsfeld zwischen Flexibilitat und Verlasslichkeit, womit ftir beide, wenngleich weiterhin fiir Frauen starker, hohe soziale Risiken insbesondere im Hinblick auf Alter(n) und Lebenslagen einhergehen (siehe entsprechender Titel des Siebten Familienberichts der Bundesregierung. „Familie zwischen Flexibilitat und Verlasslichkeit", BMFSFJ 2006a). Die Frage nach der Bedeutung dieses sozialen Wandels fur Frauen im Hinblick auf ihr Alter(n) muss Risiken, Chancen und Widersprtiche reflektieren (vgl. Beck 1986; Herlyn/Vogel 1989, 1991). Denn insbesondere fur Frauen sind dies ausgesprochen widersprtichliche Entwicklungen, wobei unter gegebenen Bedingungen die Risiken zu uberwiegen scheinen. Wahrend auch sie immer mehr zum lebenslangen Verkauf ihrer Arbeitskraft gezwungen sind, fehlt ihnen haufig die hierzu notwendige Freiheit von sonstigen Belastungen. Frauen und Manner sollen von den Anforderungen her auf dem Erwerbsarbeitsmarkt gleiche Leistungen erbringen, gehen dabei jedoch von ungleichen Voraussetzungen im Hinblick auf die Freiheit zum Verkauf ihrer Arbeitskraft aus. Insbesondere auf Seiten der meisten Frauen liegen Mehrfachbelastung, Mehrfachverpflichtung und Mehrfachorientierung vor. Sie sind zu mehrgleisigem Verhalten gezwungen. Dies bedeutet eine weitgehende Perpetuierung der bekannten geschlechtsspezifischen Diskriminierung am Erwerbsarbeitsmarkt (vgl. Mayer et al. 1991; Kriiger/Bom 1991; Allmendinger 2000; Maier 2000). Alte Sicherheiten haben sich aufgelost, wahrend neue, v.a. die der eigenen Erwerbsarbeit und der Subsidiaritat des Staates im Notfall, fur sie nicht in gleicher Weise gelten wie fiir Manner. Ihre eigenstandige Existenzsicherung verlauft aufgrund weiterhin bestehender geschlechtshierarchischer Zuweisungskriterien strukturell gefahrdeter, diskontinuierlicher und auf einem quahtativ und quantitativ niedrigeren Niveau als bei Mannem (vgl. Backer 2001). Sie geht einher mit einer Freisetzung vom traditionalen Schutz, ohne dass bereits hinreichende materielle und psychosoziale Aquivalente bestlinden. AuBerdem bleiben noch immer eher Frauen entscheidende gesellschaftliche Bereiche - so die der Offentlichkeit und Freizeitgestaltung - zumindest zeitweise (wahrend der Zeit der Betreuung kleiner Kinder oder der Fflege alter Familienmitglieder) vorenthalten. Gerade diese sind jedoch fiir die Lebensqualitat und Zufi-iedenheit im Alter wichtig. Die neue Freiheit ist ftir gering qualifizierte Frauen mit diskontinuierlichen Erwerbsverlaufen und sozial problematischen Lebensverhaltnissen riskanter als ftir sozial besser gestellte. Wichtig ist die Frage, welchen Frauen welche Optionen im Laufe des Altems tatsachlich offen stehen, ob es sich nicht eher um mehr scheinbare Freiheit, die allenfalls ftir wenige zuganglich ist, handeln durfte, wahrend sich die Lebenslagen mehrheitlich eher verschlechtem. Das Paradoxe

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am Strukturwandel weiblichen Lebens und Arbeitens sind die nach wie vor wirksamen geschlechtshierarchischen Mechanismen der Zuweisung und Ausgrenzung, die trotz steigender Erwerbsbeteiligung und Qualifikation von Frauen weiter existieren und die Eigenstandigkeit, das Leben mit und ohne Familie, fur sie riskanter machen als fur Manner: „Bezogen auf die Lebenssituation von Frauen lasst sich das Stichwort Jndividualisierung' interpretieren als Auflosung solidarischer Vergemeinschaftung in der Familie, Freisetzung von sozialen Bindungen der Familie und Verwandtschaft oder - in der griffigen Formulierung von Beck-Gemsheim - als Durchsetzung des Anspruchs auf ein ,Stuck eigenes Leben'. Der Gewinn an Freiheit bedeutet zunachst also auch ein Mehr an Unsicherheit, das (durch staatliche Sicherungssysteme) kompensiert w^erden muB" (Buhr et al. 1988: 655; vgl. Ostner 2000). Eine weibliche ,Normalbiografie' v^ird zunehmend weniger erwartbar (vgl. HerlynA^ogel 1989, 1991; vgl. Allmendinger 2000), wenngleich sie weiter angestrebt wird. Bruche in der Erwerbsbiografie - und somit Alter(n)srisiken entsprechen nicht mehr so haufig dem vormals klassischen Drei-Phasen-Muster, sondem gehen eher auf nicht vorhersehbare Risiken zuriick, wie Erwerbslosigkeit, Scheidung oder Alleinerziehen (vgl. Maier 2000). Dies bedeutet einerseits mehr Unsicherheit und weniger Verlasslichkeit des Aufgehobenseins in traditionalen Mustem. Es kann andererseits mehr Eigenstandigkeit im Sinne freierer Lebens- und Arbeitsgestaltung bedeuten. Allerdings wird dies haufig durch ungtinstige auBere Rahmenbedingungen konterkariert. (Wie viel Wahlfreiheit besteht z.B. bei Erwerbslosigkeit oder wenn mehrere Kinder in armlichen Verhaltnissen groBzuziehen sind?) Bezuglich der vormals und zum Teil bis heute kennzeichnenden ,Schnittstellen weiblichen Altems' (s. Abschnitt 2) ist von einer weiteren Pluralisierung und Differenzierung - je nach Entscheidung fiir Familie, Erwerbsarbeit oder fur beides - auszugehen. Erstens: Die sogenannte Phase des „empty nest" und der berufliche Wiedereinstieg bzw. die emeute Konzentration auf berufliche Tatigkeit und gegebenenfalls Wiederaufstockung der Arbeitszeit werden in ihrer Konzentration auf das mittlere Lebensalter an Bedeutung verlieren und sich uber eine langere Zeitspanne verteilen. Es wird eine groBere Anzahl unterschiedlicher Muster geben, wie Frauen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie auszubalancieren versuchen. Die Frage der Generativitat und ihrer Begrenzung bleibt zentrales Thema weiblichen Altems. Zweitens: Dem Bestreben um kontinuierliche qualifizierte Erwerbsintegration wird mehr Gewicht zukommen. Inwieweit es sich realisieren lasst oder starker als bislang mit unfreiwilligen Briichen einhergehen wird (siehe Erwerbslo-

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sigkeit), ist je nach konjunktureller Lage, Qualifikation, sozialem Status und familialer Belastung der Frauen unterschiedlich zu beantworten. Nach bisherigen Erkenntnissen zur weiblichen Erwerbsintegration (s.o.) ist eher von einem ,harten Kern' an nicht geplanter Diskontinuitat auszugehen. Drittens: Bedeutsamer wird vermutlich auch der Ubergang in die Zeit jenseits der Erwerbsarbeit flir die Frauen selbst, wahrend sich ihre Rolle als ,Krisenbewaltigerin' der Pensionierung des Ehemannes eher etwas abschwachen diirfte. Auch hier sind - je nach konkreten Lebensverlaufen und Pramissen der Frauen - sehr unterschiedhche Verlaufe zu erwarten. Viertens: Der letztgenannte Einschnitt, das Uberleben ohne Partner, das Allein-Zuruckbleiben im Alter, wird an Bedeutung im Vergleich zu heute eher zunehmen, sich allerdings auf eine langere Zeitspanne verteilen und haufiger auch auf andere Ereignisse als den Tod des Partners zuriickzuflihren sein (z.B. Scheidung). Auch die Gefahr des Abhangigwerdens von der Unterstiitzung durch Institutionen oder Verwandte wird in der Tendenz fiir Frauen zunehmen. Ihre Lebenserwartung steigt zur Zeit weiter an. Und es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass sie als Hochbetagte seltener als heute von chronisch degenerativen Erkrankungen, Demenz, Multimorbiditat und eingeschrankter Fahigkeit, den Alltag selbstandig zu bewaltigen, betroffen sein werden. Die Flexibilisierung und Individualisierung weiblicher Arbeits- und Lebensweise wird per se keine Verringerung der Risiken, sondem eher eine Vermehrung potenzieller sozialer Gefahrdungen bedeuten. Vordergrlindig gibt die veranderte weibliche Erwerbsintegration Anlass, ein reduziertes Armutsrisiko im Alter zu vermuten. In Kombination mit der tendenziellen Auflosung familialer sozialer Sicherung und bei genauer Betrachtung von Art, Dauer und Qualitat weiblicher Erwerbsarbeit kann diese Prognose jedoch nicht eindeutig positiv ausfallen. Einerseits sind fur mehr Frauen eigene, fur einen Teil auch hohere Rentenbeztige zu erwarten. Andererseits werden sich abgeleitete Beziige verringem und fiir weniger Frauen infrage kommen. Und neben Arbeitsplatz- und Lohndiskriminierung wirkt die diskontinuierliche Erwerbsarbeit von Frauen als erheblich Renten mindemd. Hierzu gehoren nicht nur ,geplante' Unterbrechungen der Familie wegen, sondem insbesondere immer wiederkehrende, langer anhaltende Phasen der (registrierten oder verdeckten) Erwerbslosigkeit und/oder Teilzeitarbeit oder gar ungeschtitzten Arbeit. Materiell bedeutet dies haufig eine Spirale nach unten in Bezug auf hinreichende oder gar eigenstandige Existenzsicherung. Armut im Alter steht als folgerichtige Konsequenz der einseitigen Anrechnung nur eines bestimmten Typs von Arbeit flir viele Frauen am Ende

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eines Lebens voUer Arbeit (vgl. Gerhard 1990; Gather et al. 1991; Allmendinger et al. 1991; Schmahl/Michaelis 2000). Allerdings werden die qualitativen Defizite und negativen Entwicklungen weiblicher Erwerbsarbeit nicht nur zu materiellen Nachteilen beitragen, sondem auch zu gesundheitlichen und sozialen EinbuBen (Allmendinger et al. 1991; Allmendinger 2000). Die beschriebene weibliche (Mehrfach-)Belastung geht neben materiellen mit gesundheitHchen, psychischen und sozialen Risiken einher. Ob diese durch die gewonnenen Kontakte und Selbstbestatigung hinreichend ausgeglichen werden konnen, bleibt fragHch. Die Erkrankungsraten und Sterbedaten mehrfach belasteter, in stressigen Berufen tatiger Frauen sprechen fiir diese Vermutung (vgl. Falck 1990). Alles zusammen kann - trotz der Schritte in Richtung Eigenstandigkeit der Frau - bei vielen zu alter(n)srelevanten EinbuBen in ihrer materiellen und immateriellen Lebensqualitat fuhren. Fiir beide Geschlechter gilt im Prinzip, wenn auch fiir Frauen starker: Wahrend (zumindest potenzielle) alte Sicherheiten verloren gehen, sind neue nicht gleichermaBen entwickelt und erwartbar. Stattdessen kommen neue Risiken und Unsicherheiten hinzu, allerdings auch neue Chancen. Geblieben fiir Frauen ist ein Gutteil der alten geschlechtsspezifischen Risiken des Altems: Schlechte Voraussetzungen fiir materielle Sicherung und eigenstandige Existenz im Alter, wenig selbst bestimmte, diskontinuierliche Lebens- und Arbeitsverlaufe und eingeschrankte Entwicklung von Freizeitinteressen, insbesondere bei Frauen mit hoher oder Mehrfachbelastung (eher aus unterprivilegierten Gruppen). Hinzugekommen ist - durch den Strukturwandel weiblichen Lebens und Arbeitens bestimmt - ein Biindel neuer Risiken, die als neue Formen des alten Geschlechterrisikos zu verstehen sind: materiell riskante Erwerbsverlaufe bei gleichzeitigem Abbau der (immer schon prekaren) Sicherheit durch Ehe/Familie; immateriell riskante Lebensorientierung, die deutlich wird am notwendigen Balanceakt zwischen strukturell nicht oder nur schwer zu vereinbarenden Bereichen. Auch in den neuen Bundeslandem durften ,Emanzipation' und die damit einhergehenden formal verbesserten sozialen Chancen von Frauen nicht gleichzusetzen sein mit einer Aufhebung der spezifischen Benachteiligung im Alter. Auch hier begriinden Alltagsbeobachtungen und Fakten eher die Aussage einer spezifischen Mehrfachbelastung, die vermutlich zu einer veranderten Symptomatik der Altemsprobleme fuhren wird, als zu einer Angleichung der sozialen Chancen im Alter. Die mit der Wende einhergehenden krisenhaften Veranderungen spiegeln sich bereits in den Lebenslagen heute alterer Frauen wider. Bei ktinftig alten Frauen (und in entsprechender Weise auch bei kiinftig alten Mannem) in den neuen Bundeslandem werden Diskontinuitat der Erwerbsarbeit, un-

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geschiitzte Beschaftigungsverhaltnisse, riskante notwendige Balancen zwischen Beruf und Familie, die Chancen imd Risiken beruflicher Mobilitat sich vermutlich zunehmend in der materiellen und immateriellen Lebenslage abbilden (zur Entwicklimg in den ersten zehn Jahren nach der Wende und hierauf basierenden ersten vorsichtigen Vorhersagen vgl. Backes 2001). Insgesamt lasst sich die Frage nach den Auswirkungen veranderter Alter(n)srisiken von Frauen auf ihre Lebenschancen im Alter eher dahingehend beantworten, dass sich die geschlechtsspezifische Betroffenheit von materiellen, sozialen und personlichen Risiken in den Formen bzw. der Symptomatik verandert und nicht aufhebt. Frauen mtissen in ihrem Lebenslauf Optionen flexibel offen halten, beweglich und mehrgleisig orientiert sein, sollen die Alter(n)srisiken moglichst gering gehalten und ausbalanciert werden. Auch hinsichtlich der Alter(n)srisiken von Mannem diirften Individualisierung und Pluralisierung sowie die Entwicklungen der Erwerbsarbeit in Kombination dazu beitragen, dass sich die Prognosen beziiglich nachhaltig gesicherter Qualitat von Lebenslagen im Alter eher unsicherer gestalten.

4.

Analytische Perspektiven auf Altern im Kontext von Lebenslagen und Lebenslaufen der Geschlechter Wie bereits angesprochen, bietet das Konzept der Lebenslage einerseits eine empirisch-deskriptive Kompetenz, auf die vor allem in den Abschnitten 2 und 3 Bezug genommen wurde. Andererseits beinhaltet es eine erkldrend-analytische Kompetenz, die an Theorien der Sozialstruktur und sozialen Wandels ebenso ankniipft wie an Handlungstheorien und insofem anschlussfahig ist flir Konzepte der Geschlechterverhaltnisse und Geschlechterbeziehungen liber den Lebens(ver)lauf. Um diese wird es im Folgenden exemplarisch gehen. GemaB der Ausgangsthese (vgl. Abschnitt 1) ist der Schltissel zu einer angemessenen Analyse der vielschichtigen individuellen und gesellschaftlichen Bedeutung von Geschlecht und Altem in einer Analyse der Vergesellschaftungsformen beider Geschlechter, deren wechselseitiger Verwobenheit bis ins Alter hinein, zu fmden. In den vorangehenden Textteilen wurden die fiir heute und kiinftig alte Frauen und Manner hierarchisch komplementar strukturierte Vergesellschaftung (Einbindung in Lebens- und Arbeitsverhaltnisse) und entsprechende Lebenslagen empirisch dargestellt. Im Folgenden sind diese Struktur und ihre Auswirkungen ausfiihrlicher zu begriinden, indem sie in eine soziologische Analyse des Alter(n)s im Kontext von Lebenslagen und Geschlechterlebenslauf QuizvhQttQn sind. Dabei wird zunachst einer innerhalb der Gerontologie haufiger themati-

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sierten Betrachtung der sogenannten Feminisierung des Alters (Tews 1990, 1993; Kohli 1990) nachgegangen und mit meiner These von der Komplementaritat der Geschlechterverhaltnisse bis ins Alter kontrastiert (Backes 1999b, 2002). AnschlieBend werden die Konzepte des „ageing as a gendered process" (s. „gendered life course") zum einen und des „gender and ageing as social structure in change" zum anderen hinsichtlich ihres Beitrags zur Analyse von Geschlecht und Altem und deren Implikationen fur Lebenslagen skizziert. 4.1 „Femmisierung des Alters" vs. Komplementaritat der Geschlechterverhaltnisse bis ins Alter Die These von der „Feminisierung des Alters" geht - fur die deutschsprachige Diskussion erstmalig - auf Geschlechterverhaltnisse und entsprechend Veranderung der Lebenslagen im Alter ein (Tews 1990, 1993; Kohli 1990). Sie anerkennt damit zumindest qualitative Veranderungen mit dem Obergang ins sogenannte Alter. Allerdings weckt sie Assoziationen etwa dahingehend, als seien Manner - zumindest mannliche Lebensweisen - aus dem hoheren Lebensalter (fast) verschwunden, als hatte ihre geschlechtsspezifische Vergesellschaflung (primar Uber Erwerbsarbeit) ganzlich an Bedeutung verloren. Diese verkiirzte quantitative Darstellungsweise wirkt hinsichtlich der Qualitat des Alter(n)s, der Struktur der Lebenslagen und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung, eher verfalschend. Denn qualitativ - so meine These - ist das Alter, trotz des quantitativen Uberwiegens von Frauen und der weiblichen Vergesellschaftungsweise, weiterhin durch eine (hierarchische) Geschlechterstruktur gekennzeichnet, die dem „weiblichen" Alter(n) im Vergleich zum „mdnnlichen" geringere Lebensqualitdtschancen zuschreibt. Nicht nur aufgrund kriegsbedingter Verluste auf Seiten der Manner, sondem vor allem aufgrund hoherer Lebenserwartung von Frauen leben heute bei uns weitaus mehr altere und alte Frauen als Manner. Zwei Drittel der tiber 60Jahrigen und drei Viertel der uber 75-Jahrigen sind Frauen. Dabei ist das Verhaltnis bei den 60- bis unter 65-Jahrigen noch annahemd ausgeglichen, wahrend bei den 85-Jahrigen und alteren mit mehr als drei Viertel Frauen eine eklatante Geschlechterdifferenz auffallt (vgl. Statistisches Bundesamt 2006; zur Begriindung der Geschlechterdifferenz in der Lebenserwartung vgl. Hopflinger 2002). Doch trotz einer gewissen vordergrundigen Plausibilitat der These von der Angleichung der Lebensweisen im Alter (Kohli 1990) leben Frauen und Manner auch im Alter verschieden (vgl. Backes 1994c, 1999b): Ihre Lebenslagen und Lebensstile unterscheiden sich in sozial ungleicher Weise (hierarchisch) nach Geschlecht (neben anderen sozialstrukturellen Differenzierungen, wie Klas-

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se/Schicht, Kohorte, Region oder Nationalitat). Die „weiblichen" und „mannlichen" Lebenslaufe und Vergesellschaftungsweisen finden offensichtlich im Alter ihre Fortsetzung, wenn auch auf anderem Niveau. Konkret lassen sich vor allem folgende soziale Geschlechterunterschiede im Alter beschreiben: Einerseits ist bei Frauen im Alter die Wahrscheinlichkeit, von sozial problematischen Lebenslagen betroffen zu sein, hoher als bei Mannem. Wie bereits deutlich wurde, sind sie haufiger materiell eingeschrankt, alleinlebend bei eher prekarer materieller und immaterieller Ausstattung; sie mussen haufiger dazuverdienen oder familiale Leistungen erbringen, die ihrer gesundheitlichen Situation nicht (mehr) angemessen sind; sie sind haufiger chronisch krank, leben aber langer, so dass sie haufiger auf institutionelle Hilfe bis hin zum (Pflege-)Heimaufenthalt angewiesen sind (vgl. Backes 1994a, 2001). Wahrend sie ihre Manner bis zum Tod betreuen und pflegen, stehen ihnen derartige Hilfen seltener zur Verfiigung. Sie beschlieBen ihr Leben mehrheitlich als Witwe oder Alleinlebende. Bis dahin miissen sie sich haufiger grundlegend umorientieren, z.B. den Auszug der Kinder, das Ende der eigenen Berufsarbeit, das Ende der Arbeit des Mannes, dessen Krankheit und ggf Pflegebedtirftigkeit, seinen Tod und schlieBlich ihre eigene nachlassende Selbstandigkeit und zunehmende Hilfebediirftigkeit verarbeiten (vgl. Backes 1983; 1993, 2001; Fooken 1987; Lehr 1987; Naegele et al. 1992; Niederfranke 1994; Clemens 1997). Manner hingegen sind im Alter vergleichsweise seltener und weniger stark von sozialen Froblemen (wie Armut, Krankheit und Hilfebedtirftigkeit ohne hinreichende alltagliche Untersttitzung im unmittelbaren sozialen Umfeld) betroffen. Andererseits ist Alter bei Frauen auch gepragt durch Vorzuge und bei Mannem durch Nachteile, die mit ihrem geschlechtsspezifischen Lebenslauf einhergehen und bis in die alterstypischen Umorientierungen hinein wirken. So sind Frauen - vermutlich aufgrund der mit dem weiblichen Lebenslauf verbundenen Notwendigkeit der haufigen Umstellung und Vereinbarung von Widerspriichen haufig besser in der Lage, Veranderungen und Verluste zu verarbeiten, sich zumindest damit zu arrangieren (vgl. Clemens 1997). Manner hingegen scheinen beim Wechsel in die bislang meist vollig ungewohnte Alters-Lebensweise ohne die Strukturierung durch Erwerbsarbeit zumindest anfangs mehr Probleme zu haben. Gleichzeitig verftigen sie tiber erwerbsarbeitsvermittelte Ressourcen (Geld, Qualifikation), die ihnen die Umgestaltung ihrer Lebensweisen erleichtem. Und sie sind i.d.R. - anders als Frauen - freier von (familialen) Verpflichtungen, die sie an der Entfaltung neuer Interessen hindem konnten. Auch wenn das Alter fiir Frauen im Prinzip eine doppelt sozial gefahrdende Lebensphase darstellt (s. Abschnitt 2), so trifft dies konkret nicht bei alien alten

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Frauen - und umgekehrt Mannem - gleichermaBen ein. Eine Kumulation von Benachteiligungen fmdet sich haufig bei Arbeiterwitwen ohne oder mit geringfiigiger beruflicher Qualifikation und mit diskontinuierlichem Erwerbsverlauf in ungeschiitzten, schlecht bezahlten und gesundheitlich beeintrachtigenden Arbeitsverhaltnissen, mit langeren Zeiten der Erwerbslosigkeit und der Mehrfachbelastung durch Familien- und auBerhausliche Arbeit. Und eine Kumulation von Vorteilen findet sich eher bei Mannem mit kontinuierlicher hoch qualifizierter Berufsarbeit, entsprechendem Einkommen, Prestige und Einfluss sowie sonstigen damit verbundenen Ressourcen (der Bildung, der sozialen Vemetzung), die sich i.d.R. bis ins Alter hinein positiv auf ihre Lebenslagen auswirken (zur Differenzierung der Lebenslagen im Alter vgl. verschiedene Beitrage in Naegele/ Tews 1993). Das Ende der Berufsarbeit konfrontiert Manner mit einer ftir sie neuen, primdr weiblich strukturierten Vergesellschaftung: „Der Verlust der Erwerbsposition bedeutet fiir die Manner - uberspitzt gesagt - eine strukturelle jFeminisierung'. Sie fmden sich starker auf die Ehe und Haushaltsfuhrung als alltagliche Ordnungsschemata verwiesen" (Kohli 1990: 401). Hieraus jedoch auf eine Angleichung der Lebenslagen und ein „Verweiblichen" der Manner „in ihren psychischen (oder sozialen, G.B.) Merkmalen" (Kohli ebd.) zu schlieBen, ist m.E. zu kurz gegriffen. Es verweist auf eine theoretische Vemachlassigung der hierarchisch komplementaren Geschlechterverhaltnisse bis ins Alter hinein: Denn diese veranderte Vergesellschaftung fur Manner ist gleichzeitig in der gesamtbiografischen Perspektive ihres ,Normallebenslaufs' bereits enthalten. Entsprechend sind kompensierende Mechanismen ,eingebaut': Auch fiir die Bewaltigung dieser Umstellung stehen ihnen im Kontext der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung und ihrer bisherigen Vergesellschaftung meist hinreichend (materielle und soziale) Ressourcen zur Verfugung (wobei die sozialen Ressourcen zumeist von den Frauen gestellt werden). Und einem Neubeginn mittels sogen. nachberuflicher Tatigkeiten stehen - im Unterschied zu vielen Frauen familiale Verpflichtungen nur in den seltensten Fallen entgegen. Mit einem hohen Alter als Alleinstehende oder gar im (Pflege-)Heim miissen sich die wenigsten Manner - dank weiblicher Ressourcen - auseinandersetzen. Aufgrund ihrer bisherigen Vergesellschaftung sind sie in materieller und sozialer Hinsicht in der Regel besser als Frauen gegen soziale Probleme im Alter geschtitzt. Auch hier existiert - wie bei Frauen - je nach konkreter Vergesellschaftxmg im Lebenslauf (z.B. Vorliegen von kontinuierlicher Erwerbsarbeit oder Arbeitslosigkeit) ein entsprechend differenziertes Bild, das die o.g. Grundstruktur jedoch nicht in Frage stellt.

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An der obigen Aufzahlung sozialer Geschlechterunterschiede im Alter wird einerseits das geschlechtsspezifisch Weibliche bzw. Mdnnliche an Lebensverldufen als Hintergrundkontur sichtbar. Andererseits wird erkennbar, dass es - innerhalb und zwischen diesen Mustern - sehr vielschichtige, heterogene Lebensverldufe und Biografien insbesondere von Frauen gibt, dass dementsprechend auch Frauen oder Manner, etwa bei Angeboten der Altenhilfe, nicht liber einen in diesem Fall den geschlechtsspezifischen - „Kanim geschoren" werden konnen. Das Wissen um weibliche und mannliche Vergesellschaftung und Biografien hilft allerdings, eine erste sehr wichtige Grundstrukturierung zu erkennen und sich daran zu orientieren. Hinsichtlich alter Frauen heiBt das z.B.: Bei ihnen ist nach Vergesellschaftungsmustem in Anlehnung an Familie und/oder Erwerbsarbeit zu suchen, nicht primar, wie bei Mannem, an Erwerbsarbeit. So gibt es heute mehrheitlich alte Frauen, die beztiglich der Lebensgestaltung im Alter an Familie anknupfen konnen, dies u.U. jedoch aus biografischen Griinden nicht (mehr) wollen und stattdessen verschtittete Potenziale ihrer auBerhauslichen Arbeitsorientierung, Bildung, Ausbildung aktivieren und hieran arikntipfen wollen. Umgekehrt ware es denkbar, dass alte Manner die familialen Potenziale starker entfalten wollten, die ihnen in ihrer Biografie bislang durch erwerbsarbeitsbedingte Zwange verwehrt geblieben sind. Gleichzeitig kann auBerhausliche Arbeit bzw. Erwerbsarbeit als Vergesellschaftungskontext fur Frauen, auch fur heute alte, nicht ausgeklammert werden. Denn bei den meisten Frauen spielt sie direkt oder indirekt (als avisiertes, haufig unterbrochenes, unerledigtes Projekt, als zeitweilige Notwendigkeit, als Erganzung der Familienarbeit etc.) eine groBe Rolle bis in die Lebenslage, die Perspektiven und Handlungsspektren im Alter hinein. Fazit: Angesichts der Komplexitat des Spektrums differenzierter - z.T. in sich widerspruchlicher - Lebenslagen im Alter greift es zu kurz, mit Blick auf die langere Lebensdauer von Frauen und zumindest vordergrundig primar weibliche Vergesellschaftung im Alter auf ihre bevorzugte Situation zu verweisen oder mit Blick auf die groBere materielle Unabhangigkeit der Manner auf deren privilegierte Lage bzw. mit Blick auf die vermeintlich nicht mehr mannliche Vergesellschaftung im Alter auf eine entsprechend prekare Situation der Manner. Von der Quantitat weiblicher oder mannlicher Vergesellschaftung kann noch nicht auf deren Bedeutsamkeit hinsichtlich der Lebensqualitatschancen von Frauen und Mannem im Alter geschlossen werden.

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4.2 „Ageing as a gendered process" Oder: geschlechterspezifische Vergesellschaftung bis ins Alter Vergesellschaftungsprozesse, Status und Ressourcen von Frauen und Mannem sind bis ins Alter hinein wesentlich gepragt nicht nur durch ihre soziale Position innerhalb des gesellschaftlichen Klassen- bzw. Schichtenspektrums, der Kohorten, der Regionen u.a., sondem vor allem durch die Bedeutung von Geschlecht als Sozialstruktur. Mit der Zugehorigkeit zum weiblichen oder mannlichen Geschlecht sind jeweils spezifische soziale Zwange und Ressourcen sowie Chancen des Umgangs damit verbunden. Geschlecht ist bis ins Alter hinein - wie auch das Alter wahrend des gesamten Lebenslaufs - im Wesentlichen eine soziale Konstruktion. Das heiBt, es ist Folge eines gesellschaftlichen Defmitionsund Konstruktionsprozesses und nicht qua Biologic festgelegt. Insofem ist sowohl Geschlecht eine u.a. durch das Alter(n) bestimmte soziale Konstruktion und die soziale Geschlechtsentwicklung - „gendering" - ein alter(n)sbestimmter Prozess als auch Alter eine (u.a.) durch das soziale Geschlecht bestimmte soziale Konstruktion und Altem ein entsprechender Prozess, mit anderen Worten: „Ageing is a gendered process" (Arber/Ginn 1991: 2). Beides bedeutet: Die geschlechtstypischen Vergesellschaftungsweisen verandem sich im Alter in ungleicher Weise. Wahrend die der Manner in den Hintergrund tritt, gewinnt ein wesentlicher Teil der weiblichen an Bedeutung, und zwar fiir beide Geschlechter, dabei fur die Frauen als Aktive und die Manner als Rezeptive. Das heiBt jedoch nicht, dass die Lebenslagen beider Geschlechter nicht nach wie vor weiterhin durch mannliche und weibliche Vergesellschaftung und ihre wechselseitige hierarchische Zuordnung gepragt seien. Die Hierarchic der Geschlechterverhaltnisse bleibt grundsatzlich erhalten, sie fmdet ihre Auspragung z.B. in der starkeren Entlastung und Verftigung tiber lebenslagerelevante Ressourcen auf Seiten der Manner und Belastung sowie Benachteiligung beziiglich lebenslagerelevanter Ressourcen auf Seiten der Frauen. Hierarchisch ist diese Komplementaritat der Geschlechterverhaltnisse bzw. des Verhaltnisses beider Geschlechter zueinander bis ins Alter hinein insofem, als zwar die weibliche Vergesellschaftung im Alter quantitativ vorherrschend ist, sie jedoch dadurch noch nicht als gleichwertig oder gar hoherwertiger als die mannliche angesehen wird. Stattdessen bleibt sie gesellschaftlich als geringer wertiger eingestuft: Was negativ auffallt, etwa die gesellschaftliche Last, ist eher „weiblich" besetzt; was positiv auffallt, etwa die nachberuflichen Tatigkeitsformen als Ressource, hingegen eher „mannlich". Weibliche Ressourcen bleiben auch im Alter eher privatisiert und damit marginalisiert, mannliche haben eher die Tendenz zu einem offentlichen Charakter, sind sichtbarer und

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werden hoher eingestuft. Immer noch wird quasi selbstverstandlich vor allem auf heute altere und alte Frauen als Versorgungsressource zurtickgegriffen, ohne dass sie sich damit meist gleiche Anspriiche (etwa des (iberwiegend privat Versorgt- und Gepflegtwerdens) erwirkten. Die derzeit zunehmende Zahl pflegender Manner und die seit Einflihrung der Pflegeversicherung auch moglichen Unterstutzungs- und Entlastungsmomente bei privater Pflege sind erste Ansatze einer Veranderung.

5. Geschlecht und Alter(n) als Sozialstruktur im Wandel Die bisherigen Ausfuhrungen lassen folgende Schlussfolgerung zu: Die Arbeitsteilung und Vergesellschaftungsweisen der Geschlechter bis ins Alter hinein sind als wesentliches Element einer sich wandelnden Sozialstruktur modemer Gesellschaften zu sehen. Sie haben Auswirkungen auf die individuelle und gesellschaftliche Bedeutung des Alter(n)s wie auf Problemlosungen im Umgang damit. Im Kontext iibergreifenden sozialen wie demografischen und alter(n)sstrukturellen Wandels zeichnet sich der Tatbestand, dass Alter(n) in der Weise, wie oben beschrieben, durch geschlechtsspezifische Vergesellschaftung bestimmt ist, fiir beide Geschlechter und fiir Gesellschaft als besonders folgenreich ab (vgl. Backes 1997, 2001). Denn hiermit sind Entwicklungen verbunden, die zu einer quantitativen Ausweitung der weiblichen Vergesellschaftungsformen im Alter beitragen und ihre Bedeutung starken: 1. Innerhalb des Altersstrukturwandels ist die quantitative Feminisierung eng verbunden mit Hochaltrigkeit und Singularisierung, und diese Dimensionen weisen auf typische soziale Gefdhrdungsbereiche des Alters hin. Soziale Probleme im Alter sind de facto zum tiberwiegenden Teil Probleme alter und hochbetagter Frauen. Die sozial gefahrdenden Konsequenzen der spezifischen Vergesellschaftung von Frauen auBerhalb und am Rande des ,Normalerwerbslebens' fmden hier ihren deutlichen Ausdruck. Soziale Sicherheit, ,spate Freiheit' und Gleichheit/Gerechtigkeit, bilanziert tiber den Lebenslauf, sind bei Frauen im Alter eher die Ausnahme. ,Normal' ist fur sie die negative Abweichung von dieser gesellschaftlich defmierten ,Normalitat' und Zielsetzung des Alter(n)s. Hinsichtlich sozialer Sicherheit und Freiheit sind Frauen im Alter strukturell von doppelter Ungleichheit betroffen. Dies bedeutet vor dem Hintergrund gesellschaftlicher und sozialpolitischer Ziele eine doppelte legitimatorische und praktische Herausforderung. Je mehr Abweichungen vom sogenannten ,Normallebens-' im Sinne von ,Normalerwerbsverlauf sich im Alter zu sozialen Problemen entwickeln, desto groBer werden die Anforderungen an soziale Kon-

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trolle und Bearbeitung, und desto hoher wird die Wahrscheinlichkeit, dass die entsprechenden gesellschaftlichen Ressourcen zur Bearbeitung nicht mehr ausreichen. Insofem stellt sich die Lebenslage von Frauen im Alter als gesellschaftlich erzeugte, nicht - wie haufig suggeriert - individuell begriindete Last dar. 2. Gleichzeitig stellen Frauen - bis ins hohe Alter hinein - ein ganz wesentliches gesellschaftliches Hilfepotenzial gegeniiber alten und hochbetagten wie jiingeren Menschen (v.a. Familien und Kranken) dar. Sie bilden auBerdem ein erhebliches Selbsthilfepotenzial hinsichtlich der Bewaltigung ihrer eigenen Alter(n)sprobleme. Wenn Frauen als „die heimliche Ressource der Sozialpolitik" (Beck-Gemsheim 1991) angesprochen werden, so ist damit zwar der weibliche Lebens- und Arbeitsverlauf insgesamt einbezogen. Die verftgbaren und tatsachlich zur Verfugung gestellten Ressourcen der alltaglichen informellen Unterstutzung bis bin zur Pflege im familialen, verwandtschaftlichen und nachbarschaftlichen Kontext liegen jedoch iiberwiegend bei alteren und alten Frauen. Sie leisten haufig - zunachst haufig auch noch parallel zu einer Erwerbsarbeit Hilfe sowohl fur die jungere als auch fiir die altere Generation. Sie befinden sich ab dem mittleren Alter in einer Sandwich-Position und sind - weniger als jtingere Frauen - darauf eingestellt, unter Umstanden auch weniger darauf verwiesen, eigene Existenzsicherung und Eigenstandigkeit gegeniiber familialer Hilfe gleich- oder sogar tibergewichtig einzuordnen (vgl. Borcher/Miera 1993; Clemens 1997). Insofem stellen Frauen eine - ebenfalls vergesellschaftungsbedingte - wesentliche Entlastung hinsichtlich gesellschaftlicher Anforderungen und Kosten des Alter(n)s dar. 3. Dies beginnt sich u.U. zu andem: Hilfen zwischen den Generationen, meist geleistet von Frauen, waren und sind wesentlicher Bezugspunkt der Sozialpolitik. Mit Blick auf die kiirzer-, mittel- und langerfristige Zukunft wird allerdings spatestens seit Anfang der 1990er Jahre gefragt: „Wer pflegt uns im Alter?" (Kytir/Munz 1991; vgl. auch Bengtson/Schtitze 1992). Denn abgesehen von einer demografisch bedingten und noch verstarkt zu erwartenden Ausdtinnung der jiingeren Pflegenden sind mittlerweile mehr Frauen auch parallel zur Kindererziehung oder Pflege erwerbstatig. Sie sind hierzu haufiger aufgrund ihrer Lebensverhaltnisse (etwa als alleinerziehende, geschiedene oder Frau mit erwerbslosem Mann) gezwungen. Und sie orientieren sich entsprechend auch haufiger zumindest im Prinzip an der Norm, zumindest auch ein Stiick Eigenstandigkeit und Selbstverwirklichung zu leben. Damit beginnt die Selbstverstandlichkeit der primar oder gar ausschlieBlich weiblichen Sorge fur alte und kranke Eltem oder Schwiegereltem, u.U. sogar (Ehe-)Manner, langsam zu schwinden. Eine entscheidende Ressource zur Be-

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waltigung sozialer Kosten der Langlebigkeit droht langsam zu versiegen. Bislang wird dies nicht hinreichend durch eine entsprechend steigende aktive Sorge der Manner um alte und kranke Verwandte oder eine Qualifizierung imd Ausweitung sozialer Dienstleistungsangebote ausgeglichen. Derzeit bleibt noch weitgehend offen, in welcher Weise und in welchem Umfang Pflegeversicherung und (geplante) Qualifizierungsansatze hierbei mittel- und langerfristig nachhaltig zu Abhilfe beitragen konnen. 4. Zeitlich parallel zu dieser Entwicklung werden durch die Ausdehnung der Altersphase Pflege und Betreuung, insbesondere von Hochbetagten, zur besonderen quantitativen, aber auch qualitativen Herausforderung fiir die Gesellschaft. Wie oben deutlich wurde, sind die traditionellen familiaren, verwandtschaftlichen und z.T. nachbarschaftlichen Muster, damit umzugehen, zum Teil bereits briichig geworden, und sie reichen vor allem auch quantitativ nicht mehr aus. Trotzdem wird weiterhin - wenn auch in modifizierten Formen - der groBte Teil an Pflegeleistungen im privaten Raum und dort von pflegenden Tochtem oder Schwiegertochtem sowie zunehmend, wenn auch quantitativ noch relativ unbedeutend, auch von alten Mannem erbracht (vgl. Wand 1986; Backes 1992a; 1992b; Naegele/Reichert 1998). Neue Formen der Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und hauslicher Pflege werden individuell erprobt, sind jedoch strukturell weiterhin nur in Ausnahmefallen tiber langere Zeit und qualitativ zufriedenstellend zu praktizieren (Beck et al. 1995; Backes 1996, 1998). Mit Einfuhrung der Pflegeversicherung zeichnen sich gewisse Entlastungsmomente fur pflegende Angehorige ab (s. Untersttitzung durch ambulante Pflege; Geldleistungen); ihre Auswirkung auf die Lebenslage der Pflegenden scheint jedoch eher widerspriichlich zu sein (z.B. wenn Geld- statt Sachleistungen in Anspruch genommen werden, pflegende Frauen daftir aber noch starker unter Druck geraten, sich ganzlich der Pflege zu widmen; vgl. verschiedene Beitrage in Naegele/Reichert 1998). 5. Vor dem Hintergrund der beschriebenen Entwicklungen ist es denkbar, dass einerseits ktinftig fur immer weniger Frauen die bisherige, prekare soziale Sicherung und Freiheit infrage kommt und sich andererseits parallel dazu fiir einen groBeren Teil deutlich schlechtere Chancen einer eigenstandigen sozialen Sicherung entwickeln werden. Weibliche Vergesellschaftung (in alter und in neueren Formen) wirkt sich hinsichtlich des Alter(n)s als riskant aus. In immaterieller Hinsicht lasst sie allerdings auch spezifische Kompensations- und Bewaltigungschancen entstehen; und dies wird vermutlich auch in Zukunft der Fall sein. Fazit: Entsprechend der ebenfalls hierarchisch strukturierten gesellschaftlichen Wertigkeit von Lebensphasen gewinnt die „weibliche" Vergesellschaftung im Alter (der gesellschaftlich niedriger bewerteten Zeit im Lebensverlauf) an

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Bedeutung. Die „mannliche" tritt in den Hintergrund. Sie ist jedoch direkt iind indirekt - z.B. vermittelt tiber die erwerbsarbeitszentrierte soziale Alterssicherung - weiterhin bestimmend flir die vorhandenen Ressourcen und damit fiir die Lebensqualitat. Die Komplementaritat der beiden Vergesellschaftungstypen bleibt grundsatzlich in ihrer sozial ungleichen, hierarchischen Struktur erhalten, wenn auch mit altersentsprechend modifizierten Inhalten und Bedeutungsgehalten wie auch Formen des Bezugs untereinander. Die Ideologie der Gleichheit der Geschlechter und die Realitat einer nach wie vor hierarchisch strukturierten lebenslang sich aufbauenden Ungleichheit driften insbesondere bei Frauen im Alter auseinander. Denn sie haben sich dem (mannlichen) ,Normallebenslauf, aus dem sich soziale Sicherheit im Alter und ,spate Freiheit' ableiten, nicht angepasst bzw. aufgrund ihrer anderen Vergesellschaftungsweise allenfalls unvollstandig anpassen konnen. So sind sie denn bis ins eigene hohere Alter hinein einerseits als Pflegende, Betreuende, Familienarbeitende gebunden und konnen kaum eine ,spate Freiheit' fur sich in Anspruch nehmen, wahrend andererseits fur sie diese sozialen Leistungen haufig nur unzureichend sichergestellt sind und ihre materielle Sicherung sehr diirftig ausfallt. Unfreiheit, Unsicherheit und Ungleichheit bzw. Ungerechtigkeit sind die Bilanz eines anders, nicht ,normal' vergesellschafteten Lebens. Je mehr dies (mit zunehmender Feminisierung des Alters) quantitativ ins Gewicht fallt und qualitativ gegen herrschende Ideale der Gesellschaft (der Vorstellung des freien, gesicherten Alters und des gerechten Ausgleichs flir ein Leben voller Arbeit) verstoBt, desto mehr dtirfte diese Entwicklung zu Legitimationsproblemen und zu offenen Fragen der Vergesellschaftung des Alter(n)s beitragen.

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Age-Diversity: Ein Ansatz zur Verbesserung der Beschaftigungssituation alterer Arbeitnehmerlnnen? Saskia-Fee Bender Institutfur Gesellschafts- und Politikanalyse, Universitdt Frankfurt

1. Einleitung Das Thema „Alter und Beschaftigung" hat in jtingster Zeit in der Diskussion um die Zukunft der Arbeitsgesellschaft in Deutschland zunehmend an Relevanz gewonnen. Dies kann deutlich gemacht werden durch einen kurzen Blick auf zwei wichtige sozialpolitische Themen: Zum einen die Erhohung des gesetzlichen Rentenzugangsalter auf 67 Jahre sowie der Abbau von Fruhverrentungsmoglichkeiten und zum anderen die demografische Entwicklung. Zum ersten Punkt: Der starke Personalabbau vor allem alterer Mitarbeiterlnnen in deutschen Untemehmen hat in den vergangenen Jahren zu einer immensen Belastung der Sozialsysteme, vor allem der Rentenkassen, gefuhrt. Deshalb will der Bundesminister fur Arbeit und Soziales, Franz Miintefering, die Anderungen in den Sozialsystemen mit dem Ziel verbinden, die Beschaftigungschancen Alterer auszubauen (Miintefering 2006). Die Verbesserung der Beschaftigungsmoglichkeiten alterer Arbeitnehmerlnnen steht aber nicht zuletzt deshalb im Mittelpunkt des Interesses, weil Unternehmen das okonomische Potenzial, das ihre alteren Beschaftigten in den Arbeitsprozess einbringen konnen, bisher nicht ausreichend erkannt und genutzt haben. Im Gegenteil fflhrte die bisherige gesetzliche Erleichterung der Fruhverrentung und des Vorruhestandes dazu, dass Untemehmen bei notwendigen Restrukturierungen, die mit Personalabbau verbunden waren, vor allem ihre alteren Mitarbeiterlnnen entliefien. Zu der gesellschaftspolitischen Brisanz dieses Themas tragt zweitens die demografische Entwicklung in der Bundesrepublik bei. Diese ist durch eine rticklaufige Geburtenrate und eine steigende Lebenserwartung gekennzeichnet, und hat auch Auswirkungen auf das Alter des Erwerbspersonenpotenzials und fuhrt zu einem Ruckgang an jungen Nachwuchskraften. Wahrend die Arbeitnehmerlnnen des mittleren Alters heute noch die dominante Gruppe des Arbeitskraftepotenzials sind, werden in Zukunft vorrangig altere Arbeitnehmerlnnen zur Verfugung stehen (Statistisches Bundesamt 2003: 35f). Angesichts des demografischen Wandels, der leeren Rentenkassen und der schrittweisen Erhohung des Rentenzugangsalters auf 67 Jahre setzt auch in den

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Untemehmen langsam ein Umdenken ein. So empfiehlt beispielsweise die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbande den Untemehmen, sich fruhzeitig auf die demografischen Veranderungen einzustellen und durch entsprechende Instrumente in der Personalentwicklimg fur eine Verbesserung der Beschaftigungsfahigkeit alterer Arbeitnehmer zu sorgen (BDA 2003). In diesem Zusammenhang und im Hinblick auf das Thema dieses Beitrags stellt sich die Frage, welche Konzepte Untemehmen verfolgen - wenn sie denn welche verfolgen -, um die Beschaftigungsfahigkeit ihrer alteren Arbeitnehmerlnnen zu sichem. Eines dieser Konzepte ist Age-Diversity. Dieses konzentriert sich auf die Integration unterschiedHcher Altersgmppen von Beschaftigten in einem Untemehmen und auf die Wertschatzung der Fahigkeiten alterer Arbeitnehmerlnnen. Ein Hauptziel ist die sinnvolle Zusammenfxihmng der Potenziale aller Generationen. Mein Beitrag befasst sich zunachst mit den theoretischen Gmndlagen zu Diversity und insbesondere Age-Diversity. Um den Einstieg zu erleichtem, wird zunachst dargestellt, welchen Ansatz Diversity-Konzepte verfolgen und welche Problemstellung sie zur Basis nehmen. Im Anschluss beschaftige ich mich mit der Umsetzung von Age-Diversity. Es soil hier den Fragen Beachtung geschenkt werden, welches nun die altersspezifischen Potenziale sein konnen, die Arbeitnehmerlnnen durch ein Age-Diversity-Konzept in ihr Untemehmen einbringen konnen, welche personalpolitischen MaBnahmen dazu angewendet werden konnen und inwiefem Age-Diversity-Konzepte einen okonomischen Erfolg flir Untemehmen versprechen. AbschlieBend werden die Schwierigkeiten thematisiert, die sich in der Realisiemng von Age-Diversity als hinderlich erweisen konnen. Unterlegt wird diese Auseinandersetzung mit den theoretischen Annahmen durch die Darstellung der Ergebnisse einer empirischen Studie zu Diversity, insbesondere Age-Diversity. Ziel dieser Studie war es, die theoretische Konzeption dieser Ansatze an der Realitat zu tiberprtifen. Zu diesem Zweck habe ich vier ausgewahlte Untemehmen sowie eine Verwaltung dazu interviewt, wie sie Diversity und Age-Diversity verstehen und umsetzen. Geeignete Ausziige aus dem Interviewmaterial verwende ich in diesem Beitrag dazu, die theoretischen Grundlagen von Age-Diversity zu illustrieren und die praktische Umsetzung dieses Konzeptes exemplarisch darzustellen. Aus Grunden des Datenschutzes verzichte ich auf die namentliche Nennung der Untemehmen und der Verwaltung und werde ihre Aussagen folgendermaBen zitieren: Untemehmen A und B sind Dienstleistungsuntemehmen im Finanz- bzw. Gesundheitswesen, Unternehmen B und D sind Produktionsuntemehmen in der Automobilindustrie.

Age-Diversity

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Ausgespart in der Studie und in diesem Beitrag wird die Verkniipfung der Diversity-Merkmale „Alter" und „Geschlecht". Hier bleibt nur der Hinweis, dass eine theoretische Auseinandersetzung mit der Chancengleichheit und Integration weiblicher alterer Beschaftigter in der Diversity-Forschung bisher nicht stattgefunden hat, was ein erhebliches Defizit der Forschung insgesamt darstellt.

2. Forschungsstand zu Age-Diversity Bevor ich mit den theoretischen Grundlagen zu Diversity und Age-Diversity beginne, mochte ich zuerst den Forschungsstand zu Age-Diversity kurz wiedergeben, um aufzuzeigen, dass dieser Ansatz in der deutschsprachigen - vorrangig in der empirischen - Wissenschaft noch als Neuland begriffen werden kann. Besonders hervorzuheben ist, dass Age-Diversity in der Theoriebildung zu Diversity bisher vemachlassigt wurde. Es existiert beispielsweise keine spezifische Definition des Begriffes „Age-Diversity". Obwohl die Alterungsproblematik des Erwerbspersonenpotenzials in den offenthchen gesellschaftspoHtischen Diskussionen um die Zukunft der Arbeitsgesellschaft relativ haufig auftaucht, haben sich bislang lediglich zwei wissenschaftHche Beitrage differenzierter mit dieser Thematik beschaftigt. Aus diesem Grund bestand die Notwendigkeit, auBer diesen beiden Beitragen auf FachUteratur uber die Auswirkungen des demografischen Wandels auf die Erwerbsbevolkerung in Deutschland zurtickzugreifen, die sich mit den BeschaftigungsmogUchkeiten und der -situation von Arbeitnehmerlnnen unterschiedHchen Alters beschaftigt. Diese Abhandlungen geben Handlungsempfehlungen, wie der Beschaftigungsproblematik einer altemden Erwerbsbevolkerung anhand von personalpolitischen MaBnahmen begegnet werden kann, allerdings ohne sich auf Age-Diversity zu beziehen. Insofem habe ich zur wissenschaftlichen Fundierung von Age-Diversity die in einer interdisziplinaren Literatur verstreuten Uberlegungen verschiedener Autorlnnen zusammengetragen, und daraus einen eigenen Age-Diversity-Ansatz erarbeitet. Aber nicht nur in der theoretischen Auseinandersetzung ist Age-Diversity weitgehend unberucksichtigt geblieben, sondem auch in der empirischen Organisationsforschung. Bislang wurde keine quantitative oder qualitative empirische Erhebung zu dem Thema Age-Diversity durchgeflihrt.

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Begriffsbestimmungen und Problematisierungen von Diversity und Age-Diversity Das englische Wort „diversity" bedeutet in der deutschen Ubersetzung „Verschiedenheit" und „Mannigfaltigkeit" (Langenscheidt 1998: 176). Der Begriff Diversity wird im Untemehmenskontext nun in zweierlei Hinsicht verwendet: Zum einen wird mit ihm allgemein die „Verschiedenartigkeit, Ungleichheit, Andersartigkeit und Individualitat bezeichnet, die durch zahlreiche Unterschiede zwischen Menschen entsteht" (Aretz/Hansen 2002: 10), und auch als Ausdruck einer „personellen Vielfalt" oder „Vielfalt in der Mitarbeiterlnnenschaft" verstanden (Hansen/Muller 2003: 21). Zum anderen sind unter Diversity ebenso solche Managementkonzepte zu verstehen, die ein Bewusstsein dafur schaffen wollen, dass Untemehmen durch die unterschiedlichen Merkmale ihrer Mitarbeiterlnnen iiber eine Vielfalt von individuellen Fahigkeiten, Erfahrungen, Kompetenzen und Qualifikationen verfugen. Fiir die deutschsprachige Diversity-Forschung haben sich fiinf Merkmale herauskristallisiert, nach denen Mitarbeiterlnnen unterschieden werden und anhand derer die Vielfalt wahrgenommen wird. Diese gelten als „Kemdimensionen" und sind namentlich Alter, Geschlecht, ethnisch-kulturelle Herkunft, Behinderung sowie die sexuelle Orientierung eines Menschen (vgl. Vedder 2003: 19). Nun stellt sich die Frage, warum gerade diese Diversity-Merkmale der Mitarbeiterlnnenschaft eines Untemehmens bedeutungsvoll sind bzw. warum Untemehmen ein Konzept brauchen, welches sie darauf aufinerksam macht, dass eine Vielfalt ihrer Belegschaftsstrukturen existiert. In der Diversity-Forschung wird die These vertreten, dass eine Anerkennung der Unterschiede ihrer Mitarbeiterlnnen flir deutsche Untemehmen bis vor kurzem kein Thema war, sondem viele deutsche Untemehmen auf Monokulturen basieren (vgl. Stuber 2004: 86). Als monokulturell lassen sich Untemehmen verstehen, deren Beschaftigtenstmktur durch eine dominante Gmppe von Mitarbeiterlnnen bestimmt wird. Dabei muss betont werden, dass die monokulturelle Auspragung reziprok ist. Zum einen bestimmen die Arbeitnehmerlnnen der dominanten Gmppe anteilsmaBig die Belegschaftsstmkturen, defmieren die Werte und Normen und pragen somit die Untemehmenskultur. Zum anderen ist auch die Personalpolitik primar auf diese dominante Arbeitnehmerlnnengmppe ausgerichtet (vgl. Krell 2004: 44). Das hat zur Folge, dass die dominierten Arbeitnehmerlnnengmppen keinen Einfluss auf die Untemehmenskultur haben und ihre Bedurfiiisse durch die Personalpolitik nicht angemessen berticksichtigt werden. Der dominante Mitarbeiterlnnentyp - Krell (1997: 58) bezeichnet ihn als „Norm(al)Arbeitnehmer" - weist in deutschen Untemehmen folgende Merkmale

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auf: Er ist mannlichen Geschlechts, mittleren Alters, nicht-behindert sowie inlandischer Herkunft. Daraus ergibt sich, dass Beschaftigte, die dieser Norm nicht entsprechen, Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund, Altere, Jtingere und Menschen mit Behinderimg sind. Diese werden nach Krell „als ,anders', ,besonders' und d.h. haufig zugleich ,defizitar' angesehen" (Krell 2004: 44). Als Konsequenz dessen wird in der Diversity-Forschung die Annahme vertreten, dass Beschaftigte, die in den Auspragungen der Diversity-Merkmale von dem „Norm(al)Arbeitnehmer" abweichen, aufgrund ihrer „Andersartigkeit" haufiger Stigmatisierung und Diskriminierung ausgesetzt sind (Krell 1997: 52). Auf diese Beschaftigte wird - haufig unausgesprochen - ein Druck ausgeiibt sich anzupassen: Dies hat negative Effekte auf die Leistungsfahigkeit und -bereitschaft der nicht der Norm entsprechenden Arbeitnehmerlnnen, was sich wiederum nachteilig auf das Untemehmen auswirkt: denn durch die Bemtihungen sich anzugleichen, wird der Blick auf die personlichen Starken verstellt (Balser 1999: 16). Dies weist auf eines der wesenthchen Defizite monokultureller Untemehmen hin: Liegt der Fokus eines Untemehmens - und somit seine Kultur und Personalpolitik - auf einer Beschaftigtengruppe, werden die Fotenziale der Ubrigen Arbeitnehmerlnnen nicht ausgeschopft. Diversity als Instrument der Untemehmensfiihrung hat nun folgende Zielsetzungen: Statt Mitarbeiterlnnen anzupassen und vereinheitlichen zu wollen, fokussiert Diversity auf Chancengleichheit und Inklusion. Chancengleichheit durch Diversity zeigt sich darin, dass unterschiedliche Mitarbeiterlnnen als gleichwertig betrachtet werden und es ihnen ermoglicht wird, ihre vielfaltigen Fotenziale am Arbeitsplatz zu entfalten und zu verwirklichen (Engel 2004: 293). Um die Fotenziale zu fSrdem, zielt Diversity auf die Veranderung hin zu einer Fersonalpolitik, die der Unterschiedlichkeit heterogener Mitarbeiterlnnen gerecht wird. Das Ziel ist die Inklusion, das heiBt der gleichberechtigte Einbezug aller Beschaftigten, inklusive dem „Norm(al)Arbeitnehmer". Diversity sollte aber nicht mit kompensatorischen Ansatzen, etwa in der Form von „affirmative action"-Frogrammen, verwechselt werden. Diversity unterscheidet sich von Quoten-Frogrammen darin, dass nicht die bevorzugte Behandlung einer bestimmten Gruppe angestrebt wird, sondem im Mittelpunkt die individuelle Leistung von Mitarbeiterlnnen steht, unabhangig ihrer Merkmalsauspragung. Um dies zu erreichen, ist es allerdings notig, dass Organisationen sich der Vielseitigkeit ihrer Mitarbeiterlnnen bewusst und Vorurteile gegentiber bestimmten Beschaftigtengruppen reflektiert und abgebaut werden. Dieser Entwicklungsprozess verspricht ftir Organisationen einen okonomischen Erfolg. Zum einen, indem unterschiedliche Beschaftigtengruppen ihre

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Vielfalt an Perspektiven und Erfahrungshorizonten - verstanden als Potenziale in ein Untemehmen einbringen konnen. Zum anderen soil dadurch die Motivation und die Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiterlnnen gesteigert werden, indem sie sich anerkannt und wertgeschatzt flihlen. Diese Erlauterungen werden nun anhand von Age-Diversity konkretisiert.

4. Das Verstandnis und die Ziele von Age-Diversity Innerhalb eines Age-Diversity-Konzeptes sollen alle Generationen von Arbeitnehmerlnnen gleichermaBen einbezogen, und ein Ausschluss der Gruppe der Arbeitnehmerlnnen mittleren Alters - als der gegenwartig dominanten Gruppe vermieden werden. Dieses Prinzip verfolgen auch die befragten Untemehmen. Untemehmen B formuliert seinen Ansatz folgendermaBen: „Wenn wir liber Alters-Diversity reden, reden wir tiber alle Altersgmppen. Wir haben nicht speziell Altere im Fokus, sondem alle Mitarbeiter. Ob jung, mittel oder alt, flir uns ist es wichtig, alle Mitarbeiter in solchen Konzepten zu berticksichtigen." Speziell eine Gmppe von Arbeitnehmerlnnen zu fordem, konnte die Konsequenz haben, negative Stereotypen und Vomrteile gegeniiber dieser Beschaftigtengmppe zu manifestieren. Deswegen schlieBt das Untemehmen B eine Konzentration auf die Gmppe der Alteren aus: „Sobald Sie den Fokus nur auf eine Gmppe richten, stigmatisieren Sie wieder. Das Schubladendenken haben Sie dann emeut aufgemacht." Ein Untemehmen aus der Automobilindustrie (Untemehmen D) benennt einen weiteren Aspekt, warum es sinnvoll ist, alle Altersgmppen zu berticksichtigen. Es vertritt die Position, sich nur an altere Mitarbeiterlnnen zu wenden, sei „fur diese Aktivitaten entschieden zu spat und reiner Reparaturbetrieb." Diese Aussage verweist auf einen wesentlichen Grund, den alle befragten Untemehmen dafiir angeben, sich mit dem Diversity-Merkmal „Alter" auseinanderzusetzen: Die demografische Entwicklung und ihre verschiedenen Effekte auf Untemehmen. Die befragten Betriebe haben erkannt, dass sie mit einem Altemngsprozess ihrer Belegschaften konfrontiert sein werden, und dass sie sich durch eine zwangslaufige Verlangerung der Lebensarbeitzeit Aufgaben stellen mtissen, die Untemehmen A folgendermaBen beschreibt: die „Leistungs- und Beschaftigungsfahigkeit", sowie die „Leistungsmotivation" ihrer Mitarbeiterlnnen bereits in jungen Jahren zu fordem. Da der GroBteil der Belegschaften der befragten Unternehmen jedoch bereits in wenigen Jahren zu der Gmppe der Alteren zahlen wird, nimmt die Beachtung dieser Beschaftigtengmppe bereits schon jetzt einen wichtigen Stellenwert in den Age-Diversity-Ansatzen der Untemehmen ein.

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Die Studie hat weiterhin ergeben, dass die Untemehmen auf das Problem reagieren, das in der Diversity-Theorie beschrieben wird: Beschaftigte, die in ihren Diversity-Merkmalen von dem des „Norm(al)Arbeitnehmers" abweichen, sind starker von Benachteiligungen betroffen. Fiir das Merkmal „Alter" lasst sich feststellen, dass weder jiingere noch altere Mitarbeiterlnnen der normativen Gruppe eines Arbeitnehmers mittleren Alters entsprechen (Stuber 2002: 153). Doch in der Literatur wird konstatiert, dass deutsche Untemehmen jugendzentriert sind und „Jungsein wird mit innovativ und leistungsfahig gleichgesetzt" (Seitz 2001: 5). Die daraus resultierende Wertschatzung, die jtingeren Arbeitnehmerlnnen entgegengebracht wird, kompensiert den negativen Effekt, nicht der Belegschaftsgruppe zu entsprechen, die die Norm defmiert. Den alteren Arbeitnehmerlnnen wird hingegen oftmals vermittelt, dass sie weniger produktiv seien (BMFSFJ 2001: 173) und es dominiert die Vorstellung, dass sie liber eine verminderte Leistungsfahigkeit verfligen (BohneAVagner 2002: 36; Menges 2001: 215f.). Diese negative Konnotation des „Alters" beschreibt das Untemehmen B folgendermaBen: „Das ist ja wertbesetzt und wird zum Beispiel mit mangelnder Leistungsfahigkeit gleichgesetzt." Doch eine Thematisiemng iiber die Fremdzuschreibung gegeniiber alteren Arbeitnehmerlnnen, die eine verminderte Leistungsfahigkeit unterstellt, findet in vielen Untemehmen nicht statt, die negativen Vomrteile bleiben unreflektiert und fuhren in Betrieben zu mehr oder minder offenen oder verdeckten Benachteiligungen und Diskriminiemngen. So konstatiert das lAB, dass sich mnd ein Viertel der deutschen Betriebe offen zu einer Altersdiskriminiemng in der Rekmtiemng neuer Mitarbeiterlnnen bekennen (Bellmann et al. 2003: o.S.). Endres (2000: 49) bezeichnet die Praxis, vorrangig jiingere Mitarbeiterlnnen einzustellen, wahrend altere Arbeitnehmerlnnen vorzeitig in den Ruhestand iiberfiihrt werden, ebenfalls als „Altersdiskriminierung". Nach Meinung der Autorlnnen neigen Untemehmen oft zu Benachteiligungen gegeniiber ihren alteren Beschaftigten, die aus negativen Vomrteilen resultieren und sich z.B. in Form einer „alterssegmentierten Aufgabenzuweisung" (Naegele/Frerichs 2004: 86) auBem konnen. Auch den befragten Untemehmen sind diese Vorgehensweisen in ihrer eigenen Personalstmktur nicht unbekannt, beispielsweise Untemehmen D: Ab einem bestimmten Alter, etwas bei 40 Jahren, ist die Entwicklung von Mitarbeitem normalerweise abgeschlossen. Es gibt dann das Phanomen, dass Mitarbeiter aus dem Auge des Vorgesetzten verschwinden und er sich bei innovativen Aufgaben an seine jtingeren Mitarbeiter wendet mit der Annahme, dass bei diesen mehr Interesse, mehr Flexibilitat, mehr Kreativitat und Innovationsfreude anzutreffen ist. Der altere Mitarbeiter vertieft sich wahrenddessen normalerweise in sein Spezialgebiet und wird auch vom Vorgesetzten in diesem gefordert.

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Die These der Autorlnnen, dass Altere in „ihrer beruflichen Entwicklung teilweise nicht optimal berlicksichtigt werden" (Stuber 2002: 156), unter anderem weil Mitarbeiterlnnen in vielen Betrieben verfruht in den Vorruhestand gehen, und daher geringere „Restnutzungszeiten" aufweisen, so dass eine Weiterbildung nicht rentabel erscheint (Buscher 1997: 20), kennt auch das Untemehmen C und weist auf seine Auswirkungen hin: „Hier sind nicht genutzte Ressourcen in Form von Mitarbeitenden, die auf die Pensionierung ,warten', Verschwendung. Hinzu kommt die personliche Frustration der Betroffenen, die sich negativ auf die Motivation auswirken kann." Insofem zielt Age-Diversity darauf, die Ressourcen alterer Mitarbeiterlnnen zu nutzen, sie starker in die Personalpolitik zu integrieren, um so auch ihre Leistungsmotivation zu erhohen. Daher will Untemehmen A durch Age-Diversity eine „Arbeitsumgebung fordem, die alle Generationen integriert". Damit geht einher, die negativen Vorurteile gegentiber alteren Mitarbeiterlnnen bewusst werden zu lassen und die Fahigkeiten eines Beschaftigten unabhangig von seinem Alter wahrzunehmen. Untemehmen B bringt diese Zielsetzung folgendermaBen auf den Punkt: „Dabei geht es um die Fordemng des Denkens in Kompetenzen, statt in Alterskategorien. (...) es ist ein ganz wichtiger Punkt zu schauen, welche Kompetenz ein Mitarbeiter hat und nicht erst nach seinem Alter zu fragen." Alle befragten Untemehmen geben einmtindig als Zielsetzung von AgeDiversity an, die Potenziale ihrer altersdiversen Mitarbeiterlnnen zu nutzen. Hier als Beispiel Untemehmen C: „Die Schere von Alt und Jung wird groBer und es ist notig, auf eine gemischte Belegschaft zu achten, damit alle Kompetenzen im Untemehmen vertreten sind." Welches nun altersspezifische Kompetenzen sind, die als Potenziale in eine Organisation einflieBen konnen, mochte ich im Folgenden thematisieren.

5. Die alterspezifischen Potenziale von Arbeitnehmerlnnen In der einschlagigen Literatur lassen sich unzahlige Beschreibungen tiber altersspezifische Eigenschaften sowie Aussagen tiber zugehorige geistige oder korperliche Leistungsfahigkeiten fmden. Die Autorlnnen geben wieder, welche Annahmen in der deutschsprachigen Untemehmenswelt uber altere und jtingere Arbeitnehmerlnnen existieren. Nach Sichtung der Literatur lasst sich feststellen, dass Jtingere als innovativ, leistungsfahig und belastbar gelten, wahrend ihr Loyalitats- und Pflichtbewusstsein als geringer eingeschatzt wird als das der Alteren. Als negativ wird bei alteren Arbeitnehmerlnnen bewertet, dass sie uber

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ein veraltetes Wissen, eine unzureichende Lemmotivation und wenig Ideenreichtum verfiigen. Als positiv wird ihre Zuverlassigkeit, ihre Gelassenheit und ihr Erfahrungswissen betrachtet. Das diese verallgemeinemden Aussagen uber altersspezifische Fahigkeiten nicht tiberpnift werden konnen und Fahigkeiten individuell bedingt sind, steht ebenso auBer Frage, wie die Gefahr emeuter Zuschreibungen. Auch Untemehmen D macht darauf aufinerksam, dass den Altersgruppen oftmals Fahigkeiten unterstellt wtirden, die sich jedoch nicht empirisch belegen HeBen: die ganzen Unterstellungen von Fahigkeiten Jiingerer, diese Attribuierungen, haben wir auch mal untersuchen lassen. (...) Zuverlassigkeit, Kommunikationsfahigkeit - diese ganzen globalen Attribuierungen, die irgendwann mal uber irgendwelche Befragungen einfach in Zusammenhang zu bestimmten Altersgruppen gesetzt worden sind. (...) Wir wollten das eigentlich mal in unsere personalpolitischen Grundsatze iiberflihren und schauen, ob wir daraus fiir uns eine Einschatzung zu Mitarbeitergruppen machen konnen, aber das haben wir dann auch bleiben lassen. (...) Sie konnen diese Aussagen einfach nicht so belegen, wie das iiblicherweise in einem Betrieb gefordert wird.

Untemehmen D erscheint es daher sinnvoller, den unterschiedHchen Altersgruppen keine stereotypen Fahigkeiten zuzuschreiben, sondem bei den Altersgruppen Potenziale zu erkennen und zu nutzen, die plausibel erscheinen. So konnte Untemehmen D bereits in der Entwicklung von Fahrzeugmodellen die Erfahrung machen, dass die Mischung aus altersspezifischen Potenzialen benotigt wird, um ein konkurrenzfahiges Auto herstellen zu konnen. Als Beispiel nennt das Untemehmen die Herstellung eines Fahrzeugtyps: Bei dem „(...) meinte man damals, mit einer jungen dynamischen Gmppe konnte man dieses jugend-orientierte Auto sehr gut hinbekommen." Das Ergebnis sei allerdings ein nicht fahrtiichtiges Auto gewesen, woraufhin mit alteren, teilweise schon ausgeschiedenen Mitarbeiterlnnen, eine Taskforce gebildet wurde, um mit deren Know-How und deren Erfahmng dieses Fahrzeug auf entsprechende Qualitatsund Sicherheitsstandards zu bringen: „Dahinter steckt die Erfahmng, dass man diese Altersmischung braucht." Nach Aussagen des Automobilfabrikanten ist das Potenzial der alteren Mitarbeiterlnnen ihre Lebens- und Betriebserfahmng, jiingere Mitarbeiterlnnen gingen hingegen von ihrer Ausbildung her kostenorientierter und nutzwert-analytischer an eine Konstmktion heran. Dass sich die Mitarbeiterlnnen unterschiedHchen Alters in ihren Potenzialen erganzen, wie auch in ihren moglichen Defiziten regulieren konnen, betrachtet Untemehmen D als Grund, warum man auf gemischte Belegschaften achten sollte. (...) Wir brauchen diese Verbindung, dieses Korrektiv von beiden Seiten. Das ist die Philosophic, die dahinter steckt. Insofem haben wir das auch mit dieser Attribuierung bleiben lassen, das bringt iiberhaupt nichts in der Praxis.

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Auch Untemehmen A betont die Anerkennung von altersspezifischen Leistungspotenzialen ihrer Mitarbeiterlnnen, die sich aus den Anforderungen ihrer Positionierung im Finanzdienstleistungssektor ergibt. Zu den Kompetenzen ihrer alteren Mitarbeiterlnnen auBert es sich folgendermaBen: Die besonders Guten sind meist die, die Berufserfahrung haben. Die Kunden achten zum Beispiel auf Kontinuitat, und sie wollen das gleiche Gesicht moglichst iiber lange Zeit sehen. Das kann jemand mit Erfahrung mitbringen. Er hat sehr lange, gewachsene und vertrauensvolle Kundenbeziehungen. Und das ist eine Kompetenz, die extrem wichtig fiir uns als Bank ist. Die kann ein junger Mitarbeiter ja zwangslaufig noch nicht mitbringen.

Auch die anderen Untemehmen identifizieren einmtindig als altersspezifische Potenziale Erfahrungswissen bei den Alteren und neues Wissen bei den Jiingeren. Durch welche personalpolitischen Instrumente die Wissensvermittlung zwischen den altersheterogenen Mitarbeiterlnnen umgesetzt werden kann und welche andere MaBnahmen der Verwirklichung von Age-Diversity dienen, fthre ich nun im Folgenden aus.

6. Die Umsetzung von Age-Diversity in personalpolitischen MaBnahmen In Age-Diversity-Konzepten ist es zentral, personalpolitische MaBnahmen umzusetzen, die die Leistungsfahigkeit und -bereitschaft der Mitarbeiterlnnen unterschiedlichen Alters fordem. Entsprechende Personalstrategien sollten darauf zielen, die altersspezifischen Potenziale zu nutzen und zu kombinieren, sowie die unterschiedlichen Bedtirfiiisse der verschiedenen Generationen von Beschaftigten zu berticksichtigen. Handlungsfelder intergenerativer Zusammenarbeit Oder Instrumente zur flexiblen Arbeitszeitgestaltung sind nur Beispiele entsprechender Strategien, die ich hier kurz erlautem mochte. 6.1 Intergenerative Zusammenarbeit Warum die befi-agten Untemehmen die altersheterogenen Wissenskompetenzen ihrer Beschaftigten als ihr wichtigstes Potenzial benennen, wird durch die zunehmende Bedeutung des Wissensmanagements deutlich: Modeme Gesellschaften entwickeln sich immer starker zu Wissensgesellschaften. Untemehmen, verstanden als „offene soziale Systeme" (Podsiadlowski 2002: 261), konnen sich dieser Entwicklung nicht verschlieBen und Wissen stellt fur sie die derzeit wesentlichste Produktivkraft dar (Behrend 2002: 25). Um Wissen und Erfahmng als Ressource nutzbar zu machen, miissen Formen des Wissensmanagements etabliert werden (Schemme 2002: 54).

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Ein Untemehmen kann sich Wissen tiber klassische Wege aneignen, wie die Aus- und Weiterbildung seiner Beschaftigten. Bedeutimgsvoller ist aber das Wissen, das in den taglichen Ablaufen der Mitarbeiterlnnen entsteht und wachst. Dieses Wissen ist an Personen gebimden, da es sich um praktisches Erfahmngswissen handelt, das in der Kegel nicht oder nur unter Schwierigkeiten dokumentiert werden kann. Daher muss es meist zwischen den Mitarbeiterlnnenn selbst transferiert und kommuniziert werden (Morschhauser et al. 2003: 106ff.). Wissensaneignung und der Wissenstransfer zwischen den Generationen sind also fur das Wissensmanagement von Untemehmen zentral. Die moglichen positiven Lemeffekte durch Altersdiversitat stellen sich fur die Mitarbeiterlnnen jedoch nicht von selbst ein, sondem werden erst durch einen wechselseitigen Transfer realisiert. Die Fahigkeit der Beschaftigten, sich in ihren spezifischen Wissens- und Erfahrungspotenzialen auszutauschen und gegenseitig zu vermitteln, kann durch eine intergenerative Zusammenarbeit initiiert und gefordert werden. Beispielsweise konnen altersgemischte Tandems ein sinnvolles Instrument sein, eine intergenerative Zusammenarbeit der Mitarbeiterlnnen zu etablieren. Exemplarisch mochte ich kurz gefasst die Methode und Vorteile altersgemischter Tandems als Form einer intergenerativen Zusammenarbeit erlautem. 6.2 Altersgemischte Tandems Altersgemischte Tandems zeichnen sich durch gemeinsames Lemen jiingerer und alterer Mitarbeiterlnnen aus. Die Zusammenarbeit als Team kann kontinuierlich und auf unbestimmte Zeit gestaltet sein oder befristet auf die Arbeit an einem gemeinsamen Projekt. Durch die gemeinsame Arbeit wird ein Transfer des Praxiswissens und der Erfahrung durch die Zusammenarbeit an konkreten Fragestellungen des Berufsalltages effektiv gefordert. In der gemeinsamen Losung von Aufgaben werden durch die Zusammenfuhrung unterschiedlicher Kenntnisse und Kompetenzen Lemprozesse ermoglicht und das Qualifikationsprofil der beteiligten Mitarbeiterlnnen erweitert (Lau-Villinger/Seitz 2002: 65). Nicht nur in den theoretischen Abhandlungen, sondem auch in der Praxis der befragten Untemehmen wird die intergenerative Zusammenarbeit als eine sinnvolle MaBnahme angesehen, die Potenziale altersheterogener Mitarbeiterlnnen zu kombinieren. Die Motivation des Untemehmens A, altersgemischte Tandems zu organisieren, bestand in der Sichemng und Weitergabe des Wissens von Alteren: „Sie sind wichtige Know-How-Trager und wir miissen dafiir sorgen, dass deren Know-How verteilt wird und Jiingere davon profitieren konnen." Interessant ist weiterhin, dass das Untemehmen eine Evaluation bei den Tandem-Partnem

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durchfuhrte, um aus deren Feedback Erkenntnisse fur die Gestaltung ihrer Personalentwicklung abzuleiten: „Bei den Tandems im Private Banking-Bereich war das Feedback ausgesprochen positiv imd es wurde tatsachlich empfohlen, Tandems flachendeckend als PersonalentwicklungsmaBnahme einzusetzen." Auch Untemehmen C forciert die Zusammenarbeit unterschiedlicher Generationen, und sieht als Gewinn dieser Arbeitsform, dass die „unterschiedlichen Perspektiven im Team" eingebracht werden konnen. Das Untemehmen nennt aber auch noch einen zweiten Grund, weshalb Mitarbeiterlnnen verschiedenen Alters in einem Team arbeiten sollten: „Ein altershomogenes Team, das sich geschlossen in den Ruhestand verabschiedet, ist fur ein Untemehmen schadlich." In dieser Aussage wird implizit auf die Bedeutung des spezifischen Wissenspotenzials alterer Beschaftigter flir Untemehmen verwiesen. Im Falle des Ausscheidens alterer Mitarbeiterlnnen aus dem Untemehmen sollte ihr Wissen fur das Untemehmen erhalten und gesichert werden, beispielsweise durch den Wissenstransfer von Alt zu Jung. 6.3 Flexible Arbeitszeitgestaltung Eine zweite Moglichkeit, die Potenziale der Arbeitnehmerlnnen zu aktivieren und auf ihre unterschiedlichen Bediirfiiisse einzugehen, besteht in der flexiblen Arbeitszeitgestaltung. Indem Untemehmen ihren Beschaftigten die Moglichkeit einraumen, ihre Arbeitszeit flexibel zu gestalten, konnen sie altersspezifische Unterschiede von Mitarbeiterlnnen beriicksichtigen, die sich aus ihrer privaten Lebenssituation ergeben. In bestimmten Lebensphasen auftretende private Verpflichtungen konnen beispielsweise die Kinderbetreuung oder die Betreuung von pflegebedtirftigen Angehorigen sein, die zeitintensive Anfordemngen darstellen. Flexible Arbeitszeiten konnen dies kompensieren. So hat das Bundesministerium fur Familie, Senioren, Frauen und Jugend festgestellt, dass die Vereinbarkeit von Erwerbstatigkeit und der Pflege von Familienangehorigen durch eine flexible Arbeitszeit positive Effekte auf die Arbeitsproduktivitat- und Zufriedenheit von Arbeitnehmerlnnen hat: Durch die eigenverantwortliche Gestaltung der Arbeitszeit und die Akzeptanz der privaten Situation eines Mitarbeiters durch den Arbeitgeber wurden Fehlzeiten und pflegebedingte LeistungseinbuBen vermieden (BMFSFJ 2000: 27ff). Zwei der befragten Untemehmen reagieren auf diese Anforderung, indem sie Programme anbieten, die ihren Mitarbeiterlnnen bei der Pflege Hilfestellung bieten und somit die privaten Verpflichtungen anerkennen. Bei Untemehmen C sind mnd 12,3 Prozent der Arbeitnehmerlnnen von der Pflege eines Angehorigen betroffen. Es erkennt die Pflege-Aufgabe als eine „weitere Belastung" an, denen Mitarbeiterlnnen ausgesetzt seien und bietet ent-

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sprechende Unterstutzung. So wurde ein firmenintemes Netzwerk ins Leben gerufen, das Informationen tiber Pflegemoglichkeiten zur Verfiigung stellt. Auch Untemehmen B ist es im Zusammenhang von Age-Diversity wichtig, altere Beschaftigte in der Pflege von Familienangehorigen zu untersttitzen. Als Realisierungsmoglichkeit plant sie, ihren Service, der Mitarbeiterlnnen bei der Suche nach Kinderbetreuungsmoglichkeiten behilflich ist, durch „Eldercare" zu erweitem. Die Berucksichtigung von privaten Bedurftiissen der Beschaftigten steht fiir diesen Dienstleister im Gesundheitswesen in engem Zusammenhang mit einer flexiblen Arbeitszeitgestaltung. Die Vereinbarkeit von familiaren Pflichten und Beruf empfindet das Untemehmen als besonders relevant, wenn Mitarbeiterlnnen tiber mehrere Jahre von der Betreuung von Familienangehorigen betroffen sind. Dariiber hinaus sei es eine Folge der demografischen Entwicklung, dass „unterschiedliche Ein- und Ausstiege" des Berufslebens moglich sein miissten. Dieses Untemehmen verweist auf eine weitere Problematik, die in Zusammenhang zu einer flexiblen Arbeitszeitregelung stehen: die Verlangemng der Lebensarbeitszeit. Die traditionelle Erwerbsbiografie mit einer kompakten, aber sehr intensiven Arbeitsperiode im mittleren Alter, die bereits mit schon 55 Jahren abgeschlossen war, wird durch den demografischen Wandel zunehmend zur Ausnahme. Eine verlangerte Dauer des Erwerbslebens verlangt nach einer gleichmaBigen Verteilung der Arbeitszeit innerhalb der Erwerbsbiografie. Gerade im Hinblick auf eine verlangerte Lebensarbeitszeit wird es zunehmend notwendiger, Arbeitszeiten flexibel an Lebens- und Altersphasen anzupassen. Nach Frerichs und Naegele ware ein uber alle Altersphasen reichendes Gesamtkonzept erforderlich, welches die Dauer und die Verteilung der Arbeitszeit tiber den gesamten Erwerbsverlauf gestaltet (Frerichs/Naegele 1998: 249). Zentral ist hierbei die Frage, wie das Verhaltnis von Arbeit und personlicher Lebensfiihmng gestaltet sein muss, damit der Einzelne bis zu einem Alter von 67 Jahren den Arbeitsanfordemngen gewachsen bleibt. In diesem Zusammenhang gewinnt die Work-Life-Balance eine besondere Bedeutung. Sie zielt darauf, personliche Ressourcen wie Arbeitskraft, Gesundheit und Motivation zu erhalten (Engel 2004: 294). Unterschiedliche Arbeitszeitmodelle stehen zur Erreichung dieses Zieles zur Verfiigung. Dem BDA zufolge nutzen inzwischen zwei Drittel der Untemehmen verschiedene Formen der Arbeitszeitflexibilisiemng (wie flexible Wochenarbeitszeiten, Jahresarbeitszeitkonten und Gleitzeitregelungen) und kommen darin auch dem Interesse nach souveraner Zeitgestaltung von Mitarbeiterlnnen entgegen. Noch wenig verbreitet sind dagegen weitergehende Moglichkeiten zur Flexibilisiemng von Arbeitszeit, die sich auf den gesamten Bemfsverlauf konzent-

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rieren, wie Langzeit- und Lebensarbeitszeitkonten (BDA 2003: 26). Langzeitkonten ermoglichen es den Arbeitnehmerlnnen, Lebensarbeitszeit tiber lange Zeitraume hinweg anzusparen, die sie zu einem Zeitpimkt zur Reduzierung von Wochen- oder Jahresarbeitszeit nutzen konnen. Eine andere Moglichkeit besteht darin, die angesparte Zeit in ein Sabbatical zu investieren. Um ein Sabbatical in Anspruch nehmen zu konnen, verzichten Mitarbeiterlnnen fur einen vereinbarten Zeitraum auf einen Teil ihres Entgelts, arbeiten aber weiterhin Vollzeit. Daraus entsteht ein Freizeit-Anspruch mit Entgeltfortzahlung, um sich auch durchaus fiir ein Jahr eine Auszeit vom Beruf zu gonnen (BMFSFJ 2004: 29). Drei der befragten Untemehmen beftirworten flexible Arbeitszeitmodelle. Anders Untemehmen D: Die Verteilung von Lebensarbeitszeit spiele keine „allzu groBe Rolle und ist eher eine reine Exoten-Angelegenheit." Auch das Schlagwort Sabbatical stoBt auf Ablehnung und wird als untauglich bewertet: Sabbatical ist ein rein akademischer oder Stabsstellen-Gedanke. Aber wir sind ein Produktionsbetrieb, wir haben Mitarbeiter, die im Regelfall eher Qualifikationen wie Lehre, Hauptschulabschiuss haben (...). Sorry, denen kann man damit nicht kommen. Das ist weltfremd. (...) unsere Mitarbeiter wollen ein Hausle bauen und haben ganz klare soziale Rahmenbedingungen und sind mit einem relativ niedrigen Einkommen tatig, da geht das einfach an der Masse vorbei.

Dieses Untemehmen legt dafur einen weiteren Schwerpunkt in der Umsetzung von Age-Diversity in personalpolitischen MaBnahmen, der nachfolgend thematisiert wird. 6.4 Die Verankerung von Age-Diversity in Fiihrungsgrundsatzen Untemehmen D hat festgestellt, dass seine alteren Beschaftigten in der Vergangenheit nicht gleichermaBen an Qualifiziemngen und Forderungen partizipieren konnten wie die jtingeren Mitarbeiterlnnen. Das Untemehmen will nun durch die Aufiiahme in Zielvereinbamngen fur Ftihmngskrafte eine Verbindlichkeit schaffen, die alteren Mitarbeiter den Jtingeren gleichzustellen. Um dies zu verwirklichen, stellen sich ftir dieses Untemehmen- und besonders flir seine Ftihmngskrafte - im Kem zwei Handlungsanfordemngen: Die erste bezieht sich darauf, die Mitarbeiter, die in einem bestimmten Fachgebiet hoch spezialisiert sind, nicht ausschlieBlich auf diesem Gebiet zu belassen. Vielmehr mtisse versucht werden, „sie durch neue Aufgaben, neue Projekte und durch anderweitige Fordemngen weiter zu aktivieren." Die zweite Handlungsanfordemng bezieht sich auf QualifiziemngsmaBnahmen ftir altere Mitarbeiterlnnen. Nach Angaben des Untemehmens seien deutliche Unterschiede in den Inhalten der Qualifiziemng von alteren und jtingeren Beschaftigten zu erkennen: Jiingere nahmen an QualifiziemngsmaBnahmen teil, die ihnen weitere

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Karrieremoglichkeiten boten und die sich auf Themen der Personlichkeitsentwicklung, der Karriere, der aufstiegsorientierten Fortbildung und auf Sprachen beziehen. Bei den Alteren wiirden hingegen die „Anpassungsqualifizierungen" dominieren, die sich auf die Vermittlung neuer Arbeitstechniken und -mittel beschrankten: „Beispielsweise, wenn von NT- auf XP-Betriebssysteme umgestellt wird." Dies sei aber keine Qualifizierung, die einem alteren Mitarbeiter Fortschritte in seiner Karriere ermogliche, sondem ihm werde „schlicht seine Arbeitsmoglichkeit erhalten. Da muss sich mit Sicherheit was tun." Die Vorgesetzten sollen durch diese Vereinbarungen angeregt werden, altere Mitarbeiterlnnen aus ihrer Spezialisierung herauszuholen und auf eine Veranderung der Untemehmenskultur hinzuwirken, welche die Leistungsfahigkeiten Alterer wahmimmt und fordert.

7. Wettbewerbsvorteile durch Age-Diversity Untemehmen, die der UnterschiedHchkeit von Arbeitnehmem aufgeschlossen gegentiber stehen, haben Wettbewerbsvorteile. Die deutschsprachige DiversityLiteratur nimmt den „Organizational Competitiveness"-Ansatz der US-Autorlnnen Cox und Blake zur Grundlage, um die okonomischen Vorteile von Diversity aufzuzeigen und zu begrtinden, wie sich fur Untemehmen in den Bereichen Kosten, Personalmarketing, Marketing, Kreativitat- und ProblemlosungsQualitat eine verbesserte Wettbewerbsposition erzielen lasst. Die Argumente von Cox und Blake konnen auch speziell fiir Age-Diversity Giiltigkeit beanspruchen: Untemehmen konnen durch Age-Diversity angemessen auf die wirtschaftlichen Herausforderungen reagieren, indem sie die altersspezifischen Potenziale von Arbeitnehmem beriicksichtigen und nutzen. 7.1 Das Marketing-Argument Nach Cox und Blake kann ein Untemehmen durch Diversity Wettbewerbsvorteile auf dem Absatzmarkt und im Marketing erzielen. Sie begrtinden dies damit, dass Untemehmen sich nicht nur mit zunehmend vielfaltigeren Belegschaften auseinandersetzen miissten, sondem auch der Absatzmarkt von einer steigenden Diversitat gekennzeichnet sei. Untemehmen, die ihre DiversityAktivitaten nach auBen kommunizieren und in der Offentlichkeitsarbeit nutzen, sprechen damit spezifische Kundensegmente an (Cox/Blake 1991: 49). Hansen und Miiller gehen davon aus, dass ein Untemehmen durch die Unterschiedlichkeit seiner Mitarbeiterlnnen und ihrer je spezifischen Bediirfiiisse

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und Wtinsche auch die Konsuminteressen von Minderheiten besser verstehen und auch beantworten konne (Hansen/Muller 2003: 20). Der okonomische Vorteil fur Untemehmen, sich im Marketing-Bereich mit Age-Diversity auseinanderzusetzen, gewinnt durch die demografische Entwicklung an Bedeutung: In Zukunft werden altere Menschen auch die fmanzkraftigen Kauferschichten dominieren (Bentin 2000: 37). In diesem Zusammenhang sollte nicht unerw^ahnt bleiben, dass die Zielgruppe der sogenannten „50 Plus" nicht nur eine wachsende Kauferschicht darstellt, sondem dass sie tiber eine Kaufkraft von 90 Milliarden Euro verfligen (Leschinsky 1997: 55). Werden die Marketing-Argumente, die allgemein fur Diversity gelten, nun speziell auf Age-Diversity ubertragen, kann konstatiert werden, dass altersspezifische Kundensegmente besser erkannt und in der AuBenkommunikation von Untemehmen gezielt angesprochen werden konnen. Beispielsweise konnen sich altere Mitarbeiter im Marketingbereich eines Untemehmens in die Bediirfiiisse und Wtinsche von alteren Konsumenten hineinversetzen und diese besser bedienen, als dies durch jtingere Mitarbeiter moglich ist (Taubner 2005: 95). Diesem Marketing-Effekt entsprechend treten im Finanzdienstleistungsuntemehmen A altere und jtingere Kundenberater gemeinsam als Team auf, und konnen so verschiedene Generationen von Kunden ansprechen: Da es in der Regel Zeit braucht, bis ein Vermogen angesammelt ist, sind die Kunden alter, im Durchschnitt 65 Jahre. Sie fordem dementsprechend auch altere, erfahrene, ihnen ahnliche Kundenberater, die wir auch bereitstellen miissen. In dem Moment, in dem der Kunde zum Beispiel an das Thema Vererben denkt oder Nachfolgeplanung bei mittelstandischen Betrieben aktuell wird, konnen wir dem erfahrenen Relationship Manager einen jiingeren Kollegen zur Seite stellen, der dann diese ebenfalIs jtingere Nachfolge-Generation reprasentiert. So werden im Bereich Private Wealth Management altersgemischte Teams eingesetzt, um den unterschiedlichen Bediirfhissen der Kunden gerecht zu werden.

Die okonomische Relevanz einer intergenerativen Zusammenarbeit drtickt sich flir das Untemehmen A demzufolge darin aus, die altersspezifischen Bediirfiiisse der Kunden durch altersgemischte Kundenberater-Teams bedienen zu konnen. Auch das Produktionsuntemehmen C setzt intergenerative MarketingTeams ein, um diverse Konsumwtinsche zu erkennen. Dieses Untemehmen definiert Age-Diversity deutlich als „Produktivitatsfaktor" und als „ImageFaktor", um die altemde Kundschaft „adaquat" anzusprechen. Der Blick in die einschlagige wissenschaftliche Literatur zeigt, dass die Bediirfiiisse alterer Kunden haufig vemachlassigt und verkannt werden. Beispielsweise wiirden sich altere Menschen mit der Werbung von Untemehmen nicht identifizieren konnen, da diese auf jtingere Zielgmppen ausgelegt sei; altere Menschen hatten hingegen nur eine geringe Prasenz in der Werbung. Ebenso

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wird darauf hingewiesen, dass auf altere Konsumenten ausgerichtete WerbeStrategien dem Selbstverstandnis dieser Zielgruppe nicht gerecht wtirden und ein „verzerrtes Bild" wiedergaben: Altere Menschen werden als gebrechlich Oder tibertrieben jung dargestellt. Beide Darstellungsweisen verargere altere Kunden (Crescenti 2004: 40ff.). Dass altere Kunden als Problemgruppe stigmatisiert werden, thematisiert auch Untemehmen B. Nach Aussage des Untemehmens kann Age-Diversity die verfehlte Representation alterer Menschen in Marketingstrategien verhindem, indem es einen „neuen Blick auf Kunden und Markt" vermittle, was besonders fur sie als Dienstleistungsuntemehmen wichtig sei. Gerade die Zielgruppe der alteren Kunden verandere sich in ihrem Konsumverhalten: „Die neuen ,Alten' sind namlich flexibler, konsumfreudiger und selbstbewusster." 7.2 Das Kreativitats- und Problemlosungs-Argument Nach Cox und Blake kommen heterogen zusammengesetzte Arbeitsgruppen durch ihre Perspektiven- und Ideenvielfalt zu kreativeren und innovativeren Ergebnissen und haben durch ihre je unterschiedlichen Erfahrungswerte eine breitere und vielfaltigere Basis von Problemlosungsansatzen. Durch Diversity kann somit die Qualitat der Problemlosungs- und Entscheidungsfindung verbessert, sowie das Kreativitats- und Innovationspotenzial eines Untemehmens gesteigert werden (Cox/Blake 1991: 50f). Das Kreativitats- und Problemlosungs-Argument von Cox und Blake lasst sich auch speziell auf Age-Diversity tibertragen, wobei die Formen intergenerativer Zusammenarbeit hierbei im Mittelpunkt stehen. Bohne und Wagner verstehen die intergenerative Zusammenarbeit von Mitarbeiterlnnen als elementar flir die Wettbewerbsfahigkeit von Untemehmen. Ihrer Meinung nach stellt die Kombination spezifischer Fahigkeiten der Altersgruppen gar eine Voraussetzung flir die erfolgreiche Innovation eines Untemehmens dar. Den gleichen Vorteil altersheterogen zusammengesetzter Teams sehen sie in der Problemlosung, welche durch das Einbringen altersspezifischer Kompetenzen qualitativ verbessert werde. Sie weisen gerade den spezifischen Kompetenzen alterer Mitarbeiter eine besondere Bedeutung zu: Durch deren Erfahmngen und Wissenskenntnisse tiber ihr Untemehmen seien Altere „Know-How-Trager" wodurch sie eine Schlusselfimktion bei der Losung betrieblicher Probleme hatten (Bohne/ Wagner 2002: 4Iff.). Diesen Wettbewerbsvorteil durch Age-Diversity fuhrt auch Untemehmen D an. Interessant ist, dass sich das Verstandnis einer wettbewerbsfahigen Belegschaft bei dem Automobilhersteller verandert hat. So berichtet das Untemeh-

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men, dass der Begriff der Wettbewerbsfahigkeit fruher vorrangig mit jtingeren Beschaftigten assoziiert wurde: „Der fing ursprtinglich in einigen Kopfen mit dem Gedanken an: Das sind die jungen Leute. Das ist aber schon zehn Jahre her und hat sich inzwischen deutHch verandert. Die wettbewerbsfahige Belegschaft ist quaUfikatorisch gemischt." Daran zeigt sich, dass das Untemehmen erkannt hat, dass sich die Vielfalt an Quahfikationen und Kompetenzen der Beschaftigten positiv auf die Wettbewerbsfahigkeit von Untemehmen auswirken kann, wenn sie genutzt werden. 7.3 Das Personalmarketing-Argument Nach Cox und Blake konnen Untemehmen, die Diversity umsetzen und ihre multikulturelle Personalpolitik nach auBen kommunizieren, in der Personalbeschaffung die quaUfiziertesten Bewerberlnnen anziehen und erlangen darin Wettbewerbsvorteile (Cox/Blake 1991: 48f.). Zudem fordert Diversity die Perspektive von Untemehmen, den Arbeitsmarkt in seiner ganzen Bandbreite wahrzunehmen und sich nicht auf einen bestimmten Kandidatentyp festzulegen. Schwarz-Wolzl und Maad weisen darauf hin, dass ein Untemehmen auf ein groBeres Potenzial an „talentierten" Mitarbeiterlnnen zurtickgreifen kann, w^enn es Bewerberlnnen aufgmnd eines bestimmten Geschlechts, Alters oder einer Behinderung nicht ignoriert (Schwarz-Wolzl/Maad 2004: 69). Das Personalmarketing-Argument auf Age-Diversity zu ubertragen heiBt demnach, dass Untemehmen sich einen Wettbewerbsvorteil verschaffen konnen, wenn sie in der Rekmtiemng von Personal nicht nur Arbeitnehmerlnnen in jungen und mittleren Altersgmppen als potenzielle Mitarbeiterlnnen betrachten, sondem auch altere Bewerberlnnen beriicksichtigen. Durch die Altemng der Erwerbsbevolkemng ergibt sich fur Untemehmen in Zukunft hierzu auch eine Notwendigkeit, und so werden sie verstarkt auf die Neu- und Weiterbeschaftigung alterer Arbeitnehmerlnnen angewiesen sein. Deswegen erscheint es Bohne und Wagner als wichtig, eine integrative Personalpolitik zu betreiben und diese auch nach auBen zu kommunizieren, um im zuktinftigen Wettbewerb um die „besten alteren" Arbeitskrafte Vorteile erzielen zu konnen (BohneAVagner 2002: 42). Der Mangel an und der Wettbewerb um die qualifiziertesten alteren Arbeitnehmerlnnen wird von den befragten Untemehmen nicht thematisiert. Sie befurchten vor allem Probleme bei der Rekmtiemng jungerer Arbeitskrafte, wie Untemehmen A beschreibt: „Es wird erwartet, dass unsere Nachwuchskrafte in Zukunft knapp werden, und dass wir attraktive Arbeitgeber sein miissen, damit die wenigen zu uns kommen und bleiben wollen." An dieser Stelle zeigt sich, dass den befi'agten Untemehmen die okonomische Rentabilitat im Personalmar-

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keting alterer Arbeitnehmerlnnen nicht bewusst ist. Das dtirfte im Zusammenhang damit stehen, dass die Age-Diversity-Konzepte bisher als nicht vollstandig realisiert betrachtet werden konnen, wie nachfolgend verdeutlicht werden soil.

8. Die Schwierigkeiten bei der Umsetzung von Age-Diversity Die Realisierung der Vorteile scheint sich komplizierter zu gestalten, als es die Theorie nahe legt. Beispielsweise merken Wagner und Sepheri kritisch an, dass die positiven Effekte von Diversity noch weitgehend ungeklart seien (Sepheri/ Wagner 1999: 20). Cox fiihrt dies auf den umfassenden und langwierigen Veranderungsprozess zurtick, in dessen Mittelpunkt die Kultur eines Untemehmens steht, und sieht hauptsachlich die Einstellung der Untemehmensmitglieder zu Diversity als problematisch an (Cox 1994: 242). Die Einstellung der Untemehmensmitglieder zu verandem hin zu einer bewussten und aktiven Wertschatzung von Unterschiedlichkeit, kann nicht von heute auf morgen realisiert werden. Das gleiche gilt fur eine positive Einstellung gegentiber dem Alter von Beschaftigten. Es bedarf wohl noch eines langwierigen Entwicklungsprozesses, die Einstellungen von Untemehmensleitungen dahingehend zu verandem, den Wert einer Altersvielfalt positiv wahrzunehmen und anzuerkennen. Diese lange Dauer des Verandemngsprozesses benennt Untemehmen B als das groBte Problem bei der Umsetzung eines Diversity bzw. Age-Di versity-Konzeptes: Bei den Diversity-Themen haben wir oft mit Zeitsymmetrien zu kampfen (...). Eine Schere aus dem Kopf kriegen, Einstellungsgeschichten zu verandem, Strukturen und eine Untemehmenskultur zu verandem. Wenn Sie da von einem Planungshorizont von zehn Jahren ausgehen, haben Sie heute das Problem, das Thema zu verkaufen und zu vermarkten.

Es scheint schwierig zu sein, die Untemehmensmitglieder - vorrangig wohl die Untemehmensleitung - von der Umsetzung eines Diversity-Konzeptes zu tiberzeugen, da die Wirksamkeit von Diversity nur langfristig beweisbar ist. Auch Untemehmen A betont, dass sich in der Umsetzung von Age-Diversity das Problem stelle, dass in den „Kopfen des Managements" noch ein Bewusstsein fur das Thema fehle, obwohl das Untemehmen sich bereits seit 1999 mit Diversity beschaftigt. Auch die Verwaltung benennt das Problem der vollstandigen Realisiemng einer Chancengleichheit. Dazu ist fur sie ein politisches Bekenntnis fur Diversity die Voraussetzung: „Das erst mal ein politischer Wille da sein muss. Diversity zu vertreten und somit auch in den Verwaltungen umzusetzen. Noch lauft alles wie gesagt eher auf der freiwilligen Basis." Um die Spitzen der Politiker dazu zu bewegen, Diversity auf einer politischen Ebene zu vertreten,

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ist fur die Verwaltung die Uberzeugungsarbeit „eigentlich das Wichtigste. Was aber auch nicht von heute auf morgen passieren kann, sondem man muss in Jahren, vielleicht sogar in Jahrzehnten rechnen." Untemehmen B identifiziert hingegen „die schleichende Spiirbarkeit des demografischen Wandels" als die groBte Schwierigkeit bei der Umsetzung von Age-Diversity. In einem Untemehmen miissen erst die Kosten und der Nutzen aufgezeigt werden, um die langfristigen Auswirkungen des demografischen Wandels zu verdeutlichen. Das Untemehmen tibt in diesem Zusammenhang Kritik an der Praxis von Untemehmen, die Altersteilzeit als Ausweichmoglichkeit zu nutzen, um die Herausfordemngen altemder Belegschaften zu vertagen: Viele sehen auch heute noch nicht die Notwendigkeit fur Veranderungen, und in manchen Fallen wird es fur Untemehmen reizvoll gemacht, Altersteilzeit fur den Personalabbau von alteren Mitarbeitenden zu nutzen. Dies senkt zwar kurzfristig die Kosten, aber es geht viel Erfahrungswissen verloren.

Das Untemehmen weist treffend darauf hin, dass sich fur Untemehmen ein altersbezogener Beschaftigtenabbau langfristig nicht auszahlt, denn der Verlust an Erfahmngswissen kann sich auf lange Sicht als Wettbewerbsnachteil fiir ein Untemehmen auswirken. Obwohl sich die befragten Betriebe mit Age-Diversity auseinandersetzen und sich der Benachteiligungen gegenliber Alteren bewusst sind, geben zumindest zwei Untemehmen offen zu, eine Chancengleichheit nicht realisieren zu konnen. So schlieBt Untemehmen A nicht aus, dass „bei Restmkturiemng und Personalabbau-MaBnahmen auf die obere Altersgmppe geschaut wird." Das Untemehmen gesteht selbstkritisch ein: „Es ist nattirlich immer ein Problem bei diesem Thema, dass wir heute noch nicht so weit sind zu sagen: Wir schauen bei PersonalabbaumaBnahmen nur auf die Leistung, und nicht auf soziale Kriterien." Der Finanzdienstleister hat sich dabei noch nicht entschieden, nach welchen Kriterien er seinen zukiinftigen Umgang mit alteren Mitarbeiterlnnen gestalten wird: Es ist schwer, weil wir uns immer auf dem Grat bewegen, auf der einen Seite eine Wertschatzung, und auf der anderen Seite Personalabbau zu betreiben. Da haben wir noch keine Entscheidung in die eine oder andere Richtung getroffen. Ich glaube aber, es wird in die Wertschatzungsrichtung gehen.

Auch der Produktionsbetrieb D macht trotz der Age-Diversity-MaBnahmen deutlich klar: „Den Klassiker Personalabbau bei den Alteren wird es auch weiter geben." Die Verwaltung gibt an, dass ihre Personalstelle ebenso verfahren wird. Obwohl die Verwaltung durch den Altemngsprozess ihrer Belegschaft „qualitative Probleme" identifiziert, werden keine MaBnahmen umgesetzt, die auf die moglichen Probleme einer altemden Belegschaft zugeschnitten sind. Es gibt

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beispielsweise keine Programme, die einen Wissenstransfer regeln, sondem die primare Reaktion auf ihre altemde Belegschaft seien „Konzepte, alteren Kollegen die Moglichkeit zu geben, frtiher aus dem Arbeitsprozess auszuscheiden."

9. Fazit In der Forschimg ist es imumstritten, dass die Lebensarbeitszeit mittel- bis langfristig steigen wird. Bedingt wird diese Entwicklung einerseits durch den demografischen Wandel, der zu einem Ansteigen des gesellschaftlichen Durchschnittsalters fiihrt und somit auch Auswirkungen auf die Altersstruktur der Erwerbsbevolkerung hat, andererseits durch die Erhohung des Rentenzugangsalters. Dennoch findet in deutschen Untemehmen weiterhin ein altersbezogener Personalabbau zu ungunsten der alteren Beschaftigten statt: Ein Phanomen, das, wie in der Einleitung beschrieben, aus sozialstaatHcher Perspektive vor dem Hintergrund „leerer Rentenkassen" ein gravierendes Problem darstellt. Age-Diversity reagiert auf dieses Problem und bietet konzeptionelle Grundlagen an, die zu der Integration von Beschaftigten unterschiedlichen Alters in die Organisation des Untemehmens fiihren sollen. Insofem ist der Age-Diversity-Ansatz, wie er in diesem Beitrag skizziert wurde, darum bemtiht, die Chancen wahrzunehmen, die sich Untemehmen durch eine zunehmend alter werdende Erwerbsstruktur bieten konnen. Wie sich zeigte, muss jedoch die okonomische Rentabilitat dazugehoriger MaBnahmen herausgestellt werden, um ihre Akzeptanz bei Untemehmensleitungen zu erhohen. Ein zentraler Bestandteil von Age-Diversity ist es daher, die altersspezifischen Potenziale der Beschaftigten zu erkennen, um sie wirtschaftlich nutzbar zu machen. Auch die von den Untemehmensleitungen geforderte Sensibilitat fiir die unterschiedlichen Bediirfiiisse der Arbeitnehmerlnnen, auf die beispielsweise mit flexiblen Arbeitszeitmodellen reagiert werden soil, dient liber den Weg der Motivationssteigemng diesem Zweck. Der Abbau von negativen Vomrteilen hin zu einer Anerkennung und Wertschatzung der Fahigkeiten alterer Arbeitnehmerlnnen ist jedoch wichtigster Ansatzpunkt und Voraussetzung flir die erfolgreiche Umsetzung der Chancengleichheit altersdiverser Beschaftigter. Die empirische Erhebung konnte herausstellen, dass in alien befi-agten Untemehmen ein notiges Bewusststein fur Stigmatisiemngen und deren Auswirkungen auf ihre zunehmend alteren Belegschaften besteht. Diese Auswirkungen zu ignorieren, beispielsweise in Form ungenutzter Ressourcen alterer Arbeitnehmerlnnen, wird von den befi*agten Untemehmen als eine Gefahr beschrieben, der mit entsprechenden MaBnahmen entgegen getreten werden muss. Inso-

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fern weisen alle befragten Untemehmen auf die Notwendigkeit hin, besonders die altersspezifischen Fahigkeiten ihrer alteren Beschaftigten zu erkennen. Das Potenzial alterer Beschaftigter wird von den Untemehmen einmundig in ihrem Erfahrungswissen gesehen. Das Potenzial Jtingerer wird als neues Wissen identifiziert. Das Potenzial ihrer Mitarbeiterlnnen im mittleren Alter erflihr durch die Untemehmen keine Nennung. Hier bestatigten sich die Annahmen der Diversity-Theorie, dass die Arbeitnehmerlnnen mittleren Alters eine durchschnittliche unsichtbare Norm bilden, die nicht thematisiert wird. Wie oben bereits angesprochen, blieb das Thema „Gender und Age-Diversiy" in diesem Beitrag ausgeklammert. Dies kann auch als Hinweis auf die generelle Vemachlassigung in Theorie und Praxis gelesen werden. Die Forschung zur Verknupfung und Wechselwirkung der Diversity-Merkmale ,^lter" und „Geschlecht" steht noch aus. Derm es stellt sich die Frage, ob und inwiefem geschlechtsspezifische Unterschiede in der strukturellen Integration alterer Arbeitnehmerlnnen bestehen, da nicht nur Altere, sondem auch weibliche Beschaftigte vom Ideal des „Norm(al)Arbeitnehmers" abweichen. Die abschlieBende Frage, ob die Beschaftigungsmoglichkeiten alterer Arbeitnehmerlnnen verbessert werden konnen, lasst sich vor dem Hintergmnd des theoretischen Modells und der praktischen Losungsstrategien von Age-Diversity positiv beantworten. Dennoch stoBen die hier vorgeschlagenen Konzepte in ihrer Umsetzbarkeit an eine prinzipielle Grenze. Zwar kann es haufig gelingen, die beschaftigungspolitische Zielsetzung der Wertschatzung von Altersvielfalt mit der untemehmenspolitischen Zielsetzung der Profitsteigemng in Einklang zu bringen: Alle Untemehmen betrachten Age-Diversity als ein Mittel zur Steigemng der wirtschaftlichen Effizienz. Wo dies nicht gelingt, dtirften sich monokulturelle Orientiemngen, die weiterhin in den Untemehmen vorhanden sind, durchsetzen und die Wertschatzung alterer Mitarbeiterlnnen hinten angestellt werden. Zwei Untemehmen geben dementsprechend offen zu, dass sie auch in Zukunft einen altersbedingten Stellenabbau nicht ausschlieBen konnen. Alle befragten Untemehmen stimmen aber darin (iberein, dass die Untemehmensleitung nur in einem langwierigen Prozess zu einem Umdenken bewegt und fiir die Bedeutung von Age-Diversity sensibilisiert werden kann. Insofem wird auch weiterhin Uberzeugungsarbeit notwendig sein.

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Generative Solidaritat, filiale Verbundenheit und Individual!sierung - iiber die Suche nach Lebensstilen mit dem Problem der Pflege fiir die Generation der Hochaltrigen umzugehen Katharina Groning Fakultdtfur Pddagogik, Universitdt Bielefeld

1. Einleitung Ausgangspunkt und Problemstellung der folgenden Uberlegungen ist die Ungeschtitztheit generativer Lebensformen und die Konflikte, die sich in den Intergenerationenbeziehungen zwischen hochaltrigen Menschen und ihren Kindem ergeben. Eine Problemdimension dabei ist, dass „die pflegende Familie" weder einen grundgesetzHchen Schutz noch ausreichende sozialrechthche Unterstutzung genieBt. Die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege ist nicht geregelt und stellt ein dringendes familien-, frauen- und sozialpolitisches Projekt dar (DalHnger 1996). Die Deutung der Intergenerationenbeziehung erfolgt entweder auf der Ebene der Tradition im Sinne von linearen Ethiken oder auf der Ebene des modemen Konzeptes der Wahlfreiheit - als unabhangige biografische Entscheidung von Partnerlnnen und Kindem, die jedoch zumeist Tochter und Ehefrauen sind. Mit dem Fortschreiten des demografischen Wandels wird Pflege eines Angehorigen eine wahrscheinliche Lebenslage (von Frauen) im hoheren Lebensalter. Aufgezeigt werden soil, dass beide Konzepte Wahlfreiheit wie auch Tradition fur sich spezifische Konflikte befordem, die derzeit vor allem als Konflikte im weiblichen Lebenszusammenhang deutlich und privat behandelt werden. In Bezug auf das Thema Fiirsorge ftr die hochaltrige und pflegebedtirftige Generation pragen untereinander wenig vemetzte Disziplinen, Forschungstraditionen und unscharfe sozialpolitische Positionen das Bild. Generative Lebensformen im Zusammenhang mit der Sorge fur pflegebedtirftige Menschen sind vor allem ein Forschungsgegenstand der Altersozialpolitik, der Gerontologie und der Pflegeforschung. Alterssozialpolitik und Pflegeforschung fassen diesen Forschungsgegenstand als hausliche Pflege auf, wobei hier der Schwerpunkt auf der Pflege liegt, d.h. Konzepte und Modelle professioneller Pflege ins hausliche Umfeld transferiert werden. Alltagsbezogene, lebensweltliche oder feministische Forschungsansatze wie zum Beispiel das Konzept der alltaglichen Lebensfuhrung (vgl. Jurczyk/Rerrich 1995) oder die feministische Sozialpolitikanalyse (Seubert 1993; Dorr 2000) spielen hier kaum eine Rolle. Das Ergebnis ist ein weitgehend funktionaler Pflegebegriff. Wie im Pro-

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fessionsmodell wird die Pflege als Summe einzelner von einander abgrenzbarer Komponenten aufgefasst. Insbesondere die Psycho-Gerontologie als wichtigster und dominantester Zweig der Altemswissenschaft fokussiert die Sorge fur Alte unter der Fragestellung der Lebensfiihrung im pflegebedtirftigen Alter als Sonderfall des Altemsprozesses. Sie geht am starksten von einer Individualisierung des Alters aus und betont traditionell die selbstandige Lebensfiihrung als Ziel eines erfolgreichen Alters (z. B. Lehr 1996; Baltes/Baltes 1992). Sowohl fiir die Alterssozialpolitikforschung als auch fiir die Gerontologie und fiir die Pflegeforschung gilt, dass es keine oder in der Alterssozialpolitikforschung nur punktuelle Vemetzungen zur Frauen- und Geschlechterforschung gibt. Dieser Vemetzungsmangel mtindet in eine strukturelle Verengung von Perspektiven. So sind zum Beispiel familiendynamische Prozesse zu Beginn einer Pflegetatigkeit, das innerfamiliale Auffmden der Pflegeperson, die Konstruktion ihrer Rolle auf Basis von Institutionalisierungen (wer wohnt wo, wer hat das Haus, wer hat Zeit) Ideologien, Uberzeugungen und Werten (Pflege ist Frauensache, wir haben doch eine Krankenschwester in der Familie) und unbewussten Rollen und Zuschreibungen (alteste Tochter, jtingste Tochter, einzige Tochter, Lieblingskind, Stammhalter) - um nur einiges zu nennen - wenig beforscht. Sorge fiir Alte als spezielle weibliche Lebenslage im mittleren und hoheren Lebensalter ist weder wissenschaftlich noch politisch ausreichend reflektiert. Fiir die Politik gilt was Marianne Weg in den 1980er Jahren zum Verhaltnis von Familien- und Frauenpolitik gesagt hat auch fiir die Lebensft)rm Sorge und Pflege fur einen alten Menschen. Familienperspektiven werden nach Weg (1987) zumeist gegen Frauen und gegen ihre Gleichstellung, im Sinne der Retraditionalisierung gedacht. Frauenperspektiven werden jedoch umgekehrt ohne Familie, Bindungen und Beriicksichtigung des Alltags entworfen. Es komme auf diese Weise zu einem Paradoxon in der Politik, was als familienfi-eundlich gilt, erweise sich von seiner Wirkung als benachteiligend fiir die Frauen, was dagegen frauenpolitisch erstritten wtirde, wirke sich auf die weiblichen Lebensformen wie ein struktureller Zwang zur Singularisierung aus (vgl. Weg 1987: 115). Mit dem Kurzschluss zwischen Frauen- und Familienpolitik ist damit fiir die Verfasserin der Grundstein fiir die Marginalisierung generativer Lebensformen gelegt. In Bezug auf die Entscheidung fiir einen alten pflegebedtirftigen Eltemteil oder den pflegebedtirftigen Partner Sorge zu tragen, wirkt sich die beschriebene Einseitigkeit und die mangelnde Vemetzung der wissenschaftlichen Disziplinen problematisch aus. Der Kurzschluss hier lasst sich beschreiben als Zusammen-

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spiel von fiinktionalen Analysen, von aus der Professionspolitik formulierten Qualitatsvorstellimgen und von Individualisierungsidealen bezogen auf das Alter. Alle klammem den Alltag, wie auch die weibliche Lebenswirklichkeit, aus und produzieren hinsichtlich der Lebenslage Pflegebedtirftigkeit und Sorge fur pflegebediirftige Eltem oder den Partner Unbewusstheit. Gleichzeitig hat auch die feministische Forschung das Problem der generativen Lebensformen auf das Problem der Benachteilung von Frauen durch die hausliche Pflege reduziert. Implizit wird den Frauen mit den Ergebnissen der feministischen Sozialpolitikanalyse nahegelegt, sich der Sorge fiir pflegebediirftige Eltem oder den pflegebediirftigen Partner zu verweigem - zu streiken. Damit ignoriert die feministische Analyse implizit die generative Bindung, Liebesbeziehungen und Anerkennungsformen, die Familien immer auch innewohnen bzw. subsummiert diese unter das Dach der Retraditionalisierungsstrategie. Bezogen auf den konkreten Lebenszusammenhang von Frauen, die als Tochter, Schwiegertochter oder Ehefrauen vor das Problem gestellt sind, sich mit einer moglichen Pflege ihrer Partner, Eltem oder Schwiegereltem auseinandersetzen zu mtissen, stellt sich die Situation massiv widersprtichlich dar. Der Fokus der Frauenforschung auf die Benachteiligung durch die hausliche Pflege hinzuweisen, hat nicht zu einer verbesserten alterssozialpolitischen Praxis mit gesetzlich geschtitzten Pflegezeiten, Programmen zur Vereinbarkeit von Bemf und Pflege, zu familienuntersttitzenden und geschlechtersensiblen Erganzungsangeboten, zu einem Mehr an innerfamilialer Gerechtigkeit in Bezug auf die Verteilung der Reproduktionsarbeit bei hauslicher Pflege, zu einem Netz an entsprechend qualifizierten Angeboten der Beratung und Bildung, die sich nicht nur als Sachberatung und Information zum Pflegeversichemngsgesetz versteht, gefiihrt. Zu pflegen bedeutet unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen, sich mit hoher Wahrscheinlichkeit einem Prozess der innerfamilialen Alleinverantwortung ftir einen pflegebediirftigen Menschen und des Verlustes von Chancen zu unterziehen, seien es Chancen und Entwicklungsoptionen im Bemf, seien es Chancen zur personlichen Weiterentwicklung durch Bildung, politisches Engagement und soziale Beziehungen. Das ist mehr und etwas anderes als der Begriff der Retraditionalisiemng zu beschreiben vermag. Manche Frauen erleben eine Art soziales Sterben in der Lebensmitte, wahrend ihre Familien und ihre Umwelt sich von ihnen und dem pflegebediirftigen Menschen zuriickzieht und die Pflege entwertet (vgl. Groning/Kunstmann/Rensing 2004). Anhand eigener Forschungen soil dies im Folgenden aufgezeigt werden. Dazu wird zunachst der theoretische Rahmen vorgestellt und in einem weiteren Schritt werden Passagen aus zwei Interviews prasentiert, die im Rahmen einer

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qualitativen Studie im Jahr 2002 erhoben worden sind. Die Interviews sind ausgewahlt worden, um aufzuzeigen, dass sowohl das Konzept der Wahlfreiheit nicht bis in die Lebenswelt reicht und dass ebenfalls das Konzept Tradition keine Orientierung fiir die Lebenskonflikte bereitstellt, die die Pflegeperson in der hauslichen Pflege erwarten. Ein wichtiger Faktor flir dieses Dilemma ist die „Geschlechterpolitik" innerhalb von Familien, d.h. die Zuweisung von Frauen in die Alleinverantwortung bei gleichzeitiger Verleugnung des AusmaBes an Arbeit und Kompetenz, die fur die Bewaltigung der Pflegeaufgaben notig ist. Der Beitrag verfolgt den Ansatz, dass generative Lebensformen einen wichtigen ethischen Beitrag zum Zusammenleben von Menschen in einer Gesellschaft leisten. Niemand wird gem pflegebediirftig oder dement. Niemand will gem sterben. Trotzdem gehoren diese existenziellen Seiten des Lebens zur Entwicklungsaufgabe einer jeden Biografie. Es geht nicht um Pflegestreik, sondem damm, den Pflegepersonen ftir ihre Aufgabe umfangreich den Rticken zu starken, fur mehr innerfamiliale Gerechtigkeit und fur mehr sozialpolitischen Schutz Sorge zu tragen.

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Hausliche Pflege - von der Spannung und Widerspriichlichkeit der Analysen Die Pflege eines alten Angehorigen fmdet zu Hause im Kontext alltaglicher Lebensfiihrung und unter den Bedingungen der Reproduktionsarbeit statt. Hier gilt, wie Marianne Dierks (2005) es ftir diesen Lebensbereich beschrieben hat, dass Reproduktionsarbeit heute unter den Bedingungen einer sich entgrenzenden und totalisierenden Erwerbsarbeit zersplittert, bagatellisiert und entwertet ist (vgl. auch Oechsle 2002; Dierks 2005). Es gelte das Prinzip der Dissoziation und Kontrastiemng zwischen Bemfsleben und privater Reproduktionsarbeit. Die Ergebnisse vor allem der feministischen Analysen sowohl zur historischen Entstehung reproduktiver Arbeit als auch zu ihrer Degradiemng als privatem Liebesdienst der Frauen seien eindeutig. Reproduktive Arbeit sei einerseits eine Institution, in der „das Funktionieren der Familie, d.h. Sozialisations-, Regenerations-, generative und okonomische Funktionen tagtaglich realisiert wiirde. Sie sei unbezahlt, kontext- und milieuabhangig. Durch sie wtirden emotionale, physische und soziale Bediirfiiisse befriedigt, die nicht tiber den Markt befriedigt werden konnten" (Dierks 2005: 48f.). Andererseits wiirde diese Arbeit gesellschaftlich geringgeschatzt und ihre Anerkennung verweigert, was sich fur Dierks und auch andere in der Nichtberticksichtigung der reproduktiven Arbeit im Bmttoinlandsprodukt ausdriickt und sie mit einem Zitat des Nationalokono-

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men List zuspitzt, der bereits vor 150 Jahren formulierte: Wer Schweine ztichtet gilt als produktives; wer Kinder erzieht als unproduktives Mitglied der Gesellschaft (vgl. Dierks 2005: 51). In Anlehnung Studien zur Reproduktionsarbeit aus den 1980er Jahren betont Dierks weiterhin die emotionalen Beziehungen und Verflechtungen im Kontext der Reproduktionsarbeit sowie die Unbewusstheit, die durch die Symbolik und die Ritualisierung des familialen Alltags produziert wiirde und vor allem den Frauen auferlegt ist (vgl. Dierks 2005: 49). Der Sinn der Reproduktionsarbeit sei demnach die Produktion von Wohlbefmden jedes einzelnen Familienmitgliedes wie auch der Familie als Ganzer. Die feministischen Analysen haben eine massive Diskriminierung und Benachteiligung der Hausarbeit aufgedeckt, die vom Fehlen der monetaren Gegenleistung uber mangelnde gesellschaftliche Anerkennung und Diskriminierung als Nichtarbeit bis zur Marginalisierung und Entwertung der Reproduktionsarbeit durch eine strukturelle Riicksichtslosigkeit der Gesellschaft gegenuber Eltem und Kindem reiche. Bei der Bewertung der Forschung zur Hausarbeit seit den 1970er Jahren spielt jedoch die Pflege alterer Familienmitglieder keine Rolle. Pflegearbeit, so stellt Dierks fest, kommt in der sozialwissenschaftlichen Frauenforschung zur Hausarbeit im Gegensatz zur Erziehungs- und Beziehungsarbeit nicht vor. Sie ist auch in der Forschung zur Hausarbeit vergessen worden oder wird lediglich unter verwandtschaftlicher familialer Arbeit subsummiert (vgl. Dierks 2005: 82). Ihre Bedeutung wiirde deshalb iiberhaupt nicht abgebildet. Dagegen ist das Thema Pflege alter Eltem oder Pflege des Partners Thema der feministischen Alterssozialpolitikanalyse - jedoch nicht im Sinne des Kampfes um Anerkennung der Pflegearbeit, wie dies fur materielle Hausarbeit und Kindererziehung gilt. (Es muss beziiglich der Forschungslage angemerkt werden, dass es sich um einzehie Arbeiten handelt, eine „Bewegung" wie in den 1970er und 1980er Jahren die Debatte um Lohn fiir Hausarbeit findet sich hier nicht.) Im Mittelpunkt der feministischen Alterssozialpolitikanalyse steht zwar die These, dass die private Pflegearbeit nutzlich, jedoch entwertet ist. Im Kern der Argumentation steht aber das Konzept der „Ruckverlagerung" der Pflege von der Altenhilfe in die Familie. Pflege gilt im Gegensatz zur Erziehung als genuin staatliche Aufgabe, die in die Familie aus Kostengriinden zurtickverlagert werden soil (vgl. Dorr 1993). Frauen werden vor allem als „Ausfallbiirgen des Sozialstaates" beschrieben. Die Privatisierung gesellschaftlich notwendiger Arbeit miinde in zusatzliche Dilemmata, wie Sprachlosigkeit der Pflegepersonen, Stagnation des Pflegever-

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haltnisses und Belastungen in der hauslichen Pflege. Im Rahmen feministischer Sozialpolitikanalysen gilt die Pflegeversicherung mit ihrer Festschreibung des Vorranges der hauslichen Pflege noch einmal als ganz besonderes Medium der Funktionalisierung von Frauen durch den Staat (Seubert 1993). Da Frauen mehrheitlich Hauptpflegepersonen sind, werden sie durch die Pflege der alten Eltem sozialpolitisch benachteiligt. Dies ist unumstritten. Insgesamt stehen bei der sozialpolitischen Argumentation zur hauslichen Pflege aus der Perspektive der Geschlechterforschung zwei weitere Dimensionen im Vordergrund. Zuerst einmal wird auf der Ebene von Aggregaten argumentiert: die Frauen und die Alten. Es ist also nicht die Mutter, die z.B. von der Tochter gepflegt wird, sondem Frauen pflegen Alte. Mit dieser Anonymisierung der praktischen sozialen Verhaltnisse und Beziehungen zwischen Pflegebedtirftiger und Pflegender ist dann der nachste Schritt in der Argumentation einfach: Pflege und Ftirsorge sind in erster Linie ntitzliche Arbeit. Generative Bindungen und daraus resultierende Entscheidungen fiir entsprechende Lebensformen geraten im Sinne des „doing gender" unter Verdacht vor allem im Dienst der Reproduktion traditioneller Geschlechterverhaltnisse zu stehen. Gegenuber den Forschungsergebnissen zur Reproduktionsarbeit und zum Verhaltnis von Geschlecht und familialer Altenfiirsorge vertritt sowohl die Pflegeversicherung wie auch die jew^eiligen Bundesregierungen (einschlieBlich rotgriin) ein vollig anderes Konzept, sov^ohl hinsichtlich des familienpolitischen Leitbildes als auch hinsichtlich der Bedeutung der Pflege. Dies soil im Folgenden kontrastiert werden, um die Spannung zu verdeutlichen, in der Frauen sich befinden, d.h. welche Botschaften sie empfangen, wenn vor allem Eltem pflegebedtirftig werden. Die Pflegeversicherung hat ein individualzentriertes Leitbild, ein Altersleitbild souveraner Senioritat, ein Leitbild, welches von Konzepten wie Wahlen, Wahlfreiheit und Optionen beherrscht ist und einen Begriff von Pflegebedtirftigkeit, der als punktuelle und fiinktionale Einschrankung ohne Abhangigkeit aufscheint. Die Leistungen der Pflegeversicherung sollen die Pflegebedtirftigen dabei unterstutzen, trotz ihres Hilfebedarfs ein moglichst selbstandiges Leben zu fiihren, welches der Wtirde des Menschen entspricht (§2 SGB XI). Die Pflegebediirffigen haben, bezogen auf die Gestaltung der Pflegebeziehung, die Option, zwischen Geld-, Sach- und Kombinationsleistungen zu wahlen. Die Pflegebedtirftigen werden im Pflegeversicherungsgesetz als ,souverane Verbraucher' gedacht: Als ,Kunden', die sich am Markt orientieren, aus dem bestehenden Leistungsspektrum wahlen, die Qualitat der Leistung beurteilen, Kosten kalkulieren und ihren Bedtirfiiissen durch entsprechendes Agieren am Markt Geltung

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verschaffen. Die Einschrankungen der Pflegebedurftigkeit scheinen die Seele und das Leben der betroffenen alten Menschen nicht zu beruhren, sie sind ,irgendwie' von der Person abgespalten - und konnen entsprechend punktuell und funktional versorgt werden. Dass die Erfahrung eines nicht-funktionierenden, sich gegen das Ich richtenden Korpers beschamend und beangstigend ist, selten rational und reflexiv bearbeitet, sondem mit selbstzerstorerischen Fantasien, Selbsthass, Depression und nicht selten ausgesprochener Aggression, durchmischt mit riihrender Dankbarkeit gegen alle, die gesund und unabhangig sind, beantwortet wird, gerat unter dieser Perspektive aus dem Blick. Aus dem Blick gerat auch, dass insbesondere die Symptome der Demenz sich als „Suche nach Bindung" interpretieren lassen, die bei der Bezugsperson Pflegeverhalten hervorrufen sollen. Und damit verschwindet der Alltag in der hauslichen Pflege und macht einer groBen Formel von Stress und Belastung Platz, ohne dass Stress und Belastung im Kontext alltaglicher Lebensfiihrung mit einem pflegebedtirftigen Menschen und unter den Bedingungen der Reproduktionsarbeit wirklich verstanden werden konnen. Die Pflege und Versorgung alter, hilfebedtirftiger Menschen wird von der Gesetzgebung vorrangig als eine Aufgabe angesehen, die vorstaatlich, also familial und zivilgesellschaftlich erbracht werden muss. Staatliche Leistungen iibernehmen dabei unterstutzende und komplementare Funktionen. Im Vergleich zur feministischen Sozialpolitikanalyse dreht die Pflegeversicherung zum Beispiel die Frage um 180 Grad um, wahrend die einen von Rtickverlagerung ins Private sprechen, sprechen die anderen von genuin privaten Leistungen, mit denen die Gesellschaft zunachst einmal gar nichts zu tun hat. Die Leistungen der Pflegeversicherung orientieren sich implizit an einem familialen Pflegearrangement mit einer (weiblichen) Hauptpflegeperson. Vordergriindig scheinen also vor allem Frauen von der gesellschaftlichen Aufwertung der Pflegeverantwortung, von den familienentlastenden, finanziellen und versicherungstechnischen Leistungen zu profitieren. Ein Bild allerdings, das sich bei genauerer Betrachtung erheblich relativiert (Groning/Kunstmann/Rensing 2004).

3.

Widerspriichliche Deutungen und konflikthafte Suche nach Lebensmustern und Lebensorientierungen Im Rahmen einer explorativen Studie zum Problem der Gerechtigkeitsvorstellungen weiblicher Pflegepersonen (2002) und eines Folgeprojektes zum Problem von innerfamilialen Entwicklungsaufgaben (2002/04) sind in Bielefeld sowohl Interviews mit Einzelpersonen wie auch Familienmitgliedem zum Ver-

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haltnis von Biografie und Pflege durchgefuhrt worden. Ein wichtiges Ergebnis beider Studien war, dass Familien hinsichtlich ihrer generativen Entwicklungsaufgaben scheitem und es zu deutlichen Prozessen der Entsolidarisierimg innerhalb von Familien kommt, wenn alte Eltem pflegebedurftig werden. Die Pflege spitzt sich schrittweise auf eine einzelne, meist weibliche Person zu. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung vertieft sich und auch solche Frauen, die eine Entscheidung fur eine traditionelle Lebensform mit gewahlter Alleinzustandigkeit flir die Sorge eines alten Menschen getroffen haben, erleben, dass sie fiir diese „Opfer" keineswegs die erwartete Anerkennung bekommen. Sie stehen innerfamilal, gegentiber ihren Partnem und Kindem ebenso wic gegentiber den professionellen Diensten, mit denen sie kooperieren, allein da. Die innerfamiliale Isolation und Verlassenheit stellt fiir sich eine beachtliche Krankung und Verunsicherung dar. Mit diesen Ergebnissen der Studie formulieren wir Zweifel daran, dass immer der Pflegebediirftige der Stressor ist und stimmen Franke (2006) in ihrer Kritik an der Stress- und Belastungsforschung zu. Als ein weiteres Ergebnis sehen wir die Erschiitterung von Lebensentscheidungen und biografischen Gewissheiten durch die hausliche Pflege an. Dies betrifft sowohl Frauen, die ihr Leben traditionell ausgerichtet haben und sich auf das Dasein flir anderen konzentrieren, als auch solche Frauen, die nach dem modemen Konzept der „Wahlfi'eiheit" pflegen und sich sicher sind, dass sie mit der Pflege aufhoren werden, wenn ihre Belastung eine gewissen Grad erreicht hat. Der teils aufwtihlende Prozess der Suche nach Lebensmustem und Lebensstilen zwischen dem Dilemma der tradierten Lebensformen und ihrer antiemanzipatorischen Wirkungskraft und den tiefen, generativen Bindungen, die in die Pflegesituation automatisch einflieBen und den Alltag mitstrukturieren, gehort zu den weiteren wichtigen Ergebnissen. Bei den von uns interviewten Frauen haben wir eine permanente Suche nach dem richtigen Alltag feststellen konnen - eine Suche, die ganz unterschiedliche Ausgangspunkte hat und die Frauen unabhangig von ihren Voreinstellungen und Festlegungen zu ihrer privaten Lebensform treffen. Der Konflikt um die dauemde Suche nach einem der Pflege angemessenen Alltag trifft Frauen, die sich vom Feminismus angesprochen fluhlen, genauso wie jene Frauen, die sich auf traditionelle Rollen festgelegt haben.

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Beispiel 1^ Frau K. hat im mittleren Lebensalter ein Weiterbildendes Studium „Frauenstudien" an der Universitat Bielefeld begonnen. Aus diesem Zusammenhang ist auch unserer Kontakt entstanden. Als Studentin der Frauenstudien hat sich Frau K. besonders mit dem Thema Alterwerden, mit Alterstheorien und gerontologischen sowie alterssozialpolitischen Fragestellimgen befasst. In ihrer wissenschaftlichen Arbeit betont Frau K. vor allem die Vorstellung eines souveranen, modemen und individualisierten Alters, jenseits negativer Stereotypen. Dieses Leitbild wird ebenfalls zum inhaltlichen Kern ihres Pflegeentwurfs. Mit der Praxis der Pflege gerat der Pflegeentwurf von Frau K. - auch bedingt durch ihr Altersleitbild der „souveranen Senioritat" - in Spannung. Es ist schwierig fur Frau K., sich mit der Vorstellung zu befassen, die Souveranitat und Selbstandigkeit im Alter verlieren zu konnen. Das Leitbild der Souveranitat und Selbstandigkeit pragt die Entscheidungen von Frau K. und ihrer Schwester. Frau K. und ihre Schwester versorgen die Mutter zunachst mit Hilfe eines ambulanten Dienstes in einer Wohnung, die zu diesem Zweck angemietet worden ist. Die Briider der Herkunftsfamilie, obwohl Erben des elterlichen Geschaftes, beteiligen sich an der Pflege iiberhaupt nicht. Lediglich der Schwager von Frau K., der Arzt ist, tritt als Berater des Pflegeverhaltnisses auf. Als das Arrangement, die Mutter in einer eigenen Wohnung zu versorgen nicht mehr aufrecht zu erhalten ist, kommt die Mutter in ein Heim. Die Situation dort ist Ausgangspunkt der Erzahlung von Frau K. In diesem Rahmen wird das erste wichtige thematische Feld eingeflihrt, Frau K.s Auseinandersetzung mit dem Thema des Alters und mit dem Altenheim. In diesem thematischen Feld bearbeitet Frau K. vor allem die Disparitat des Alterbildes, welches in den Wissenschaften vorherrscht und welches von konstruktivistischen und von institutions und professionskritischen Sichtweisen bestimmt ist und setzt dies in Beziehung zu ihrer Erfahrung. Sie kontrastiert zunachst zwei Positionen: die wissenschaftliche Darstellung des Alters - konstruiert durch Institutionalisierungen, Entmiindigungen, negative Stereotypenbildung sowie Altersbilder - und die eigene Erfahrung. Die Disparitat zwischen wissenschaftlichen Theorien uber Alter sowie Pflegebediirftigkeit und die praktische Erfahrung beschaftigt Frau K. an verschiedenen Stellen des Interviews. Sie korrigiert zunachst ihr Bild tiber die 1 Die Interviewpassagen entstammen der Erhebung im Rahmen einer explorativen Studie zum Thema Gerechtigkeitsvorstellungen von Frauen, die an der Universitat Bielefeld im IFF 2003 durchgefuhrt wurde.

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Altenheime, ihr Bild uber die dort tatigen Schwestem und wiirdigt vor allem deren Belastungen durch die hohe Anzahl an Schwerpflegebedtirftigen und Sterbenden. Die Erfahrung des Altenheimes beschreibt Frau K. in gewisser Weise als Grenztiberschreitung. Sie hat die Ttir geoffhet und in Raume gesehen, „in die man ansonsten keine Einblick hat", wie sie sagt. Ich muss zugeben, das Pflegepersonal, da hatte man friiher auch keinen Einblick, man horte nur Altenheime wie schrecklich. Aber die muss ich dann nun wirklich bewundem. Ich habe dariiber gelesen, dass die meisten Altenpflegerinnen, das sehe ich auch bei uns im Heim, nach 2 Jahren weg sind. Und wir hatten jetzt da..., auf der Station meiner Mutter sind zwei Schwerpflegefalle, sterben auch relativ schnell wieder, da sind zwei Neue gekommen, die also ja im Anfangstadium sind, auch verwirrt, aber die erkennen noch ihre Kinder und so. Sagte die Pflegerin zu mir: „Gott sei Dank, dass wir mal wieder hier was auf der Station haben, mit denen man sich unterhalten kann." Ne. Da sind ja nur die Angehorigen hier, durch die Dauer. Die Leute nur wieder zuriickzuholen, weil alle rauswollen und am fiittem und putzen. Also die Leute muss ich wirklich bewundem.

Frau K. spricht zunachst von den dementiell veranderten Bewohnem, die weglaufen und von den Pflegenden immer wieder „gefunden" und zurtickgebracht werden mtissen. Sie erzahlt zudem, wie viel korperliche und „Arbeit am Korper" die Pflegenden leisten. Sie bekommt auf diese Weise Zugang zum Stress in der Altenpflege. Gleichzeitig zeigt sie dariiber eine Beunruhigung, eine gewisse Angst, die nur dadurch kontrolliert wird, dass sie Bewunderung ausdrtickt. Diese Beunruhigung wird immer wieder formuHert und verweist auf den Konflikt, in dem sich Frau K. befmdet. Sie bewundert diejenigen, die sich um alte Menschen ktimmem, sie sagt aber deutlich, dass sie selbst flir diese Ftirsorge nicht die Kraft aufl^ringt und bereit ist, anstatt dessen „Strafarbeiten" wie zehn Stunden Putzen zu verrichten und gerat im Laufe des Interviews in zunehmende Angst um sich selbst. Nun kommt es sicherlich dazu. Es gibt sicherlich auch viele Frauen, die sich aufopfem konnen und pflegen konnen. Ne, also das kann ich nicht. Ich kann im nachhinein wohl sagen, ich kann wohl eher zehn Stunden putzen als einen alten Menschen zu pflegen.... Aber das, was ja in Massen auf uns zukommt, jetzt die Verwirrtheit, die Alzheimer, ah, das finde ich ganz, ganz schwierig, damit fertig zu werden. Deshalb denke ich mir, dass das eine junge Familie gar nicht machen kann, ne. Oder sie mussen, genauso wie das Pflegepersonal im Altenheim eine Pflicht erfiillen. Sie haben sich das nun als Beruf gewtinscht und machen das ja auch wieder geme, denke ich mal, dass sie dafiir geschaffen sind. Halt, ich bin es eben nicht. Ich kann da nicht stundenlang am Bett sitzen, betiideln, machen und tun, ne. Das wollen meine Kinder auch nicht, die sind so was von selbststandig geworden.

Die Begriindungen von Frau K. horen sich so an, als gabe es zwei Sorten von Frauen, die einen, die „betudeln" und die anderen, wie sie selbst, die das nicht

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konnten. Ftirsorge wird als „betudeln" als trivial und als Opfer beschrieben und in Gegensatz zur Selbstandigkeit gestellt, die Frau K. in Bezug auf ihre Kinder erwahnt. Die Einstellung zur Ftirsorge als etwas „wofur man geboren sein muss" ist an mehreren Stellen des Interviews zu fmden. Ihr gegentibergestellt wird ein Ideal, der Unabhangigkeit und Souveranitat, welches in gewisser Weise die Universitat verkorpert. Schwer ertraglich ist die Ftirsorge fur einen Menschen, der selbst zur Schamquelle wird. Auf die Frage, ob es Situationen gab, in denen Frau K. die Pflege ihrer Mutter abgeben wollte, bestatigt sie dies mit dem Schamgefiihl. MMH ja ich hab den Gedanken gehabt, wenn ich wieder angerufen wurde ne, und sie so halt nackig da durch die Gegend lief. Ne dann habe ich gedacht „Nein". Irgendwo hab ich mich dann auch geschamt dann letztendlich, weil jeder schon Bescheid wusste. Also, sie hatte zu der Zeit schon rund um die Uhr..., das waren 2 Minuten, wenn die nicht betreut wurde, dann war sie wieder auf der StraBe. Und das fand ich also damals schon schrecklich. Ne, so dass ich dann auch schon die Caritas immer so genommen habe, dass der Ubergang und dieser Wechsel da war, dass sie nicht eine Stunde alleine war. Ne. Das habe ich schon oft gedacht. Ne, ich denke mal, da musste es doch anders werden. Ne.

Die Entwertung der Ftirsorge spiegelt sich ebenfalls in Frau K. Reflexionen zu ihrer Pflegemotivation. Als sie gefragt wird, warum sie pflegt und sorgt, stellt sie zuerst die institutionellen Aspekte ihrer Beziehung heraus. Gleichzeitig zeigt sie sich aber von ihrer pflegebedtirftigen Mutter zutiefst beruhrt. Frau K, macht in der Pflege die Erfahrung, dass das Konzept der Wahlfreiheit, sich quasi jederzeit gegen die Fortsetzung des Pflegeverhaltnisses entscheiden zu konnen, sich modem am „Recht auf ein Sttick eigenes Leben" zu beziehen, nicht gilt. Gleichzeitig kann Frau K. diese Unfreiheit, die sie in der Pflegebeziehung erlebt hat, nicht erklaren. Was war dann die auslosende Grundhaltung, dass Sie die Entscheidung (zur Heimaufnahme) nicht getroffen haben, dass sie die bisherige Situation beibehalten haben? Genau, das kann ich ihnen nicht erklaren? Ich glaube, weil es die Mutter ist. Wie gesagt ich hab ja gar nicht so ein dolles Verhaltnis zu ihr. Aber irgendwo tat sie mir leid. Ne. Und wenn sie dann auch so im Stuhl saB und auch grundlos weinte. Da hab ich gedacht, mein Gott, was da wohl in dem Kopf vorgeht und dann hab ich mich wieder bemiiht und alles weiter gemacht. Ne. Ich kam nicht mehr dahin (an den Punkt, wo sie aufhoren wollte). Dieses nicht, sondem trotzdem man nur sagte, also dass man mir ihr fertig... und das man auch abschalten kann. Das ist ein gewisser Zeitraum und denn ist Schluss. Ne. Aber bei den eigenen Eltem sieht es alles anders aus.

Gefragt nach der Bedeutung , die die Pflege flir Frau K. hat, reflektiert sie tiber ihr eigenes Alter und die Zukunft des Alters allgemein. Die Spannung zwischen der Erfahrung der Pflege, Ftirsorge und Generativitat, die Frau K. in Bezug auf die Pflege ihrer Mutter gemacht hat und das, was sie tiber das Alter wissen-

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schaftlich denkt, prallen aufeinander. Zwischen ihren Erfahrungen und ihren Uberzeugungen findet Frau K. keine Balance mehr. Sie hat erfahren, wie notig Fiirsorge im Alter ist - gleichgiiltig, ob diese nun in einem Heim von „betudelnden" Schwestem oder zu Hause von bettidelnden Tochtem/Sohnen erbracht wird, halt aber daran fest, dass sie selbst niemandem zu Last fallen will. Was wiirden Sie zusammenfassend sagen, was bedeuten die Erfahrungen, die Sie jetzt in der Pflege mit ihrer Mutter gemacht haben fur ihr Leben, auch fur ihr weiteres Leben? Mai sehen. Sie, da mache ich mir schon viele Gedanken. Also, da kann ich nur sagen, ich hab mir nie Gedanken urn mein Alter gemacht. Nur, was ich jetzt in den drei Jahren da in den Altenheim mitkriege, also da bin ich nur permanent nur daran, dass ich nicht eines Tages da so stehen mochte. Dass ich auf jeden Fall vorher alles geregelt haben mochte, dass ich meinen Kindem nicht zu Last falle. Das fmde sehr gut, dass meine Mutter Gott sei Dank uberhaupt nicht mitbekommt, wie das Ganze dann nun lauft. Dass ich nicht ins Heim musste. Und das noch mitbekommen wiirde, dass meine Kinder gezwungen werden, irgendwas fur mich zu machen. Nee, da mochte ich ganz unabhangig sein, dass ich denen nicht zur Last falle. Also, das geht mir permanent durch den Kopf und da muss ich eine vemiinftige Regelung finden, ne. Ich hoffe, dass es nicht so eintritt, wie bei meiner Mutter mit mir. Das fande ich ganz schrecklich, also wenn ich von meinen Kindem abhangig ware. Das mochte ich nicht.

Frau K. hat im Vergleich zu anderen Pflegearrangements versucht ,einen modemen Weg fiir die Versorgung ihrer Mutter zu gehen. Sie hat sie extern in einer eigenen Wohnung gemeinsam mit der Schwester versorgt und als dieses Arrangement aufgrund der Betreuungsbedurftigkeit der dementen Mutter zusammengebrochen ist, wurde ein Heimplatz gesucht. Das Arrangement deutet auf die Festlegung eines Settings und eines Rahmens hin, Pflege ohne Aufopferung zu gestalten, was zunachst auf eine hohe Reflexion der Pflegesituation und auf eine Bewusstheit tiber die Risiken der Rolle als pflegende Angehorige hindeutet. Was Frau K. jedoch zu iiberraschen scheint, ist, dass Menschen so abhangig werden konnen, dass sie einander wirklich existenziell brauchen. Weil man ein sterblicher Mensch ist, fallt man anderen zu Last und braucht nicht nur „Hilfe bei den taglichen Verrichtungen, um ein Leben in Wiirde beschlieBen zu konnen, sondem moralische Beziehungen, mit Anteilen von Zuwendung, Einfuhlung, Bindung, Sorge und Liebe. Der Punkt der Auseinandersetzung mit sich selbst und der Pflege der Mutter liegt in der Bedeutung dieser moralischen Dimensionen am Ende des Lebens, die durch die Demenzerkrankung der Mutter noch einmal starker hervortreten. Frau K. scheitert an zwei voUstandig entgegengesetzten Bildem tiber das Alter. Auf der einen Seite das Bild, bei dem es vorwiegend um die Emanzipation von einem negativen Stereotyp geht. Auf der anderen Seite steht die Erfahrung mit einem realen alten Menschen. Frau K. macht die krisenhafte Erfahrung, dass das

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wissenschaftliche Wissen, welches fur sie eine so groBe Bedeutimg hat, dass sie bis zum Schluss des Interviews vollig daran festhalt, ihr bei der Losimg und Reflexion ihrer Pflegeerfahrung tiberhaupt nicht helfen kann. Beispiel 2 Im Gegensatz zu Frau K. hat Frau C. ihr Leben von Beginn an, wie sie es sagt, auf die Generativitat ausgerichtet und sich bewusst ftir einen traditionellen weiblichen Lebenszusammenhang entschieden. Die Modemisierungsherausforderung ist quasi durch Zurtickweisung beantwortet worden. Anders als Frau K., die geschieden ist, lebt Frau C. mit ihrem Ehemann und ihrer jugendlichen Tochter zusammen. Der Sohn ist bereits wahrend der Pflege der Mutter von Frau C. ausgezogen. In der folgenden Erzahlung steht das schrittweise Zerbrechen des Pflegeentwurfes, der einmal als stabiler Drei-Generationen-Vertrag geplant war und den beteiligten Personen Sicherheit uber ihre Zukunft vermittelt hat. Auffallig ist die hohe Identifizierung mit einem traditionellen Leben. Frau C. dtirfte beztiglich ihrer Lebensentscheidungen, ihrer Einstellungen und ihrer Alltagsgestaltung als geradezu ideal fiir die hausliche Pflege gelten. Ihr Pflegeverstandnis entspringt einer allgemeinen flirsorglichen Haltung ihrer Mutter gegentiber und ist eingebettet in einen von Frau C. selbst gewahlten traditionellen Alltag, den sie als etwas Selbstverstandliches und Nattirliches beschreibt. Schon fruh hat Frau C. sich auf Tradition als Lebensform festgelegt. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren Kindem in der unmittelbaren Nachbarschaft ihrer Eltem, gibt ihren Beruf auf, als die Kinder geboren werden und als ihr Vater krank wird, pflegt sie ihn zuerst gemeinsam mit der Mutter. Frau C. empfmdet zu ihrer Mutter innere Nahe. Ihre Bereitschaft zur Fursorge und Gefiihle der Zuneigung und Liebe sind ausgepragt. Im Fall von Frau C. fallt der Wunsch auf, der Mutter einen schonen Lebensabend zu bereiten. Diesen schonen Lebensabend stellt Frau C. sich als voile Integration ihrer Mutter in ihre Familie vor. Frau C.s Pflegeentwurf zerbricht in mehreren Stufen und an zwei Faktoren. Ein chaotisches Weihnachtsfest, eine Gewaltandrohung ihrer Mutter und schlieBlich die Tatsache, dass die Mutter sie nach einem Pflegeurlaub nicht mehr erkennt, scheinen Frau C. Bemuhungen um die Mutter zu entwerten und sttirzen sie in groBe Irritation. In Bezug auf das Pflegesetting fallt die hohe Alleinverantwortlichkeit auf. Frau C. ist mit der Verantwortung fiir die Mutter fast vollstandig allein. Ihre Briider verweigem, wie auch im Fall von Frau K., jede Mithilfe, der Mann zieht sich schon bald in einen eigenen Alltag zuruck. Lediglich die Tochter wird, begleitet von groBen Schuldgefuhlen, in die Pflege einbezogen. Auch Institutionen und Professionelle stellen keine Integrationsorte dar.

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Die Demenz der Mutter bleibt unverstanden. Frau C. kampft gegen die Symptomatik durch Kontrolle und Begrenzung der Mutter und gerat in ihrem Kampf um Normalisierung in Situationen groBer Hilflosigkeit. Also fiir mich war es ganz einfach selbstverstandlich, dass ich meine Eltem pflege. Ahm, dass ich sie nicht ins Heim gebe. Sie lehnten es auch selber ab. Sie wollten auf keinen Fall ins Heim und ah. Und da ich hier, neben dem Haus meiner Eltem wohne, das Haus, in dem Haus wohnten beide. Ah, war es fur mich ja, ich wollte sie selber auf keinen Fall ins Heim geben. Ich hab da eine Abneigung, und ahm das war der Grund. Und sie sollten auch hier einen schonen Lebensabend haben.

In der Familienbeziehung spielt das Erbe eine entscheidende Rolle. Als diejenige, die in der Nahe der Eltem wohnen bleibt, ist Frau C. auch diejenige, die bereit ist, das elterliche Erbe weiterzuflihren. Diese Bereitschaft fiihrt zu einem Zerwiirfiiis mit den beiden Brudem. I.: Sie waren praktisch Haupterbe? Frau C: Ja. I.: Dann haben sie auch die Situation als die Entscheidung zur Pflegeiibemahme anstand, gar nicht mit ihren Brudem dariiber gesprochen oder hat es da ein Gesprach gegeben? Frau C : Ja, ah, das kommt jetzt auch noch dazu. In dem Testament habe ich mich verpflichtet, meine Mutter zu pflegen. Ahm, Aber das hat jetzt nichts mit damit zu tun, dass ich es wollte, ich wollte es sowieso. Das war jetzt nur noch eine Formsache. Mmmh, mmmh.

Frau C. betont noch einmal ihre Verbundenheit zur Mutter. Materielles Erbe und filiale Verbundenheit bilden eine Einheit, aus der die Pflegebereitschaft erwachst. Aus dem, was Frau C. erlautert, wird ersichtlich, dass bereits ihre Mutter einen anderen Generationenvertrag hat. Frau C.s Mutter, Frau P. handelt vielmehr aus Selbstsorge. Das Haus ist ihr Pfand, welches sie in die Waagschale wirft, um ihre Interessen, namlich nicht ins Heim zu gehen und von einem Kind gepflegt zu werden, durchsetzt. Ganz offensichtlich nutzt die Mutter von Frau C. das Erbe, um daran bestimmte Bedingungen fur ihre Pflege zu binden. Sie sorgt fiir sich selbst. Frau C. beschreibt dies so: Ja, ja .... ihr war es ja auch wichtig, dass das Haus in der Familie bleibt. Das war fur meine Briider unwichtig. Und da ich ja da direkt neben wohne, bietet es sich ja an. So in der Familie bleiben und ah die wollten, sie wollten es verkaufen, meine Bruder und viel Geld bekommen. Das hort sich alles schrecklich an, aber so war es. Das war die Realitat und sie wollte es nicht verkaufen. Sie wollte es, sie hatte viel Miihe und Arbeit reingesteckt und wollte es geme, dass es hier erhalten bleibt.

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In der Familie wird eine Politik des Erbes sichtbar. Das Erbe begrtindet eine Ordnung, welche die Macht und die Kompetenz bei den alten Eltem verortet. Im AUtag der Familie C. wird diese Verpflichtung als Dominanz der Mutter erlebbar. Frau C. wird zu den Lebzeiten der Mutter zur Tragerin von Pflichten und ihre Mutter zur Tragerin von Rechten. Die filiale Verbundenheit von Frau C. macht sie diesen Dimensionen gegeniiber weitgehend blind. Ihre Sorge um die Mutter steht im Vordergrund, weshalb sie das Verhalten der Mutter spater immer weniger versteht. Fiir Frau C. ist das Erbe nicht das bedeutende Medium, das Machtmittel, um das sich in ihrer Familie alles dreht. Deshalb zeigt sie sich im Interview tiberrascht, welche Bedeutung das Erbe ftir ihre Briider hat. Was ja auch nicht selten ist, ahm das war der finanzielle Bereich. Also da. Meine Mutter hatte mir das Haus iiberschrieben. Und ahm, sie bekamen eine bestimmte Summe, sie wollten aber gern noch mehr haben. Und sie blockten total ab, ich sollte jetzt also daftir, dass ich das Haus iiberschrieben bekommen habe, auch Einsatz machen bis zum geht nicht mehr. (...) Es war schon immer, ich hab schon immer alles gemacht hier. Also, sie kamen nur zu Besuch und holten auch in den letzten Jahren meine Mutter nicht mehr zu sich nach Bremen oder Aachen. Immer schon Ruhe haben und immer schon in Urlaub fahren konnen. Und ich hab ihnen Gott sei Dank auch noch einen Brief geschrieben, heute Gott sei Dank vor unserem Urlaub im Sommer, ob sie nicht mal bereit waren, ah meine Mutter zu nehmen, wir wollten geme in Urlaub fahren oder mal zu Weihnachten zu nehmen. Kam nicht vor. Und ah, da haben sie gar nicht darauf geantwortet. Da war also abgesprochen, dass ich also hier bis zum Umfallen meine Mutter pflegen soil. Tja, da ist so'n sehr hassliches Umgang, da will ich gar nicht mehr weiter, drauf eingehen, sehr hassliches Kapitel. Ah ja.

Frau C. mochte sich vor den Gefiihlen schiitzen, die unweigerlich erlebt wtirden, wenn sie weitererzahlen wiirde. Sie beschreibt, dass sich die Bruder einer filialen Verantwortung fur die demente Mutter unter Hinweis auf das Erbe vollkommen entziehen. Es ist so, als miisse sich Frau C. in den Augen der Bruder, das Haus erarbeiten. Die Pflege von Frau C. wird als Ausgleich fur die Bevorzugung erachtet, allerdings ohne genau aufzurechnen, wie groB Frau C. materieller Vorteil durch das Erbe wirklich ist und welche Gegenleistung sie dafur erbringt. Interessant ist aber, dass Frau C. eben nicht alles erbt, wie die Brtider anscheinend denken, sondem dass sie trotz der anstrengenden Pflege nur das Haus erhalt. Die Bruder bekommen hier ihren Pflichtanteil und jeweils ein Drittel des gesamten Barvermogens. I.: Haben Sie noch Kontakt zu ihren Briidem? Frau C : Also, nachdem sie viel Geld bekommen haben, die Beerdigung musste ich auch alles alleine machen, von vom bis hinten, da waren meine Briider nicht da, nicht mal vor der Beerdigung auf die Idee gekommen. Erst kurz vor der Beerdigung sind sie auch in der Kapelle angekommen. Und nachdem die Beerdigung vorbei war, waren sie aktiv driiben im Haus, beim Ausraumen. Also ein Bilderbuch,... also wie aus dem Bilderbuch,... es war unwahrscheinlich.

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Katharina Groning Dann als sie so, ich dabei war, die Konten aufzulosen, das ging dann sch5n durch drei, und dann waren sie ja, dann ganz iiberrascht, wie viel Geld sie doch bekommen. Und das mit dem Haus, alles das, dass ich ihnen alles ausgezahlt hatte und dass es alles so blieb, dass sie sich noch genug hier holen konnten. Das war ganz schlimm ganz schlimm also, das ging an meine Grenzen, ne. Aber und dann nachdem sie alles bekommen haben, ahm sprechen wir wieder miteinander. Mmh. Ich hab auch noch ein schOnes Essen gemacht, so wie es meine Mutter gemacht hatte, als sie so mal kamen, um das Geld abzuholen. Und hab auch nach der Beerdigung sie auch hier reingebeten und meine Schwagerin blieb drauBen die ganze Zeit im Auto. Sind unmogliche Dinge, die da gelaufen sind, ah weil meine Mutter eben mir das Haus iiberschrieben hat. Ich meine, es ist nicht ungew5hnlich, dass der, der pflegt den gr56eren Teil erhalt und dass das..., das ahm war nicht akzeptiert worden.

Nach den Schilderungen von Frau C. verhalten sich ihre Brlider so, als seien sie zurtickgesetzt worden, als mtissten sie ihre Ehre dadurch wieder herstellen, dass sie ihre Schwester bei der Pflege nicht unterstutzen. So als sei der Tausch der Mutter, Haupterbe gegen Pflege eine unangemessene Bevorzugung der Tochter und als mtisse man die Hinterlassenschaft der Mutter gegen mogliche Ubergriffe der Schwester verteidigen und das Haus ausraumen, bevor dies von der Schwester getan wird. Damit wird Frau C.s Thema, die Pflege ihrer Mutter, ihre Alleinverantwortung, ihre Verlassenheit im Familiengedachtnis ausgeloscht. Thema der Familie ist das Erbe, was jeder bekommt oder noch bekommt. Das, was Frau C. mit der Pflege der Mutter geleistet hat, wird dem Schweigen uberantwortet. Frau C. versohnt trotz ihrer geschilderten Verbitterung die Familie, indem sie ein Essen zubereitet, „wie es die Mutter immer gemacht hatte". Sie erklart sich durch dieses Zeichen mit der Tabuisierung der Pflege einverstanden. Die Familie redet deshalb wieder miteinander und zerbricht nicht. An vielen Stellen des Interviews betont Frau C. - wie viele andere pflegende Tochter, Schwiegertochter und Ehefrauen - die hohe positive Bedeutung und enorme Unterstutzung, die sie in der eigenen Familie erfahren habe. Es ist sinnvoll, diese Aussage als Chiffre, ahnlich wie die Aussage „Pflege ist fiir mich selbstverstandlich" zu behandeln, weil sich hinter dieser Aussage vollig unterschiedliche familiale Wirklichkeiten und familiale Kulturen verbergen konnen. Im Fall von Frau C. differenzieren sich die Untersttitzungsformen ihrer Familie sehr stark nach Geschlecht. Wahrend die Tochter von Frau C. zur Co-Pflegerin wird und ihrer Mutter praktische Hilfe und emotionale Unterstiitzung gewahrt, bleibt der Sohn Besucher und die Unterstutzung durch den Ehemann zeigt sich wahrend verschiedener Passagen als durchaus ambivalent und hort bald ganz auf. Sehr deutlich wird zuerst die wichtige Rolle der Tochter von Frau C. bei der Aufrechterhaltung des hauslichen Pflegearrangements. Die Tochter hilft auch in den schwierigsten und belastenden Pflegesituationen, ist Ansprechpartnerin der Kurzzeitpflege wah-

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rend der urlaubsbedingten Abwesenheit der Eltem und hort ihrer Mutter kontinuierlich zu, wenn diese zur Gefuhlsverarbeitung jemanden benotigt, der Container- und Halteftinktionen tibemimmt. Meine Tochter ist 20. Sie studiert in Bielefeld Lehramt. Und ah, naja so in ihrer Pubertatsphase hat sie auch Oma sehr stark erlebt. Ne, auch so mit dem Einkoten in den Betten und auf den Boden. Also ... naja wir ... und wir mussten ihr viel erzahlen und da halten. ... BloB ah meine Tochter hat so psychisch darunter zu leiden. Es waren ja Ekelsituationen. Ja, meine Mutter zu finden auf dem FuBboden, den Teppich voll Kot und alles. Sie selbst mit Kot eingeschmiert. Sie musste mir trotzdem helfen, sie aufzuheben und zum Waschen zu bringen. Fur so ein junges Madchen ist das auch nicht alles so einfach, das zu verkraften, was sie da erlebt hat.

Die besondere Rolle der Tochter als Co-Pflegerin erstreckt sich nicht nur auf die praktische Hilfe bei der Pflege. Hier ist Frau C.s Tochter fur diese unverzichtbar. Frau C. erzahlt ihrer Tochter auch sehr viel iiber sich, was einerseits Nahe bedeutet, andererseits erhalt die Tochter von Frau C. dariiber die Zuwendung, dass sie zur Zuhorerin oder psychologisch ausgedriickt zum psychischen Container der Mutter wird. Sie hat mich in jeder Situation kennen gelemt. Ob ich nun geheult habe oder ob ich mit den Nerven fertig war und nicht mehr konnte. Ob ich ausgepowert war. Einmal ist es intensiver geworden. Aber es war eigentlich schon immer gut. Aber so, so gravierend fallt es mir jetzt nicht auf Aber ich hab ja auch immer mit ihr gesprochen, viel gesprochen. Manchmal sagte sie schon: Mama, ich kann es nicht mehr horen.

Betrachtet man das Rollenarrangement genauer, zeigt sich innerhalb der traditionellen Famihenkultur eine besondere Geschlechterkultur. Zwischen Mutter und Tochter entsteht eine besondere Nahe. Frau C. durfte diese Kultur der Frauen bereits aus ihrer eigenen Lebensgeschichte kennen, denn sie hat, zuerst zwei Jahre mit ihrer Mutter ihren Vater gepflegt. In der Famihenkultur der Familie C. scheint die Kategorie Geschlecht leitend fur Erwartungen in Bezug auf die innerfamiliale Solidaritat und Kameradschaft. Der Sohn von Frau C. wie auch ihr Ehemann sind durch die demenzkranke GroBmutter kaum bertihrt. I.: Haben Sie in solchen Situationen Unterstiitzung durch ihren Mann gehabt? Frau C : Ja,ja.... Ja. I.: Und in welchen Bereichen gab Ihr Mann Unterstiitzung? Frau C : Ja, erst mal in vielen Gesprachen. Also, das kommt ja auch dazu, dass man so belastet von solchen Situationen, dass man sich iiber andere Dinge gar nicht mehr unterhalt. Man unterhalt sich den ganzen Tag nur noch uber die Probleme, die man hat mit der Mutter. Es brOckelt alles weg. Das war. Und da hat er mich, wir oftmals dariiber gesprochen, doch in jeder Beziehung unterstiitzt, bei irgendwelchen Wegen, Helfen, das war schon, schon .... Ich weiB gar nicht, wenn ich alleine gewesen ware, was geschehen ware. Dann ware sie doch wohl ins Heim gekommen. Und dann hatten meine Briider auch nicht soviel Geld gesehen. Aber das wird nicht anerkannt.

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An einer anderen Stelle des Interviews sagt Frau C : Ich hatte es noch geschafft, wenn ich alleine gelebt hatte, Und mein Mann konnte bald nicht mehr. Der sagte: „Ich kann das nicht, also mit Beruf und hier jedes Wochenende, das Theater, dann weiter." Wir mussten ja nachts ja raus, der ganze Tag. Der fand keinen Ausgleich, Und ah, das ist immer so. Sie miissen sich es so vorstellen; Sie stehen zwischen mehreren Problemfeldem, nicht. So ahnlich, z.B. wenn eine Frau einen Mann heiratet, der den Eltem nicht passt. Sie versuchen da auszugleichen und versuchen da auszugleichen. Sie stehen immer dazwischen. Und dann sind da noch die Kinder, und da versuchen Sie, auch noch zu vermitteln. Sie sind ja so ein Punkt, der nach alien Seiten versucht, das Beste zu machen, damit irgendwie es geschafft wird, der Tag geschafft wird. Ne. So miissen Sie sich das vorstellen. Das war traurig, aber wir waren auch nicht mehr die selben

Frau C. schildert die klassische Position der pflegenden Frauen in den btirgerlichen Kleinfamilien. Als reproduktive Arbeit wird die Pflege vollig unterschatzt. Anstelle von Untersttitzung fur ihre Aufgaben, gerat Frau C. in die Rolle des Verbindungsgliedes. Die btirgerliche Kleinfamilie mochte die Pflege der Eltem, aber gleichzeitig davon nichts bemerken. Als ein familiendynamisch wichtiger triangulierender Hintergrund fallt der Ehemann bald aus. I: Und gab es umgekehrt Situationen, wo sie iiberlegt haben, die Pflege abzugeben, die Verantwortung abzugeben? Frau C : Ganz zum Schluss, ganz zum Schluss war ein Punkt erreicht, wo ich nicht mehr darum gekommen ware, sie abgeben zu miissen. Ich woUte es eigentlich immer noch durchhalten, aber ich hatte es nicht mehr geschafft und mein Mann hatte auch langsam genug. Denn auch durch so'n Pflegefall treten ah Situationen, Differenzen, Probleme in Partnerschaftsverhaltnis auf, ne. Das hat jetzt nichts damit zu tun, dass er mich so unterstutzt hat, aber er hat „Ihm stand es hier". Denn er ist beruflich sehr eingespannt und wenn er nach Hause kommt und will sich mal entspannen, war es nicht mOglich.

Frau C. beschreibt die Zeit der Pflege als schwierige Zeit, in der sie sich als Person ganz zurtickgeschraubt habe. Ihre Mutter stirbt wahrend eines Pflegeurlaubes der Familie in einem Altenheim, in dem sie sich zur Kurzzeitpflege aufhalt. Fazit: Die Botschaft der Ausfiihrungen und die Vorstellung der beiden Interviewausschnitte sollen aufzeigen, dass die Frage nach der Pflege fur einen alten Angehorigen das Dilemma von Frauen, sich entweder fur patriarchalische Beziehungen oder Singularisierung entscheiden zu miissen, biografisch verlangert. Die Deutung der AlterssozialpoHtik und der Pflegeforschung vemachlassigen ebenso wie die Verlautbarungen des Pflegeversicherungsgesetzes diese Dimension der famiHalen alltaglichen Interaktion und der Geschlechterkonflikte, die in den Erzahlungen der Frauen als Schilderung von der Entsolidarisierung und vom Alleinsein deutlich iiberwiegen. Die Entscheidung flir generative Lebensformen, gleichgiiltig unter welchen konkreten Bedingungen zeigen eine hohe

Generative Solidaritat

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Verletzbarkeit derjenigen auf, die den Generationenvertrag einlosen und sich um die alten Eltem kummem. Der vorwiegend instrumentelle wissenschaftliche und alterssozialpolitische Blick ist dabei ein Teil des Problems. Ftir die Ftirsorge fiir alte Eltem werden nicht nur technische Hilfen oder mehr Gelder benotigt. Es ist vor allem das Defizit an innerfamilialer Gerechtigkeit, der Mangel an innerfamilialer Solidaritat, die innerfamiliale Isolation der Hauptpflegeperson und das Ausrichten einer Geschlechtergrenze innerhalb einer Familie, die sich als Muster identifizieren lassen.

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Freizeit und Lebensstile alterer Frauen und Manner Uberlegungen zur Gegenwart und Zukunft gesellschaftlicher Partizipation im Ruhestand Harald Kunemund Institutfur Gerontologie undZentrum Altem und Gesellschaft, Hochschule Vechta

1. Einleitung Die Lebensphase Alter - als „Ruhestand" historisch entstanden mit der Entwicklung der Altersversorgungssysteme - stellt die Gesellschaft durch die Dynamik des demografischen Wandels vor mehrere Probleme. Anstieg der Lebenserwartung und der Trend zum fruhen Ruhestand haben zu einer markanten Ausweitung der Altersphase im Lebenslauf gefuhrt: Frauen haben im Alter von 60 Jahren noch eine durchschnittliche Lebenserwartung von gut 22 Jahren, Manner gleichen Alters von knapp 18 Jahren (Kohli 1998: 3). Neben der okonomischen Dimension der Finanzierbarkeit der sozialen Sicherungssysteme ist als Problembereich vor allem an die soziologisch relevante Dimension der gesellschaftlichen Partizipation im Alter zu denken. Welche Aufgaben und Rollen fallen den Alteren in diesen Jahren noch zu? Wie gestalten sie ihre Freizeit, wie wird sich dies voraussichtlich in den kommenden Jahrzehnten verandem? Und was bedeutet „Freizeit" nach dem Fortfall der Arbeitszeit liberhaupt? Dieser Beitrag versucht, solche Fragen aufzuwerfen.^ In einem ersten Schritt werden die Definition des Begriffs Freizeit und Versuche der empirischen Klassifikation problematisiert, anschlieCend die Moglichkeiten der Freizeit- und Lebensstilanalyse. Einige Uberlegungen zu zukiinftigen Entwicklungen schlieBen den Beitrag ab.

2. Freizeit im Alter Tatigkeiten jenseits der Erwerbs- und Berufsarbeit werden traditionell in der Soziologie der Freizeit thematisiert (als LJbersichten vgl. exemplarisch Scheuch 1969; Scheuch/Meyersohn 1972; Schmitz-Scherzer 1974; Giegler 1982; Tokarski, Schmitz-Scherzer 1985; Lamprecht/Stamm 1994; Prahl 2002). Freizeit

1 Telle dieser Arbeit basieren auf fniheren Publikationen zu diesem Thema, insbesondere Kiinemund (2001, 2006). Ich danke Ludwig Amrhein fiir Kommentare und Hinweise.

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wird dabei zumeist in Abgrenzung zur Arbeitszeit defmiert. Im Mittelpunkt der Freizeitsoziologie standen zunachst Hypothesen zum Verhaltnis von Arbeit und Freizeit, die aus theoretischen Erwagungen abgeleitet und spater erheblich ausdifferenziert wurden. Ftir die kritische Theorie z.B. war Freizeit durch die fremdbestimmte Arbeit gekennzeichnet und dann auch noch von der Industrie vereinnahmt: „Amusement ist die Verlangerung der Arbeit unterm Spatkapitalismus. Es wird von dem gesucht, der dem mechanisierten ArbeitsprozeB ausweichen will, um ihm von neuem gewachsen zu sein. Zugleich aber hat die Mechanisierung solche Macht iiber den Freizeitler und sein Gltick, sie bestimmt so griindlich die Fabrikation der Amiisierwaren, daB er nichts anderes mehr erfahren kann als die Nachbilder des Arbeitsvorgangs selbst" (Horkheimer/Adomo 1971: 123). Insbesondere Hobbies und „do-it yourself-Tatigkeiten schienen Adomo daher auBerst suspekt: „Was sie dann in der Freizeit allenfalls produzieren, ist kaum besser als das ominose Hobby, die Nachahmung von Gedichten oder Bildem, die (...) andere besser herstellen konnen als die Freizeitler. Was sie schaffen, hat etwas tiberfliissiges" (Adomo 1969: 63)? Freilich konnte man auch noch wesentlich weiter zurtickgehen - bereits im philosophischen Diskurs der Antike (z.B. bei Cicero und Aristoteles) wurde der Zusammenhang von Arbeit und Freizeit bzw. MuBe diskutiert (vgl. hierzu etwa Grazia 1972). Die explizite Formulierung empirisch prufbarer Hypothesen tiber den Zusammenhang von Arbeit und Freizeit ist zumindest in der bundesrepublikanischen Soziologie jedoch maBgeblich von der Kritischen Theorie inspiriert worden. Habermas (1958) z.B. fasst die kulturindustriell deformierte Freizeitverbringung als eine Variante einer Kompensationsthese, nach der in der Freizeit nach „psychischer Wiedergutmachung" (ebd.: 226) gesucht werde, und unter die auch noch die Hinwendung zur Familie als Variante eines „kleinbiirgerlichen Gruppenegoismus" sowie zum Sport als Variante einer „absonderlichen Jagd nach Erlebnisanreicherung" (ebd.: 227) subsumiert werden. Daneben stellt er die Suspensionsthese, nach der in der Freizeit entweder ein Fortsetzungsverhalten, die Hinwendung zu handwerklichen Verrichtungen und der Versuch der Sinnerfiillung uber Ehrenamter oder die aktive Vertretung weltanschaulicher Anliegen im Vordergrund stehen.

2 Die sich unmittelbar aufdrangende Frage, was denn der qualitative Unterschied zu den musikalischen Nebentatigkeiten von Adomo selbst gewesen sein mag, muss demnach mit Blick auf seine konkreten Arbeitsbedingungen beantwortet werden. Es handelt sich daher an dieser Stelle sicher nicht um eine harsche Selbstkritik.

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In der Folge wurde diese Art der Verkntipfung von Arbeit und Freizeit in entsprechenden Zusammenhangshypothesen in der Freizeitsoziologie gewissermaBen zum „Standard". Zu der Kompensations- und Suspensionsthese gesellten sich viele hinzu; Giegler (1982: 124ff.) diskutiert beispielsweise bereits Regenerations-, Ausgleichs-, Kompensations-, Suspensions-, Kontinuitats-, Komplemetar-, Harmonie-, Unabhangigkeits- und Zweck-Mittel-Thesen. Lamprecht und Stamm (1994: 227ff.) fiigen diesen in ihrer Ubersicht dann noch Ventil- bzw. Kartharsis-, Generalisierungs-, Interaktions- und Kongruenzthesen hinzu, wobei die Unterschiede zwischen diesen Thesen z.T. minimal sind. Empirische Uberprufungen brachten dabei wenig Klarung - „samtliche der erwahnten Thesen werden in der einen oder anderen Art bestatigt oder widerlegt" (ebd.: 232), weil die Unscharfe der Begriffe Arbeit und Freizeit unterschiedlichste Operationalisierungen erlaubt. Dies liegt keinesfalls allein an dem vergleichsweise undifferenzierten Sprachgebrauch, wie dies z.B. Blucher (1969: 307) oder Lamprecht und Stamm (1994: 38f.) vermuten - diese verweisen z.B. auf die Unterscheidung von „temps libre" und „loisir" im franzosischen oder „spare time" und „leisure" im englischen Sprachgebrauch. Differenzierungen auf diesem Niveau lieBen sich relativ leicht einfuhren (z.B. MuBe, freie Zeit, Erholung), waren jedoch weiterhin nicht zwingend trennscharf hinsichtlich konkreter Tatigkeiten. War bei Habermas z.B. Freizeit schlicht „Freiheit von der Arbeit und sonst nichts" (1958: 219), musste die Hausarbeit letztlich der Freizeit zugeschlagen werden. Auch bei Hinzunahme etwa der „Halb-Freizeit" (Dumadezier 1972), der Ausklammerung von Reproduktionszeit (Scheuch 1969), der Trennung von produktiver, rekreativer und verhaltensbeliebiger Zeit (Blucher 1966: 201) usw. usf. bliebe im Einzelfall zu entscheiden, welchem Bereich eine Tatigkeit zuzuschlagen ist. Warm ist Kochen ein Hobby? Fallt eine ehrenamtliche Tatigkeit in den Bereich verhaltensbeliebiger Zeit? Ist die Betreuung von Enkelkindem Arbeit? Ist jemand, der Drahtfiguren fur den Verkauf auf dem Flohmarkt anfertigt, bei der Arbeit, ist es eine Form der Freizeitgestaltung, ist es produktive Zeit oder reproduktive Zeit?^ Selbst die zunachst noch nahe liegende Frage der Selbstbestimmtheit (z.B. Ludtke 1975) kann nicht weiterzuhelfen. Zwar kann man z.B. ein Ehrenamt aufiiehmen oder es aufgeben, insofem besteht Entscheidungsfreiheit. Wenn man aber eines austibt, ist es mit der Selbstbestimmung liber die Zeit nicht immer sonderlich weit her, und auch die Inhalte der Tatigkeit

3 Bei einigen Tatigkeiten besteht eine solche Schwierigkeit auf mehreren Ebenen: Beispielsweise kann der Medienkonsum - der naturlich auch Bestandteil beruflicher Tatigkeit sein kann schwerlich anhand der Inhalte etwa von Femsehsendungen eindeutig einer MuBe- oder Zerstreuungsdimension zugeordnet werden.

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werden nicht immer frei von Fremdbestimmung sein. Zugespitzt formuliert: Je weiter die Freizeitsoziologie sich von gnmdsatzlichen Thesen wie z.B. jenen von Adomo entfemt, desto mehr verweigert sich das empirisch beobachtbare Verhalten dem klassifizierenden Zugriff."* Ebenso problematisch scheinen andere Klassifikationsversuche. Je nach Fragestellung werden andere Dimensionen verwendet (zu Hause/auBer Haus, formell/informell, aktiv/passiv usw.), so dass unterschiedliche Autoren zu unterschiedlichen Zuordnungen und Klassifikationen kommen. Giegler (1985) stellt in einer Literaturiibersicht 32 weitgehend eigenstandige Klassifikationen dieser Art zusammen, weitere 40 lassen sich diesen aufgrund groBer Uberschneidungen ohne allzu groBen Informationsverlust zuschlagen. Tokarski und SchmitzScherzer (1985: 96) raten von solchen Zuordnungen generell ab: „Der Spekulationsraum ist bei solchen Versuchen zu groB, als daB die Ergebnisse als sicher gelten konnten". Abgesehen von der schwierigen theoretischen Begriindung solcher Klassifikationen lassen sich die jeweils erhobenen Tatigkeiten nur selten eindeutig einem der Pole zuordnen - es bleibt beispielsweise unklar, ob eine Tatigkeit allein, mit Anderen oder in einem formellen Rahmen (z.B. Verein) ausgetibt wird, ob sie im Haus oder auswarts stattfindet. Ahnliches gilt fiir die Motive fur Freizeitaktivitaten. So kann man Sport treiben um der Gesundheit willen, um drauBen zu sein, um Anerkennung zu bekommen, um mit anderen zusammen sein zu konnen, lediglich als Auftakt zum Gelage mitmachen usw., moglicherweise auch vieles davon zugleich. Das theoretische Problem der Definition von Freizeit kann jedoch auf verschiedenen Wegen umgangen werden. Eine Moglichkeit propagiert z.B. Opaschowski (1988): „Die Stagnation in den Theorie- und Forschungsansatzen ist (iberwunden. Auch begriffsakrobatische Pflichttibungen gehoren der Vergangenheit an. (...) Freizeit ist das, was die Mehrheit der Bevolkerung als Freizeit empfindet - im Gegensatz zu den 60er und 70er Jahren, in denen es soviele Defmitionen wie Autoren gab" (ebd.: 197). Als Beispiel fiihrt er eine eigene Untersuchung an, in der 88 Hamburger Studenten danach gefragt wurden, was fur sie Freizeit sei. Mit dem Verweis auf den Mittelwert entfallt dann das theo-

Dies gilt selbstverstandlich nicht nur fur die Freizeit, sondem auch fiir die Arbeit, der ebenfalls ganz unterschiedliche Bedeutungen beigemessen werden konnen, und schlieBlich auch noch fur den Zusammenhang zwischen diesen Bereichen. Positive und negative Aspekte wie etwa Fremdund Selbstbestimmung lassen sich moglicherweise gleichzeitig in der Arbeit und der Freizeit finden, wobei z.B. „Kompensation und Generalisation nebeneinander stehen konnen je nachdem, welcher Aspekt von Arbeit oder Freizeit betrachtet wird" (Lamprecht/Stamm 1994: 236). Besonders kompliziert wird die Situation dort, wo sich die Bedeutungen von Arbeit und Freizeit verwischen oder gar umkehren (z.B. Hochschild 2002).

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retische Problem der Zuordnung.^ Andere Autoren versuchen, jeweils individuell bedeutsame Tatigkeiten zusammenzufassen, egal welchem Bereich sie aufgrund theoretischer Uberlegungen zuzuordnen waren (z.B. Mobily/Lemke 1991). Eine solche eher psychologische Herangehensweise bringt ebenfalls den Gegensatz von Arbeit und Freizeit zum Verschwinden, das Gegenstuck waren dann individuell „bedeutungslose" Tatigkeiten. In soziologischer Perspektive allerdings geraten dabei relevante Aspekte der Gesellschaftsstruktur tendenziell aus dem Blick und die interindividuelle Variation bleibt weitgehend unerklart. Die wohl haufigste Variante besteht schlieBlich darin, auf jede theoretische Zuordnung - sei es nun durch die Forscher oder die Befragten - zu verzichten und dies allein statistischen Verfahren zu tiberlassen. Die Ergebnisse sind dann deskriptiver Art, sie konnen aber dennoch mit Blick auf aktuelle soziologische Theorien interpretiert werden.

3. Lebensstile im Alter Der letztgenannte Weg wird zumeist im Bereich der Lebensstilanalysen gewahlt. Viele Studien versuchen hier, solche Klassifikationen von Freizeittatigkeiten liber explorative Faktoranalysen zu gewinnen. Die empirisch ermittelten Korrelationen sollen damit quasi auf individuelle Dispositionen zuriickgefuhrt werden, zumeist anhand unkorrelierter Faktoren. Dabei konnten wiederholt ahnliche Dimensionen ermittelt werden, zumeist nicht als „simple structure", da Tatigkeiten in der Regel mehrere Funktionen erfullen konnen, gleichen Tatigkeiten bei verschiedenen Personen also nicht identische, sondem verschiedene und in der Regel sogar mehrere Verhaltendispositionen bzw. Motive gleichzeitig zugrunde liegen (Giegler 1985). Dabei werden allerdings Tatigkeiten, die nur von sehr wenigen oder sehr vielen Personen ausgeiibt werden, vergleichsweise hohe Korrelationen aufweisen, auch wenn diese keine inhaltlichen oder motivationalen Gemeinsamkeiten haben. Insofem bleiben diese Analysen explorativ und interpretationsbedtirftig. Des Weiteren hangen die Ergebnisse solcher Faktorenanalysen in hohem MaBe von den jeweils verwendeten Variablen ab - das Entfemen oder Hinzunehmen einzelner Variablen kann schnell zu ganzlich anderen Losungen fiihren. Tokarski und Schmitz-Scherzer (1985) sprechen sich daher auch strikt gegen diese Vorgehensweise aus: „Die so gewonnenen soge-

5 Es bleibt allerdings offen, warum die Meinungen der 88 Befragten theoretisch weniger vielfaltig und empirisch eindeutiger sein sollten als die Uberlegungen mindestens ebenso vieler Freizeitsoziologen. Zudem fehlen die „schwierigen" Falle wie Ehrenamt, Pflege, Hausarbeit, Weiterbildung usw. in dieser Erhebung.

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nannten ,Dimensionen der Freizeit' geben (...) nur das Spektrum gemeinsamer Komponenten wieder, das durch das Ausgangsmaterial festgelegt worden ist: Es muB hier klar festgestellt werden, daB keine einzige der in der Freizeitliteratur beschriebenen Dimensionslisten fiir sich allein hinreichend die wesentlichen qualitativen Komponenten des Freizeitverhaltens abbildet" (ebd.: 99). Grundsatzlich werden Lebensstilanalysen dennoch auch fiir die Altersforschung empfohlen (z.B. Tokarski 1989). Vor dem Hintergrund des Strukturwandels des Alters ware es nicht tiberraschend, neue Partizipations- und Tatigkeitsformen im Alter vorzufinden, die sich von der „Altersfi"eizeit" z.B. der 1970er Jahre deutlich unterscheiden. Entsprechend wird schon seit langem das Entstehen einer neuen Generation „zwischen Lebensmitte und Lebensabend" (Opaschowski/Neubauer 1984: 36), eines „gewandelten RuhestandsbewuBtseins" (Naegele 1984: 64), einer „neuen MuBe-Klasse" (Tokarski 1985), von „neuen Freizeitgenerationen" (Attias-Donftit 1988), oder zumindest eine Ausdifferenzierung von Lebensstilen auch im Alter erwartet. Die empirische Befimdlage hierzu ist bislang allerdings diinn. Die wenigen Studien, die ,junge" oder „neue" Alte auf reprasentativer Basis empirisch identifizieren konnten, sind widersprtichlich und z.T. auch fi-agwurdig. Im Falle der vielzitierten Studie von Infi-atest Sozialforschung, Sinus und Horst Becker (Infratest et al. 1991) beispielsweise liegen die ermittelten Anteile „neuer" Alter mit 25 Prozent unter den 55- bis 70-Jahrigen wohl „zu hoch" (Tews 1993: 11), die empirische Grundlage bleibt ebenso wie die methodische Vorgehensweise im Dunkeln.^ Die Studie der Gesellschaft fur Konsumforschung („Die neuen Alten", GfK 1993) kommt immerhin auf einen Anteil von 15 Prozent der 50- bis 75-Jahrigen, Brockmann (1998) hingegen nur auf knapp zwei Prozent der tiber

Prasentiert werden lediglich durchschnittliche Faktorwerte von „Lebensgutem" (Infratest et al. 1991: 87), tiber deren Zustandekommen (Frage- und Antwortformulierungen, welche Art von Faktorenanalysen usw.) man genauso wenig erfahrt wie tiber Grundlagen der Clusteranalyse, die jene 25 Prozent „neue" Alte ans Licht gebracht hat (welche Variablen wurden beriicksichtigt, welche Verfahren angewendet, welche Varianzaufklarung leistet die prasentierte 4-Clusterlosung usw.). Immerhin erfahrt der Leser, dass es sich um eine representative Stichprobe von 1.500 Personen - Brutto oder Netto bleibt schon offen - in den alten Bundeslandem aus dem Jahr 1990 handelt, und dass es „mittels aufwendiger Analysen gelungen (ist, HK), die ungeheure Vielfalt der vorgefundenen Alltagswelten auf die in der alteren Generation dominierenden Lebensstile zu verdichten" (Ueltzhoeffer 1992: 54). Hartmann (1999: 87) moniert in seiner differenzierten Ubersicht generell das Fehlen von Kennziffem und Verfahrensregeln bei den Sinus-Milieus; dies ware dann kein spezieller Mangel dieser Studie zu den Lebensstilen im Alter. Kiirzlich wurden die Sinus-Milieus erneut auf die Alteren bezogen, nunmehr mit Traditionsverwurzelten, Konservativen, DDR-Nostalgischen, Konsum-Materialisten, Etablierten, Postmateriellen, der burgerlichen Mitte, modernen Performem sowie Hedonisten. Aber auch hier bleiben die Grundlagen etwas unklar (Sinus Sociovision 2005).

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64-Jahrigen, wobei die nahere Beschreibung dieser 31 Falle keinen besonders homogenen Eindruck hinterlasst. Differenziertere Analysen zu den Freizeit- und Lebensstilen alterer Menschen stehen m.W. noch weitgehend aus. Lebensstilanalysen, die alle Altersgruppen einschlieBen, sind hinsichtlich der Alteren zumeist etwas zu wenig differenziert. Schulze (1992) z.B. weist im GroBen und Ganzen nur zwei Stile bei den iiber 40-Jahrigen aus, ebenso Wahl (2003: 119ff.) - im letzteren Fall sind die Alteren tiberproportional haufig unter den „Zuruckgezogen" und den „Versorgungsorientierten" vertreten. Viele Studien in diesem Bereich konzentrieren sich stark auf die Jtingeren; im Wohlfahrtssurvey z.B. wurden die uber 60-Jahrigen aus „fmanziellen und erhebungstechnischen Grtinden" bereits bei der Erhebung der Lebensstile ausgeschlossen (Spellerberg 1996: 91). Allerdings gibt es inzwischen einige Studien zu Veranderungen im Altemsprozess. Hartmann (1999: 215ff.) zeigt auf der Basis von Retrospektivdaten, dass die Neigung zum Hochkulturschema mit dem Alter zu-, jene zum Spannungsschema abnimmt, wahrend das Trivialschema weitgehend altersunabhangig ist. Wahl (2003) weist z.B. fur die „Versorgungsorientierten" und die „Zuruckgezogenen" sowohl Alters- als auch Kohorteneffekte nach, die nicht linear scheinen. Auch hier besteht noch ein deutlicher Forschungsbedarf. Die vorliegenden deskriptiven Befunde zur Freizeit im Alter lassen ebenfalls kaum neue Muster erahnen (vgl. z.B. Ktinemund 2006). Dies konnte zwar auch an den zumeist traditionellen Frageprogrammen liegen, bei dem neue Freizeitstile nur schwer in den Blick geraten konnen. Insgesamt aber zeigt sich in fast alien Tatigkeiten eine Altersabnahme oder zumindest eine Polarisierung in Aktive und Inaktive. Die einzigen Ausnahmen, in denen eine klare Zunahme zu verzeichnen ist, sind das Femsehen sowie Kreuzwortratsel bzw. Denksportaufgaben losen, also Tatigkeiten, die zu Hause und allein durchftihrbar sind. In der Tat konzentriert sich das alltagliche Leben im hoheren Alter auf die Wohnung. Ein Viertel der 70- bis 85-Jahrigen ist die ganze Woche iiber - mit Ausnahme von kurzen Einkaufen oder Spaziergangen - den ganzen Tag zu Hause (Ktinemund 2001: 127).

4. Ausblick Bei alien Interpretationsproblemen, die sich aus den Begriffen Freizeit, Produktivitat. Engagement usw. im Alter ergeben, entsteht bei einem Blick in die empirischen Befunde also nicht der Eindruck, als wtirde die aktive Gestaltung der Zeit nach Ubergang in den Ruhestand im Sinne neuer Lebensstile und Partizipationsformen an Bedeutung gewinnen. Eher scheint das Gegenteil der Fall zu

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sein - es sind eher die dem „traditionellen" Altersbild entsprechenden Tatigkeiten wie das Femsehen oder das Losen von Kreuzwortratseln, die von den Alteren haufiger praktiziert werden, und auch ihr ehrenamtliches Engagement konzentriert sich maCgeblich auf „traditionelle", altersunspezifische Gruppen, Vereine und Verbande. Tatigkeiten, die im Altersgruppenvergleich keine Hinweise auf Veranderungen ergeben, sind z.B. das Spazierengehen oder kiinstlerische Betatigung - bei z.T. erheblichen Unterschieden zwischen den Geschlechtem, Ost- und Westdeutschland, der Bildung usw. (vgl. ausfiihrlich Kiinemund 2006). Nach Alter oder Nationalitat heterogen zusammengesetzte Gruppen im Sinne von „diversity" und „inclusion" sind noch kaum empirisch auszumachen. Welche Veranderungen hier in der naheren Zukunft anstehen, ist kaum abzuschatzenJ Bisher weist jede jtingere Ruhestandskohorte ein hoheres Ausbildungsniveau, eine bessere Gesundheit und eine bessere materielle Absicherung auf, verfiigt also liber mehr Ressourcen fiir Aktivitat als jede altere Kohorte. Da Gesundheit, materielle Absicherung und vor allem Bildungsniveau starke Pradiktoren der Partizipation der Alteren im Bereich z.B. des ehrenamtlichen Engagements oder der Bildung sind, konnte mit einer starkeren Beteiligung in diesen Bereichen gerechnet werden. Zugleich dtirften die Partizipationsansprtiche der Alteren anspruchsvoller werden und sich auch vermehrt auf selbstorganisierte und selbstbestimmte Tatigkeiten richten. Tendenzen in diese Richtung lassen sich seit langem beobachten, sie werden auch in der Sozialpolitik und der sozialen Arbeit mit alteren Menschen stark forciert. Solche Veranderungen kommen in bisherigen Analysen der Freizeitstile kaum in den Blick und sind auf reprasentativer Basis noch kaum dokumentiert, sei es mangels geeigneter Messinstrumente oder aufgrund weitgehender Homogenitat im Freizeitverhalten. Wird nun das durchschnittliche Rentenzugangsalter steigen, konnte sich dies aber auch in niedrigeren Partizipationsquoten der, jungen Alten" auswirken, die nun wieder weniger „Freizeit" hatten. Auch sptirbare Absenkungen des Rentenniveaus wurden sich wahrscheinlich - in sozial differenzierter Weise - in geringeren Engagement- und Partizipationsquoten niederschlagen. Ohnehin spricht einiges dafiir, dass nicht nur konsumfreudige und -fahige Altere, sondem auch Benachteiligte quantitativ an Bedeutung gewinnen konnten. Je nach Beriicksichtigung und Gewichtung weiterer gesellschaftlicher Entwicklungstrends sind aber auch noch andere Prognosen moglich. Beispielsweise konnte man von generell Die bereits erwahnte Studie von Sinus Sociovision (2005: 32) gibt freilich beispielsweise eine „Entwicklungsprognose der Sinus-Milieus SOplus bis 2015" - als Hochrechnung der Milieustruktur der 40- bis 50-Jahrigen bei „Gewichtung der Hochrechnung auf Basis von Szenarien des Instituts zur Milieuentwicklung". Ob und ggf. welche Alterseffekte z.B. dort eingehen, bleibt wiederum unklar.

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abnehmenden gesellschaftlichen Bindekraften ausgehen, oder man konnte mit kulturpessimistischem Tenor annehmen, Femsehen, Internet und Computerspiele wiirden die zuktinftigen Alteren zu Hause binden und zu einem Ruckzug aus dem gesellschaftlichen Engagement fiihren. Umgekehrt lieBe sich auch vermuten, dass die zahbeichen MaBnahmen im Bereich Vielfalt und Gleichberechtigung am Arbeitsplatz auch zu Veranderungen der Freizeitgestaltung im Alter fiihren konnten. Letztlich handelt es sich bei solchen Prognosen aber nur um (partiell) empirisch fimdierte Spekulationen, deren Prognosewert steigt, je mehr der zu berticksichtigenden Entwicklungen richtig eingeschatzt werden (und somit wiederum: je mehr empirisch gesicherte Erkenntnisse zu diesen Entwicklungen vorliegen und berucksichtigt werden). In diesem Bereich besteht daher noch ein ganz erheblicher Forschungsbedarf.

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Harald Kiinemund

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Beschaftigungsinitiativen fiir die alternde Erwerbsbevolkerung. Eine Untersuchung zu den neuen Mitgliedstaaten der Europaischen Union sowie Rumanien und Bulgarien Irene Mandl und Andrea Dorr KMUFORSCHUNGAUSTRIA, Wien

1. Einleitung Trotz eines kontinuierlich wachsenden Anteils an dlteren Personen an der europaischen Bevolkerung werden die Beschdftigungsmdglichkeiten fur die Generation 50+ immer eingeschrdnkter, da diese aus verschiedenen Grtinden (z.B. weniger Flexibilitat, mangelnde Initiative, geringe Fremdsprachenkenntnisse, Abneigung gegentiber Training, geringe Anpassungswilligkeit bei neuen bzw. geanderten Arbeitsbedingungen, mangelnde Kenntnis von neuen Technologien/ Produktionsprozessen, mehr Krankenstandstage etc.) von den Arbeitgebem als unattraktiv eingestuft werden. Diese Ablehnung alterer Arbeitskrafte muss als voreiliger und anhaltender Verlust von Humankapital betrachtet werden, da altere Personen ein reichhaltiges Reservoir an Fahigkeiten und Erfahrungen mitbringen. Die Kosten dieses Verlusts werden nicht nur von den alteren Arbeiterlnnen getragen, sondem auch von Untemehmen und der Offentlichkeit (bestatigt z.B. durch hohere Ausgaben fur Sozialversicherung, Arbeitslosigkeit und das Gesundheitswesen) (Naegele 1999; Europaische Kommission 2004b). Auf europaischer und nationaler Ebene wurden eine Reihe von Programmen und MaBnahmen von privaten und offentlichen Arbeitsmarktakteuren implementiert, um die aktive Beteiligung von alteren Personen in der Wirtschaft zu erhohen - zumindest sofem die EU-15 betroffen sind. Fur die neuen Mitgliedstaaten und die Kandidatenlander gibt es bislang aber kaum Informationen iiber die Rollen und Perspektiven der offentlichen Akteure, offentliche Initiativen und Aktivitaten der einzelnen Untemehmen oder Organisationen, die aktives Alterwerden und den langeren Verbleib im Arbeitsleben fordem. Derartige Initiativen sind aber sicherlich von Bedeutung, da die Beschaftigungsquote alterer Arbeitsnehmerlnnen (zwischen 55 und 60 Jahren) in vielen der neuen Mitgliedslander und Kandidatenlander unter 50% betragt (Europaische Kommission 2002). Die neuen Mitglieds- und Kandidatenlander sind von anderen Rahmenbedingungen als die EU-15 gekennzeichnet. Dies deshalb, da der Umstieg auf die Marktwirtschaft von tiefgreifenden Reformen begleitet war und ist. Entsprechend sind umfassende Untersuchungen der momentanen Situa-

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tion und die Identifiziemng von zukiinftigen Bereichen, in denen Aktivitaten notwendig waren, vordringlich. Ausgegangen werden kann davon, dass entsprechende MaBnahmen in den neuen Mitgliedstaaten und Kandidatenlandem anders wirken als in den EU-15 („Pfadabhangigkeit"; vgl. Ney 2004). Gemeinsam mit Partnerinstitutionen ffihrte die KMU FORSCHUNG AUSTRIA im Auftrag der European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions eine Studie zu „Age and employment in the new Member States^" (Mandl/Dorr/Oberholzner 2006) durch. Die Studie hatte folgende Zielsetzungen: Erreichung eines besseren Verstandnisses fur die Ziele der Regierungen, Sozialpartner und der breiteren OffentHchkeit hinsichtlich der Verbesserung der Beschaftigungssituation von alteren Arbeitnehmerlnnen und der Verlangerung des Arbeitslebens in den neuen Mitglied- und Kandidatenlandem; Dokumentierung der Entwicklung von MaBnahmen der Sozialpartner und Regierungen in den analysierten Landem (z.B. beztiglich Arbeitsmarkt, sozialer Sicherheit, Besteuerung, Ausbildung, Arbeitsumfeld); Identifiziemng und Presentation von beispielhaften Initiativen von einzelnen Untemehmen/Organisationen (z.B. im Bereich Rekmitierung, Ausbildung, Gesundheit, Arbeitsplatzdesign), die aktives Alterwerden in den zu untersuchenden Landem fordem; und Ableitung von Schlussfolgemngen und Entwicklung von Leitlinien fur zuktinftige Strategien im Bereich des Altersmanagements in den analysierten Landem. Um diese Ziele zu erreichen, wurde eine Hintergmndstudie iiber die Situation von alteren Arbeitnehmerlnnen^ in den neuen Mitgliedstaaten, Rumanien und Bulgarien durchgefiihrt. Hierbei wurden vor allem quantitative Sekundardaten, die auf europaischer Ebene verfiigbar waren (um die Vergleichbarkeit zu gewahrleisten) verwendet. In einem zweiten Schritt wurden sieben der zwolf Lander (namlich Bulgarien, Estland, Lettland, Polen, Rumanien, die Slowakische Republik und Slowenien) in einer Detailanalyse untersucht. Diese beschaftigte sich einerseits mit den allgemeinen Einstellungen und Strategien der Regiemngen und Sozialpartner hinsichtlich des aktiven Alterwerdens und den Initiativen, 1 Die Studie ist erhaltlich unter: http://www.eurofound.eu.int/pubIications/htmlfiles/efD626.htm. 2 Im Bericht werden - entsprechend dem aktuellen Lebenszyklus-Ansatz (d.h. Orientierung an jiingeren Altersgruppen um „praventive" und ganzheitliche MaBnahmen anzuwenden) - Personen ab 45 Jahren als „altere Arbeitnehmerlnnen" verstanden. Auf europaischer Ebene sind jedoch keine Daten iiber Personen zwischen 45-50 verfiigbar, deshalb wird im Folgenden die Generation 50+ manchmal als die „altere Generation" bezeichnet (vgl. Eurostat).

Beschaftigungsinitiativen ftir die altemde Erwerbsbevolkerung

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die von diesen Akteuren in den letzten Jahren durchgefiihrt wurden. Andererseits wurden Fallstudien zum Altersmanagement auf Untemehmens-ZOrganisationsebene identifiziert und dargestellt. Diese Fallstudien wurden integriert in ein intemetbasiertes europaisches Portfolio von „good practices" der European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions.^ Im Anhang fmdet sich der Uberblick liber die untersuchten Fallstudien. Basierend auf diesen Forschungsergebnissen erarbeitete das Projektteam Schlussfolgerungen in Bezug auf die zukiinftige Politikgestaltung zur Forderung alterer Arbeitnehmerlnnen, aber auch hinsichtlich deren Integration in Unternehmen und Organisationen.

2. Statistischer Uberblick Wahrend der vergangenen Jahre konnte ein kontinuierlicher Trend zu einer alter werdenden Bevolkerung in den neuen Mitgliedslandem, Rumanien und Bulgarien beobachtet werden, der auch weiterhin anhalten wird. Insbesondere Estland, Ungam, Lettland, Bulgarien, die Tschechische Republik und Slowenien weisen eine vergleichsweise altere Bevolkerung auf Die drei letzteren (sowie Polen) sind starker von einer Verschiebung in der Altersstruktur der Bevolkerung betroffen, als die anderen betrachteten Lander. Eine hohe und steigende Lebenserwartung der Einwohnerlnnen zeigt sich vor allem in der Tschechischen Republik, Polen, Slowenien, Zypem und Malta. Estland und die Tschechische Republik sind durch die vergleichsweise altesten Arbeitnehmerlnnen der untersuchten Lander gekennzeichnet, was auch ihrer alteren Bevolkerung entspricht. Im Allgemeinen sind die weiblichen Arbeitskrafte jtinger als die mannlichen, was auf das niedrigere offizielle Pensionsalter zuriickzufuhren ist. Ein Zeitvergleich zeigt, dass es - trotz der alter werdenden Bevolkerung - kaum Tendenzen zu einer verstarkten Integration der alteren Bevolkerung in den Arbeitsmarkt in den neuen Mitgliedstaaten, Rumanien und Bulgarien gibt (z.B. konstanter bzw. leicht steigender Anteil an alteren Arbeitnehmerlnnen und steigender Anteil von alteren arbeitslosen Personen). Die hochsten Beschdftigungsquoten von alteren Personen (50-64) in den neuen Mitgliedstaaten, Rumanien und Bulgarien fmden sich in Zypem, Estland, der Tschechischen Republik, Litauen und Lettland. Das entspricht weitgehend dem wirtschaftlichen Boom, der in diesen Landem zu bemerken war (indiziert durch das BIP-Wachstum), der die altere Generation - vor dem Hintergrund der relativ niedrigen Anzahl von Jugendlichen und jungen Erwachsenen - „zwang". 3 Vgl. unter http://www.eurofound.eu.int/areas/populationandsociety/ageingworkforceadvanced.php.

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am Arbeitsmarkt zu bleiben. In jenen Landem, in denen die Beschaftigungsquote der alteren Generation vergleichsweise hoher ist, steigen die Anteile auch weiterhin an, wahrend in Landem mit einer schlechteren Integration der alteren Personen in den Arbeitsmarkt (insbesondere Malta, Polen und Rumanien) der Anteil sogar sinkt. Bin wichtiger Faktor, der sich auf die Beschaftigung von alteren Personen nachteilig auswirkt, ist erstens deren relativ niedriges formales Qualifikationsniveau, das die Untemehmen abschreckt. Eine Moglichkeit, der Dequalifikation vorzubeugen, ist die Teilnahme an lebenslangem Lemen (LLL), was in Slowenien, Zypem und Lettland relativ tiblich ist. Im Gegensatz dazu kann die geringste Teilnahme an LLL in den Kandidatenlandem beobachtet werden, was ein hoheres Risiko fur die (alteren) Personen impliziert, fiir die (potenziellen) Arbeitgeber unattraktiv zu werden. Die Beteiligung an Weiterbildungsaktivitaten nimmt mit dem Alter ab, was ein weitgehendes Nicht-Bewusstsein der alteren Bevolkerung hinsichtlich der Bedeutung von topaktuellem Wissen fur das Vorantreiben ihrer Karriere indiziert. Im Allgemeinen sollte sowohl die hohere Lebenserwartung als auch das im Durchschnitt hohere Bildungsniveau (und die hohere Beteiligung an LLL) von Frauen einen positiven Einfluss auf deren Beschaftigungsfahigkeit haben. Zweitens beeintrachtigen vermehrte gesundheitliche Probleme und Behinderungen die Beschaftigung von alteren Arbeitnehmerlnnen in den neuen Mitgliedstaaten, Rumanien und Bulgarien. Dieses Problem scheint vor allem auch in Estland, Slowenien und der Tschechischen Republik schwerwiegend zu sein. Ein dritter Faktor, der sich auf die Integration von alteren Personen in den Arbeitsmarkt auswirkt, ist die durchschnittliche Anzahl von Arbeitsstunden, Es konnte aufgezeigt werden, dass die Anzahl der wochentlichen Arbeitsstunden mit steigendem Alter abnimmt. Somit scheinen altere Personen in den neuen Mitgliedstaaten, Rumanien und Bulgarien - die im Allgemeinen durch eine langere durchschnittliche Arbeitswoche gekennzeichnet sind - in einer benachteiligten Position im Vergleich zu den EU-15 zu sein. Zusammenfassend zeigen die vorliegenden Daten (siehe Abbildung 1), dass z.B. Litauen, Lettland, Estland und die Tschechische Republik durch eine relativ gute Integration der alteren Personen in den Arbeitsmarkt charakterisiert sind (d.h. ein hoherer Anteil von alteren Personen an den Beschaftigten im Vergleich zu jenem an der Bevolkerung), wahrend Polen, Rumanien und Slowenien einen relativ geringen Grad an „aktivem Alterwerden" vorweisen. Dies konnte im Moment ein besonders vordringliches Problem fur Slowenien darstellen (das bereits eine „altere Bevolkerung" hat), wird aber mittel- bis langfristig auch flir die

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anderen Lander mit einer ahnlichen Entwicklung eine Herausforderung darstellen. Fiir Slowenien, aber auch flir Ungam und Bulgarien ist es auBerdem fraglich, ob der aktuelle wirtschaftliche Boom (gemessen am BIP-Wachstum) mittelfristig aufrecht erhalten werden kami, wemi das Arbeitsmarktpotenzial der alteren Arbeitnehmerlnnen weiterhin nur im gegenwartigen, geringen AusmaB genutzt wird. I alterer Arbeitnehmerlnnen

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Anteil alterer Bevolkerung Abb. 1: Vergleich der Anteile der alteren Bevolkerung und der alteren Arbeitnehmerlnnen (50-64 Jahre), nach Landem in % im Jahre 2005 (^Anteil alterer Bevolkerung 2004) Quelle: Eurostat)

In Bezug auf die Erreichung der Ziele der Europdischen Gipfel in Stockholm und Barcelona^ zeigt sich, dass Estland, Zypem, Lettland und Litauen die von der Europaischen Kommission intendierte Beschaftigungsquote fiir altere Arbeitnehmerlnnen bereits erreicht haben oder demnachst erreichen werden, wahrend Slowenien, die Slowakische Republik, Polen und Malta diese wohl kaum

Bei den Europaischen Gipfeln in Stockholm (2001) und Barcelona (2002) legte die Europaische Kommission die Ziele fur die Steigerung der Beschaftigungsquote der Personen zwischen 55 und 64 auf 50% bis zum Jahr 2010 fest (siehe http://europa.eu.int/growthandjobs/reports/index_en.htm) und verlautbarte, dass das Austrittsalter von Erwerbstatigen aus dem Arbeitsmarkt bis 2010 im europaischen Durchschnitt um 5 Jahre erhoht werden soil, d.h. von 59,9 Jahren im Jahr 2001 auf 65,4 Jahre im Jahr 2010 (Europaische Kommission 2004a).

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bis 2010 realisieren konnen.^ Was das Ziel des Barcelona-Gipfels anlangt, so zeichnen sich wahrend der letzten Jahre alle betroffenen Lander durch ein steigendes durchschnittliches Austrittsalter aus der Erwerbstatigkeit aus. Zusammenfassend scheint sich unter den betrachteten Landem (z.B. in Litauen) eine vorteilhafte Entwicklung in Hinblick auf die europaischen Beschaftigungsziele flir die alteren Arbeitnehmerlnnen abzuzeichnen.

Durchschnittliches Austrittsalter 2004 67 Barcelona Ziel 65.4 •

65 -

A

.Stockholm Ziel

1

2010

50 %

LV

63 - ! • 61 -

HU^ X ^^

SK

59 57 -

X LV

CZ

A PL

55 25



-EE CY

U EU-25^

• SI' 1

1

30

35

1—

40

%

1

T

1

,

45

50

55

60

Beschaftigungsrate 55 - 64 2005 Abb. 2: Aktuelle Situation der neuen Mitgliedstaaten, Bulgarien, Rumanien und den EU-25 hinsichtlich der Ziele der Gipfel von Barcelona und Stockholm (' durchschnittliches Austrittsalter 2003, ^ durchschnittliches Austrittsalter vorlaufiger Wert 2004), (Quelle: Eurostat)

3.

Ansatze der offentlichen Hand zur Forderung alterer Arbeitnehmerlnnen Die offentliche Hand spielt eine wichtige Rolle bei der aktiven Integration von alteren Personen in den Arbeitsmarkt. Sie beeinflusst die Rahmenbedingungen, mit denen Arbeitnehmerlnnen und Arbeitgeberlnnen konfrontiert sind, indem sie offentliche Arbeitsmarktstrategien und prioritare Aktionsfelder festlegt, den Ar5 Es wird z.B. erwartet, dass die Slowakische Republik den Zielwert um rd. 10%-Punkte verpassen wird (MoLSAF 2005b).

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beitsmarkt reguliert, direkte Finanzierung/Forderung offentlicher Initiativen anbietet iind freiwillige Unterstutzung fur Arbeitgeberlnnen bereitstellt (Walker 1997). Trotz der offensichtlichen Notwendigkeit, dem Thema des aktiven Alterwerdens wegen der „ergrauenden" Bevolkerung Beachtung zu schenken, scheint die Verlangerung des Arbeitslebens kein vorrangiges Thema fur die offentlichen Akteure in den neuen Mitgliedstaaten, Rumanien und Bulgarien darzustellen. Dies wird weitgehend mit der Aussage, dass „wichtigere" Herausforderungen (die auch Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben) gemeistert werden mtissen, wie der wirtschaftliche Ubergang zur Marktwirtschaft oder die graduelle Anpassimg an die Rechtssprechung und Ziele der EU. Welters kann beobachtet werden, dass, obwohl sich eine Vielzahl an offentlichen Akteuren (insbesondere die Ministerien, die fiir Arbeitsmarktbelange, und somit fur die Entwicklung und die Koordination der entsprechenden Strategien und den Entwurfi^die Implementierung bestimmter MaBnahmen zustandig sind, sowie die Arbeitsamter, die fur die operative Implementierung der Programme verantwortlich sind) mit dem Thema einer altemden Arbeitnehmerschaft befasst, und seit dem Beginn der 1990er Jahre zahlreiche entsprechende programmatische Dokumente, Politikansdtze, Strategien und Majinahmen in vielen der neuen Mitgliedstaaten, Rumanien und Bulgarien verfasst wurden. Die operative Implementierung wurde jedoch erst vor kurzem begonnen oder steht gerade erst an. In vielen Fallen wurde der praktische Zugang eher durch die Realisierung der Europaischen Beschaftigungsstrategie ausgelost, als durch rein nationale Oberlegungen. Dies wird vor allem auf folgende Punkte zuriickgefiihrt: eine geringere Lebenserwartung und ein schlechterer Gesundheitszustand der Bevolkerung sowie eine schlechtere Beschaftigungsfahigkeit und Vermittelbarkeit von alteren Arbeitnehmerlnnen; langjahrige Tradition von Frtihpensionierungen in Folge der hohen Jugendarbeitslosigkeit; ein weniger entwickeltes System der Sozialpartnerschaft und des Sozialdialogs; ein geringerer Fokus auf die speziellen Bedtirfiiisse der alteren Arbeitnehmerlnnen in der aktiven Arbeitsmarktpolitik; oder eine groBere Herausforderung, Mittel fur die Finanzierung entsprechender Initiativen aufzubringen.

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In Bezug auf die Einbindung der Sozialpartner^ imd den Sozialdialog bei den Bemiihimgen, die Beteiligung der alteren Arbeitnehmerlnnen am Arbeitsmarkt zu erhohen, konnte beobachtet werden, dass - wenngleich sich die Sozialpartner in der Beschaftigimgspolitik engagieren - das Thema der altemden Belegschaften kaum direkt angesprochen wird7 Auch in jenen Fallen, in denen sich die Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter aktiv in der Gesetzgebung und in den politischen Prozess der Forderung aktiven Alterwerdens engagieren, sind kaum Erfolge zu verzeichnen. Eine Ausnahme davon stellen aber die vergleichsweise weit verbreiteten Beratungen zwischen Sozialpartnem und Regierungen dar, die im dreiteiligen System der verschiedenen Rate (z.B. polnische Kommission fur soziookonomische Angelegenheiten, tschechischer Ausschuss fur die nationale Wirtschaft und soziale Kooperation, bulgarischer nationaler Rat fur Kooperation zwischen Sozialpartnem und der Regierung oder der slowenische okonomischsoziale Rat) stattfinden, um Feedback zu Arbeitsmarktthemen zu erhalten. Die offentlichen Initiativen, die in den neuen Mitgliedstaaten, Rumanien und Bulgarien implementiert wurden, decken eine Vielzahl an Handlungsbereichen ab und orientieren sich dabei maBgeblich an der Beschafltigungsstrategie der Europaischen Union. Einerseits existieren MaBnahmen, die die Verbesserung der Rahmenbedingungen fiir die Beschaftigung alterer Arbeitnehmerlnnen zum Ziel haben. Diese beziehen sich: z.B. auf Pensionsreformen oder das Sozialversicherungssystem (z.B. Implementierung des Drei-Saulen-Modells, Anhebung des offiziellen Pensionsantrittsalters, Vorschriften zur Frlihpensionierung etc.), die hnplementierung einer Gesetzgebung gegen Diskriminierung am Arbeitsmarkt (sowohl fiir bestehende Arbeitsvertrage als auch Arbeitsuchende), Programme, die auf die Veranderung der Einstellung der Arbeitgeber, der Arbeitnehmerlnnen oder der Arbeitsmarktakteure abzielen (wie Initiativen zur Bewusstseinsforderung, Bereitstellung von Informationen, „matching" am Arbeitsmarkt und Training fiir die Belegschaft der Arbeitsamter, um sie fiir die besonderen Bediirfhisse alterer Arbeitsuchender zu sensibilisieren).

Wahrend Politikansatze, Strategien und MaBnahmen der Regierungen ein unterstutzendes Umfeld schaffen, sind die Beitrage der Sozialpartner eine wichtige Vorbedingung fiir Anderungen im operativen Altersmanagement, da Sozialpartner einen beachtlichen Einfluss auf die Einstellung und das Verhalten der Untemehmen haben (Europaische Kommission 2004b). Dies kann zumindest teilweise der Tatsache zugeschrieben werden, dass das System der Sozialpartner und der Kollektivverhandlungen in den neuen Mitgliedstaaten und Kandidatenlandem bislang nicht so weit entwickelt ist wie in den EU-15.

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die Modemisierung des Gesundheitssystems (beispielsweise in Form einer betrieblichen Gesundheitsfiirsorge). Andererseits fokussieren spezifische aktive Beschdftigungsschemata auf einzelne Arbeitnehmerlnnen (z.B. zur Forderung ihrer Beschaftigungsfahigkeit durcli Vermittlung von Qualifikationen, flexiblere Beschaftigungsverhaltnisse oder das Setzen von Anreizen zum langeren Verbleib am Arbeitsmarkt) oder Arbeitgeber (z.B. Forderung von Personalkosten flir altere Arbeitnehmerlnnen). Es muss aber angemerkt werden, dass viele dieser in den analysierten Landem implementierten MaBnahmen und Initiativen auf „benachteiligte Gruppen" ausgerichtet sind, und somit nur indirekt altere Arbeitnehmerlnnen adressieren. Insbesondere Slowenien und Polen scheinen eine Vielzahl an offentlichen Instrumenten zu haben, die aktives Alterwerden fordem. Bin gewisser Mangel an Koordination wurde jedoch festgestellt - sogar in Slowenien, wo eine spezielle Projektgruppe zu diesem Zweck eingerichtet wurde. Und auch Estland hat sich flir einen umfassenden Ansatz entschieden. Im Gegensatz dazu gibt es in Rumanien nur wenige Initiativen, die auf eine Verlangerung des Arbeitslebens abzielen. Hinsichtlich der Reform von Pensions- und Sozialversicherungssystem kann Lettland (das bereits 1995 ein neues Pensionsreformkonzept implementierte basierend auf dem Drei-Saulen-Modell) als Vorreiter unter den untersuchten Landem angesehen werden. Allerdings wurde auch in der Slowakischen Republik eine umfassende Pensionsreform realisiert. In den neuen Mitgliedstaaten und Kandidatenlander beziehen sich die einzelnen Strategien in diesem Bereich auf das Anheben des gesetzlich vorgeschriebenen Pensionsantrittsalters oder auf Vorschriften, die die Frtihpension weniger attraktiv machen (z.B. durch die Reduzierung der Pensionsbeziige). Die Gesetzgebung gegen Diskiminierung am Arbeitsmarkt ist auf alle benachteiligten Gruppen ausgerichtet und deckt somit die altere Generation nur „nebenbei" ab. Trotzdem haben z.B. Bulgarien, Lettland oder Litauen Vorschriften entwickelt, die Arbeitnehmerlnnen kurz vor Erreichen des pensionsfahigen Alters vor der Beendigung ihrer bestehenden Arbeitsvertrage beschtitzen. Es hat sich jedoch herausgestellt, dass die entsprechenden Vorschriften in der Praxis schwierig umzusetzen sind. Um das Bewusstsein fur die Notwendigkeit der Verlangerung des Arbeitslebens zu erhohen, wurden in Estland Initiativen ins Leben gerufen, die die Arbeitgeber tiber Bereiche informieren sollen, die altere Arbeitnehmerlnnen betreffen. In Polen, der Slowakischen Republik oder Slowenien wurden Aktivitaten gestartet, um gezielt Arbeitnehmerlnnen zu informieren und zu motivieren. In Lettland werden beide Gruppen angesprochen. In Polen ist auBerdem beab-

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sichtigt, die offentlichen Arbeitsmarktakteure tiber die speziellen Bedtirfiiisse der alteren Altersgruppen zu informieren und sie dafiir zu sensibilisieren. In vielen neuen Mitgliedstaaten und Kandidatenlandem wurden spezifische Instrumente zur Zusammenfuhrung („matching") von Arbeitgebem und altere Arbeitnehmerlnnen, sowie Mafinahmen zur Verbesserung der Kompetenz oder der Fdhigkeiten von alteren Personen (einschlieBlich der Forcierung des lebenslangen Lemens) initiiert. Insbesondere Bulgarien weist einen starken Fokus auf die Forderung der Anpassungsfahigkeit und Qualifikation von alteren Personen auf, und einige der Initiativen sind explizit auf Frauen ausgerichtet. Die Gesundheitsvorsorge flir altere Personen wird vor allem in Zypem, Estland oder Rumanien berlicksichtigt. Entsprechende MaBnahmen reichen von der Vorbereitung eines spezifischen Aktionsplanes bis zur Einrichtung von PraventivmaBnahmen, um die Arbeitsfahigkeit von altemden Personen zu erhalten. Um die Attraktivitat der Arbeit fur altere Personen zu erhohen, haben Estland sowie die Tschechische und die Slowakische Republik Rahmenbedingungen eingefuhrt, die es den Arbeitnehmerlnnen und Arbeitgebem erm6glichen,y7ex/Z?fe Arbeitsvertrdge abzuschlieBen. Zu guter Letzt konnten finanzielle Aspekte die Arbeitnehmerlnnen dazu veranlassen, iiber das gesetzlich vorgeschriebene Pensionsantrittsalter hinaus berufstatig zu bleiben bzw. Untemehmen dazu bringen, altere Personen einzustellen (z.B. Steuererleichterungen, Gehaltszuschtisse). Derartige Instrumente konnten im GroBteil der untersuchten Lander aufgezeigt werden.

4.

Initiativen zur Forderung alterer Arbeitnehmerlnnen in Unternehmen und Organisationen Entsprechend dem (praktischen) Ansatz der offentlichen Hand adressieren auch Untemehmen und Organisationen in den neuen Mitgliedstaaten, Rumanien und Bulgarien das Thema der altemden Arbeitnehmerlnnen nur in eingeschranktem AusmaB. So fmdet sich unter den 70 Untemehmen, die in Bulgarien als sozial verantwortliche Betriebe ausgezeichnet wurden, kein einziger „good practice"Fall im Bereich Altersmanagement. Daten flir die Slowakische Republik zeigen, dass beinahe zwei Drittel der Untemehmen „hohes Alter" als Gmnd flir die Freisetzung von Arbeitnehmerlnnen angaben, wie die reprasentative Umfrage des Forschungsinstitut flir Arbeit und soziale Angelegenheiten (2002) zeigt. Die untersuchten Lander verfiigen im AUgemeinen ein uber die Nachfrage hinausgehendes Arbeitskrafteangebot, sodass die Arbeitgeber normalerweise frei zwischen vielen Bewerberlnnen wahlen konnen. In der Mehrzahl der Falle

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wQrdQn Jtingere Personen bevorzugt, da ihnen ein hoheres Ausbildungsniveau (insbesondere in Bezug auf Informatikkenntnisse oder modeme Produktionsverfahren) und groBere Flexibilitat/Anpassungsfahigkeit zugeschrieben werden und da sie meistens „billiger" als erfahrene Arbeiterlnnen sind. Daraus kann geschlossen werden, dass die Untemehmen sich des Wertes des Wissens und der Erfahrung der alteren Arbeitnehmerlnnen nicht sehr bewusst sind. Im Resultat werden altere Arbeitnehmerlnnen in den meisten Fallen nur dann eingestellt, wenn „es keine anderen Altemativen" gibt (z.B. wenn jtingere Arbeitnehmerlnnen nicht die notwendigen Fahigkeiten besitzen, wenn sie nicht gewillt sind, die angebotene Arbeit anzimehmen oder wenn sie nicht verfugbar sind, da sie nach Westeuropa abwandem, um vom dort hoheren Gehaltsniveau zu profitieren). Folglich wird Altersmanagement kaum angewandt. Die analysierten Fallstudien zeigen, dass vor allem grofiere Untemehmen altere Personen beschaftigen. In vielen Fallen sind dies entweder vormals staatliche Untemehmen, die in der Zwischenzeit privatisiert warden, oder Internationale Tochtergesellschaften. Der letzte Aspekt ist dahingehend interessant, dass es vormals Internationale Unternehmen waren, die die Kultur der jiingeren Arbeitnehmerlnnen in den neuen Mitgliedstaaten und Kandidatenlandem einfiihrten. Auf Grund der intemationalen Entwicklungen ubemehmen diese multinationalen Untemehmen zur Zeit „corporate social responsibility"-Modelle (CSR-Modelle) (oder haben es bereits getan), die zwar nicht explizit auf die alteren Arbeitnehmerlnnen abzielen, ihnen aber auch nutzen. In den kleinen und mittleren Untemehmen (KMU) setzt sich der Gedanke, dass altere Arbeitnehmerlnnen wertvoll und notwendig sind, nur langsam in den Kopfen der Manager durch. Allerdings kann eine graduelle Andemng der Einstellung gegeniiber alteren Arbeitnehmerlnnen beobachtet werden. So konnen Untemehmensbeispiele hervorgehoben werden, bei denen die Anstrengungen und die Loyalitat von alteren, lang gedienten Arbeitnehmerlnnen offentlich hervorgehoben wird (z.B. mit Medaillen, fmanziellem Bonus), um das Bewusstsein fiir die Bedeutung der alteren Arbeitnehmerlnnen zu erhohen. Dies wird z.B. von Riga Shipyard (Lettland) so gehandhabt, wo einmal pro Jahr alle langjahrigen Mitarbeiterlnnen im Pensionsalter zu einer Zeremonie eingeladen werden, wahrend derer sie finanzielle Belohnungen und Anerkennung fur ihren Beitrag zum Untemehmenserfolg erhalten. Die analysierten Initiativen, die auf Untemehmensebene in den neuen Mitgliedstaaten, Rumanien und Bulgarien identifiziert wurden, zeigen jedoch, dass nur wenige MaBnahmen direkt auf die alteren Erwerbstatigen ausgerichtet sind. Es werden eher Initiativen implementiert, die auf alle benachteiligten Gmppen

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fokussieren, also nicht auf die spezifischen Bediirfiiisse der alteren Generation zugeschnitten sind. Die Mehrheit der Strategien, die auf aktives Rekruitieren von alteren Personen ausgerichtet sind (derartiges konnte in den meisten der analysierten Lander gefunden werden), sind mit einem mangelnden Angebot an Arbeitskraften zu erklaren, well die angebotenen Arbeitsplatze flir die jungeren Generationen auf Grund der schlechten Arbeitsbedingungen oder der Bezahlung uninteressant sind. Ein entsprechendes Beispiel ist die Estische Post Ltd, die in landlichen Gebieten hauptsachlich altere Postboten und Postverteilerlnnen anwirbt, da junge Personen nicht daran interessiert sind, in diesen Gebieten zu arbeiten, in denen hauptsachlich pensionierte Personen leben. Altere Arbeitnehmerlnnen werden auch angeworben, wenn keine jungeren mit den benotigten Qualifikationen verfiigbar sind (wenn z.B. das Ausbildungssystem diese Qualifikation nicht mehr anbietet oder wenn die hochqualifizierten jungen Personen von den hoheren Gehaltem im Ausland angezogen werden). Die rumanische FURS Company rekrutiert beispielsweise hauptsachlich Arbeitnehmerlnnen (iber 40 Jahren, da auf Grund eines Mangels an entsprechenden Berufsschulen kaum qualifizierte junge Mitarbeiterlnnen zu fmden sind. Wie die offentlichen Initiativen zielen auch viele private MaBnahmen auf die Verbesserung der Fdhigkeiten von alteren Arbeitnehmerlnnen ab. Hier fanden sich auch Ansatze, die auf den Lebenszyklus abzielten, z.B. Programme, die versuchen, das Wissen von Personen „mittleren Alters" zu erhalten und somit ihre nachhaltige Effizienz sicherzustellen. Beispiele dafur sind die slowakische Dell Inc., die kostenloses IT Training iiber das Intranet anbietet, das alien Mitarbeiterlnnen zuganglich ist; oder das rumanische Elias Emergency University Clinic Hospital. Dort wurde ein Trainings- und Entwicklungsprojekt fiir medizinisches Personal im Alter von 35-45 Jahren angeboten, also flir eine Gruppe, die zumindest 20 weitere Jahre im Arbeitsmarkt bleiben wird. Es konnten sowohl flir den Arbeitgeber als auch die Arbeitnehmerlnnen positive Ergebnisse der Initiative festgestellt werden: Verbesserung der personlichen Fahigkeiten, berufliche Entwicklung oder verschiedene medizinische Spezialisierungen sowie eine erhohte Effizienz. Ein negativer Effekt konnte sein, dass die Arbeitnehmerlnnen den Betrieb, der die Kosten fur die Trainingskurse getragen hat, verlassen. Die Initiative des rumanischen Elias Emergency University Clinic Hospital steht auch in Einklang mit fruheren MaBnahmen, wie der Arbeit in gemischten Teams (junge und altere Personen) und Trainingskurse mit unterschiedlichen Spezialisierungen, die altere Arbeitnehmerlnnen einbeziehen.

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Entsprechende TrainingsmaBnahmen konnen auch beim Einsatz von alteren Personen fiir andere als die bisherigen Arbeitsaufgaben („redeployment") verwendet werden, anstatt sie zu entlassen, wenn sie ihre eigentlichen Aufgaben nicht mehr erfiillen konnen. Ein anschauliches Beispiel dafiir ist die MaBnahme des slowenischen holzverarbeitenden Untemehmens LIP Bled. Altere Arbeitnehmerlnnen tiber 50 konnen freiwillig ihren aktuellen Arbeitsplatz gegen einen weniger belastenden tauschen, und weiterhin das gleiche Gehalt beziehen. Es richtet sich an Arbeitnehmerlnnen, die gesundheitliche Probleme haben und deshalb ihre Arbeit nicht mehr entsprechend der Arbeitsstandards oder des erforderhchen Produktivitatsniveaus erfullen konnen. Die Beeintrachtigung des Arbeitnehmers bzw. der Arbeitnehmerin muss mittels eines medizinischen Attests nachgewiesen werden, um den Arbeitsplatzwechsel arrangieren zu konnen. Dann wird dem/der Arbeitnehmerin ein neuer Arbeitsplatz angeboten, der seinem/ihrem Alter und Fahigkeiten entspricht. Nach dem Wechsel erhalt der/die Arbeitnehmerin das gleiche oder sogar ein hoheres Gehalt als zuvor. Im Unternehmen LIP Bled wird diese MaBnahme bei ca. 50% der Arbeitnehmerlnnen iiber 50 Jahre angewandt. Unter den Begiinstigten sind mehr Frauen als Manner. Aus der Sicht des Untemehmens war der Hauptgrund fiir die Einfiihrung der MaBnahme die Erhaltung und die Stimulierung der Effizienz der Arbeit der einzelnen Personen. Die Unterschiede im Gehalt werden vom Untemehmen fmanziert, jedoch werden die Kosten durch die hohere Produktivitat auf den neuen Arbeitsplatzen ausgeglichen. Der Verlust, der dadurch entstand, dass die Arbeitnehmerlnnen nicht mehr fahig waren, die angestrebten Ziele zu erreichen, konnte durch die MaBnahme reduziert werden. Aus der Sicht des Untemehmens hatte die MaBnahme vorwiegend positive Auswirkungen auf die Arbeitnehmerlnnen und das Untemehmen. Die Produktivitat der Arbeitnehmerlnnen auf ihren neuen Arbeitsplatzen stieg, die Arbeit auf den neu zugeteilten Positionen wird besser erledigt, die Arbeitnehmerlnnen erreichen die angestrebten Ziele und Standards und die Krankenstande sanken. Das Untemehmen profitiert von der hoheren Zufi-iedenheit der Arbeitnehmerlnnen, vom besseren Klima in der Organisation und von einem starkeren Zugehorigkeitsgefiihl der Arbeitnehmerlnnen zum Untemehmen. Auch hinsichtlich der Einfiihmng won flexiblen Beschdftigungsverhdltnissen oder speziellen Gesundheitsvorsorgeprogrammen gibt es Verbindungen zu offentlichen Strategien. Die Einfiihrung von entsprechenden privaten MaBnahmen zeigte klar, dass diese sowohl fiir Arbeitgeberlnnen als auch Arbeitnehmerlnnen von Vorteil sind. Beispiele fmden sich in Estland (z.B. fi-eie Arbeitszeiteinteilung der alteren Mitarbeiterlnnen des Centre of Pathology im Morth-Estonian

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Regional Hospital), in Bulgarien (z.B. bietet die Papierfabrik Stamboliiski PLC Zeitvertrage fiir pensionierte Mitarbeiterlnnen, um ihr Wissen und ihre Erfahrung an die jtingeren Mitarbeiterlnnen weiterzugeben) und in Slowenien (z.B. bietet RTV Slovenija ausgewahlten Mitarbeiterlnnen die Moglichkeit, Urlaub in Erholungszentren zu verbringen, die entsprechende medizinische Betreuung bieten; medizinische Kosten und Hotelkosten werden teilweise von den Arbeitgeberlnnen getragen.). Weiters konnten z.B. in der Slowakischen Republik, in Polen oder Bulgarien auch MaCnahmen gefiinden werden, bei denen altere Arbeitnehmerlnnen, die entlassen werden mussen, untersttitzt wurden. Eine derartige Freisetzungspolitik kann entweder fmanzielle Untersttitzung, die Vermittlung von Qualifikationen oder die Untersttitzung der Selbststandigkeit betreffen. So boten etwa die slowakische Telekom oder die bulgarische Telecommunications Company (BTC) Untemehmerprogramme an oder unterstutzen bei der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz, wenn altere Personen im Rahmen der Privatisierung oder Restrukturierung entlassen werden mussten. Einige der untersuchten Untemehmen bieten auch ein umfassendes Konzept, um die Arbeitssituation von alteren Arbeitnehmerlnnen zu verbessem. Solche MaBnahmen werden von einer Vielzahl von Aktivitaten begleitet, einschlieBlich der bereits erwahnten.

5. Schlussfolgerungen Die Integration der alteren Generation in den Arbeitsmarkt ist in den neuen Mitgliedstaaten, Rumanien und Bulgarien im Allgemeinen relativ schlecht und nur wenige dieser Lander (am ehesten noch Litauen) werden die strategischen Ziele, die in den Europaischen Gipfel in Stockholm und Barcelona hinsichtlich der Beschaftigung von Personen tiber 55 Jahren bis 2010 festgelegt wurden, erreichen konnen. Um aber die prognostizierte, anhaltend gtinstige wirtschaftliche Entwicklung zu realisieren, mtissen der Wirtschaft ausreichend Arbeitskrafte mit den entsprechenden Qualifikationen zur Verfugung stehen, um eine effiziente Produktion von Gtitem und Dienstleistungen zu gewahrleisten. Das Potenzial alterer Arbeitnehmerlnnen weiterhin nicht zu berticksichtigen, wird insbesondere fur jene Lander, die bereits eine relativ alte Bevolkerung haben, ein Problem darstellen, da sie sich mittelfi-istig mit dem Problem des Arbeitskraftemangels konfi'ontiert sehen werden. Obwohl sich in den meisten der untersuchten Lander verschiedene Akteure in die Diskussion tiber das Altem der Bevolkerung einbringen, stellen die ver-

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schiedenen Beschaftigungsinitiativen fiir die alteren Arbeitnehmerlnnen kein vorrangiges Thema dar und die operative Implementierung der entsprechenden MaBnahmen wurde erst ktirzlich begonnen. In dieser Hinsicht konnten drei beachtliche Hindemisse beobachtet werden: In vielen Fallen richten sich die strategischen Dokumente oder konkreten MaBnahmen allgemein an die benachteiligten Gruppen am Arbeitsmarkt und somit nur indirekt an die alteren Arbeitnehmerlnnen (wobei auch hier in vielen Fallen nur die am starksten betroffenen Gruppen und nicht die gesamte Gruppe der alteren Arbeitnehmerlnnen berticksichtigt werden). Initiativen, die sich an den speziellen Bedurfnissen dieser Zielgruppe orientieren, sind kaum verfilgbar. Welters sind die vorhandenen Programme eher auf die (Re-)Integration von alteren (arbeitslosen) Personen, als auf die Weiterbeschaftigung ausgerichtet. Im Allgemeinen gibt es keine Koordination zwischen den einzelnen offentlichen Akteuren und den Politikansdtzen/Strategien, die sich mit den altemden Erwerbstatigen beschaftigen. Folglich ist die Beschaftigung mit dem Thema eher fragmentiert und weniger effizient als eine koordinierte Herangehensweise (z.B. Vermeidung von Redundanz, hohere Transparenz etc.). Auch in jenen Landem, in denen Stellen fiir eine entsprechende Abgleichung eingerichtet wurden, gab es bislang kaum positive Ergebnisse. Die neuen Mitgliedstaaten und die Kandidatenlander sind auf Grund der hohen Arbeitslosenquote und der Bemtihungen, Arbeitsplatze fiir die jtingere Generation anzubieten, sowie auf Grund des Mangels an fmanziellen Mitteln, um die MaBnahmen aktiv zu implementieren, von einer langjdhrigen Tradition von Fruhpensionierungen gekennzeichnet. Vor diesem Hintergrund muss der Ausgangspunkt fur eine Verbesserung der Situation bezuglich der Integration von alteren Personen in den Arbeitsmarkt auf offentlicher/politischer Ebene liegen. Folgende Bereiche konnen identifiziert werden: Im Allgemeinen diirften „praventive" MaBnahmen (das sind jene, die die Sicherung der Beschaftigungsfahigkeit der Arbeitnehmerlnnen bereits in jiingeren Jahren anstreben, also berufliche Gesundheitsvorsorge, Qualifizierungsprogramme, Initiativen, durch die ein Abgleiten in Behindertenprogramme verhindert werden) langfristig bessere Ergebnisse zeigen als spezifische MaBnahmen, die auf die Reintegration von alteren unbeschaftigten Personen in den Arbeitsmarkt abzielen.

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Um Politikansatze und MaBnahmen spezifischer auf die Bediirfiiisse und Anforderungen von Arbeitgebem und Arbeitnehmerlnnen auszurichten, sind Forschungsstudien, die die Situation von dlteren Personen aufdem Arbeitsmarkt und die Anforderungen fur eine effiziente Integration in das Erwerbsleben analysieren, erforderlich. Sozialpartner (Gewerkschaften sowie Arbeitgebervertreter) mtissen eine aktivere Rolle bei der Forderung des Bewusstseins von Wirtschaft und Gesellschaft bei der Verlangerung des Arbeitslebens einnehmen. Die Aktivitdten der verschiedenen offentlichen Akteure mussen koordiniert und das Kommunikationsverhalten verbessert werden; z.B. durch die Einsetzung eines eigenen Gremiums, das nur dafiir zustandig ist, und die Moglichkeiten (sowohl finanziell als auch hinsichtlich der Humanressourcen) sowie die Autoritat dafur hat. Da es sich gezeigt hat, dass das reine Anheben des gesetzHch vorgeschriebenen Pensionsantrittsalters nicht ausreicht, um die Integration von alteren Personen in den Arbeitsmarkt zu erhohen, mussen in anderen Bereichen Aktivitaten gesetzt werden, insbesondere beim Scharfen des Bewusstseins der Bevolkerung und der Wirtschaft (siehe oben) und bei der Befahigung von alteren Personen, im Arbeitsmarkt zu bleiben (z.B. lebenslanges Lernen, aber auch preventive Gesundheitsvorsorge). Bei den Untemehmen und Organisationen konnte beobachtet werden, dass sie nur geringes Interesse an einem aktiven Engagement im Altersmanagement zeigen, auBer wenn ein klar identifizierbarer Bedarf besteht. In Folge, und im Gegensatz zu den Studien, die sich mit entsprechenden privaten Initiativen in den EU-15 beschaftigen, sind fur die neuen MitgHedstaaten und Kandidatenlandem keine „good practices" verfugbar, die Auskunft geben, „was in Praxis funktioniert" und welches die nachhaltigen Erfolgsfaktoren sind. Von den wenigen Untemehmen/Organisationen, die entsprechende UnterstiitzungsmaBnahmen auf eigene Initiative durchfiihren, zeigt sich, dass der Erfolg der MaBnahme insbesondere von der Untemehmenskultur (d.h. betrachtliches Engagement des Managements und der Mitarbeiterlnnen bei den Ansatzen und deren Kommunikation) sowie der Ausrichtung auf die speziellen Bediirfiiisse der Zielgruppe bei der Entwicklung der Programme beeinflusst wird.

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