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Marga Günther Adoleszenz und Migration
Marga Günther
Adoleszenz und Migration Adoleszenzverläufe weiblicher und männlicher Bildungsmigranten aus Westafrika
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
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1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Katrin Emmerich / Ingrid Walther VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16220-1
Ich widme dieses Buch Dr. Baba Alimou Barry Unsere Freundschaft und Zusammenarbeit gab mir wichtige Impulse bei der Entstehung und Durchführung dieser Studie on diarama
Danksagung Diese Dissertation ist das Ergebnis einer produktiven Zusammenarbeit vieler verschiedener Personen, bei denen ich mich an dieser Stelle bedanken möchte. Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Vera King, die mich zu diesem Vorhaben ermutigt und es stets wohlwollend begleitet hat. Ihre Inspirationen auf theoretischer wie persönlicher Ebene verhalfen mir in vielfältiger Weise, dieser Arbeit ihre inhaltliche Struktur zu geben. Auch Prof. Dr. Dr. Hans Bosse gilt mein besonderer Dank. In dem von ihm geleiteten Forschungskolloquium erlebte ich eine institutionelle wie menschliche Anbindung während der ansonsten eher einsamen Promotionszeit. Die in diesem Rahmen geführten intensiven theoretischen und methodologischen Diskussionen ermutigten mich immer wieder, die Arbeit fortzusetzen. Ebenso wichtig für die Konzeption, Durchführung und den Abschluss der Dissertation ist die aus universitärer Zusammenarbeit hervorgegangene Arbeitsgruppe, die mich während des gesamten Promotionsprozesses kritisch und anteilnehmend begleitet und unterstützt hat und die an der Interpretation der Fälle einen unschätzbaren Anteil tragen. Mein Dank gilt insbesondere Julia Jansco, Anke Kerschgens, Brigitte Kesseler und Sylvia Mosler sowie Susanne Anders, Christa Haas, Gaby Kokott und Marion MüllerKirchhof. Frau Prof. Dr. Katharina Liebsch danke ich für die anerkennende Kommentierung der Arbeit sowie die antreibenden Impulse in der Endphase, die mir eine Perspektive darüber hinaus wiesen. Prof. Dr. Andreas Pott möchte ich danken, dass er während seiner Zeit in Frankfurt, besonders in kritischen Momenten ein wertvoller Diskussionspartner für mich war. Schließlich verdanke ich den Abschluss der Dissertation auch Prof. Dr. Annelinde Eggert Schmid-Noerr, durch sie fand ich die nötige Distanz zur eigenen Arbeit, was mir auch den Übergang ins „Leben danach“ erleichterte. Allen Guineern, die sich auf das Wagnis einließen, ein Forschungsgespräch mit mir zu führen, ohne zu wissen, wohin sie und mich dies führen wird, danke ich ebenfalls in besonderer Weise. Meine guineischen Freunde und Bekannten ermöglichten mir die Teilhabe an ihren vielfältigen Lebenswelten. Insbesondere Dr. Baba Alimou Barry inspirierte mich immer wieder, genauer nachzufragen. Ihm ist diese Arbeit gewidmet. Dr. Gerald Heinbuch danke ich dafür, dass er mich bei diesem Vorhaben und seiner Durchführung stets ermunternd unterstützt und mich von vielen notwendigen Dingen des Alltags entlastet hat. Er und unsere beiden Kinder Hannah und Julian ermöglichten mir, ein Leben jenseits der Wissenschaft nicht aus den Augen zu verlieren. Marga Günther
Inhalt
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Einleitung ................................................................................................11
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Stand der Forschung ..............................................................................19 2.1
Migrationsforschung – ein interdisziplinäres Forschungsgebiet .....20
2.2 Jugendliche MigrantInnen in der empirischen Forschung ..............27 2.2.1 Qualitative Forschungsansätze ...................................................29 2.2.2 Die adoleszenztheoretische Sicht auf jugendliche MigrantInnen ..............................................................................38 2.3 3
Zusammenfassung...........................................................................47
Chancen und Risiken adoleszenter Bildungsmigration.......................49 3.1 Guineische BildungsmigrantInnen in Deutschland .........................49 3.1.1 Statistische Daten und rechtliche Situation ................................50 3.1.2 Der Herkunftskontext .................................................................52 3.2 Migrationsspezifische Transformation............................................58 3.2.1 Das Migrationsprojekt – Motivation, Bedingungen, Ziele .........59 3.2.2 Migration als individuelle und gesellschaftliche Transformation ...........................................................................63 3.2.3 Fazit............................................................................................66 3.3 Adoleszenter Umbildungsprozess ...................................................67 3.3.1 Die virulenten Themen der Adoleszenzphase ............................69 3.3.2 Adoleszente Identitätsbildung ....................................................76 3.3.3 Veränderungsprozesse auf individueller und gesellschaftlicher Ebene .............................................................78 3.3.4 Fazit............................................................................................80 3.4 Herausforderungen adoleszenter Migration ....................................81 3.4.1 Die Migrationsentscheidung.......................................................82
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Inhalt
3.4.2 3.4.3 3.4.4 3.4.5 3.4.6 3.5 4
Umgang mit Trennung und Bindung..........................................83 Bewältigung der Fremdheitserfahrungen ...................................84 Auseinandersetzung mit veränderten Geschlechterverhältnissen ..........................................................86 Räumliche Verortung – Entwicklung realistischer Zukunftsperspektiven .................................................................87 Aneignung des adoleszenten Entwicklungsspielraums ..............88 Präzisierung der Untersuchungsfragen............................................90
Fallanalysen.............................................................................................93 4.1 Methodisches Vorgehen..................................................................93 4.1.1 Der ethnohermeneutische Ansatz ...............................................93 4.1.2 Zentrale Erkenntnisinstrumente der Ethnohermeneutik .............96 4.1.3 Das Forschungsfeld ..................................................................101 4.2 Fallportraits ...................................................................................103 4.2.1 Aida Sangaré - Die Kreative.....................................................106 4.2.2 Ibrahim Diallo – Der Provokateur ............................................120 4.2.3 Fatima Touré – Die Ungebundene ...........................................141 4.2.4 Oumar Bah – Der Rationalist ...................................................161 4.2.5 Binta Traoré – Die Deplatzierte ...............................................182 4.2.6 Kallil Sow – Der Gehorsame....................................................197 4.3 Charakteristische Entwicklungsmuster adoleszenter Migration....212 4.3.1 Offensive Neuschöpfung ..........................................................215 4.3.2 Defensive Anpassung ...............................................................221 4.3.3 Kompromisshafte Transformation............................................227 4.3.4 Diskussion der Entwicklungsmuster ........................................234
5
Schlussbetrachtung...............................................................................241
Literatur..........................................................................................................251 Notation...........................................................................................................267
1 Einleitung
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit jugendlichen BildungsmigrantInnen, die aus Guinea in Westafrika nach Deutschland gekommen sind, um hier ein Hochschulstudium zu absolvieren. Die Entscheidung, guineische BildungsmigrantInnen zum Gegenstand der Untersuchung zu machen, steht zum einen im Zusammenhang mit meinen persönlichen Beziehungen zu Guinea und den dort gewonnen Erfahrungen. Die Eingrenzung der Untersuchungsgruppe auf guineische BildungsmigrantInnen resultiert zum anderen aus der Tatsache, dass die Staaten Westafrikas hinsichtlich ihrer historischen und kulturellen Bezüge, ihrer gesellschaftspolitischen Entwicklung sowie der sprachlichen Orientierung so heterogen sind, dass ein Vergleich von Fällen aus verschiedenen westafrikanischen Ländern sich erheblich schwieriger gestalten würde. Die Kenntnis der sozialpolitischen Hintergründe und der aktuellen Lebenszusammenhänge in Guinea erleichterte mir also nicht nur den Zugang zum Forschungsfeld, sondern stellt darüber hinaus einen wesentlichen Bestandteil des gesamten Forschungsprojektes dar. Im Rahmen des Entwicklungshilfevereins "Mango e.V." war ich an der Organisation und Durchführung mehrerer sozial-medizinischer Projekte in Guinea beteiligt. Während insgesamt fünf mehrwöchiger Aufenthalte in Guinea zwischen 1993 und 2001 lernte ich das Land, seine BewohnerInnen und deren Lebensverhältnisse, Sozial- und Beziehungsstrukturen in vielen Facetten kennen. Die Beziehungen zu mehreren guineischen Familien, von denen einige Mitglieder in Europa leben, ermöglichten mir persönliche Erfahrungen mit den Reaktionen der Menschen auf die sozialen Veränderungssprozesse, in denen sich die guineische Gesellschaft gegenwärtig befindet. Die persönlichen Beziehungen zu Jugendlichen, die ich in Guinea kennen gelernt habe und die nach Deutschland migrierten, um hier ein Studium zu absolvieren, weckten mein soziologisches Interesse an den Verarbeitungsformen adoleszenter Migration. Nicht zuletzt wurde das Interesse an dieser Fragestellung von der Erfahrung motiviert, als Weiße unter der überwiegend schwarzen Bevölkerung immer einer besonderen Aufmerksamkeit und Beobachtung zu unterliegen, wodurch das eigene Handeln einer zusätzlichen Reflexion unterworfen wird. Während diese Erfahrung für mich als Weiße unter Schwarzen positiv konnotiert ist, weil sie mehrheitlich von Achtung, Respekt, Neugier und Anerkennung begleitet ist, bewegte mich
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1 Einleitung
die Frage, welchen Einfluss solche Erfahrungen des Andersseins auf die adoleszenten MigrantInnen in Deutschland haben. In der vorliegenden Studie untersuche ich also, wie das Zusammenwirken adoleszenz- und migrationsspezifischer Transformationserfahrungen bei der Herausbildung der Lebensentwürfe jugendlicher MigrantInnen aus Guinea individuell bearbeitet wird. Zum Verständnis der Wirkungen dieser Transformationserfahrungen auf und ihre Bedeutung für die jeweiligen Lebensentwürfe gilt es, deren jeweilige Verknüpfung zu analysieren. Aus adoleszenztheoretischer1 Perspektive geht es um die Auseinandersetzung mit der eigenen Gewordenheit, der Ablösung von der Herkunftsfamilie, der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechtlichkeit und der Entwicklung eines Weiblichkeits- bzw. Männlichkeitsentwurfs sowie um die Ausbildung einer eigenen biographischen Perspektive hinsichtlich Beruf, Partnerschaft und Familiengründung. Der jeweilige Lebensentwurf ist zu verstehen als eine Auseinandersetzung mit den konkreten milieuspezifischen, gesellschaftlichkulturellen Bedingungen und den damit verbundenen Generationen- und Geschlechterbeziehungen, in denen ein Mensch sozialisiert wird. Diese adoleszente Auseinandersetzung gestaltet sich je nach den sozialen und psychischen Spielräumen unterschiedlich und sucht im Spannungsfeld zwischen der Fortsetzung familialer bzw. gesellschaftlicher Vorbilder und der Ausbildung neuer Lebensentwürfe nach individuellen Lösungen. Aus migrationstheoretischer Perspektive betrachtet geht es vornehmlich um die gesellschaftlich-kulturelle Dynamik, die bei den Wanderern eine Neuorientierung ihrer Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweisen bewirkt. Ganz allgemein geht es aber auch hier zunächst um eine Erschütterung der bisherigen Gewissheiten und kulturellen Praxen, die eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Lebenswelten bewirkt. Im Zuge dieses Prozesses findet eine individuell unterschiedliche Umstrukturierung und Neuverankerung in der zunächst fremden Gesellschaft statt. Mit der Verknüpfung von Adoleszenz- und Migrationstheorien richtet die vorliegende Arbeit ihren Blick auf das beiden Prozessen innewohnende Veränderungspotential und die spezifische Dynamik, die entsteht, wenn beide zusammentreffen. Am Beispiel der guineischen BildungsmigrantInnen soll der Frage nachgegangen werden, wie der adoleszente Entwicklungsprozess unter den besonderen Bedingungen der Migration bewältigt wird. Bei der Analyse dieses mehrdimensionalen Transformationsprozesses findet das Zusammenspiel verschiedener Themen Berücksichtigung, deren individuelle Bearbeitung sich im jeweiligen Lebensentwurf darstellt. Indem adoles1 Der Begriff der Adoleszenz wird ausführlich erläutert in Kapitel 3.3.
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zente Migration die Auseinandersetzung mit Veränderungen sowohl auf individueller wie sozial-gesellschaftlicher Ebene herausfordert, verstärkt sich das Spannungsfeld zwischen der Bewahrung des Alten und der Entstehung von Neuem, also zwischen Kontinuität und Wandel. Damit ist auch das Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft angesprochen, welches sich sowohl während des adoleszenten Entwicklungsprozesses als auch im gesellschaftlichen Prozess der Modernisierung oder Individualisierung stets neu formiert. Durch Verknüpfung von Adoleszenz- mit Migrationstheorien wird versucht, die Vielschichtigkeit von Modernisierungsprozessen zu erhellen, indem der komplexe Prozess der Transformation in einzelne Elemente aufgegliedert und analysiert wird. Mit Blick auf die Lebensentwürfe adoleszenter MigrantInnen werden die spezifischen Verarbeitungformen der individuellen sozialisationsbedingten Faktoren mit den sozial-kulturellen Bedingungen untersucht. Welche Spielräume haben die Adoleszenten, ihren Lebensentwurf unter den besonderen Bedingungen der Migration zu verwirklichen, auf welche Ressourcen können sie in der migrationsbedingten Krise zurückgreifen? Welche Wirkungen haben migrationsspezifische Erfahrungen auf die Lebensentwürfe Adoleszenter? Hinsichtlich des Herkunftskontextes der jungen Westafrikaner ist davon auszugehen, dass es in Guinea nicht selbstverständlich ist, dass die nachwachsende Generation einen adoleszenten Entwicklungsspielraum zur Verfügung hat, in dem mit verschiedenen Lebensentwürfen experimentiert werden kann. Die in Deutschland studierenden jugendlichen Guineer sind als eine privilegierte Gruppe innerhalb ihrer Generation anzusehen, denen im Rahmen einer Hochschulausbildung Raum und Zeit für die Erprobung alternativer Lebensentwürfe gegeben wird. In diesem Zusammenhang entsteht die Frage, welche adoleszenten Konflikte im Vordergrund stehen und wie die adoleszente Auseinandersetzung sich unter den Bedingungen der Migration vollzieht. Damit verbunden sind auch Fragen nach der Bewältigung dieser Konflikte und nach den Zukunftsperspektiven, die sich daraus entwickeln. Hierbei ist es auch wesentlich, ob und inwieweit die Migrationsentscheidung eine Folge der adoleszenten Entwicklung darstellt oder ob eine adoleszente Auseinandersetzung erst durch Migration ermöglicht wird. Insbesondere die Verarbeitung der mit Adoleszenz und Migration verbundenen Trennungs- und Bindungserfahrungen und die damit im Zusammenhang stehenden Neubildungsprozesse spielen hierbei eine zentrale Rolle. Anhand dieser und weiterer, noch auszudifferenzierender Fragen wird in der vorliegenden Untersuchung das Ineinandergreifen beider Prozesse analysiert. Die Untersuchung von Adoleszenzverläufen guineischer BildungsmigrantInnen beschreitet in mehrfacher Hinsicht ein im deutschsprachigen Raum weitgehend unbearbeitetes Wissenschaftsfeld. Einwanderer aus Afrika spielen in der Migrationsforschung aufgrund ihrer geringen Zahl kaum eine Rolle, sie finden
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öffentliche Aufmerksamkeit meist nur im Zusammenhang mit Flüchtlingsthematiken oder strafrechtlicher Verfolgung. Auch werden BildungsmigrantInnen grundsätzlich nicht als potentielle Einwanderer wahrgenommen und finden daher nur in der akademischen Austauschforschung Beachtung. Westafrikanische BildungsmigrantInnenen sind also eine relativ unauffällige Gruppe, die darüber hinaus nicht als Problemgruppe identifiziert wird und daher als Forschungsgegenstand kaum in Erscheinung tritt. Ebenso finden Jugendliche, die allein, also ohne Familie migrieren, in dem weiten Feld der Migrationsforschung bisher kaum Berücksichtigung. Schließlich wird eine systematische Verknüpfung von Adoleszenz- und Migrationsprozessen, obwohl seit langem eingefordert, noch zu weinig unternommen. An dieser Schnittstelle setzt die vorliegende Studie an und beleuchtet die besondere Dynamik, mit der guineische Jugendliche sich im Zuge ihrer Identitätsentwicklung mit den teilweise widerstreitenden individuellen, familialen und kulturell-gesellschaftlichen Strebungen, Bedürfnissen und Aufträgen auseinandersetzen. Damit sind nicht nur die von außen sichtbaren Handlungspraxen angesprochen, sondern ebenso die innerpsychischen Prozesse, die in gleichem Maße bewusst und unbewusst in die sozialen Praxen hineinwirken. Die sich in diesem Prozess formierenden Lebensentwürfe werden als Ausdruck oder Ergebnis dieser spezifischen Erfahrungsverarbeitung verstanden. Um sowohl individuelle als auch soziale bzw. gesellschaftliche Bedingungen ausreichend würdigen zu können, gilt es eine sozialpsychologische Perspektive einzunehmen. Diese versteht sowohl Adoleszenz als auch Migration als Transformationsprozess, in dem sich das Individuum mit vielfältigen inneren und äußeren, also psychischen, physischen sowie sozial-kulturellen Veränderungen auseinandersetzt und sich entsprechend der jeweiligen Kontexte selbst verändert. Der Fokus der Betrachtung liegt somit auf der Perspektive der Individuen, die untersucht, wie Transformationsprozesse von ihnen erlebt werden. Die adoleszenztheoretische Perspektive auf BildungsmigrantInnen impliziert eine Differenzierung des Bildungsbegriffs. Einerseits hat die Migration die kognitive Aneignung von Wissen im Sinne praktischer Anwendung in verschiedenen Berufsfeldern zum Ziel, wofür den Jugendlichen bestimmte Zeit- und Spielräume zur Verfügung gestellt werden. Damit verweist die Migration zu Bildungszwecken auch auf die Schwierigkeit dieser Aneignung im ursprünglichen sozialen Umfeld. Andererseits ist mit diesem migrationsbedingten Bildungsmoratorium auch eine Erweiterung der inneren und äußeren Spielräume verbunden, die Bildungsprozesse im Sinne einer grundlegenden Umstrukturierung des Welt- und Selbstverhältnisses ermöglichen. Die Untersuchung adoleszenter Individuierungsprozesse im Kontext von Bildungsmigration beleuchtet also die Bedingungen für das Zustandekommen dieser Umbildungsprozesse in
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differenzierter Weise, indem sie die soziologische um die sozialpsychologische Dimensionen erweitert und Bildungsprozesse systematisch zu erfassen versucht. Bei der Untersuchung von adoleszenten BildungsmigrantInnen aus Westafrika ist zunächst der Herkunftskontext der Jugendlichen von Bedeutung. Als Angehörige einer elitären sozialen Schicht, ist davon auszugehen, dass ihre Sozialisationsprozesse vor der Migration im Wesentlichen durch finanzielle Sicherheit, einem hohen Bildungsstand und daraus resultierender sozialer Distinktion strukturiert sind. Für die vorliegende Studie ist es von besonderem Interesse, wie die Adoleszenzspielräume dieser Jugendlichen aus privilegiertem Milieu jeweils ausgestaltet sind und welche Kompetenzen sie darin ausbilden können. Diese sind insbesondere hinsichtlich der im Zusammenhang mit der Migration sich vollziehenden Veränderungen ihrer sozialen Positionierung relevant. Gefragt wird, welche Erfahrungen die Jugendlichen hinsichtlich ihrer – insbesondere aufgrund ihrer Hautfarbe – veränderten Statuszuschreibungen in Deutschland machen und auf welche Weise sie diese Erfahrungen bearbeiten. Als zentrale Herausforderung der Adoleszenzentwicklung sind die Auseinandersetzung mit dem eigenen Geschlecht und die Positionierung im Geschlecherverhältnis in dieser Phase besonders virulent. Die vorliegende Studie nimmt daher ferner die Bedeutung der Geschlechterdimension bei der Herausbildung von Lebensentwürfen adoleszenter BildungsmigrantInnen in den Blick und fragt, welche Verortungs- und Identifikationsmöglichkeiten für die weiblichen und männlichen Jugendlichen jeweils relevant sind. Dabei spielt es einerseits eine Rolle, an welche familialen und gesellschaftlichen Weiblichkeits- und Männlichkeitsbilder die Jugendlichen anknüpfen können und wie sich ihre adoleszente Auseinandersetzung mit ihrem Herkunftskontext vollzieht. Andererseits stellt sich die Frage, wie die adoleszente Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechtlichkeit durch die Migrationserfahrungen beeinflusst wird und wie die Bearbeitung dieser Erfahrungen Eingang in die Lebensentwürfe der Jugendlichen finden. In diesem Zusammenhang soll auch untersucht werden, welche Bedeutung die Migration in Hinblick auf die Weiblichkeits- bzw. Männlichkeitsentwürfe der BildungsmigrantInnen hat und inwieweit sich die männliche Auseinandersetzung im Migrationsprozess von der weiblichen unterscheidet. Weiterhin soll mit der adoleszenztheoretischen Perspektive jenseits der in der Migrationsforschung üblichen Kategorien, wie „Kultur“, „ethnische Identität“, „soziale Ausgrenzung“, „Integration“, der Blick auf die Innenwelt der jugendlichen MigrantInnen gerichtet werden. Die Untersuchung ihrer Lebensentwürfe bedeutet, sich gleichsam den Realitäten der Jugendlichen zu nähern und diejenigen Themen zu erfassen, die für sie bedeutsam sind, ohne sie auf ein bestimmtes Maß an Integration oder Kulturbezogenheit festzulegen. Dies erlaubt, Erkenntnisse darüber zu gewinnen, ob und in welcher Weise die Adoles-
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zenten mit ihren sozialen Praxen oder Identitäten an kulturell oder ethnisch definierte Bilder anknüpfen oder aus welchen anderen Bildern oder Vorstellungen sich ihre Lebensentwürfe generieren. Ebenso ermöglicht dieser Zugang Aufschlüsse über den Umgang der Jugendlichen mit denjenigen gesellschaftlichen Zuschreibungsprozessen, die sie auf eine bestimmte Kultur oder ethnische Identität verweisen. Die vorliegende Untersuchung bewegt sich somit entlang mehrer Achsen sozialer Positionierung, wie sie derzeit im Rahmen der IntersektionalitätsDebatten diskutiert werden. Vor dem Hintergrund der beschriebenen Differenzlinien (soziale Herkunft, Geschlecht und Ethnizität), finden die Adoleszenzverläufe der guineischen BildungsmigrantInnen nicht nur hinsichtlich ihrer jeweiligen sozialen Positionierung Beachtung, sondern insbesondere hinsichtlich ihrer je spezifischen Auseinandersetzung mit den entsprechend vorfindbaren Differenzlinien. Die adoleszenztheoretische Perspektive ermöglicht mit ihrer sozialpsychologischen Ausrichtung, auch die inneren Aushandlungsprozesse zu erfassen, die Eingang in die Lebensentwürfe der Jugendlichen finden, und diese mit den sozialen Ungleichheitsdimensionen zu verknüpfen. Es geht also nicht nur um Zuschreibungsprozesse und den damit verbundenen sozialen Positionierungen, sondern auch und gerade um die subjektiven Themen, mit denen sich die jugendlichen BildungsmigrantInnen aus Guinea im Zuge ihrer Adoleszenz auseinandersetzen. Insbesondere mit dem Fokus auf die Veränderungsdynamik, die sich im Prozess adoleszenter Migration potenziert, wird der Blick geöffnet auf die Bedingungen für die Ermöglichung oder Verhinderung von Transformation. Im adoleszenten Entwicklungsprozess findet die eigene Positionierung in Auseinandersetzung mit den jeweiligen sozial-kulturell-gesellschaftlichen Verhältnissen und mit den mit sozialen Ungleichheiten verbundenen Einschließungsund Ausgrenzungs- bzw. Anerkennungs- und Missachtungserfahrungen statt. Somit soll die Analyse der adoleszenten Auseinandersetzung in der Migration Aufschluss über den Umgang mit den spezifischen Bedingungen dieses Prozesses geben, der sowohl von familialen und individuellen wie auch kulturellgesellschafltichen Faktoren wesentlich strukturiert ist. Die Arbeit gliedert sich in fünf Teile. Im Anschluss an diese Einleitung wird im zweiten Teil in Auseinandersetzung mit der bisherigen Forschung zu jugendlichen MigrantInnen der Frage nachgegangen, unter welchen theoretischen Prämissen sie erfolgt und inwieweit sie für die Untersuchung adoleszenter Migration anschlussfähig ist. Der dritte Teil steckt den theoretischen Rahmen der empirischen Untersuchung ab. Dazu wird zunächst auf die Situation der guineischen Bildungsmigranten in der Bundesrepublik eingegangen, ihre rechtliche Situation im Aufnahmeland Deutschland sowie ihr Herkunftskontext werden beleuchtet.
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Danach stehen die Besonderheiten des Migrationsprozesses im Zentrum. Dafür werden insbesondere solche Theorien und Konzepte herangezogen, die Migration aus biographietheoretischer Sicht als individuelle und gesellschaftliche Transformation betrachten. Im Anschluss daran erfolgt die Darstellung der adoleszenztheroetischen Konzepte, mit denen die Bedingungen für Wandel oder Kontinuität aus Sicht des Individuums im Zuge der Identitätsbildung aus sozialpsychologischer Perspektive untersucht werden können. In der Zusammenführung der migrations- mit adoleszenztheoretischen Konzepten wird sodann der Verdoppelungsvorgang adoleszenter Migration herausgearbeitet und anhand der besonderen Herausforderungen, denen die guineischen BildungsmigrantInnen ausgesetzt sind, präzisiert. Im vierten Teil stehen die empirischen Ergebnisse der Studie im Mittelpunkt. Zunächst wird der methodische Zugang des ethnohermeneutischen Ansatzes begründet und erläutert, um dann an das Forschungsfeld heran zu führen. Die Auswertung des empirischen Materials erfolgt in der Darstellung von sechs exemplarischen Fallstudien, in denen die individuelle Bearbeitung der adoleszenten Migrationssituation herausgearbeitet wird. Auf einer weiteren Auswertungsebene werden dann drei charakteristische Entwicklungsmuster adoleszenter Migration präsentiert, die sich aus der Gesamtheit der untersuchten Fälle unter Heranziehung der im theoretischen Teil entwickelten Systematik herausgebildet haben. Den Abschluss der Arbeit bildet im fünften Teil die Diskussion der zentralen Untersuchungsergebnisse.
2 Stand der Forschung
Jugendliche MigrantInnen finden in unterschiedlicher Weise Berücksichtigung in der empirischen Forschung. Im Zentrum des Interesses stehen die in Deutschland aufgewachsenen Jugendlichen aus Einwandererfamilien. Sie werden vorwiegend unter Fragestellungen untersucht, die die Problematiken der Integration und der Ungleichheit formulieren und Kategorien wie zweite Generation, kulturelle Identität, Identitätsdiffussion, Ethnizität, ethnische Gemeinschaft verwenden. Auch die Begrifflichkeiten, unter denen jugendliche MigrantInnen jeweils untersucht werden, haben sich im Laufe der vergangenen dreißig Jahre deutlich gewandelt. Aus vormals Ausländerjugendlichen oder in Deutschland geborenen Ausländern wurden Jugendliche ausländischer Herkunft, Migranten der zweiten und dritten Generation, Jugendliche aus Immigrantenfamilien oder Einwandererjugendliche. Seit einigen Jahren wird vorwiegend der Begriff Jugendliche mit Migrationshintergrund verwendet. Diese Begriffsgeschichte bildet einerseits die veränderte Sichtweise auf die Jugendlichen ab und macht andererseits die enge Verzahnung zwischen Ausländerpolitik bzw. Einwanderungspolitik und wissenschaftlicher Forschung über MigrantInnen deutlich. Die Forschung „über den ausländischen Jugendlichen und seine Probleme [spiegelt] bereits eine Ausgrenzung“ (Bommes 1993, 61) wider, die sich auch in der Vorenthaltung politischer Rechte zeigt und die Migrationsforschung als „Auftragsforschung“ (Radtke 1991, Treibel 1988) offenbart. Bei den meisten Forschungen werden insbesondere die Kinder der in den sechziger und siebziger Jahren eingewanderten ArbeitsmigrantInnen untersucht, deren größte Gruppe aus der Türkei stammt. Der aktuell verwendete Begriff Jugendliche mit Migrationshintergrund trägt dagegen dem Umstand Rechnung, dass sich in Deutschland das Feld der eingewanderten jungen Menschen heterogenisiert hat und der Anteil der Jugendlichen mit mindestens einem zugewanderten Elternteil mittlerweile bei einem Drittel liegt (vgl. Boos-Nünning/Karakasoglu 2005, 11). Auch drückt dieser Begriff die Erkenntnis aus, dass mit Migration vielschichtige Folgen für Individuum und Gesellschaft verbunden sind, die mit dem Rechtsstatus allein nicht erfasst werden können (vgl. Gogolin/Pries 2004, 5). Die vorliegende Arbeit richtet ihren Fokus auf den Sozialisationsprozess Jugendlicher, die zum Zweck des Studiums alleine, das heißt ohne Familienangehörige, nach Deutschland eingewandert sind. Für sie finden die Begriffe ju-
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2 Stand der Forschung
gendliche beziehungsweise adoleszente (Bildungs-)MigrantInnen oder Migrantenjugendliche eine angemessene Anwendung. In diesem Kapitel steht die Auseinandersetzung mit der bisherigen Forschung und ihrem Verhältnis zur leitenden Fragestellung im Vordergrund. Das Forschungsfeld wird von drei Seiten beleuchtet: Erstens geht es um die Frage, wie jugendliche MigrantInnen in der Migrations- und Sozialisationsforschung konzipiert und welche spezifischen Problemkonstellationen in welcher Weise untersucht werden. Zweitens soll geprüft werden, inwieweit die Adoleszenz als spezifische Lebensphase in den theoretischen Konzepten der Untersuchungen über jugendliche MigrantInnen Berücksichtigung findet. Demzufolge soll drittens geklärt werden, ob die theoretischen Ansätze der Migrations- und Sozialisationsforschung für die Untersuchung des mehrdimensionalen Transformationsprozesses bei adoleszenten BildungsmigrantInnen geeignet sind. Zunächst werden die für die deutschsprachige Forschung in der Vergangenheit relevanten Theorieangebote untersucht, die Sozialisationsprozesse jugendlicher MigrantInnenen behandeln. Anschließend werden neuere empirische Anwendungen dieser Theorien exemplarisch auf ihre Anschlussfähigkeit für die vorliegende Arbeit untersucht.
2.1 Migrationsforschung – ein interdisziplinäres Forschungsgebiet Als interdisziplinäres Wissenschaftsgebiet nähert sich die deutsche Migrationsforschung ihrem Gegenstand aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven. Schwerpunkte liegen zum Beispiel auf Fragen der Integration, der Sozialisation, des Geschlechts sowie der sozialen Ungleichheit. Im Folgenden werden die Theorieangebote untersucht, von denen Aufschlüsse über die Bewältigung von Migrationsprozessen bei jugendlichen MigrantInnen erwartet werden. Die mikrosoziologische Perspektive der deutschen Migrationsforschung hat in Hartmut Esser einen prominenten Vertreter, der mit seinem handlungstheoretischen Ansatz das Individuum unter dem Aspekt der Eingliederung in den Blick nimmt. Nach Esser erwirbt das Individuum durch Migration entsprechend seiner Handlungen verschiedene Fähigkeiten, sich in der für ihn neuen Gesellschaft einzupassen. Allerdings ist die Art und Weise seiner Handlungen abhängig von den Reaktionen und Bedingungen seiner Umwelt. Die Eingliederung der MigrantInnen hängt nach Esser also sowohl von den Eigenschaften der Person und als auch von ihrer Umwelt ab. Damit hat er ein Konzept entwickelt, mit dem sich der Migrationsprozess differenziert beleuchten lässt. Der Begriff
2.1 Migrationsforschung – ein interdisziplinäres Forschungsgebiet
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der Assimilation,2 unter dem die Theorie zusammengefasst wird (Esser 1980), spiegelt jedoch zugleich auch deren normative Implikation wider, nämlich die einseitige Anpassung der Zuwanderer an die Aufnahmekultur3. Esser operiert mit einem problematischen Verständnis von Kultur, wenn er konstatiert, dass die MigrantInnen ihre Herkunftskultur ablegen, indem sie einen erneuten Sozialsiationsprozess durchlaufen, durch den sie sich kulturell an die Aufnahmekultur angleichen. Obwohl Essers Theorie auch die Wechselwirkung menschlicher Beziehungen als einen ihrer Bestandteile einbezieht, wird der kulturelle Austausch von ihm nur als einseitiger Prozess der Anpassung der MigrantInnen an die Aufnahmekultur konzipiert. Kultur wird hier als ein starres feststehendes Gebildeangesehen, in das man sich einfügen oder eingliedern kann. Dass Kultur im alltäglichen Handeln der Personen ständig neu reproduziert und verändert wird, somit auch MigrantInnen durch ihre Partizipation Einfluss auf die sie aufnehmende Kultur haben, findet bei diesem Ansatz keine Beachtung. In groß angelegten Studien wurden mit diesem theoretischen Konzept die Ursachen der zunehmenden Segregation von Einwandererfamilien auch im Generationenvergleich erforscht (vgl. z. B. Esser/Friedrichs 1990). Als Untersuchungsgegenstand wird die ethnische Identität4 in den Mittelpunkt gerückt, die als Ursache für die fehlende Anpassungsbereitschaft und die Orientierung an der Herkunftskultur angesehen wird. Dieser einseitige theoretische Zugang versperrt jedoch die Sicht auf die Lebenswirklichkeit der MigrantInnen. Indem ihre Identität als ethnische festgeschrieben und versucht wird, ihre Ausprägungen zu messen, spielt Identitätsbildung als Entwicklungsprozess keine Rolle. Das Wechselverhältnis zwischen Ausländerpolitik, einheimischer Bevölkerung und den MigrantInnen und ihren Kindern findet in diesen Studien keine Beachtung. Diese einseitigen Zuschreibungen wurden in der Ethnizitätsdebatte vielfach kritisiert (vgl. z. B. Dittrich/Radtke 1990). Seitens der Jugendforschung finden jugendliche MigrantInnen nur peripher Beachtung. In Handbüchern zur Jugendarbeit taucht diese Gruppe in der Regel gar nicht auf (vgl. Bukow 1999). Bei den Shell-Studien wurden ausländische Jugendliche lediglich in der 13. Ausgabe (2000) systematisch in die Untersuchung einbezogen. In der jugendsoziologischen Diskussion werden Jugendliche mit Migrationshintergrund bisher nur vereinzelt berücksichtigt. Meist handelt es sich dabei um groß angelegte quantitative Studien, die die Situation der hier 2
3 4
Das Assimilationsmodell unterscheidet mehrere Dimensionen der Eingliederung: kognitive, strukturelle, soziale und identifikative Assimiliation, welche als kausal aufeinanderfolgend konzipiert sind. Zur ausführlichen Darstellung und Kritik der Assimilationstheorie siehe z.B. Günther 2001, Pott 2002. Die begriffliche Verbindung von Ethnizität und Identität und die Debatten darüber sind bei Heinz 1993 zusammengefasst.
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2 Stand der Forschung
aufgewachsenen Jugendlichen aus Einwandererfamilien hinsichtlich ihrer Integration in die deutsche Gesellschaft erfassen möchten (vgl. z. B. von Below 2003, Weidacher 2000, Zinnecker et al. 2002, Merkens/Zinnecker 2004). Dabei überwiegen kulturbezogene Betrachtungsweisen, nach denen Integration durch ein Festhalten an der Herkunftskultur der Eltern behindert wird. Allmählich findet innerhalb dieser Forschungsdisziplin jedoch ein Umdenken statt. Beispiel hierfür ist die 4. Ausgabe des „Jahrbuch Jugendforschung“ (Merkens/Zinnecker 2004), das sich der Situation Jugendlicher mit Migrationshintergrund sensibler zu nähern versucht, indem verschiedene Aspekte der Identitätsentwicklung im Zusammenhang mit den Bedingungen der Einwanderersituation diskutiert werden. Auch der DJI-Jugendsurvey (Gille u. a. 2006) untersucht die Situation Jugendlicher mit Migrationshintergrund systematisch im Vergleich zu einheimischen Jugendlichen. Die Erziehungswissenschaft beschäftigt sich bereits seit den siebziger Jahren mit den Kindern der eingewanderten ArbeitsmigrantInnen, die ab diesem Zeitpunkt Einzug in die Bildungsinstitutionen hielten. Die neuen Anforderungen an die Bildungseinrichtungen ließen eine Migrationspädagogik entstehen, die sowohl Auswirkungen auf die pädagogische Praxis wie auch die pädagogische Theoriebildung hatte. Der zunächst als Ausländerpädagogik formulierte Ansatz stellt die schulischen Probleme eingewanderter Kinder und Jugendlicher in den Mittelpunkt und sucht sie durch didaktische und schulorganisatorische Maßnahmen zu reduzieren. Die dahinterstehenden bildungspolitischen Vorgaben waren durch das Anliegen geprägt, einerseits die Integration der Migrantenkinder in die deutsche Gesellschaft zu erleichtern, zugleich aber auch deren Rückkehrfähigkeit zu erhalten. Theoretische Grundlage der Ausländerpädagogik sind die Thesen über die kulturbedingte Determiniertheit der MigrantInnen, mittels derer ihre Anpassungsschwierigkeiten an die hiesigen Bildungsinstitutionen erklärt werden. Die dabei verwendeten Begriffe wie Kulturschock, kulturelle Differenz oder Modernitätsdefizit gründen auf einer eigens für die Kinder der ArbeitsmigrantInnen entwickelten Sozialisationstheorie, die die Entwicklung einer kulturellen „Basispersönlichkeit“ (Schrader u. a. 1976) während der Kindheit annimmt, die später nicht mehr veränderbar sei. Die MigrantInnen gerieten demnach in eine Konfliktsituation, weil sie in der Begegnung mit der deutschen Gesellschaft einen Kulturschock erlebten, der ihre Anpassung erschwere. Die Ausländerpädagogik zielt auf die Kompensation dieser konstatierten Defizite und sucht eine Vermittlung zwischen den Kulturen zu erreichen. Das grundsätzliche Ziel dieses pädagogischen Ansatzes ist die Integration der als Ausländer definierten Kinder von Einwanderern, die als einseitiger Vorgang begriffen wird, bei der die Betroffenen jedoch Unterstützung seitens der Aufnahmegesellschaft erhalten sol-
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len. Kritiker der Ausländerpädagogik sehen in der einseitigen Konzentration auf die Kinder aus zugewanderten Familien und deren vermeintliche Defizite eine Widerspiegelung der Diskriminierung auf politischer Ebene. Indem die Eingliederung an das deutsche Bildungssystem einseitig von den MigrantInnen gefordert werde, ohne die Institutionen an die gewandelte Situation anzupassen und ohne die strukturellen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen zu beachten, die für die Lebenslage der eingewanderten Familien verantwortlich sind, werden die Hürden für eine erfolgreiche Schulkarriere eher zementiert als abgebaut. Die Ausländerpädagogik leistete damit – so ihre Kritiker - Ethnisierungsprozessen Vorschub (vgl. z. B. Auernheimer 1988, Apitzsch 1990, Bielefeld 1988, Bukow/Llaryora 1988). Aus der vielfältigen Kritik an dem ausländerpädagogischen Ansatz entwickelt sich die Interkulturelle Pädagogik, die sich mit ihrem Konzept der kulturellen Pluralität gleichermaßen an deutsche und zugewanderte Schüler wendet. Sie will der Einwanderungssituation in Deutschland Rechnung tragen, indem sie das Zusammenleben der von verschiedensten Kulturen geprägten Mitglieder der Gesellschaft erleichtert. Den theoretischen Hintergrund dieses Konzeptes bildet ein erweiterter Kulturbegriff, der davon ausgeht, dass eine Integration der MigrantInnen in die hiesige Gesellschaft bei gleichzeitiger Beibehaltung ihrer kulturellen Identität möglich ist. Kulturen wird die Funktion von Wert- und Handlungsorientierung zugeschrieben, durch die es zu unterschiedlichen Formen des Erlebens und Handelns entsprechend der kulturellen Zugehörigkeit kommt. Nicht die einseitige Anpassung der Zugewanderten steht im Mittelpunkt der Interkulturellen Pädagogik, sondern eine Theorie der Anerkennung, die der Differenz der verschiedenen ethnischen Gruppen gerecht wird. Sie versucht die Differenzen der Kulturen zu überwinden, indem sie das gegenseitige Wissen über die verschiedenen Kulturpraxen durch konkrete Begegnungen vermittelt. Begleitet wird diese Entwicklung von soziologischen, sozialphilosophischen und politischen Diskussionen um die Multikulturelle Gesellschaft (vgl. z. B. Cohn-Bendit/Schmid 1993, Taylor 1997), in denen die Frage im Mittelpunkt steht, ob die Gesellschaft mit einer Politik der Anerkennung auf ihre zunehmende Heterogenisierung durch Einwanderung adäquat reagiert. Obgleich sich die Interkulturelle Pädagogik als kritische Pädagogik versteht, trägt sie im Wesentlichen die Annahmen der Ausländerpädagogik weiter (vgl. Hamburger 1990). Beiden theoretischen Konzepten und den sich darauf gründenden wissenschaftlichen Untersuchungen gemeinsam ist der kulturalistische Blick auf die jugendlichen MigrantInnen, der ihre Ethnisierung festschreibt. Im postulierten Kulturbegriff überwiegt die Vorstellung von statischen und durch sozialen und ökonomischen Wandel nicht beeinflussbaren Kulturen, deren je verschiedene Lebenswelten schwer zu vereinbaren seien. Die Abhän-
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gigkeit der kulturellen Identität von der nationalen Zugehörigkeit sowie die Relevanz der Herkunftskultur der Eltern trotz der Sozialisation in einem anderen Kulturkreis wird normativ gesetzt und kaum hinterfragt. Diese Annahmen übersehen die Dynamik kultureller Praxen innerhalb einer Gesellschaft, die geprägt sind von ungleichen, oft entgegengesetzten soziokulturellen Verlaufsprozessen. Mit der Betonung der kulturellen Dimension werden die jugendlichen MigrantInnen aufgrund der Herkunftskultur ihrer Eltern als Andere oder Fremde konstruiert und ihr Status als ethnische Minderheit mit ihrer je eigenen kulturellen Identität festgeschrieben (vgl. Dittrich/Radtke 1990, Bommes/Scherr 1991, Mecheril 2005). Die Jugendlichen werden vorwiegend als passive Opfer ihrer Situation und nicht als aktiv handelnde Individuen wahrgenommen. Dadurch wird der Blick auf die Lebensrealitäten und deren Bewältigung seitens der Jugendlichen mit Migrationshintergrund einseitig versperrt. Der innerhalb der Erziehungswissenschaft zunehmend an Bedeutung gewinnende transkulturelle Ansatz nimmt dagegen weniger die Defizite, sondern mehr die Fähigkeiten und Leistungen in den Blick, die Migrantenjugendliche in Auseinandersetzung mit ihren konkreten Bezugssystemen entwickeln (vgl. z. B. Fürstenau 2004, Gogolin 2000, 2006). Die Sprachkompetenz, die zwei- oder mehrsprachig aufwachsende Kinder und Jugendliche entwickeln, wird hier als besondere Ressource betrachtet, die ihnen im Zuge der Globalisierung zusätzliche Perspektiven schaffen kann. Ganz allgemein wird der aktive Umgang mit „transnationalen Sozialräumen“ (Gogolin 2006, 216) als kreatives Potential angesehen, das auf die Identitätsentwicklung wesentlichen Einfluss hat. Die lange Zeit androzentrische Migrationsforschung wendet sich mit der These der Feminisierung der Migration (vgl. Hess 2000, Huth-Hildebrand 2002, Han 2003) vermehrt den geschlechtsspezifischen Aspekten des Migrationsprozesses zu. Aus dieser Perspektive verändern sich auch die Fragen und Erklärungsansätze der Migrationsforschung5 (vgl. Westphal 2004). Grundsätzlich rücken die Geschlechterverhältnisse und deren Wandel durch Migration sowie die Migration als Projekt beider Geschlechter in Abhängigkeit von familiären und sozialen Kontexten immer mehr in den Mittelpunkt des Interesses (vgl. Herwartz-Emden 2003, Apitzsch/Jansen 2003, Karakasoglu/Boos-Nünning 2005). Bei den jugendlichen MigrantInnen, die in Deutschland aufgewachsen sind, werden immer wieder geschlechtsspezifische Unterschiede in ihren Lebensentwürfen festgestellt. Neuere Untersuchungen zeigen, dass weibliche Jugendliche in Schul- und Berufsausbildung insgesamt wesentlich erfolgreicher sind als männliche. Und während männliche Jugendliche mehr den traditionel5
Indem Frauen nicht mehr als Anhängsel ihrer migrierenden Männer wahrgenommen werden, finden die ihnen eigenen Migrationsgründe und -bewältigungsstrategien gesonderte Beachtung (vgl. Westphal 2004).
2.1 Migrationsforschung – ein interdisziplinäres Forschungsgebiet
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len Ehe- und Partnerschaftskonzepten ihrer Eltern folgen, nehmen die jungen Frauen dazu eine eher kritische Haltung ein und versuchen, ihre Vorstellungen von gleichberechtigten Beziehungen durchzusetzen, ohne dabei jedoch eine Konfrontation mit ihrer Herkunftsfamilie zu provozieren (vgl. Westphal 2004). Die für die Migrationsforschung zunächst irritierende Feststellung, dass männliche Jugendliche aus Einwandererfamilien, denen ein hohes Maß an Autonomie zugestanden wird, dies weniger nutzen als die weiblichen, die trotz ihrer starken Familienanbindung dennoch die erfolgreicheren Bildungskarrieren aufweisen, regen zu neuen Untersuchungen an (vgl. Rohr 2001, Hummrich 2002, Weber 2003, Apitzsch 2005). Geschlecht wird vielfach als ein Strukturprinzip von Migrationsprozessen angesehen, dessen Relevanz in der Migrationsforschung immer öfter berücksichtigt wird (Westphal 2004). Die Frauenforschung hat mit der von ihr angestoßenen Differenz-Debatte (vgl. Lenz 1994, Lutz 1994, Klinger 2003) wichtige Impulse für die soziologische Ungleichheitsforschung und damit auch für die Erforschung von Migrationsprozessen gegeben. So stellt das Geschlecht nur eine Dimension der gesellschaftlichen Ungleichheit dar, als ebenso relevant erweisen sich die Katigorien Klasse bzw. soziale Ungleichheit und Rasse bzw. Ethnie6. Die Bewältigung der Migration kann durchaus unterschiedlich verlaufen, je nachdem, ob jemand als Flüchtling, ArbeitsmigrantIn oder sogenannter Hochqualifizierter nach Deutschland einreist. Ebenso spielt die ethnische Kategorie eine zentrale Rolle. So erfahren MigrantInnen aus Afrika, Amerika oder der Türkei ganz unterschiedliche Zuschreibungen von außen, mit denen sie sich jeweils auseinandersetzen müssen. Für eine differenzierte Migrationsforschung wird daher die Reflexion der Verwobenheit der Faktoren Geschlecht, Rasse bzw. Ethnie mit der sozialen bzw. ökonomischen Position gefordert, und dies sowohl hinsichtlich der Berücksichtigung der Zuschreibungen von außen als auch hinsichtlich der Bewältigungsstrategien. Die Einbeziehung der Ungleichheitsdimensionen soll die Wechselwirkung und das Ineinandergreifen der sozialen Verortung der MigrantInnen besser sichtbar machen und damit dem mehrdimensionalen Geschehen des Migrationsprozesses eher gerecht werden. Die Austauschforschung, die sich als einzige Disziplin explizit mit BildungsmigrantInnen beschäftigt, war lange Zeit vorwiegend von Konzepten geprägt, die die kulturelle Anpassung der MigrantInnen an die Aufnahmekultur in den Mittelpunkt stellen (vgl. Danckwortt 1959, Teichler 2001, Budke 2003). 6
Mit der Verwendung des Begriffs „Rasse“ folgt die Ungleichheitsforschung dem in der angelsächsischen Diskussion verbreiteten Sprachgebrauch. Es herrscht keine Einigkeit darüber, inwieweit der Terminus „Rasse“ für deutschsprachige Texte ohne Weiteres übernommen werden kann oder ob “Ethnie“ der geeignetere sei (vgl. Klinger 2003, Terkessidis 2004). Daher werden in der vorliegenden Arbeit beide Begriffe zusammen verwendet.
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Untersucht werden seit den sechziger Jahren hauptsächlich die Anpassungsprozesse der Studierenden an die Kultur des Gastlandes, die je nach Grad der kulturellen Differenz erschwert würden (vgl. Budke 2003). Hier liegen die gleichen kulturalistischen Theoriekonzepte zugrunde, wie sie für die Ausländerpädagogik weiter oben beschrieben wurden. Die Austauschforschung untersucht Studierende aus Entwicklungsländern vorwiegend hinsichtlich der politischen Interessen, die im Rahmen der Entwicklungspolitik bei der Gewährung von Bildungshilfe verfolgt werden. Das Hauptinteresse gilt den Kriterien für ein erfolgreiches Studium sowie den Hindernissen für eine anschließende Reintegration im Heimatland (vgl. Teichler 2001). Diese Untersuchungen stellen immer wieder fest, dass sich die ausländischen Studierenden, besonders diejenigen aus Entwicklungsländern, in einer besonderen Situation befinden, weil die Bildungsinhalte der Hochschulen vom Stand der Wissenschaft und den soziokulturellen Bedingungen des Aufnahmelandes geprägt sind. Ausländische Studierende würden ihr Studium demgemäß umso erfolgreicher absolvieren, je mehr sie sich in die Verhältnisse ihres Gastlandes einlebten, je mehr sie sich also akkulturierten. Dieser Prozess der Akkulturation führe häufig jedoch gleichzeitig zu einer Entfremdung von den Verhältnissen ihres Heimatlandes und habe damit Einfluss auf die Entscheidung, wo sie nach Abschluss des Studiums leben möchten (vgl. Schipulle 1973, Teichler 2001, Han 2005). Die Entscheidung für eine Rückkehr in das Herkunftsland hängt jedoch auch von anderen Faktoren ab. Während z. B. die BildungsmigrantInnen aus Westafrika in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit ihrer Länder nach ihrer Rückkehr in jedem Fall die Chance hatten, politische und administrative Spitzenpositionen einzunehmen, sind solche Perspektiven heute nicht mehr selbstverständlich gegeben (vgl. Nebel 1998). Diese Rahmenbedingungen wurden jedoch von der Austauschforschung lange Zeit nicht wahrgenommen. Noch heute wird die Migration Studierender als temporäre Migration diskutiert, was die Forderung nach einer Rückkehr in die Herkunftsgesellschaft impliziert (vgl. Han 2005). Im Zuge der europäischen Einigung verlagert sich das Interesse der Austauschforschung von den Studierenden aus Entwicklungsländern auf die Evaluation der europäischen Austauschprogramme (vgl. Budke 2003). Aktuell findet in der Debatte um die Internationalisierung des Studiums die Anbieterrolle Deutschlands besondere Aufmerksamkeit. Untersucht wird beispielsweise „die Attraktivität deutscher Hochschulen für ausländische Studierende“ (Teichler 2001), um im internationalen Wettbewerb standhalten zu können. Resümierend ist der in vielen Forschungen eingenommene kulturalistische Blick auf jugendliche MigrantInnen als ein bedeutendes Hindernis zum Verständnis ihrer Lebenswirklichkeit anzusehen. Alle Jugendlichen, die hier aufwachsen, stellen einen Teil der Gesellschaft dar, daher sollten Sozialisationsthe-
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orien auch auf sie anwendbar sein. Kultur ist ja auch für Jugendliche ohne Migrationshintergrund kein feststehender Begriff, sondern wird – insbesondere durch die heranwachsende Generation – täglich neu ausgehandelt und ist damit in stetigem Wandel begriffen. Im Folgenden soll anhand konkreter empirischer Untersuchungen beleuchtet werden, inwieweit die darin angewandten Konzepte Erklärungskraft für die Bewältigungsmuster jugendlicher MigrantInnen haben.
2.2 Jugendliche MigrantInnen in der empirischen Forschung Leitender Begriff für viele Studien über die sogenannte zweite Generation der ArbeitsmigrantInnen ist der Begriff Integration. Die „kulturelle Ausstattung“ (Bommes 1996, 43) der Einwandererfamilien wird häufig als Behinderung des Integrationsprozesses angesehen. Damit wird das Konzept der ethnischen Idenitität – obwohl längst als kulturalistisch kritisiert – in vielen Forschungen weitertransportiert, so dass von einer „Kulturalisierung der Migrationsforschung“ (Juhasz/Mey 2003, 48) gesprochen werden kann. In Anbetracht der Probleme vieler Jugendlicher mit Migrationshintergrund hinsichtlich ihrer Bildungskarrieren und ihrer erhöhten Delinquenz werden beispielsweise das schlechte Sprachvermögen, die starke Familienorientierung sowie die unterrepräsentierten interethnischen Freundschaftsbeziehungen immer wieder zum Gegenstand von Untersuchungen über die zweite MigrantInnengeneration (vgl. z.B. Dewran 1989, Boos-Nünning 1996, Beer 1996, Haug 2003), weil diese Faktoren als Messinstrument für Integration gelten. Dem wird von anderen Autoren als Ursache der verschiedenen Problemkonstellationen die strukturelle Benachteiligung gegenübergestellt (vgl. z.B. Bommes 1996, Radtke 1991), die zu erhöhter Statusfrustration und zu verstärkter sozialer Verunsicherung führe, aufgrund derer die Jugendlichen zu Rückzugs- und Ethnisierungstendenzen neigten (Apitzsch 2005). Auch wird die Frage diskutiert, inwieweit die Kinder der MigrantInnen aufgrund ihrer strukturellen Benachteiligung ein anderes jugendtypisches Verhalten aufweisen als die Kinder der länger ansässigen Familien oder ob es gar eine migrationsspezifische Jugend-Devianz per se gibt (vgl. Hamburger u.a. 1981, Heitmeyer 1997). Diese problembezogenen Forschungsfragen bilden ein eher einseitiges Bild der Migrantenjugendlichen ab, weil sie vorwiegend hinsichtlich ihrer Defizite und weniger bezüglich ihrer Potentiale betrachtet werden. Dies hängt wesentlich von der Perspektive ab, die Forschungsfragen werden weitgehend von außen – aus Sicht des Aufnahmelandes Deutschland – gestellt. Die Innenperspektive, also die soziale Welt der Jugendlichen mit Migrationshintergrund und ihre ent-
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sprechenden Sozialisationsbedingungen, findet kaum Berücksichtigung (vgl. Lutz 1999). Allmählich wandelt sich jedoch die Perspektive der Migrationsforschung. Die jugendlichen MigrantInnen werden nicht mehr nur als Opfer von Bedingungen wahrgenommen, sondern sie rücken zunehmend als handelnde Subjekte in den Vordergrund. Damit nähert sich die Migrationsforschung den Lebensrealitäten der Jugendlichen mit Migrationshintergrund immer mehr an. Als fruchtbar zeigt sich in diesem Zusammenhang die Analyse der familialen Strukturen der Einwanderer, indem zum Beispiel die migrierende Familie als System in den Blick genommen wird und ihre Kommunikationsstrukturen und die Ressourcen für die Einzelnen analysiert werden. So stellen quantitative Studien über familiäre Netzwerke fest, dass die enge Bindung an die Familie die Integration in die Mehrheitsgesellschaft nicht ausschließt, sondern gerade innerfamiliär entscheidende Ressourcen für die soziale Platzierung in der Aufnahmegesellschaft erworben werden (vgl. Nauck u. a.1997, Nauck 2004). Hinsichtlich einer stark differierenden Bildungsbeteiligung unter jugendlichen MigrantInnen hat die diziplinübergreifende Studie FABER (Folgen der Arbeitsmigration für Bildung und Erziehung) deutlich gemacht, dass nicht der Einwandererstatus, sondern die „Sozialisationsbedingungen in den Familien“ (Gogolin 2000, 21) ausschlaggebend dafür sind, wie erfolgreich das Bildungssystem durchlaufen wird. Auch eine umfangreiche Untersuchung über „Einwandererfamilien“ (Herwartz-Emden 2003) zeigt die Bedeutung der Familiendynamiken in Migrationsprozessen. Die Analyse der familiären Beziehungen im interkulturellen und interdisziplinären Vergleich gibt vielfältige Einblicke in Geschlechter- und Generationenverhältnisse, wie sie in diesem Umfang bisher nicht vorlagen. Interessant an dieser Studie neben dem interkulturellen Vergleich ist der Blick auf die Prozesshaftigkeit des Migrationsgeschehens, also darauf, wie die MigrantInnen auf ihre veränderte soziale, kulturell-gesellschaftliche sowie ökonomische Situation reagieren (vgl. ebd.). Auf der Ebene qualitativer Migrationsforschung leistet die Biographieforschung einen wichtigen Beitrag für die Analyse des mehrdimensionalen Migrationsprozesses. Sie versteht die Migration grundsätzlich als einen Umwandlungs- und Neubildungsprozess, in dem auf „biographisches Wissen“ (Apitzsch 1999a: 19) als Ressource zurückgegriffen wird und bei dem Traditionsbildung im Sinne von „Traditionsfortbildung, Traditionsneubildung und kultureller Reflexivität“ (ebd., 10) im alltäglichen Handeln hergestellt wird. Insofern das Kulturverständnis in der Forschung tatsächlich der Reflexion unterzogen wird (vgl. Lutz 2000b), ermöglicht dieser Ansatz, die Situation der Migranten aus der Innenperspektive zu untersuchen und deren Lebenslage in ihrer Komplexität abzubilden. Anhand der individuellen Biographie und der darin sich abbildenden Handlungsmuster lassen sich mit dem Konzept der Traditionsbildung
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gleichzeitig gesellschaftliche Prozesse und Strukturen und deren Veränderungen im Zuge des Migrationsprozesses darstellen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Transformationsprozesse sowohl in progressiver wie regressiver Hinsicht untersucht werden.
2.2.1 Qualitative Forschungsansätze Für die vorliegende Arbeit sind diejenigen Studien von besonderem Interesse, die explizit die jugendlichen MigrantInnen in den Fokus nehmen und die Verarbeitungsmuster untersuchen, mit denen sie ihre spezifische Migrationssituation bewältigen. Hier gibt es im Bereich qualitativer Methoden mittlerweile eine Reihe ganz unterschiedlich konzipierter Forschungen, die die Alltagsstrategien beziehungsweise Handlungsmuster der Jugendlichen im Umgang mit ihrer migrationsspezifischen Position in Deutschland untersuchen. Im Folgenden werden die Studien näher beleuchtet, die – wenn auch nicht immer explizit – die Sozialisationsbedingungen oder Identitätsbildungsprozesse der eingewanderten Jugendlichen zum Gegenstand ihrer Untersuchung machen. Dabei steht die Frage der Anschlussfähigkeit für die vorliegende Forschung im Vordergrund. Apitzsch stellt eine Verbindung zwischen „Migration und Biographie“ (1990) her. Sie erfasst mit der biographischen Methode die subjektiven Verlaufs- und Verarbeitungsformen von Jugendlichen der zweiten Generation hinsichtlich des Wandlungsprozesses innerhalb der Familie. Sie nimmt explizit den durch Migration angestoßenen Veränderungsprozess in den Fokus, indem sie analysiert, auf welche Weise die Jugendlichen „die sich überlagernden Konfliktsituationen des Herkunfts- und Aufnahmekontextes zu verarbeiten lernen“ (ebd. 143). Aus dieser Perspektive werden das kreative Handlungspotential der Individuen und ihre Einbettung in die entsprechenden sozialen Strukturen herausgearbeitet. Die Analyse zeigt, wie die Jugendlichen sich mit dem Migrationsprojekt ihrer Eltern auseinandersetzen und welchen Einfluss dieses auf ihre eigenen Lebensentwürfe hat. Zentrales Ergebnis der Studie ist die geschlechtsspezifisch unterschiedliche Bildungs- sowie Familienorientierung der Jugendlichen. Die Mädchen entsprechen aufgrund ihrer engeren Bindung an die Familie eher den Erwartungen der Eltern hinsichtlich eines Bildungsaufstiegs, während die Jungen sich früher von den Eltern ablösen und weniger erfolgreiche Bildungskarrieren aufweisen (vgl. ebd., 214). Trotz der sehr weit reichenden Erklärungsansätze, die diese Studie bietet, wird die entwicklungsspezifische Dynamik der Lebensphase Jugend nicht berücksichtigt. Apitzsch konstatiert zwar, dass die verlängerte Ausbildungszeit der Jugendlichen auch eine verlängerte Jugendphase zur Folge hat, diskutiert diese
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jedoch ausschließlich im Zusammenhang mit Mannheims Ansatz des Generationenbegriffs. Die im Vergleich zu einheimischen Jugendlichen verschiedene „Bewusstseinsschichtung“ (ebd., 185) sei durch eine „doppelte Stresssituation“ (ebd.) gekennzeichnet, die sich aus der notwendigen Auseinandersetzung der Migrantenjugendlichen ergibt, einerseits den elterlichen Auftrag erfüllen zu wollen, also deren Migrationsprojekt weiterzuführen, diesen Auftrag aber aufgrund der realen Möglichkeiten der Aufnahmegesellschaft nicht erfüllen zu können. Dass die Auseinandersetzung mit elterlichen Aufträgen und Vorbildern ein genuin adoleszentes Thema darstellt, vernachlässigt Apitzsch dabei. Damit bleibt die Analyse auf den migrationsbedingten Veränderungsprozess beschränkt, dennoch bietet sie wichtige Anschlussstellen für die vorliegende Arbeit. Eine eher destruktive Lösung bei der Bearbeitung ihrer migrationsspezifischen Situation findet die von Tertilt (1996) untersuchte delinquente Jugendgruppe namens „Turkish Power Boys“. Anhand einer kulturanthropologisch ausgerichteten Feldforschung erfasst er die Lebensrealität der türkischstämmigen männlichen Jugendlichen aus Einwandererfamilien durch teilnehmende Beobachtung, Einzel- und Gruppeninterviews und kommt zu dem Ergebnis, dass die Bildung der Jugendbande für die Jugendlichen eine Reaktion auf die fehlende Anerkennung seitens der deutschen Gesellschaft darstellt. Trotz der aufwändigen ethnographischen Studie, die Aufschlüsse über die Selbstdefinition der Jugendlichen gibt, bleibt Tertilt jedoch im kulturbedingten Erklärungshorizont verhaftet, seine Analyse reicht nicht zur Erklärung aus, warum gerade diese Jugendlichen aus ihrer jeweiligen Lebenssituation die Mitgliedschaft in der Jugendbande gewählt haben. Dazu wäre die Einbeziehung einer Sozialisationstheorie hilfreich, die zum Beispiel die Delinquenz Jugendlicher in ihrer biographischen Bedeutung für Männlichkeitsentwürfe erklärt (vgl. Bereswill 2003) oder die Kriminalität Migrantenjugendlicher als „ausländertypische Ausprägungsmerkmale der strukturellen Übergangssituation ‚Jugend’“ versteht (Hamburger u. a. 1981, 61). Auf jeden Fall legen die biographischen Analysen Tertilts nahe, dass bei den von ihm vorgestellten Bandenmitgliedern eine ambivalente Vater-Sohn-Beziehung vorherrscht, deren genauere Beleuchtung nähere Aufschlüsse für ihre jeweiligen Lebensentwürfe bieten könnte. Wie Sauter (2000, 66ff) ausführt, lassen sich unter adoleszenztheoretischer Perspektive die Aktivitäten der Bandenmitglieder auch mit der Suche nach Anerkennung durch die Familie und insbesondere der Väter begreifen. Tertilts Studie liefert somit indirekt ein Beispiel für den Erkenntnisgewinn einer sozialisationstheoretischen Herangehensweise. Eine andere Ausrichtung hat die Untersuchung über sich ethnisch definierende männliche Jugendcliquen von Nohl (1996). Sie rekonstruiert die Soziali-
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sation jugendlicher MigrantInnen anhand ihrer in Peergoups entwickelten kollektiven Erfahrungen und Orientierungen im Kontext von Migration und Generation. Theoretischer Bezugsrahmen ist auch hier der Generationenbegriff von Mannheim. Anhand von Gruppengesprächen wird die Bedeutung der Jugendcliquen hinsichtlich ihres Ringens um Autonomie in Abgrenzung von gesellschaftlichen Normvorstellungen und - damit verbunden – die Bedeutung der Beziehung zu den Eltern analysiert. Dabei wird eine Verbindung zwischen Familienstrukturen und kriminellem Handeln gezogen. Interessant sind die Ergebnisse hinsichtlich der Selbstverortung der Jugendlichen in ihrem jeweiligen sozialen Umfeld. Hier zeigt Nohl Parallelen zu deutschen Lehrlingen auf hinsichtlich deren primären Identifikation mit dem unmittelbaren städtischen oder dörflichen Milieu, in dem sie leben. Er kommt aufgrund seiner Ergebnisse zu dem Schluss, dass die Sozialisation der hier aufgewachsenen Jugendlichen aus Migrantenfamilien weniger von der Herkunftskultur ihrer Eltern geprägt werden, sondern eher von ihren kollektiven Erfahrungen und den damit verbundenen Erfahrungsräumen, die sich im Kontext von Generation und Migration herausbilden. Mit seiner Analyse, inwieweit kulturelle beziehungsweise strukturelle Faktoren den Sozialisationsprozess prägen und wie diese ineinander greifen, weist Nohl einen Weg aus der kulturalistisch orientierten Migrationsforschung auf. Das Sozialisationskonzept ist jedoch wenig ausdifferenziert. Es bleibt der Ebene des Handelns verhaftet und beschränkt sich auf den kollektiven Charakter der Peergroup, da Nohl die Gleichaltrigengruppe als wesentlichen Ort für die Orientierungsfindung Jugendlicher ansieht. Neben Untersuchungen über sich ethnisch definierende Jugendcliquen, zu denen sich vorwiegend junge Männer zusammenschließen, finden weibliche Jugendliche mit Migrationshintergrund in verschiedenen Studien dagegen hinsichtlich ihrer religiösen Orientierung Beachtung. Diese setzen sich vorwiegend mit der in der Öffentlichkeit verbreiteten Ansicht auseinander, dass der von vielen Einwanderern praktizierte Islam die gegenüber Männern unterlegene und abhängige Position auch bei den jungen Frauen befördere, die hier aufwachsen. Auch die Frage, inwieweit die jungen Frauen, die aus religiösen Gründen ein Kopftuch tragen, damit ihre Ablehnung westlicher Werte wie Selbstbestimmung und Individualität ausdrücken, tritt immer mehr in den Vordergrund (vgl. Karakasoglu-Aydin 1998). Interessant erscheint hier die Frage nach der spezifischen Bedeutung der Religion für die jungen Migrantinnen der zweiten Generation. Ein Beispiel für die theoretisch fundierte Behandlung dieses Themas stellt die Studie von Nökel (2001) dar, die die „subjektiven Strategien, Lebensentwürfe und Sebstbeschreibungen“ (ebd., 13) junger Musliminnen aus Einwandererfamilien, die ein Kopftuch tragen, zum Gegenstand ihrer Untersuchung macht. Ihr gelingt es, anhand der biographischen Erzählungen der jungen Frauen deren
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adoleszentes Ringen um ihren jeweiligen Lebensentwurf am Beispiel ihres Verhältnisses zum Islam zu verdeutlichen. Nökel verknüpft die inneren Prozesse der Identitätsbildung mit den äußeren sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen und analysiert die Islamisierung systematisch als einen Vorgang, der sich in der Auseinandersetzung mit den Kategorien Klasse, Rasse/Ethnie, Geschlecht und Selbst ausbildet. Die moderne islamische Frau ist Nökels Ergebnissen zufolge nicht ein Opfer unhinterfragter traditioneller religiöser Praktiken, sondern eine bewusste Akteurin, die den „Islam als Inklusionsstrategie in der Auseinandersetzung um Bedürfnisse, Differenzen und Identitäten“ (ebd., 285) ansieht. Wenngleich Nökel die Adoleszenz nicht explizit zum Gegenstand ihrer Untersuchung macht, so zeugen ihre offene und sensible Herangehensweise an die Themen der Frauen und ihr Verständnis vom komplexen Vorgang der Identitätsentwicklung Jugendlicher von der Fruchtbarkeit der Einbeziehung einer solchen Theorie bei der Erforschung identitätsbildender Prozesse. Ihre ausführlichen Gesprächsauszüge bieten dem Leser, der Leserin außerdem die Möglichkeit, an dem empirischen Material selbstständig interpretierend zu arbeiten (vgl. King 2005b). Jenseits der zahlreichen problemorientierten Untersuchungen über Jugendliche mit Migrationshintergrund, die einseitig deren schulischen Misserfolg zu erklären suchen, gibt es eine Tendenz, explizit die Bildungsaufsteiger in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen und die Bedingungen für ihren Erfolg beleuchten. Hier werden die Jugendlichen als Akteure wahrgenommen, die sich offen mit den strukturellen Bedingungen der aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit benachteiligten Position in Deutschland auseinandersetzen und daraus Handlungsmuster entwickeln, die ihnen eine erfolgreiche Laufbahn in den Bildungsinstitutionen ermöglichen. Pott (2002) analysiert dezidiert Interviews mit türkischstämmigen Jugendlichen, die sich fast alle am Beginn eines Hochschulstudiums befinden. Er zeigt in seiner hermeneutisch-rekonstruktiven Analyse auf, dass die Jugendlichen durch die alltägliche Auseinandersetzung mit den Bedingungen des Bildungsaufstiegs und mit ihrer durch Ethnisierung gekennzeichneten Position in dieser Gesellschaft spezifische Handlungsmuster entwickeln, die gerade die Ethnizität und Bezogenheit auf den sozialen Raum als Ressource für ihren erfolgreichen Bildungsweg einzusetzen vermögen. So nutzen sie beispielsweise ihre Bilingualität, ihre Kenntnis über die türkische Kultur, ihre Erfahrungen von Ausschluss und Differenz produktiv für ihre Lebensentwürfe als Akademiker. Das Engagement in ethnischen Kulturvereinen kann in der sich als multikulturell verstehenden Gesellschaft ebenfalls eine Kompetenz darstellen, mit der sich eine berufliche Perspektive entwickeln lässt. Auch die demonstrative Loyalität gegenüber der Familie kann ein Handlungsmuster darstellen, das die familiäre Unterstützung für den beruflichen Aufstieg sichert.
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Pott arbeitet die Selbstinszenierungen der Jugendlichen beispielsweise als „Multikulturalistin“, „verletzter Aufsteiger“ oder „lokaler Identitätspolitiker“ heraus, mit denen es ihnen gelingt, das Bildungssystem erfolgreich zu durchlaufen. Diese methodisch und theoretisch fundierte Arbeit gibt Aufschlüsse über den individuellen Aushandlungsprozess jugendlicher Migranten und darüber, wie sie im hart umkämpften Arbeitsmarkt und trotz sozialer Ausschließungsprozesse sich ihren Platz durch Bildungsaufstieg erobern. Die systemtheoretisch angelegte Studie interessiert sich jedoch nur peripher für den familiären oder generativen Zusammenhang des Bildungsaufstiegs, also dafür, inwieweit der schulische Erfolg und die dafür ausgebildeten Handlungsmuster auch verknüpft sind mit dem jeweiligen familialen Muster, aufgrund dessen mit der Migration ein spezifisches Familienprojekt verfolgt wird und von dem die Auseinandersetzung um jugendliche Lebensentwürfe häufig geprägt ist. Eine Analyse der Wechselwirkung zwischen Familie, sozialer Institution Schule und Jugendlichen unternimmt Hummrich (2002) in ihrer Untersuchung zum Bildungserfolg jugendlicher Migrantinnen. Sie interessiert sich dafür, wie die Sozialisations- und Transformationserfahrungen von jungen Frauen in ihrer jeweiligen Subjektkonstruktion verarbeitet werden. Hummrich untersucht die drei Faktoren sozialer Ungleichheit: Geschlecht, Rasse/Ethnie und Klasse und arbeitet in der Analyse biographischer Interviews die Zusammenhänge zwischen Sozialisationserfahrungen, die sich im Spannungsfeld zwischen Familie und Bildungsinstitution abspielen, und der Transformationsverarbeitung hinsichtlich ihrer sozialen Statusveränderung heraus. Dabei widmet sie sich sehr detailliert den Handlungsantinomien, z. B. Entfremdung-Bindung, Aktivität-Passivität, Konflikt-Übereinstimmung, mit denen sich die jungen Frauen auseinandersetzen und an denen entlang sie eine Kontrastierung der Fälle vornimmt. Als übergeordnete Kategorie richtet Hummrich den Blick auf das Autonomiepotential der Jugendlichen und entwickelt eine Typologie, nach der sie die untersuchten Fälle jeweils in eine aktive, reproduktive und ambivalente Transformationsverarbeitung einteilt. Insgesamt gibt diese Untersuchung weitgehende Einblicke in die differenzierte Auseinandersetzungen jugendlicher Migrantinnen hinsichtlich ihrer Identitätsentwürfe, die geprägt sind durch die in den Familien transportierten Handlungsaufträge, die Erfahrungen in Schule und Bildungssystem und durch ihre eigenen Ansprüche. Hummrichs Arbeit reicht damit über die bloße Anerkennung der Potentiale jugendlicher Migrantinnen hinaus, sie kommt zu einer mehrdimensionalen Betrachtung des Beziehungsgeflechts von innerfamiliären, kulturell-gesellschaftlichen wie auch subjektiven Bedingungen, in dem sich die Jugendlichen befinden und mit dessen widerstrebenden Einflüsse sie sich bei der Ausbildung ihrer Subjektkonstruktion immer wieder neu auseinandersetzen müssen. Allerdings bleibt bei der mühevollen Herausarbeitung der
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Antinomien unreflektiert, dass es sich dabei um typisch adoleszente Aushandlungsprozesse handelt, mit denen Jugendliche moderner Gesellschaften sich bei der Ausbildung ihrer Lebensentwürfe regelmäßig auseinandersetzen. Hummrich gesteht eine interne Transformation nur den Jugendlichen von Einwanderern zu (ebd., 303). Damit lässt sie unberücksichtigt, dass Jugendliche immer eine Transformation vom Kind zum Erwachsenen durchleben, die mit umfangreichen psychischen und sozialen Veränderungen verbunden ist, die jedoch bei den von ihr untersuchten jungen Frauen durch die Migrationserfahrungen der Familie eine zusätzliche Dimension erhält. Die Einbeziehung der adoleszenztheoretischen Perspektive erübrigt hier nicht nur die anstrengende Erarbeitung der Ambivalenzen, sondern erweitert darüber hinaus auch den Blick auf die Bedingungen der jeweiligen Subjektkonstruktion. In diesem Sinne erweist sich die adoleszenztheoretische Betrachtung als notwendige und fruchtbare Ausweitung der Theorie. In kritischer Auseinandersetzung mit der ausdrücklich problemorientierten bzw. aufstiegsorientierten Sichtweise auf jugendliche MigrantInnen versuchen einige Forschungen eine möglichst offene Perspektive auf die Lebenslage der Jugendlichen einzunehmen, um normative Annahmen der ForscherInnen damit weitgehend zu reduzieren. So haben Juhasz und Mey (2003) biographische Interviews mit jugendlichen MigrantInnen in der Schweiz geführt und nach fallrekonstruktivem Vorgehen analysiert. Zentral bei der Auswahl der Fälle war die Heterogenität des Feldes. Mit einer möglichst breiten Variation hinsichtlich Alter, nationaler Herkunft, Geschlecht, Bildungsstand, Wohnverhältnissen und sozialer Herkunft sollte eine Beschränkung auf bestimmte Gruppen vermieden werden. Zentrales Anliegen der Studie ist die Erfassung der Lebensrealität der Jugendlichen im Kontext der Ungleichheitsforschung. Hauptaugenmerk liegt auf den ungleichheitsrelevanten Faktoren Klasse und nationale Herkunft, die mit biographietheoretischen Konzepten verbunden werden. Am Bespiel von acht jugendlichen MigrantInnen werden unterschiedliche Lebenskonzepte vorgestellt, woran der Zusammenhang zwischen ihrem sozialen Status als „Jugendliche ausländischer Herkunft“ (ebd.) und ihren jeweiligen Handlungs- und Wahrnehmungsmustern aufgezeigt wird. Interessant an der Studie ist die Herausarbeitung der spezifischen biographischen Ressourcen, mit denen die Migrantenjugendlichen ihrer strukturell benachteiligten Situation als Kinder von Einwanderern begegnen und dabei ganz unterschiedliche Lösungen finden. Insbesondere der Familie wird eine hohe Bedeutung zur Ausbildung dieser Ressourcen zugemessen. Als besonders relevant zur Bewältigung der von Benachteiligung geprägten Migrationssituation erweist sich dabei die Aufstiegsorientierung, die sich in Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte entwickelt. Ebenso spielen soziale Beziehungen zu Gleichaltrigen und hier insbeson-
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dere zu „Weggefährten“ (ebd., 328) eine wichtige Rolle, mit denen soziale Aufstiegsprozesse gemeinsam bewältigt werden. Wenn auch die adoleszente Auseinandersetzung nicht explizit in die Studie einbezogen wurde, so ermöglicht doch die differenzierte Herangehensweise der Autorinnen, die Sozialisationsbedingungen mit den Migrationsbedingungen in Beziehung zu setzen (vgl. Juhasz/Mey 2006), womit sie wichtige Anschlussmöglichkeiten für die vorliegende Studie liefern. Eine andere Perspektive auf die Verarbeitung der Migrationsprozesse Jugendlicher nehmen die Studien ein, die die Biographien adoleszenter MigrantInnen hinsichtlich ihrer Bildungsprozesse untersuchen. Unter Bildungsprozessen werden Veränderungen von Selbst- und Weltverhältnissen gefasst, die der Einzelne im Verhältnis zu sich und zu seiner natürlichen und sozialgeschichtlichen Umwelt in Form von Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmustern vollzieht. Im Falle von Veränderungen der sozialen und gesellschaftlichen Umwelt ist eine Neubestimmung der Selbst- und Weltverhältnisse gefordert. Die so verstandene reflexive Bildung wird in modernen Gesellschaften zu einer permanenten Anforderung (vgl. Kraul/Marotzki 2002). Mit diesem theoretischen Konzept wurden in einem interdisziplinär angelegten Forschungsprojekt biographische Bildungsprozesse afrikanischer BildungsmigrantInnen, die in Deutschland studieren, untersucht (vgl. z.B. Koller 2003a/b). Die Migration wird in diesem Kontext als ein Resultat der Auseinandersetzung der jugendlichen StudentInnen mit den gesellschaftlichen Umbruchserfahrungen in ihrer Heimat angesehen. Anhand biographischer Interviews werden die Bewältigungsprozesse der gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrer Heimat sowie der Migration hinsichtlich der Ausbildung neuer Welt- und Selbstbezüge untersucht. Es ist das Anliegen des Projekts, eine Typologie zu entwickeln, die die gesellschaftlichen Bedingungen bezüglich der Ermöglichung dieser Bildungsprozesse beschreibt (vgl. Koller 2003a). Die weit gefasste Fragestellung und die methodische Offenheit der Studie, die dem Prinzip konkurrierender Lesarten folgt (vgl. Koller u. a. 2003), ermöglichen weitgehende Erkenntnisse über die Bewältigungsprozesse der jugendlichen MigrantInnen. So wird bei der Analyse der biographischen Interviews die Wechselwirkung zwischen den gesellschaftlichen und individuell-familialen Verhältnissen erarbeitet und dadurch deutlich, dass die Bewältigung der Migrationserfahrungen nicht nur von den gesellschaftlichen Bedingungen, sondern maßgeblich auch von den innerfamiliären Erwartungen geprägt ist, mit denen sich die Jugendlichen auseinandersetzen. Die Interpretationen zeigen, wie die jugendlichen AfrikanerInnen sich bei der Ausbildung ihrer Lebensentwürfe im komplexen und teils widersprüchlichen Feld familiärer, gesellschaftlich-kultureller, individueller, beruflicher Erwartungen und Bedürfnisse hin- und hergerissen sehen und ihren je individuellen Weg entsprechend
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dieser Bedingungen finden. Dabei werden einseitige Betrachtungsweisen etwa hinsichtlich der Geschlechterentwürfe, der ethnischen Kategorie oder des sozialen Status vermieden, es wird vielmehr versucht die inneren Konflikte der Jugendlichen zu erfassen versucht, um gerade die gegensätzlich wirkenden Kräfte dieses Prozesses und die entsprechenden Lösungen hierfür zu verdeutlichen. Leider ist die beabsichtigte Darstellung der Typologie noch nicht veröffentlicht, es liegen bisher nur einzelne Fallstudien vor (Koller u. a. 2003, Koller 2003b, Koller/Kokemohr 2006). Interessant an diesem bildungstheoretischen Zugang ist das Konzept des Widerstreits, das die inneren Aushandlungsprozesse eines Individuums zu erfassen versucht, also jene, die latent wirken, sich aber auf sprachanalytischer Ebene verstehen lassen (vgl. Koller 2003a). Damit wird die Bearbeitung von Konflikten der Bildungsmigranten in den Mittelpunkt der Analyse gestellt und danach geschaut, welche Strategien zur Lösungen jeweils eingesetzt werden. Konflikte werden als Herausforderung angesehen und verbunden mit der Möglichkeit, neue Wahrnehmungs- und Handlungsmuster auszubilden. Mit dieser Sichtweise gelingt es, sowohl die unterstützenden wie auch die einschränkenden Faktoren zu berücksichtigen, die bei der Bewältigung des Migrationsprozesses Jugendlicher immer gleichzeitig wirken. Obgleich das Konzept der Bildungsprozesse keine Unterscheidung spezifischer Lebensphasen vornimmt oder sozialisationstheoretische Überlegungen einbezieht, wird in der Studie doch implizit dem Umstand Rechnung getragen, dass die Jugendlichen sich mit lebensgeschichtlich spezifischen Fragen auseinandersetzen (vgl. Koller u. a. 2003). So spielen Kriterien wie die Beziehung zur Herkunftsfamilie, die finanzielle Unabhängigkeit, die Entwicklung der jeweiligen Geschlechterentwürfe bei der Ausbildung von Bildungsprozessen eine Rolle, diese nehmen im Sozialisationsprozess aber nicht unbedingt einen linearen Verlauf. Die Adoleszenztheorie könnte für diesen Ansatz eine Bereicherung darstellen, indem die jugendspezifische Auseinandersetzung präzisiert würde und auch psychische Prozesse bei der Ausbildung der Lebensentwürfe deutlicher akzentuiert werden könnten. Insgesamt ist diese Studie für die vorliegende Arbeit neben der methodischen und thematischen Ausrichtung auch insofern interessant, als sie afrikanische BildungsmigrantInnen zum Untersuchungsgegenstand macht, eine MigrantInnengruppe, die von der deutschen Forschung bisher nur vereinzelt wahrgenommen wird (vgl. Nebel 1998). Die Besonderheit dieser Gruppe gegenüber den bisher diskutierten Jugendlichen mit Migrationshintergrund liegt darin, dass die Jugendlichen allein, ohne ihre Familie auswandern. Wesentlich ist daran, dass sie an der Entscheidung zur Migration einen eigenen Anteil ha-
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ben7 und dass dieser auch bei der Ausbildung ihrer Lebensentwürfe bestimmend ist. Dieser Aspekt spielt bei der vorliegenden Untersuchung eine zentrale Rolle. Resümierend kann festgehalten werden, dass in all den theoretischen Ansätzen, die Jugendliche hinsichtlich ihrer Auseinandersetzung mit den durch Migration geprägten Prozessen in den Blick nehmen, das besondere Potential zur kreativen Verarbeitung von Konflikten in den Vordergrund tritt, das dieser Lebensphase innewohnt und mit dem die Jugendlichen auch restriktiven Verhältnissen ihres Umfeldes konstruktiv begegnen können. Wie die Beispiele der verschiedenen Studien zeigen, sind die Lebensentwürfe jugendlicher MigrantInnen ein Ausdruck der Auseinandersetzung mit den spezifischen Bedingungen ihrer Umwelt, die in Deutschland geprägt ist durch politische und soziale Benachteiligung. Die Vielfalt, mit der die jugendlichen MigrantInnen auf ihre Lebenssituation reagieren, weist auf eine Verflechtung verschiedener Dimensionen hin, die auf unterschiedlichen Ebenen wirken und teils gegenläufige Tendenzen haben. So weisen Delinquenz, bestimmte religiöse Praxen oder der Schulerfolg bzw. -misserfolg auf entsprechende familiale, kulturelle, geschlechtsspezifische, sozial-gesellschaftliche Konstellationen hin, die die Jugendlichen jeweils vorfinden und für die sie ihre individuellen Lösungen finden. Die unterschiedlichen Studien machen sichtbar, dass es nicht ausreicht, die sozialen, rechtlichen und politischen Benachteiligungen, mit denen die Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Deutschland konfrontiert sind, als alleinige Auslöser für konflikthafte oder erfolgreiche Lebensentwürfe heranzuziehen. Genauso verengt die kulturelle Einordnung den Blick auf die Verarbeitungsmuster der Jugendlichen einseitig. Vielmehr kann die systematische Analyse ihrer Identitätsbildungsprozesse und der damit verbundenen Umgestaltung der familialen Bindungen im Kontext der migrationsspezifischen Bedingungen dazu beitragen, die daraus resultierenden Wahrnehmungs-, Handlungs- und Deutungsmuster der Jugendlichen im Umgang mit der Migrationssituation genauer zu erklären. Aus dieser Perspektive heraus wird deutlich, dass es sinnvoll ist, eine Theorie der Sozialisation Jugendlicher mit der Analyse der Migrationsprozesse Jugendlicher zu verknüpfen, um die Besonderheit der Möglichkeiten und Widerstände des adoleszenten Transformationsprozesses unter den Bedingungen der Migration präziser herausarbeiten zu können.
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Die Entscheidung zum Auslandsstudium wird nicht von den Jugendlichen allein getroffen, sondern findet zumeist eingebettet in den Familienverbund statt. Der genaue Anteil der Jugendlichen bei dieser Entscheidung ist nicht immer klar zu bestimmen.
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2.2.2 Die adoleszenztheoretische Sicht auf jugendliche MigrantInnen Die Einbeziehung einer adoleszenztheoretischen Perspektive wird von einigen Migrationsforschern seit geraumer Zeit reklamiert, weil sie feststellen, dass gängige Muster weder für die Erklärung der besonderen Leistung der individualisierten Lebensführung noch für die Behandlung bestimmter Problemkonstellationen bei jugendlichen MigrantInnen ausreichen, sondern dass „Adoleszenz in der Migration etwas sehr Spezifisches darstellt“ (Apitzsch 2003, 74; vgl. auch Herwartz-Emden 1997, Bohnsack/Nohl 1998, Apitzsch 2005). Kritisiert wird, dass einerseits die Adoleszenzforschung kulturelle Bedingungen nicht berücksichtigt, andererseits die Migrationsforschung den besonderen Ressourcen der Adoleszenz zu wenig Beachtung schenke (vgl. Rohr 2001b, Boos-Nünning/ Karakasoglu 2005). So herrscht beispielsweise in der Migrationsforschung Ratlosigkeit über die geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Bildungslaufbahnen der Jugendlichen. Denn der dominierende Erklärungsansatz von Ausschlussmechanismen der zweiten Migrantengeneration im deutschen Bildungssystem liefert keine hinreichende Begründung dafür, warum Mädchen aus Migrantenfamilien deutlich erfolgreichere Schulkarrieren aufweisen als Jungen. Die Migrationsforschung konstatiert einen Widerspruch in Einwandererfamilien zwischen Reproduktion und Transformation der traditionellen Lebensformen (vgl. Westphal 2004), mit dem die Töchter anders umgehen als die Söhne, sie kann aber nicht erklären, warum dies so ist. Gefordert wird daher eine Verknüpfung der bisherigen Konzepte der Migrationsforschung mit einer adoleszenztheoretischen Perspektive, die insbesondere die Rolle der Mütter und Väter für die Ausbildung der Identitätsentwürfe der Jugendlichen berücksichtigt (vgl. Apitzsch 2005). Rückt man die adoleszenztheoretische Perspektive mehr in den Mittelpunkt, so bedeutet dies, den sozialen und psychischen Dimensionen sowie den mit dieser Entwicklungsphase einhergehenden Konflikten zwischen den Generationen mehr Beachtung zu schenken. Mit einer solcherart differenzierten Betrachtungsweise stellen sich beispielsweise auf Seiten der Eltern vermeintliche Kulturkonflikte als „intrapsychische Konflikte der Eltern dar, die in einer fremden Kultur ihre Normen und Lebensvorstellungen infrage gestellt sehen und nicht mehr ihren gewohnten Vorstellungen entsprechend leben können“ (Moré 1999, 106). Und für die Adoleszenten können sich vermeintliche Kulturkonflikte als „Interessenkonflikte mit den Eltern“ (ebd.) erweisen, also als interpersonelle und intergenerative Konflikte, die von den Eltern wiederum häufig kulturalistisch gedeutet werden. Die Verknüpfung der adoleszenten Entwicklungsthemen mit den migrationsbedingten Verhältnissen und Bedingungen ermöglicht eine differenzierte Analyse der Situation jugendlicher MigrantInnen, ohne
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die kulturelle Dimension völlig negieren zu müssen (vgl. Eggert-Schmid Noerr 2000). In interkulturell vergleichender Perspektive können anhand des Adoleszenzverlaufes die Differenzen und Gemeinsamkeiten der Lebenslagen verschiedener Geschlechter, Ethnien und sozialer Schichten Berücksichtigung finden (Herwartz-Emden 1997). Tatsächlich gibt es in den letzten Jahren eine Tendenz, diese Forschungslücke auszufüllen, wenn auch nur vereinzelt. Insbesondere die Adoleszenzforschung widmet sich zunehmend den besonderen Entwicklungsprozessen jugendlicher MigrantInnen (vgl. King 2005b, 2006a, 2007 sowie King/Koller 2006). Im Folgenden sollen diejenigen Forschungsarbeiten beleuchtet werden, die die Besonderheit der Adoleszenzentwicklung in ihre Konzeption aufnehmen bzw. eine deutliche Verbindung zwischen Adoleszenz- und Migrationsperspektive herstellen. Berücksichtigung finden insbesondere solche Arbeiten, die den Begriff Adoleszenz nicht einfach synonym zu Jugend verwenden (vgl. z. B. Reinders u a. 2005), sondern in denen der adoleszente Entwicklungsprozess in seiner differenzierten Dynamik als Individuierungsprozess verstanden wird. In Weiterentwicklung seiner oben diskutieren Studie (Nohl 1996) zieht Nohl (2001, 2005) einen rekonstruktiven Milieuvergleich zwischen einheimischen und eingewanderten männlichen Jugendlichen. Er folgt darin einem Verständnis von Adoleszenz (vgl. auch Bohnsack/Nohl 1998) als Abfolge verschiedener Phasen, die sich auf die berufliche Ausbildung beziehen. Entsprechend der Art und Weise, wie die Jugendlichen in den Gruppengesprächen ihre berufliche Zukunft thematisieren, bezeichnet er diese Phasen als Suspendierungs-, Enttäuschungs-, Negations- und Reorientierungsphase. Nach Durchlaufen dieser Phasen komme es entweder zur Integration in die biographischen Orientierungen der Erwachsenengesellschaft oder zu neuen Lebensorientierungen, wobei biographische Brüche und Milieudesintegration die Herausbildung neuer Lebensentwürfe förderten. Veränderte Lebensentwürfe kommen Nohl zufolge grundsätzlich eher in großstädtischen als in ländlichen Milieus vor. Er vergleicht die biographischen Diskontinuitäten der Einheimischen mit den durch die Migrationssituation hervorgerufenen Brüchen der Einwandererjugendlichen und arbeitet als kennzeichnend für die Migrantenjugendlichen deren „Sphärendifferenz“ (2005, 85) heraus. Diese resultiere aus der Differenz von innerer Sphäre (Herkunftsfamilie und ethnische Community) und äußerer Sphäre (öffentliche Institutionen und Aufnahmegesellschaft), deren Differenz sich zum Ende der Adoleszenzentwicklung als gravierendes „Orientierungsproblem“ (ebd.) stelle, in dem Moment nämlich, in dem die Migrantenjugendlichen „ihrem Leben eine Richtung geben müssen“ (ebd.). Obwohl Nohl konstatiert, dass dieses Orientierungsproblem auch bei Einheimischen in abgeschwächter Form auftritt, stellt er dieses in Anlehnung an Mannheim (1964) als spezifische Migrationslagerung
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vor und arbeitet drei verschiedene „Orientierungsfiguren“ nur für die jugendlichen MigrantInnen heraus. Bei der „Fusion der Sphären“ versuchten die Jugendlichen die innere mit der äußeren Sphäre zu verbinden, worin jedoch ein hohes Konfliktpotential enthalten sei. Als „Primordialität“ bezeichnet Nohl eine Orientierung, bei der ein strategischer Umgang mit der äußeren Sphäre und deren Erwartungen vorliegt, die moralische Ausrichtung des eigenen Lebens jedoch nach Maßgabe der inneren Sphäre erfolgt. Eine dritte Sphäre als Orientierungsfigur kreieren die Jugendlichen, indem sie sich sowohl von der inneren als auch der äußeren Sphäre abgrenzen und sich einen eigenen Raum schaffen, den sie nach ihren Vorstellungen ausgestalten. Damit zeichnet Nohl den adoleszenten Identitätsfindungsprozess hinsichtlich der familialen und gesellschaftlichen Vorgaben nach und zeigt auf, dass es individuell unterschiedliche Möglichkeiten gibt, auf die jeweilige soziale Lagerung zu antworten. Mit der Entstehung der dritten Sphäre hebt er das kreative Potential des Adoleszenzprozesses hervor, ohne jedoch zu erklären, wie es zu dieser Neubildung kommt. Unklar bleibt, warum Nohl diese Orientierungsfiguren auf die Migrantenjugendlichen begrenzt. Denn es kann angenommen werden, dass ähnliche Figuren auch bei einheimischen Jugendlichen sichtbar werden, wenn die Perspektive auf die Jugendlichen von ihrer kulturellen Zugehörigkeit absähe und stärker in Richtung der Adoleszenzentwicklung verschoben würde. Mit der Konstruktion der zwei statischen Sphären bleibt Nohl den normativen Annahmen traditioneller Migrationsforschung verhaftet, die MigrantInnen einen zu bewältigenden Kulturkonflikt nahelegen. Ein differenzierteres Modell von Adoleszenz, das nicht auf die beruflichen und geschlechtlichen Identitätsfindungsprozesse begrenzt bleibt, sondern die familialen, kulturell-gesellschaftlichen und individuellen Bedingungen für Wandlungsprozesse als miteinander verwoben dezidiert zu analysieren vermag, könnte den beanspruchten Vergleich zwischen eingewanderten und einheimischen Jugendlichen deutlicher herausarbeiten Eine ganz andere Ausrichtung nimmt die Studie von Baros (2001), der die innerfamiliären Beziehungen griechischer Einwanderer in den Mittelpunkt stellt und explizit die Bearbeitung von Problemsituationen und Konflikten zwischen Adoleszenten und ihren Eltern unter dem Einfluss der Migration untersucht. Anhand mehrerer Einzel- und Familiengespräche verschafft Baros sich ein umfassendes Bild von der jeweiligen Familiendynamik und wertet die Gespräche anschließend mit der Methode der Sozialpsychologischen Rekonstruktion aus, die psychologische, szenische und soziologische Aspekte miteinander verbindet. Sein Erkenntnisinteresse zielt neben den manifesten und erzählbaren Handlungsmustern insbesondere auch auf den, dem Handeln zugrunde liegenden Konflikten, Interessen und Bedürfnisstrukturen, die er anhand von Abwehrprozessen erschließt. Gegenüber anderen Studien über Interaktionsstrukturen von
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Migrantenfamilien stellt er ausdrücklich die Subjektivität der Betroffenen in den Vordergrund seiner Analyse. Baros zeigt typische Konfliktfelder auf, die sich zwischen den Eltern und ihren adoleszenten Kindern auftun und die sich durch die Migrationssituation verschärfen. Die Konflikte kreisen erstens um die Rückkehr-Verbleib-Frage, also darum, ob die Familie nach Griechenland zurückkehren oder in Deutschland bleiben soll. Das zweite Konfliktfeld stellt die Einschränkung der jugendlichen Selbstbestimmungsmöglichkeiten seitens der Eltern dar. Auch diese steht in engem Zusammenhang mit dem Migrationsprojekt der Eltern, für das sie ihre Kinder instrumentalisieren. Das dritte Konfliktfeld betrifft die kulturelle Distanz zwischen Eltern und ihren Kindern. Die Eltern fühlen sich in ihren Ansprüchen, die kulturellen Bedeutungen ihrer Herkunftskultur aufrechtzuerhalten, von ihren Kindern nicht verstanden, da die Adoleszenten sich mehr an den kulturellen Normen ihrer aktuellen Umgebung orientieren. Baros betont, dass es sich bei diesem Konflikt um typische Entfremdungsphänomene zwischen den Generationen handelt, wie sie insbesondere in sich modernisierenden Gesellschaften auftreten und damit ausdrücklich nicht kulturspezifisch sind. Den Umgang der untersuchten Familien mit den beschriebenen Konfliktfeldern charakterisiert Baros als grundsätzliches Konfliktvermeidungsmuster, was eine generelle Entfremdung zwischen den Generationen zur Folge hat. Baros arbeitet somit als zentrales Ergebnis seiner Studie die Funktion der Kinder für ihre Eltern in der Migrationssituation heraus. Die innerfamiliären Beziehungen sind dadurch geprägt, dass die Eltern ihre Kinder durch Kontrolle und starke Familienorientierung an sich binden, damit diese das Migrationsprojekt der Eltern zum Erfolg führen. Die Beziehungsstrukturen sind so angelegt, dass ein Ausbrechen seitens der Adoleszenten ein als unbewältigbar erscheinendes Konfliktpotential birgt und eher vermieden wird. Der Gewinn des sozialpsychologischen Zugangs liegt darin, dass Baros die elterlichen Mechanismen zur Durchsetzung ihres Migratiosnprojektes nicht kulturalistisch als traditionell-kulturelle Orientierung im engeren Sinne erklärt, sondern als subjektive Bewältigungsform der objektiven Entfremdungsproblematik im Migrationskontext versteht. Wenn auch die Adoleszenz nicht explizit Gegenstand der Untersuchung ist, so erfasst Baros durch seine Analyse doch typische adoleszente Entwicklungsdynamiken, wie sie im Zuge des Ablösungsprozesses zwischen den Generationen auftreten. Deutlich wird insbesondere auch, dass der Handlungsspielraum der Jugendlichen stark von den Vorgaben der Eltern abhängt, die sie entsprechend ihren Möglichkeiten jeweils ausgestalten. Implizit liegt darin eine Verbindungslinie zu dem adoleszenztheoretischen Konzept des psychosozialen Möglichkeitsraums (King 2002), auf das im nächsten Kapitel näher eingegangen wird. Grundsätzlich ist Baros’ Erkenntnis zu unterstreichen, dass die „aufgezeigten Entwicklungskonflikte [zwischen den
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Generationen, M.G.] nicht als rein migrationsspezifische anzusehen sind, sich aber unter der Migrationssituation verstärken können“ (ebd., 284). Dadurch verliert die Sonderbehandlung jugendlicher MigrantInnen gegenüber einheimischen Jugendlichen, wie sie in der Migrationsforschung lange üblich war (vgl. Bommes 1992, Herwartz-Emden 1997), ihre Berechtigung. Insgesamt leistet die Studie von Baros einen weiterführenden Beitrag für das Verständnis von Migrationsprozessen, indem sie explizit die Dimension des Psychischen in der Analyse berücksichtigt, damit auch unausgesprochene Themen erfasst und jeweils aus der Perspektive der Eltern und der Jugendlichen beleuchtet. In ihrer Studie zur „Die Liebe der Töchter. Weibliche Adoleszenz in der Migration“ untersucht Rohr (2001a, vgl. auch 2001b, 2003) die Adoleszenzverläufe bei jungen Frauen mit Migrationshintergrund. Anhand von Interviews und Gruppengesprächen arbeitet sie die vorwiegend enge Mutterbindung der jungen Frauen heraus, die eine adoleszente Ablösung und Ausbildung eines individuierten Lebensentwurfs verhindere und stattdessen eine starke Identifizierung mit dem mütterlichen Entwurf fördere. Diese Bindung an die Mutter stärke die Mädchen einerseits, da sie ihnen eine „sehr sichere weibliche Identität“ (Rohr 2001b, 130) verleihe. Gleichzeitig verhindere sie aber auch ein adoleszentes Experimentieren mit anderen Entwürfen, weil dies die migrationsbedingte innerfamiliäre Tabuisierung der Trennung durchbrechen würde. Einzig hinsichtlich ihrer beruflichen Perspektiven lösten sich die jungen Frauen vom Lebensentwurf der Mutter ab, indem sie sich durch ihre Bildungsaspiration von ihr entfernen, was jedoch mit ausdrücklicher Unterstützung der Mutter passiere. Rohr stellt die Auseinandersetzung mit den elterlichen Entwürfen in den Mittelpunkt ihrer Analyse und nimmt explizit auch die psychischen Prozesse der Adoleszenzentwicklung in den Blick. Undeutlich bleiben in ihren Ausführungen jedoch der adoleszente Aushandlungsprozess und mit ihm die Ambivalenzen, durch die diese Entwicklungsphase geprägt ist. Damit spricht Rohr den jungen Frauen ihre Handlungskompetenz ab und unterstellt ihnen eine verlängerte Kindheit. Die Migration würde ihnen die zweite Chance der Adoleszenz und die damit verbundenen psychosexuellen Reifungsprozesse verwehren (vgl. 2001a, 158; 2001b,132). Aufgrund ihrer Interpretation sieht Rohr einen deutlichen Unterschied der Adoleszenzverläufe bei Migrantenjugendlichen gegenüber denen einheimischer Jugendlicher. Ihre Analyse beschränkt sich jedoch auf die Perspektive der jungen Frauen und gibt keinen Hinweis auf die sozial-strukturellen Bedingungen, unter denen die Migration stattfindet, und darauf, wie diese von den Familien jeweils verarbeitet werden. Rohr hinterfragt nicht, welche Bedeutung die enge Anbindung der Töchter für die Mütter haben kann. Stattdessen stellt Rohr die allgemeine These auf, dass Migrationserfahrungen in erheblichem Umfang das Aufbrechen adoleszenter Entwicklungsprozesse ver- oder
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behindern (vgl. Rohr 2001a), ohne diese Migrationserfahrungen jedoch näher zu beleuchten. Mit ihrer Studie beansprucht Rohr, auch auf theoretischer Ebene eine Verbindung zwischen Migration und Adoleszenz herzustellen. Aufgrund ihrer Ergebnisse hält sie eine Modifikation der bestehenden Adoleszenztheorie für angezeigt, weil diese in Bezug auf westliche Sozialisationsverläufe entwickelt worden und daher auf die spezifischen Identitätsbildungsprozesse junger Migrantinnen nicht ohne Weiteres übertragbar sei. Für eine Verallgemeinerung der Ergebnisse auf eine migrationsspezifische Adoleszenz sind ihre Ausführungen hinsichtlich der soziologischen Perspektive jedoch zu wenig ausdifferenziert. Darüber hinaus unterstellt Rohr, dass die Adoleszenzverläufe in der westlichen Kultur automatisch mit einem verlängerten psychosozialen Moratorium einhergehen, während dessen die Jugendlichen sich gegen die Eltern auflehnen, um unabhängig von ihnen zu werden und ihrem autonomen Lebensentwurf folgen zu können. Mit dieser normativen Annahme vernachlässigt sie die Tatsache, dass trotz der häufig zeitlich ausgedehnteren Adoleszenzphase, die Jugendlichen in modernisierten Gesellschaften in der Regel zugestanden wird, diese Räume nicht immer für einen Individuierungsprozess genutzt werden können. Es genügt nicht, den Verlauf des Adoleszenzprozesses als abhängig von den jeweiligen kulturellen Praktiken anzusehen. Zur Erklärung von Adoleszenzverläufen, müssen vielmehr die Bedingungen und Möglichkeiten auf familialer, kulturell-gesellschaftlicher und individueller Ebene dezidiert analysiert werden, um sowohl die migrationsspezifischen als auch die adoleszenzspezifischen Faktoren in ihrer Wirkung auf jugendliche Lebensentwürfe erkennen zu können. Die Adoleszenzverläufe stattdessen mit bestimmten kulturellen Praxen bzw. einer kulturellen Zugehörigkeit in Beziehung zu setzen und damit zu dichotomisieren, wird dem komplexen Geschehen, welches dem adoleszenten Entwicklungsprozess innewohnt, nicht gerecht. Eine umfassendere Betrachtung der Adoleszenzverläufe jugendlicher Migranten unternimmt hingegen Sauter (2000), der adoleszente Ablöseprozesse Jugendlicher aus Einwandererfamilien in den Fokus nimmt. Er untersucht die Lebenswirklichkeit der Migrantenjugendlichen in ihrer Wechselwirkung von inneren und äußeren Verhältnissen anhand von Einzel- und Gruppengesprächen sowie teilnehmender Beobachtung einer türkischen Folkloregruppe. Mit seinem ethnohermeneutischen Zugang erfasst Sauter die sprachlichen und nichtsprachlichen Äußerungen der TeilnehmerInnen in ihrer Bedeutung sowohl im gesellschaftlich-strukturellen wie auch in ihrem lebensgeschichtlichen Kontext. Vor dem Hintergrund restriktiver Ausländergesetze und des Kampfes der Adoleszenten um Anerkennung und Gleichberechtigung untersucht Sauter deren Lebenspraxis, die bestimmt ist von der Auseinandersetzung einerseits mit der Herkunftskultur der Eltern und andererseits mit der Minderheiten- und Mehr-
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heitskultur der Bundesrepublik. Der Titel „Wir sind Frankfurter Türken“ illustriert bereits Sauters Ergebnis: Die Fähigkeit der Adoleszenten liegt gerade darin, Ambivalenz und Uneindeutigkeit ertragen und reflektieren zu können, und darin, dass sie ihre Identitätsarbeit dahingehend ausgestalten können, dass sie sich nicht für eine ethnische Zugehörigkeit entscheiden müssen, sondern beides zugleich sein können, eben Frankfurter und Türken. Sauter zeigt, wie die Jugendlichen anhand der Identifikation bzw. Desidentifikation mit vorhandenen Mentorfiguren und über die Anerkennung und kreative Verarbeitung der eigenen Migrationsgeschichte unterschiedliche Muster adoleszenter Ablöseprozesse entwickeln. Seine Typologie unterscheidet zwischen einem weiblichen und einem männlichen Ablösemuster. Die selbstreflexive Ablösung der weiblichen Jugendlichen drückt sich in einer offenen Auseinandersetzung mit der elterlichen Migrationsgeschichte aus und zeigt deren Fähigkeit, „sich selbst als Person in der Kontinuität und in der Diskontinuität zu der Kultur der Eltern zu positionieren, unabhängig davon zu werden, ohne die Herkunft von dieser Kultur zu leugnen“ (ebd., 288). Die männlichen Jugendlichen folgen eher dem Muster der aufgeschobenen Ablösung, die sich darin ausdrückt, dass die Auseinandersetzung mit den Eltern vermieden bzw. auf später verschoben wird oder nur bruchstückhaft stattfindet und auch eine reflexive Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte der Migration nicht erfolgt, woraus ein „historisches und stereotypisiertes Bild der Türkei“ (ebd.) resultiert. Sauter erklärt diese unterschiedlichen Adoleszenzverläufe mit den jeweiligen Familienkonstellationen und den durch die Migration veränderten elterlichen Männlichkeits- und Weiblichkeitsentwürfen. Während die Männer durch Ethnisierung, Statusverlust und Arbeitslosigkeit insgesamt eher eine Abwertung erfahren, erleben die Frauen eher eine Aufwertung, indem ihre Handlungsspielräume erweitert werden. Für die adoleszenten Auseinandersetzungsprozesse hat dies erhebliche Auswirkungen, je nachdem, wie offen die Eltern selbst mit dieser Situation umgehen. Sauter findet bei den jungen Frauen insgesamt einen größeren innerfamiliären Spielraum, in dem sie ihre adoleszenten Themen verhandeln und sich trotz geringerer außerfamiliärer Freiräume, innerlich von ihren Eltern lösen können. Für die von Sauter untersuchten jungen Männer gestaltet sich Trennung und Ablösung erheblich schwieriger, weil sie die ihnen gewährten Freiräume außerhalb der Familie nicht für eine offene Auseinandersetzung mit ihrer Familiengeschichte nutzen können. Die Vaterbeziehung wird grundsätzlich eher als unausgefüllt erlebt, eine reflexive Auseinandersetzung mit ihm dadurch erschwert, was eine Orientierung der männlichen Entwürfe am sogenannten „osmanischen Typ“8 (Sauter 2001, 181)
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Der Begriff „osmanischer Typ“ ist ein Zitat der Jugendlichen aus den Gruppengesprächen. Sauter beschreibt ihn als „Muskelmann“, mit dem die Jugendlichen eine „ethnische Rückver-
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begünstigt. Insgesamt sieht Sauter die kreative Bearbeitung der Migrationsgeschichte der Eltern und deren Integration in den eigenen Lebensentwurf als zentrales Merkmal der adoleszenten Auseinandersetzung bei Jugendlichen aus Immigrantenfamilien an. Wie die Ergebnisse von Sauters Studie zeigen, eröffnet die adoleszenztheoretische Perspektive den Blick auf die differenzierte Auseinandersetzung der Jugendlichen mit ihrer Herkunftskultur bzw. -familie unter den spezifischen Bedingungen der Migrationssituation. Sie zeigt, wie Lebensentwürfe geprägt sind durch die adoleszenten Möglichkeiten der Umgestaltung kindlicher Entwürfe, aber auch begrenzt werden durch spezifische Erfahrungen oder Erwartungen seitens der Eltern sowie des gesellschaftlichen Umfeldes. Auch wird die Bedeutung von Vorbildern bzw. Mentoren - seien es familiale oder außerfamiliale – hervorgehoben, an denen sich adoleszente Aushandlungsprozesse orientieren. Damit lassen sich beispielsweise die seit langem von der Migrationsforschung beobachteten geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Lebensentwürfe der jugendlichen MigrantInnen besser verstehen. Die in dieser Lebensphase zu vollziehenden relevanten Transformationsprozesse lassen sich in ihrer Komplexität nur untersuchen, wenn man sie in ihrer sowohl psychischen wie auch sozialen Bedeutung für den Identitätsbildungsprozess erkennt. Sauter hat dies exemplarisch an der Folkloregruppe demonstriert und leistet damit einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der adoleszenten Verarbeitungsmuster jugendlicher Migranten. Seine Studie bietet daher wichtige Anschlussstellen für die vorliegende Untersuchung. Noch einen Schritt weiter gehen King und Schwab (2000), indem sie auch theoretisch eine differenzierte Verknüpfung der adoleszenten Entwicklungsthemen mit den migrationsbedingten Verhältnissen und Bedingungen vornehmen. Die Migrationsbiographie sehen sie in Anlehnung an Apitzsch (1999) grundsätzlich als einen Transformationssprozess an und ziehen eine Verbindungslinie zum adoleszenten Umwandlungssprozess mit seinen sozialpsychologischen Dimensionen. Sie verstehen das Aufeinandertreffen der adoleszenten und der migrationsspezifischen Entwicklungsdynamik als „verdoppelten Transformationsprozess“ (King/Schwab, 211), dem die Migrantenjugendlichen „ausgesetzt“ (ebd.) sind, den sie aber auch „vorantreiben“ (ebd). Damit sind sowohl die Veränderungen auf kultureller oder sozialer Ebene sowie auch die Transformation vom Kind zum Erwachsenen angesprochen. Die Autorinnen betonen, dass sich in beiden Dimensionen kreative und destruktive Momente finden, „je nachdem, in welcher Weise Migrationserfahrungen in den adoleszenten Entwicklungsprozessen verarbeitet werden oder in welcher Weise adoleszente Entwicklungen durch die Migration gefördert oder gehemmt, verändert oder nicht verändert sicherung“ vornehmen. Sauter zieht hier Parallelen zu Connells Konzept der „hegemonialen Männlichkeit“ (vgl. Sauter 2001, 182).
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werden“ (ebd.). Mit dieser anspruchsvollen Verbindung adoleszenz- und migrationstheoretischer Aspekte weisen sie sowohl die kulturalistische Sichtweise auf Migrantenjugendliche wie auch deren idealisierend-verklärende Betrachtung zurück. Es geht ihnen vielmehr um eine kritische Beleuchtung des Ineinanderwirkens der verschiedenen Dimensionen. Sie nehmen die Qualität des adoleszenten Entwicklungsspielraumes im Aufnahmeland Bundesrepublik in den Blick und analysieren die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen die Flüchtlinge die Bearbeitung ihrer spezifischen Identitätskonflikte zu bewältigen haben. Sie stellen drei Aspekte der Adoleszenz bei Flüchtlingen heraus, anhand derer sie die gegenseitige Beeinflussung der adoleszenten und migrationsbedingten Veränderungsprozesse aufzeigen. Zunächst sehen sie ein „strukturell konflikthaftes Verhältnis zwischen der Kultur des Aufnahmelandes als potentiellem adoleszentem Entwicklungsspielraum und den jugendlichen Flüchtlingen“ (ebd., 212). Einerseits bietet sich den Flüchtlingen in der hiesigen Aufnahmegesellschaft in der Regel ein erweitertes und offeneres Erfahrungs- und Experimentierfeld an, das jedoch gleichzeitig durch die Diskriminierung und Ausschließungsprozesse eine drastische Einschränkung erfährt. Weiter wird eine „zugespitzte Spannung von Bindungssuche einerseits und Explorationsund Ablösungswünschen andererseits bei adoleszenten Flüchtlingen“ (ebd.) festgestellt. In der Herkunftskultur der Flüchtlinge werden Bindungen an die Gemeinschaft und Individualisierungsprozesse meistens anders ausgedrückt und gelebt, so dass die sozialen Bindungen im Aufnahmeland eher als abweisend oder feindselig empfunden werden, was die adoleszente Dynamik von Aneignung der kulturellen Normen und Distanzierung von ihnen verstärkt. Je nach individueller Situation kann dies zu regressiver oder progressiver Verarbeitung in den Selbstfindungsprozessen führen. Drittens erläutern King und Schwab die „Verdoppelung des Fremdheits- und Verlusterlebens bei adoleszenten Flüchtlingen durch die Fremdheit der eigenen psychophysischen Veränderungen einerseits und die Fremdheit der äußeren Realität andererseits“ (ebd.). Das adoleszente Sich-selbst-fremd-Sein verbindet sich mit den durch die Migration erlebten Fremdheitserlebnissen der neuen Umgebung. Entscheidend bei allen drei Merkmalen der adoleszenten Migrationssituation ist die Tendenz der Überforderung. Die adoleszente Krisensituation wird durch die migrationsbedingte Krisensituation verdoppelt und birgt daher die Gefahr des Scheiterns. Es besteht jedoch gleichfalls die Möglichkeit einer produktiven Bewältigung dieser Krisensituation und einer schöpferischen Ausgestaltung der besonderen Lebenssituation. Diese sehen sie als abhängig von den entsprechenden Zeit- und Spielräumen als Experimentierfeld sowie von dem sozialen Umfeld an, das ihnen idealerweise ausreichend Fürsorge, aber auch Zurückhaltung bietet. Anhand des Fallbeispiels eines adoleszenten Flüchtlings
2.3 Zusammenfassung
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demonstrieren King und Schwab das Ineinandergreifen der Möglichkeiten und Begrenzungen der migrationsbedingten Adoleszenz und arbeiten die besonderen Chancen und Risiken, die darin enthalten sind, heraus. Damit zeigen sie die Fruchtbarkeit der Verbindung von migrations- und adoleszenztheoretischer Perspektive für die Erklärung der Identitätsbildungsprozesse jugendlicher Migranten auf.
2.3 Zusammenfassung Die Auseinandersetzung mit der bisherigen Forschung zu jugendlichen MigrantInnen zeigt, dass es sich um ein komplexes und mehrdimensionales Forschungsgebiet handelt, das jedoch in den meisten Studien unterkomplex behandelt wird. Der Begriff der zweiten Generation bleibt dabei insofern unreflektiert, als der Aspekt der Generativität, dem in dieser Lebensphase eine eigene Bedeutung zukommt, nur unzureichend Berücksichtigung findet. Darüber hinaus berücksichtigt dieses rein soziologische Konzept gerade nicht die familiale und sozialpsychologische Konstellation. Integrationskonzepte, wie sie in der Migrationsforschung vorherrschen, konzentrieren sich auf die Erwartungen der Aufnahmegesellschaft und berücksichtigen die aktuellen und vielgestaltigen Lebensrealitäten der Jugendlichen zu wenig. In dem Spannungsfeld vordergründiger Erwartungen der Anpassung an hiesige Normen und Werte bei gleichzeitiger Verweigerung gleichberechtigter gesellschaftlicher Partizipation bewegen sich Jugendliche mit der ihrer Lebensphase eigenen Kreativität. Ihre Lebensentwürfe spiegeln ihre Auseinandersetzung mit den spezifischen familialen, gesellschaftlich-kulturellen, geschlechtsspezifischen sowie individuellen Bedingungen, unter denen sie aufwachsen. Deutlich geworden ist in den vorausgegangenen Ausführungen, dass bei der Erforschung von Migrantenjugendlichen deren Sozialisationsbedingungen und Identitätsbildungsprozesse theoretisch grundsätzlich zu wenig Beachtung finden. Die Kritik an den kulturalistisch geprägten Sozialisationskonzepten der Ausländerpädagogik der siebziger Jahre hat nicht zu einer Neuformulierung einer Sozialisationstheorie geführt, die auch Migrationsbedingungen berücksichtigt, sondern diesbezüglich eine Leerstelle hinterlassen. Theoretische Ansätze zur strukturellen Ungleichheit aufgrund von Ethnisierungsprozessen reichen nicht aus, um Migrationsprozesse umfassend zu verstehen. Die einseitige Hervorhebung der kulturellen Dimension wird der realen sozialen Praxis der MigrantInnen nicht gerecht. Ebenso greifen Ansätze zu kurz, die versuchen, die kulturelle Dimension völlig zu negieren. Erst in jüngster Zeit wird versucht diese Lücke zu schließen, indem die Forschungsfragen hinsicht-
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lich der Identitätsbildungsprozesse Jugendlicher in der Migration ausgeweitet werden. Die solchermaßen ausgerichteten Forschungen ergeben ein differenzierteres Bild von den Bedingungen des Aufwachsens in Einwandererfamilien, als die herkömmliche Migrationsforschung es bis dahin vermuten ließ. Diese Studie leistet insofern einen Beitrag zur Diskussion um die kulturelle Dimension in ihrer Bedeutung für den Prozess der Identitätsentwicklung. Gegenstand der vorliegenden Arbeit sind allein eingewanderte jugendliche StudentInnen aus Guinea. Diese Jugendlichen stellen wegen ihres Migrationsgrundes, nämlich der Erlangung einer Hochschulausbildung, innerhalb der Migrationsforschung eine wenig beachtete Gruppe dar, die gegenwärtig nur vereinzelt Berücksichtigung findet (vgl. Nebel 1998, Koller 2003, Seukwa 2006). Hinsichtlich ihrer Identitätsbildungsprozesse im Zusammenhang mit der Migration gibt es bisher keine Forschungen im deutschsprachigen Raum. Somit bearbeitet die vorliegende Untersuchung ein Forschungsdesiderat.
3 Chancen und Risiken adoleszenter Bildungsmigration
Anliegen dieses Kapitels ist die Formulierung eines theoretischen Analyserahmens für die empirische Untersuchung, die am Beispiel adoleszenter BildungsmigrantInnen aus Guinea nach den Bedingungen und Verarbeitungsformen des mehrdimensionalen Transformationsprozesses fragt. Zunächst wird das Phänomen internationaler Bildungsmigration beleuchtet, um deutlich zu machen, unter welchen strukturellen Besonderheiten, Bedingungen und Folgen die Jugendlichen aus Guinea ihr Studium in Deutschland absolvieren. Danach erfolgt die Auseinandersetzung mit der Frage, wie in dieser Arbeit die Umbildungsprozesse von Migration und Adoleszenz gefasst werden. Dabei wird auch das zugrunde liegende Verständnis von Identität, Kultur und Modernisierung deutlich. Schließlich wird ein theoretisches Konzept vorgestellt, mit dem die adoleszente Migration einer differenzierten Analyse unterzogen werden kann, mit der das komplexe Ineinandergreifen beider Prozesse beleuchtet werden kann. Hieraus ergeben sich die zentralen Annahmen, auf deren Hintergrund die empirischen Daten interpretiert werden. Am Schluss des Kapitels werden die relevanten Fragen für die empirische Untersuchung zusammengefasst, differenziert und präzisiert.
3.1 Guineische BildungsmigrantInnen in Deutschland Internationale Bildungsmigration existiert, solange es Hochschulen gibt. Über Jahrhunderte verstanden sich die Universitäten als autonome Institutionen, in denen eine universale Bildung sowie ein freier Austausch von Wissen selbstverständlich waren (vgl. Jensen 2001). Dies änderte sich, als die Universitäten zu nationalen Institutionen wurden und die Auslandsausbildung im Wettbewerb um wissenschaftliche und technologische Entwicklung eine strategische Bedeutung für die einzelnen Nationalstaaten erhielt (vgl. Budke 2003). Im Zuge der Globalisierung gewinnt das Auslandsstudium immer mehr an Bedeutung. Derzeit absolvieren weltweit 2,7 Millionen Studierende ein Hochschulstudium im Ausland (vgl. BMBF 2005). Besonders die europäischen Industrienationen und die
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3 Chancen und Risiken adoleszenter Bildungsmigration
USA sind die wichtigsten Zielländer der internationalen BildungsmigrantInnen. Unter diesen Ländern findet ein Wettbewerb um ausländische Studierende statt, da diese „zugleich als Ausdruck der internationalen Öffnung der Aufnahmeländer sowie als Motor der Globalisierung oder Europäisierung gesehen werden“ (Budke 2003, 22). Die europäische Bildungspolitik fördert ausdrücklich das Auslandsstudium innerhalb ihrer Mitgliedsländer, dies zeigt sich insbesondere an ihrem Studentenaustauschprogramm ERASMUS9. Die ausländischen Studierenden aus europäischen Ländern werden als kulturelle Vermittler angesehen und sollen als zukünftige Entscheidungsträger die europäische Zusammenarbeit auf wirtschaftlicher, wissenschaftlicher und politischer Ebene vorantreiben (vgl. Teichler u. a. 1999). Dagegen wurde Studierenden aus Entwicklungsländern in Deutschland seit den siebziger Jahren der Zugang zu den Hochschulen im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit als Bildungshilfe gewährt. Die der Bildungshilfe zugrunde liegende Idee bestand zunächst in der Qualifizierung von Fachleuten, die ihre Kenntnisse dann in ihrem Heimatland transformierend einbringen sollen. Wichtige politische Anliegen waren die Verhinderung eines Brain Drain und die Förderung der Reintegration (vgl. BMBF 2005). Diese auf humanitären Zielen begründeten Maßnahmen verloren während der Diskussion um die wirtschaftliche und wissenschaftliche Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland immer mehr an Bedeutung. Eine gezielte Förderung Studierender aus Entwicklungsländern findet heute nur noch im Rahmen von Stipendienprogrammen statt. Mit Einführung des Zuwanderungsgesetzes im Jahre 2005 ging die Zuständigkeit für die gesetzlichen Regelungen des Aufenthaltes in Deutschland aus Studiengründen von der Entwicklungspolitik in die Ausländerpolitik über. Heute findet zunehmend das Potential der ausländischen Studierenden Beachtung, die den Erfordernissen des Wirtschaftsstandortes Deutschland und des hiesigen Arbeitsmarktes entsprechen. Die Diskussion um den Brain Drain in den Heimatländern hat sich zugunsten eines Brain Gain für die Gastländer gewandelt (vgl. Hunger 2003, BMBF 2005).
3.1.1 Statistische Daten und rechtliche Situation Als vergleichsweise kleine Gruppe unter den BildungsmigrantInnen in Deutschland stellen die Studierenden aus Guinea nur 0,1 % aller 189.450 ausländischen Studierenden und 0,9 % der 20.842 Studierenden aus Afrika im Wintersemester 2005/06. Davon sind 165 Männer und 29 Frauen (Statistisches Bundesamt 9
Der Name soll an Erasmus von Rotterdam als einen akademischen Wanderer erinnern und bedeutet: „European Community Action Scheme for the Mobility of University Students“ (vgl. Teichler u.a. 1999).
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2006). Die meisten von ihnen organisieren ihren Studienaufenthalt in Deutschland selbstständig, ohne die Unterstützung von Austauschprogrammen oder Stipendien. Von ihnen erhalten viele – zumindest am Anfang – finanzielle Unterstützung durch ihre Familie, mehr als die Hälfte jedoch arbeitet neben dem Studium, um zumindest teilweise den Lebensunterhalt zu sichern (vgl. BMBF 2005). Die guineischen BildungmigrantInnen stammen aus der Bildungselite ihres Landes, bei den meisten von ihnen hat mindestens ein Elternteil ein Hochschulstudium absolviert. Verglichen mit den deutschen Studierenden ist das Niveau der Bildungsherkunft bei ihnen damit höher (ebd.). Bei der Entscheidung, in welchem Land sie studieren möchten, steht Deutschland für die meisten guineischen BildungsmigrantInnen nicht an erster Stelle. Als Wunschland werden vorwiegend die USA oder Kanada genannt. Ein wichtiger Grund, warum sich viele für ein Studium in Deutschland entscheiden, ist das gebührenfreie Studium (vgl. BMBF 2005). Ein wesentliches Hindernis stellen die fehlenden deutschen Sprachkenntnisse sowie die Nichtanerkennung des guineischen Abiturs als Hochschulzugangsberechtigung dar. Für die Erteilung eines Studienvisums müssen Grundkenntnisse der deutschen Sprache nachgewiesen werden. Diese reichen jedoch für ein Studium in der Regel nicht aus, so dass die guineischen Studierenden nach ihrer Einreise in Deutschland zunächst einen Sprachkurs besuchen. Nach dem bestandenen Sprachtest müssen sie das deutsche Abitur am Studienkolleg erwerben. Erst dann können sie ihr Studium an einer deutschen Hochschule aufnehmen. Für ausländische Studierende stellen die Hochschulen ein bestimmtes Kontingent an Plätzen zur Verfügung, um die sich die BildungsmigrantInnen bewerben. Die Aufenthaltsgenehmigung der guineischen BildungsmigrantInnen ist an das Studium gebunden und wird jeweils um zwei Jahre verlängert. Bis 2005 bestand nach Ausbildungsabschluss keine Möglichkeit, die Aufenthaltserlaubnis in Deutschland zu verlängern. Eine Ausnahme wurde nur bei einer auf dem Studium aufbauenden Aus- oder Weiterbildung gemacht und blieb auf höchstens zwei Jahre beschränkt10. Seit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes 2005 wird ausländischen Hochschulabsolventen ein Aufenthaltsrecht für die einjährige Suche eines ihrem Abschluss angemessenen Arbeitsplatzes zugestanden11. Finden sie einen solchen, kann ihnen zur Ausübung dieser Beschäftigung in Absprache mit der Bundesagentur für Arbeit eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden12. 10
11 12
Die empirische Erhebung der vorliegenden Untersuchung fand während der Gültigkeit dieser Gesetzesregelungen statt. Diese sind daher als Rahmenbedingungen für die Auswertung der Forschungsgespräche relevant. Vgl. § 16 Abs. 4 Aufenthaltsgesetz. Vgl. § 18 Aufenthaltsgesetz.
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3 Chancen und Risiken adoleszenter Bildungsmigration
3.1.2 Der Herkunftskontext Dieser Abschnitt soll einen Überblick über die sozialen Hintergründe und sozialstrukturellen Veränderungen des Herkunftslandes der guineischen BildungsmigrantInnen geben. Als in Deutschland sozialisierte und lebende Autorin kann ich dies nur aus der Außenperspektive vornehmen, wenngleich mir die Situation der Guineer durch private und berufliche Kontakte in Deutschland sowie durch mehrere Aufenthalte in Guinea in einigen Aspekten vertraut ist. Deutlich machen möchte ich gleichwohl, dass es mir nicht um die Darstellung einer – im Vergleich zur "europäischen Moderne" –"unterentwickelten" oder "traditionsverhafteten" Gesellschaft geht. Vielmehr möchte ich zeigen, wie die aktuelle Sozialstruktur Guineas beschaffen ist, um zu verdeutlichen, aus welchen Motivlagen heraus die guineischen Jugendlichen ein Auslandsstudium anvisieren. Dazu ist es unabdingbar, auch auf Traditionslinien einzugehen, auf denen die soziale Ordnung Westafrikas gründet. Bei der Betrachtung der Transformationsprozesse Guineas ist im Vergleich zur europäischen Entwicklung zu beachten, dass Veränderungen im Zuge fortschreitender internationaler Vernetzung in hohem Maße von außen an Politik und Gesellschaft sowie an die Individuen herangetragen werden und sie daher eine andere Dynamik erhalten, als wenn sie von innen heraus geschehen. Die westafrikanischen Gesellschaften befinden sich heute, wie alle anderen Gesellschaften auch, in grundlegenden Umbildungsprozessen. Im Zuge der Globalisierung findet zunehmend eine Entterritoritalisierung von Wirtschaftsund Finanzmärkten, politischen Machtstrukturen und medientechnischen Infrastrukturen statt. Gleichzeitig dringen kapitalistische Marktprinzipien in immer weitere Bereiche gesellschaftlicher und individueller Praxis ein. Dies hat eine radikale Pluralisierung von Lebensformen, Wertorientierungen und Diskursarten, eine Verstärkung gesellschaftlicher Antagonismen sowie zunehmende soziale Ungleichheit zur Folge. Die individuelle und gesellschaftliche Bewältigung dieser Transformationsprozesse in Afrika, die Gegenstand eines interdisziplinären Sonderforschungsbereichs der Universität Hamburg (vgl. z.B. Gerhard u. a. 2006) war, lässt sich hier nicht in ihrer Komplexität wiedergeben. Deutlich werden soll jedoch, dass Modernisierungsprozesse und die damit verbundene Auflösung und Veränderung bisheriger sozialer Strukturen Entwicklungspotentiale für Individuum und Gesellschaft freisetzen, woraus die Chance einer selbstbestimmten und – verantworteten Lebensgestaltung resultiert. Gleichzeitig liegt darin aber auch das Risiko, den Anforderungen der Selbstorganisation in der zunehmend sich ausdifferenzierenden Gesellschaft nicht entsprechen zu können. Hier sind soziale und psychische Fähigkeiten erforderlich, mit denen die immer neu anstehenden Entscheidungsprozesse bewältigt und
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eigene soziale Netzwerke aufgebaut werden können (vgl. Keupp 1994). Somit stellen Modernisierungsprozesse für Individuen die ambivalente Herausforderung dar, sich eine neue Identität zu entwerfen bei gleichzeitigem Verlust verlässlicher Beziehungsstrukturen. Modernisierungsprozesse verändern grundsätzlich – unter anderem – die Geschlechter- und Generationenverhältnisse. Dies führt jedoch nicht automatisch zu Gleichheit in den Beziehungen, eher kann man von veränderten sozialen Ordnungen sprechen, die sich ganz unterschiedlich ausgestalten können (vgl. Hormel/Scherr 2006, Gille /Sardei-Biermann 2006). Die individuellen Lösungen, mit diesen gesellschaftlichen Ambivalenzen umzugehen, sind entsprechend vielfältig. Sie reichen von willkommener Annahme der autonomen individuellen Lebensführung über die Suche „nach neuen standardisierten Modellen des ‚richtigen Lebens’“ bis hin zur „Wiederbelebung alter und der Produktion neuer Feindbilder, die Eigenes von Fremdem eindeutig und endgültig abgrenzen sollen“ (Keupp 1994, 348). Hinsichtlich dieser unterschiedlichen Identitätsbedürfnisse im Zuge der Modernisierungsprozesse lassen sich keine wesentlichen Unterschiede zwischen afrikanischen, europäischen oder anderen Gesellschaften feststellen. Die Ausprägungen und Ausgestaltungen der Identitätsentwürfe sind jedoch in Abhängigkeit von den jeweiligen kulturell-gesellschaftlichen Besonderheiten zu sehen, unter denen die Transformationsprozesse stattfinden. Die folgenden Ausführungen sollen daher den sozialstrukturellen Kontext der guineischen BildungsmigrantInnen verdeutlichen. Erwähnt sei noch, dass Guinea bisher in der wissenschaftlichen Forschung wenig Berücksichtigung fand, so dass die vorhandenen Veröffentlichungen größtenteils mehr als zehn Jahre zurückliegen. Die Republik Guinea gilt laut internationalen Statistiken als eines der ärmsten Länder der Welt (UNDP 2006), welches trotz reicher Bodenschätze seinen Eigenbedarf an Lebensmitteln nicht selbst decken kann. Von der Kolonialmacht Frankreich erlangte Guinea 1958 als erstes westafrikanisches Land die Unabhängigkeit. Das kommunistisch ausgerichtete Einparteiensystem galt in Westafrika zunächst als große Hoffnung auf eine selbstverwaltete, freiheitliche und gleichberechtigte Staatsverwaltung. Es entwickelte sich unter der Führung des Diktators Sékou Touré jedoch immer mehr zu einem an reinem Machterhalt orientierten System der fast geschlossenen Grenzen, das mit regelmäßigen "Säuberungen" an Partei- und Staatsspitze ein Klima der Angst und des Misstrauens verbreitete. Man muss davon ausgehen, dass es heute keine Familie in Guinea gibt, die von dem Verlust mindestens eines ihrer Mitglieder durch die Verfolgung während Tourés Herrschaft verschont geblieben ist (vgl. Munzinger Archiv 2007, Bah 1990). Nach Tourés Tod putschte sich 1984 der heutige Präsident Lansana Conté an die Macht und regiert das Land, indem er hinter einer demokratischen Fassade die faktische Fortsetzung der Diktatur vollzieht (vgl.
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Munzinger Archiv 2007). Die auf einen Demokratisierungsprozess zielenden Sanktionen der internationalen Staatengemeinschaft verstärken eine zunehmende Verelendung der Bevölkerung, greifen jedoch nicht die Macht des Präsidenten an. So ist seit Jahren ein deutliches Nachlassen der Wirtschaftskraft zu beobachten, was sich durch den Wegfall von Investitionen aus dem Ausland noch verschärft. Die Inflationsrate liegt bei 30 % (Auswärtiges Amt 2007). Guinea gilt im Umfeld der regionalen Krisen und Bürgerkriege der angrenzenden Staaten Liberia, Sierra Leone, Guinea-Bissau, Senegal, Elfenbeinküste als innenpolitisch relativ stabiles Land, dessen Ruhe die internationale Staatengemeinschaft nicht gefährden will. Die sture, am Machterhalt orientierte Politik des Staatschefs lähmt jedoch das ganze Land, so dass eine Veränderung nur mit seiner Ablösung bzw. seinem Tod möglich scheint (vgl. D’Anna-Huber 2007, Munzinger Archiv 2007). Die Bevölkerung besteht aus drei großen und mehreren kleinen Volksgruppen und ist daher eine multilinguale Gesellschaft. Die Amtssprache ist Französisch und wird in den Schulen gelehrt. Etwa 25 % der Bevölkerung leben in der Hauptstadt Conakry (Munzinger Archiv 2007). Hier befinden sich auch die wichtigsten Bildungsinstitutionen, so dass die Nachkommen der finanzkräftigen und gebildeten Schichten mehrheitlich in Conakry aufwachsen. In Guinea ist Schulbildung noch immer das Privileg der gehobenen Schichten. Das drastische Gefälle der Bildungsbeteiligung scheint zumindest im Elementarbereich allmählich abzunehmen. Lag die Einschulungsquote 1995 noch bei 44 %, so ist sie bis 2003 auf 77 % angestiegen. Die Zahlen dünnen sich jedoch in den weiterführenden Schulen drastisch aus (vgl. Statistisches Bundesamt 2006). Insbesondere sinkt die Zahl der Mädchen deutlich in den weiterführenden Schulen. Die traditionelle westafrikanische Lebensanschauung folgt der Überzeugung, dass der Mensch nicht bloß ein Individuum ist, sondern ein Glied in der Generationenkette, das seine Persönlichkeit nur innerhalb seiner Gruppe entfalten kann. Das Zusammenleben der Gemeinschaft gründet auf gegenseitiger Solidarität, die einen wesentlichen Bestandteil der westafrikanischen Sozialisation ausmacht. Die Großfamilie ist Grundlage des sozialen Systems Westafrikas und vereint die Kleinfamilien mehrer Generationen. Sie bietet jedem Mitglied ökonomische und soziale Sicherheit und ist von wechselseitiger Hilfe und gemeinsam verrichteten Arbeiten geprägt (vgl. Diarra 1994). Ein klares Hierarchieverhältnis zwischen den einzelnen Familienmitgliedern regelt das Zusammenleben. Vor diesem Hintergrund ist das soziale Leben in Guinea von ungleichen Geschlechter- und Generationenverhältnissen geprägt, die sich durch die verbreitete Armut des Landes nur zögerlich auflösen. Das generell vorherrschende Senioritätsprinzip regelt, dass der Jüngere dem „Älteren gegenüber Achtung, Respekt, Gehorsam und Dienstleistungen zu zollen“ hat und der Älte-
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re „dem Jüngeren gegenüber zu Fürsorge, Anerkennung und materiellen Zuwendungen verpflichtet“ ist (Diarra 1994, 9). Diese Regeln führen zu geradezu unterwürfiger Haltung der Jüngeren den Älteren gegenüber. Auch unter Geschwistern kann der Ältere über den Jüngeren bestimmen. Die eigene Altersgruppe hat daher eine besondere Bedeutung in der Sozialisation, denn zu den Peers sind die einzigen gleichberechtigten Beziehungen möglich (vgl. Bâ 1993). Das Senioritätsprinzip bindet die junge Generation in die überlieferte Lebensweise ein und erschwert deren Infragestellung bzw. die Auflehnung gegen sie. Die patrilineare Struktur und Rollenteilung zwischen den Geschlechtern erzeugt eine Hierarchie zwischen Mann und Frau. Frauen wird Anerkennung und Altersversorgung erst durch die Zugehörigkeit zu einer Familie und besonders durch eigene Kinder zuteil. Der durchschnittliche Fruchtbarkeitsindex guineischer Frauen liegt bei 5,913 (UNDP 2006). Brüder sind ihren Schwestern gegenüber weisungsbefugt und erwachsene Söhne ihren Müttern. Die Wahl des Ehemannes wird von der Familie getroffen. Männer können nach islamischem Recht ohne Einwilligung der Ehefrau weitere Frauen heiraten. Eine Scheidung ist mit Einwilligung des Mannes möglich, die Frau kehrt dann ohne ihre Kinder in ihre Ursprungsfamilie zurück, denn die Kinder gehören zur Familie des Mannes (vgl. Diarra 1994). Wurde den Frauen traditionell eine gewisse Achtung und Autonomie gewährt, so geraten sie im Zuge gesellschaftlicher Veränderungsprozesse immer mehr in eine unterlegene Stellung hinsichtlich Arbeitsteilung, Bildungschancen und sozialer Position (vgl. Clauß 1991). Der Wandel der traditionellen Ökonomie, die zunehmende Arbeitsmigration und vor allem Arbeitslosigkeit der Männer macht viele Frauen zu den eigentlichen Haushaltsvorständen, die ihre Familien allein ernähren. In offiziellen Statistiken tauchen sie jedoch meist nur als „mithelfende Familienangehörige“ auf (Statistisches Bundesamt 1995). Die Aufrechterhaltung des Patriarchats ist durch männliche Dominanz in gesellschaftlichen Schlüsselfunktionen gesichert. Die Bevölkerung ist überwiegend muslimischen Glaubens. Der Islam ist fast im ganzen Land präsent, der Lebensrhythmus ist von seinen Regeln, Festen und Feiertagen bestimmt. Die religiösen Autoritäten, der Imam, in einigen Regionen der Pastor, aber auch so genannte Marabuts genießen großes Ansehen und haben ein hohes moralisches Gewicht, z. B. bei Konfliktregelungen. Die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft schließt in Guinea jedoch gegenseitige Toleranz und Respekt der Andersgläubigen keinesfalls aus. Wichtig ist nicht, an welchen Gott man glaubt, sondern eher, dass man den Regeln der Moral, der Aufrichtigkeit und Solidarität folgt (vgl. Devey 1997). 13
Zum Vergleich: In Deutschland liegt er bei 1,3 (UNDP 2006).
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Insgesamt sind die Unterschiede zwischen Land- und Stadtbevölkerung in Guinea sehr groß. Die Mehrheit der Bevölkerung lebt von Landwirtschaft. Seinen Grundbedarf kann Guinea dennoch nicht allein decken, z.B. Reis muss importiert werden (vgl. Diallo 2000). Aufgrund der fehlenden Infrastruktur leben große Teile der ländlichen Bevölkerung ohne Strom, fließendes Wasser und Fortbewegungsmittel. Diese Lebensbedingungen bewirken eher ein Festhalten an überlieferten Lebensweisen, fördern aber auch die Landflucht der jüngeren Generation, wie es für Entwicklungsländer typisch ist (vgl. Nuscheler 2004). Die zunehmende Wanderung in die Städte lockert die Bindungen an die Großfamilie und zerstreut sie. Die Großstadt Conakry kann jedoch die Hoffnungen der Jugendlichen auf ein besseres Leben nicht erfüllen. Auch hier ist die Infrastruktur unzureichend ausgebaut und marode, so dass zahlreiche Menschen in großen Slumarealen leben. Die politisch und wirtschaftlich desolate Situation eröffnet der jungen Generation insgesamt wenig Perspektiven. Das Festhalten der politischen Führungsschicht an alten Machtstrukturen belebt auch die ethnische Identität neu und instrumentalisiert sie als Ein- und Ausschlussinstrument. Die traditionellen Familienstrukturen, bei denen das Handeln Einzelner nur im Verbund mit der Gemeinschaft denkbar ist und hierarchisch geregelt wird, sowie die jahrelange Diktatur, die aufgrund der Bespitzelung ein „tiefgründiges Misstrauen gegenüber allen“ gesät und „jede Einzelinitiative abgewürgt“ (Wiher 1998, 38) hatte, führt zu einer tiefen Lethargie der Menschen und hemmt die Entwicklung des Landes entscheidend. Entstanden ist ein korruptes System, bei dem jeder den größtmöglichen Profit für sich herauszuholen versucht. Die politische Stagnation Guineas wirkt sich auf die wirtschaftliche Entwicklung des Landes negativ aus. Investitionen aus dem Ausland bleiben aus und das im Land erwirtschaftete Kapital wandert zum Teil ins Ausland. In den Städten wächst daher eine Schattenwirtschaft besonders im Handelssektor heran. Fliegende Händler und provisorische Marktstände sind allgegenwärtig und sichern das Überleben großer Teile der Bevölkerung. Gleichzeitig breitet sich Arbeitslosigkeit aus und der Anteil der Erwerbspersonen an der Gesamtbevölkerung nimmt stetig ab. Die Zahl derjenigen, „die von der Tätigkeit e i ne s Menschen abhängen“ (Statistisches Bundesamt 1995), bzw. auf Zuwendungen von ins Ausland migrierten Familienmitgliedern angewiesen sind, wird größer. Die Zukunftsperspektiven der jungen Generation sind entsprechend eingeschränkt. Die Frauen werden in der Regel früh verheiratet und haben ein arbeitsreiches Leben vor sich, während die Männer versuchen, ihrem Status als Familienoberhaupt soweit wie möglich gerecht zu werden. Besonders in Conakry sind die Jugendlichen mit einer größeren Vielfalt von unterschiedlichen Lebensweisen konfrontiert. Die zunehmende Verbreitung von Radio, Fernsehen und Internet vermittelt ihnen detail-
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lierte Kenntnisse anderer Gesellschaften und weckt zusätzliche Bedürfnisse nach Veränderung der eigenen Verhältnisse. Aufgrund ihrer ökonomischen Situation bleibt jedoch die Mehrheit der Jugendlichen auf die Sicherung des Überlebens ihrer Familien beschränkt, was kaum Raum für alternative Lebenskonzepte zulässt. Einen adoleszenten Entwicklungsspielraum, der ein psychosoziales Moratorium voraussetzt, wie weiter unten näher ausgeführt wird, haben dementsprechend nur sehr wenige junge Menschen in Guinea zur Verfügung (vgl. Tapé 1999). Neben der Wanderung in die Städte innerhalb des Landes stellt die grenzüberschreitende Migration für viele junge Menschen Guineas die einzige Möglichkeit dar, das Leben ihrer Familien zu sichern. Es gibt keine offiziellen Zahlen hierüber, doch ist davon auszugehen, dass die Mehrheit in die umliegenden frankophonen Länder Westafrikas wandert und die Gruppe der MigrantInnen, die den Kontinent verlässt, relativ klein ist (vgl. Opitz 2001). Bei der außerkontinentalen Wanderung ist Frankreich das häufigste Zielland. Aufgrund der Kolonialgeschichte bestehen zwischen beiden Ländern engere Beziehungen und entsprechende familiale Netzwerke. Die Familien, aus denen die BildungsmigrantInnen stammen, repräsentieren die Elite der guineischen Gesellschaft. Sie gehören den gebildetsten und finanzkräftigsten Schichten an, verfügen häufig über internationale Mobilität und Vernetzung und arbeiten vielfach in beruflichen oder politischen Führungspositionen. Die Eltern der BildungsmigrantInnen sind häufig auf dem Land aufgewachsen und gehören in der Regel der ersten Generation ihrer Familien an, die eine weiterführende Schule in der Stadt besucht, manchmal auch eine Auslandsausbildung absolviert hat und moderne Berufe wie Techniker, Arzt, Krankenschwester, Kaufmann, Verwaltungsbeamte, Bankangestellte oder Politiker ausübt. Somit repräsentieren diese Familien hinsichtlich transformativer Lebensentwürfe die Avantgarde des Landes. Der Bildung ihrer Kinder messen sie einen hohen Stellenwert bei, für die gymnasiale Oberstufe wählen sie häufig gebührenpflichtige Privatschulen. Anders als ihre Eltern hat die Generation der heutigen AbiturientInnen selbst bei erfolgreicher Absolvierung des guineischen Bildungssystems keine Aussicht auf eine erfolgreiche Berufskarriere im In- und Ausland. Die finanziell vernachlässigten staatlichen Universitäten führen zu einer sinkenden Qualität der Ausbildung, die den Wettbewerb im internationalen Vergleich längst verloren hat. Dazu kommt, dass es aufgrund der desolaten Wirtschaftslage und steigender Arbeitslosigkeit immer weniger wahrscheinlich ist, dass die jungen Menschen in Guinea eine der von ihnen angestrebten Positionen erhalten werden. Das Auslandsstudium stellt daher in der Generation der heutigen guineischen BildungsmigrantInnen allgemein ein erstrebenswertes oder gar notwendi-
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ges Ziel dar, weil sie nur damit an den beruflichen Erfolg der Eltern anknüpfen können. Gleichzeitig bietet es die Möglichkeit, eines derjenigen Länder kennenzulernen, von denen sie durch Erzählungen bereits migrierter Studierender, aus Fernsehen und Internet ein Bild des modernen und fortschrittlichen’Lebens haben, nach dem sich eine wachsende Anzahl afrikanischer Jugendlicher sehnt. Neben der Chance, ein international anerkanntes Diplom zu erwerben, lockt die Aussicht, während der Studienzeit in einem Land mit größerem Konsumangebot, gehobenem Lebensstandard und demokratischen Verhältnissen zu leben, was der Aufbruchsstimmung des Jugendalters entgegenkommt. Entsprechend den erheblichen Differenzen des Bildungsgrades zwischen Männern und Frauen sind es deutlich mehr Männer als Frauen aus Guinea, die ein Studium im Ausland absolvieren. Auch für die Familien der Bildungselite ist es keineswegs selbstverständlich, ihren Töchtern die gleichen Möglichkeiten zu eröffnen wie ihren Söhnen. Angesichts der bestehenden Geschlechterbeziehungen in Guinea ist daher davon auszugehen, dass die Frauen, die ein Auslandsstudium beginnen, mit großer Wahrscheinlichkeit die Gruppe derjungen Frauen repräsentieren, die über besondere Fähigkeiten der Selbstbehauptung und Handlungsautonomie verfügen. Unter der weitaus größeren Gruppe der männlichen Studierenden finden sich mit höherer Wahrscheinlichkeit auch solche jungen Männer, die über weniger eigenes Interesse oder ausgeprägte Motive bzw. über eine geringere Handlungsautonomie verfügen. Die vorliegende Untersuchung wird sich im empirischen Teil mit den vielfältigen Motivlagen der BildungsmigrantInnen auseinandersetzen und danach fragen, von welchem inneren und/oder äußeren Druck sie angetrieben werden, ihr Land und ihre Herkunftskultur zu verlassen, und welchen Einfluss dieser Druck auf die Bewältigung der Migrationssituation hat. Es ist das Anliegen der vorliegenden Arbeit zu zeigen, wie die guineischen BildungsmigrantInnen ihr durch die verlängerte Ausbildungszeit gewährtes Bildungsmoratorium nutzen, um sich mit den sich transformierenden kulturell-gesellschaftlichen Bedingungen ihres Herkunftskontextes auseinanderzusetzen, und welche Lebensentwürfe sich im Zuge des Auslandsstudium herausbilden.
3.2 Migrationsspezifische Transformation Wie der Überblick über die Ansätze deutscher Migrationsforschung im vorangegangenen Kapitel deutlich macht, ist der jeweilige Blickwinkel entscheidend, aus welchem der Migrationsprozess betrachtet wird. Obgleich in jüngerer Zeit zunehmend transkulturelle Ansätze eine Rolle spielen, die mobile Migrationsstrategien und zeitlich befristete Aufenthaltsmuster einbeziehen und damit
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auch die Potentiale der transnationalen sozialen Räume sowie die Perspektiven der MigrantInnen selbst ins Blickfeld rücken (vgl. Pries 1997, Bash u.a. 1997, Gogolin/Pries 2004, Hess 2005), können diese Ansätze nicht dazu beitragen, die vom Individuum im Zuge des Migrationsprozesses vollzogenen Veränderungsprozesse zu verstehen. Fruchtbare Anknüpfungspunkte für die Analyse der Bewältigungsstrategien adoleszenter Migranten in diesem mehrdimensionalen Transformationsprozess finden sich in denjenigen theoretischen Ansätzen, die den Migrationsprozess als Umwandlungs- und Neubildungsprozess verstehen. Diese Blickrichtung verfolgt insbesondere die Biographieforschung um Ursula Apitzsch (1999), indem sie mit dem Blick auf das Individuum auch die Wechselwirkung zwischen individueller und gesellschaftlicher Transformation berücksichtigt. Bevor dieser theoretische Ansatz näher diskutiert wird, erfolgt ein Überblick über die grundsätzlichen Herausforderungen des Migrationsprozesses.
3.2.1 Das Migrationsprojekt – Motivation, Bedingungen, Ziele Unter Migration wird im Zusammenhang dieser Arbeit die grenzüberschreitende oder internationale Wanderung verstanden, bei der ein dauerhafter Wohnortwechsel bzw. eine tatsächliche Niederlassung im Zielland erfolgt14 (vgl. Treibel 1999). Migrationsprozesse setzen entscheidende gesellschaftliche Wandlungsprozesse in Gang, so dass Wanderungsbewegungen als elementarer Bestandteil modernisierter Gesellschaften angesehen werden können (vgl. Sassen 1996, Bade 2002). Auf individueller Ebene findet ein kompletter Wechsel der bisherigen individuellen, sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Bezüge statt, der bewältigt werden muss. Der Verlust des bis dahin gültigen umfassenden Sinnzusammenhanges und der Sprachgemeinschaft, in denen sich die Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster der MigrantInnen ausgebildet haben und auf denen sich ihre bisherige Identität gründet, führt zunächst zur Entwurzelung und zu einer damit verbundenen tiefen Verunsicherung. Die fehlende Lebensgrundlage müssen sie im Aufnahmeland durch soziale Interaktionsprozesse in Auseinandersetzung mit dem dort gültigen sozialen Bezugssystem erst wieder herstellen (vgl. Han 2005). In diesem Prozess muss die Trennung vom Herkunftsmilieu bearbeitet und eine Beziehung zur Ankunftsgesellschaft aufgenommen werden. Die veränderten sozial-kulturellen und gesellschaftlichen Bezüge erfordern eine Neubearbeitung der eigenen Identität und eine Neupositionierung zur Herkunftsgesellschaft in Abhängigkeit von den veränderten Bedingungen in der 14
Inwieweit die Migration ein singulärer Vorgang bleibt, sie sich zur Rückkehr-Migration oder zur Transmigration entwickelt, spielt zunächst keine Rolle.
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Aufnahmegesellschaft . Das Resultat dieses Prozesses ist eine – wie auch immer geartete – Veränderung bisheriger Deutungs- und Handlungsmuster. „Wenn eine Migrantin in ihre ursprüngliche Heimat zurückkehrt, dann ist ihre Wahrnehmung auch an Ort und Stelle von den Erfahrungen ihres gegenwärtigen Lebensraumes infiltriert. Wenn sie in ihrer Muttersprache denkt, ist diese von der Sprache ihres Aufnahmelandes beeinflusst. Jede Erinnerung an die eine prägt die Erinnerung an die andere Kultur mit, gestaltet sie um, durchkreuzt sie und befindet über sie“ (Hettlage-Varjas 2002, 191). Der individuelle Migrationsprozess ist immer in die Besonderheiten der sozialpolitischen Situation eingebettet. Dennoch entwickeln sich die einzelnen Biographien trotz gleicher sozial-gesellschaftlicher Rahmenbedingungen unterschiedlich. Die Bewältigung des Migrationsprozesses ist wesentlich abhängig von den sowohl vor als auch während der Migration individuell erlebten und verarbeiteten Erfahrungen. Hier spielen zunächst die Erfahrungen im Herkunftsland und die Umstände, die zur Migration geführt haben, eine entscheidende Rolle. Arbeitsmigration, Flucht vor Verfolgung oder Bildungsmigration gehen sowohl hinsichtlich der strukturellen Rahmenbedingungen als auch der individuellen Konstitution gänzlich unterschiedliche Erfahrungen voraus, die auf den Verlauf des Migrationsprozesses entscheidenden Einfluss haben. Die Herkunft aus einem dörflichen oder städtischen Umfeld und die damit verbundenen politischen Verhältnisse, aber auch kulturelle Praxen hinsichtlich der Geschlechter-, Generationen- und Verwandtschaftsverhältnisse haben die MigrantInnen in einer je spezifischen Weise geformt und bilden den Ausgangspunkt der durch die Migration angestoßenen Transformationsprozesse. Nicht zuletzt haben auch die engeren Familienbeziehungen selbst, eventuell unlösbare Konflikte sowie der Status der MigrantInnen innerhalb des Familienverbundes eine Bedeutung sowohl für die Entscheidung zur Migration als auch für deren Verlauf. So ist für die Bewältigung der migrationsbedingten Veränderungen entscheidend, inwieweit jemand als Delegierter seiner Familie ins Ausland geschickt wird, um das Ansehen der Familie zu mehren bzw. deren ökonomische Not zu lindern, oder ob die Migration eher das Resultat eigener Motive darstellt, etwa um sich aus unbefriedigenden Beziehungskonstellationen zu befreien (vgl. z.B. Apitzsch 1990, Kontos 2000, Lutz 2000b). Zum Zeitpunkt der Migration verfügen die Einzelnen also über ganz unterschiedliche biographische Erfahrungen und individuelle Fähigkeiten, die wiederum mit verschiedenen Absichten und Erwartungen an das Aufnahmeland verbunden sind. Der Verlauf des Migrationsprozesses hängt schließlich wesentlich von den kulturell-gesellschaftlichen bzw. politisch-strukturellen Bedingungen ab, mit denen die MigrantInnen im Aufnahmeland konfrontiert sind. Da sind einerseits die aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen, die abstrakt darüber entscheiden, ob,
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wie lange und unter welchen Maßgaben Einwanderer sich im Land bewegen dürfen. Dazu gehören die arbeitsrechtlichen Möglichkeiten – der Zugang zum offiziellen Arbeitsmarkt oder der Verweis auf den inoffiziellen Sektor, aber auch Untersützungsleistungen seitens der Behörden, solche finanzieller Art oder sogenannte Eingliederungshilfen, wie Sprachkurse o. ä. , die sie beanspruchen können. Andererseits sind damit auch strukturelle sowie in alltäglicher Kommunikation immer wieder hergestellte Ein- und Ausgrenzungsprozesse angesprochen, mit denen Einwanderer sich auseinanderzusetzen haben. Anhand des Zusammenspiels der zentralen Ungleichheitsdimensionen wie Geschlecht, ethnische Herkunft sowie sozialer Status der MigrantInnen sind diese Prozesse vielfach beschrieben worden (vgl. z. B. Mecheril 2003, Weber 2003, Riegel 2004). Grundlegend für jeden Migrationsverlauf ist der Ursprung, also die Motivation, aus der heraus die Migration betrieben wird. Das sogenannte Migrationsprojekt, die Ziele, die mit der Wanderung verfolgt werden, prägt in hohem Maße die Migrationsprozesse. Beispielhaft ist hier das Festhalten an den Remigrationsplänen der frühen „Gastarbeiter“ in der Bundesrepublik zu nennen, die ihr Leben in der Migration als Provisorium einrichten, obwohl es längst ein dauerhaftes geworden ist (vgl. Hunn 2005). Die Motivation zur Migration stellt gewissermaßen den Motor dar, der alle mit der Wanderung verbundenen Hindernisse zu überwinden hilft, der aber auch die Richtung vorgibt, in die der mit der Migration verbundene Veränderungsprozess weisen soll. Denn es ist ein grundlegender Unterschied, ob mit der Migration ökonomischer Wohlstand, die Befreiung aus unbefriedigenden Beziehungsmustern oder das eigene Überleben angestrebt wird. Grundsätzlich sind Migrationsbewegungen in die spezifischen historischen und strukturellen Kontexte eingebettet, die Entscheidung zum Verlassen des Heimatortes resultiert aus dem Zusammenspiel von „intrapersonellen, interpersonellen und strukturellen Bedingungen“ (Hess 2003, 113, vgl. auch Han 2005, 21f). Nach Han durchläuft dieser Entscheidungsprozess mehrere Phasen und ist häufig nicht rational begründet. Hieraus resultiert auch die methodische und theoretische Schwierigkeit der Migrationsforschung, das Phänomen Migration systematisch zu erfassen. Der Auslöser, über Veränderungen nachzudenken, ist meist die Wahrnehmung belastender gesellschaftlicher Umstände und die daraus resultierende Unzufriedenheit mit der eigenen Lebenssituation. Es folgt die gedankliche Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten einer Auswanderung und die Entwicklung von Motiven hierzu. Diese wird begleitet von der Informationssuche über mögliche Zielorte und deren Auswertung. Zentral im Zuge dieses Prozesses ist die „innere Bereitschaft“, also die Klärung der Frage, inwieweit „die Migration persönlich gewollt und bejaht wird oder nicht“, denn „sie bestimmt auch maßgeblich den späteren Verlauf der Integration in die Aufnahmegesellschaft“ (Han
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2005, 212). Dies zeigt sich beispielsweise bei vielen jugendlichen Aussiedlern aus der ehemaligen Sowjetunion, die aufgrund der Entscheidung ihrer Eltern in die Bundesrepublik kamen und selbst nur passiv am Entscheidungsprozess beteiligt waren. Sie haben mit erheblichen Schwierigkeiten auf sprachlicher, schulischer und beruflicher Ebene zu kämpfen, die auf die fehlende Migrationsmotivation zurückzuführen sind (vgl. ebd., 214). Prinzipiell wird die endgültige Entscheidung zur Migration meist nicht allein getroffen, sondern stellt eher das Resultat gemeinsamer Überlegungen innerhalb des Familienverbundes dar. Je nachdem, vor welchem Hintergrund diese schließlich getroffen wird, besteht seitens der MigrantInnen eine moralische Verpflichtung ihren Familien gegenüber, die Erwartungen auch zu erfüllen. Grundsätzlich sehen sich beide Geschlechter durch die Migration mit einer Neudefinition ihrer Geschlechterbedeutungen konfrontiert, da die mit Weiblichkeit und Männlichkeit verbundenen Bilder, Normierungen und Praxen sowie die Beziehungen zwischen den Geschlechtern kulturell bzw. gesellschaftlich unterschiedlich ausgestaltet sind. Die Bearbeitung dieser veränderten Geschlechterkultur scheint sich geschlechtsspezifisch unterschiedlich zu gestalten, ist jedoch vor allem abhängig vom jeweiligen Migrationskontext. Während männliche Einwanderer in Deutschland prinzipiell eher als Bedrohung – etwa als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt oder als Kriminelle – angesehen werden, gelten Migrantinnen eher als willkommen, da sie den Bedarf an flexibel einsetzbaren und gering bezahlten Dienstleistungen in Privathaushalten sowie im Gesundheits- und Betreuungswesen decken (vgl. Westphal 2004). Auch werden beispielsweise Diskriminierungserfahrungen von Männern eher als Angriff auf ihre Würde als Mann empfunden, während Frauen sie eher als soziale Ausgrenzung erleben (vgl. Herwartz-Emden/Westphal 1999). Die Erforschung der Auseinandersetzung mit den durch Migrationsprozesse veränderten Geschlechterkulturen hat gerade erst begonnen (vgl. Herwartz-Emden 2003). Bisherige Untersuchungen machen deutlich, dass MigrantInnen die Inhalte und Konzepte der Geschlechterbedeutungen in Deutschland nicht einfach übernehmen oder ablehnen. Vielmehr modifizieren sie diese während eines Auseinandersetzungsprozesses in einer für sie adäquaten Weise und entwickeln daraus eine eigene, neue Form von Weiblichkeit und Männlichkeit (vgl. Westphal 2004). Die in der Aufnahmegesellschaft vorherrschenden Bilder und Praxen hinsichtlich verschiedener ethnischer Gruppen veranlassen MigrantInnen, sich mit ihrer Herkunft in neuer Weise auseinanderzusetzen. So sind afrikanische EinwanderInnen wegen ihrer Hautfarbe von Ethnisierungsprozessen und Rassismus in Deutschland ganz anders betroffen als etwa Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion (vgl. Herwartz-Emden 2003). Die damit verbundenen Zuschreibungsprozesse rufen bei schwarzen MigrantInnen folglich einen anderen Um-
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gang mit ihrer Herkunft hervor, der wiederum in engem Zusammenhang mit ihrem Migrationsstatus steht. Die alltägliche Behandlung als Drogendealer beispielsweise hat auf die Identitätsarbeit eines afrikanischen Flüchtlings andere Auswirkungen als auf einen afrikanischen Studenten (vgl. Niedrig/Schroeder 2003, Priso 2003). Migration bewirkt in der Regel einen Wechsel des sozialen Status, der bewältigt werden muss. Flüchtlinge sehen sich häufig mit einem sozialen Abstieg konfrontiert, während ArbeitsmigrantInnen meist auswandern, um ihren sozialen Abstieg in der Herkunftsgesellschaft aufzuhalten. Afrikanische BildungsmigrantInnen stammen meist aus den oberen sozialen Schichten ihres Landes und erfahren durch ihre Migration nach Deutschland einen deutlichen Statusverlust. Denn sie genießen aufgrund ihrer Hautfarbe ein geringes Ansehen und sehen sich zusätzlich Diskriminierungserfahrungen ausgesetzt. Diese tiefgreifenden Veränderungsprozesse, mit denen MigrantInnen konfrontiert sind, bieten einerseits die Chance, bisherige Gewissheiten neu zu überdenken und innere Potentiale zur Entfaltung zu bringen. Gleichzeitig besteht jedoch die Gefahr der Überforderung, besonders wenn das Umfeld keine ausreichende Unterstützung anbietet. Die Bedingungen der Aufnahmegesellschaft beeinflussen somit wesentlich den Migrationsverlauf. Zu berücksichtigen ist auch hier das jeweilige Zusammenspiel zwischen intrapersonellen, interpersonellen und strukturellen Bedingungen.
3.2.2 Migration als individuelle und gesellschaftliche Transformation Zentraler Bezugspunkt der vorliegenden Arbeit, die den Fokus auf die Identitätsentwicklung des jugendlichen Individuums in der Migration legt, ist die Biographieforschung. Diese legt besonderes Augenmerk auf das individuelle Veränderungspotential, wenn sie die MigrantInnen selbst in den Blick nimmt und anhand der erzählten Lebensgeschichte analysiert, wie der Migrationsprozess bewältigt wird. Dabei treten die kreativen Potentiale in den Vordergrund, mit denen die Menschen sich in der Migration aus der Situation des Leidens herausbewegen. Migration steht in der Spannung von Selbst- und Fremdbestimmung, in der eine Wechselwirkung zwischen Aktivität und Leiden besteht, die in der biographischen Fallanalyse der MigrantInnen Aufmerksamkeit erhält (vgl. Kontos 1999). Unter dem Begriff der „Traditionsbildung“ (Apitzsch 1999a) wird die Auseinandersetzung des Einzelnen mit der Migrationssituation untersucht. Von Bedeutung sind hierbei insbesondere die „biographischen Ressourcen, die von einer Generation an die andere weitergegeben und von jener in spezifischer Weise bearbeitet werden, um gerade in sozialen Krisensituationen –
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3 Chancen und Risiken adoleszenter Bildungsmigration
und als solche müssen Migrationssituationen zweifellos verstanden werden – Lösungen voranzutreiben, die das handelnde Subjekt nicht völlig entwurzeln, sondern sein traditionales (Familien-)Wissen an moderne Anforderungen anschließbar machen“ (Apitzsch 1996, 15). Es geht dabei um Lebensregeln, die in einem anderen Zusammenhang entwickelt wurden und nun in der Migrationssituation in Konfrontation mit der Aufnahmegesellschaft eine besondere Bedeutung erhalten. Die sogenannten Prozess-Strukturen der Biographie lassen erkennen, wie sich die Subjekte mit Ereignissen und Anforderungen ihrer Umwelt auseinandersetzen, z. B. wie die Individuen mit Ausschlussprozessen der Gesellschaft umgehen. Die MigrantInnen werden hier nicht verstanden als Repräsentanten einer „Traditionsfortsetzung“ ihrer Herkunftsgesellschaft, sondern in der Reproduktion des alltäglichen Lebens findet stets von jedem einzelnen Individuum auch „Traditionserneuerung“ statt (Apitzsch 1996, 11f). Die biographische Situation wird als Ausgangspunkt der Lebensweltanalyse genommen, bei der die Traditionsbildung im Zusammenspiel verschiedener Lebenswelten eine jeweils eigene Gestalt erhält. Die Menschen im Migrationsprozess befinden sich auf der Suche nach sozialer Zugehörigkeit in der neuen Gesellschaft und unternehmen daher eine besondere biographische Anstrengung, um einen symbolischen Raum von Traditionalität wiederherzustellen und damit ihren Platz in der Aufnahmegesellschaft bestimmen zu können (vgl. Apitzsch 1999). Die Herstellung des symbolischen Raumes findet unter den jeweiligen Rahmenbedingungen der Aufnahmegesellschaft statt, so dass bei der biographischen Analyse die Ressourcen des Einzelnen gerade im Zusammenhang mit den spezifischen Bedingungen der Migrationssituation beachtet werden. Unter Traditionsbildung wird „die soziale Leistung der modernisierten Individuen selbst“ (Apitzsch 1996, 30) verstanden. „Tradition ist in modernen Gesellschaften daher nur in der Gestalt von Traditionsfortbildung, Traditionsneubildung und kultureller Reflexivität denkbar, die auch eine Interferenz zwischen den Lebenswelten der 'Fremden' und der 'Einheimischen' notwendig mitdenken lässt“ (Apitzsch 1999, 10). Die Migrationsbiographie wird verstanden als Modell gesellschaftlicher Transformation. Sie ist Ausdruck der „Auseinandersetzung von Individuen mit Modernisierungsprozessen“ in der „sich entwickelnden Weltgesellschaft“ (Apitzsch 1993, 12). Diese Auseinandersetzung findet in der Herkunftsgesellschaft ebenso wie in der Aufnahmegesellschaft statt. Gesellschaftliche Transformationsprozesse gehen mit der Ausbildung unterschiedlicher Lebensformen und Brüche quer durch eine Gesellschaft einher. Jede Migrantin, jeder Migrant hat sich bereits in der Heimat mit Neubildungen beschäftigt, die Wanderung ist sehr häufig deren Resultat. Die Transformation wird von Individuen selbst angetrieben und erhält in der Biographie
3.2 Migrationsspezifische Transformation
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ihre jeweilige Gestalt. Anhand der Migrationsbiographie kann gezeigt werden, wie der Prozess der „Aufbewahrung und Bearbeitung der Vorgeschichte in der Gegenwart“ (ebd.) im Individuum vonstatten geht und damit Teil der gesellschaftlichen Transformation ist. Das Konzept der Traditionsbildung ermöglicht auch die Untersuchung der in der Migrationsforschung an Bedeutung zunehmenden Transmigrationsprozesse15 und der damit verbundenen transnationalen sozialen Räume16. Denn diese sind nicht – wie häufig angenommen – als geographische Orte oder flächenräumliche „Behälterräume“ (Pries 1997, 26) zu verstehen, sondern vielmehr als „unsichtbare Strukturen vielfach vernetzter staatlicher, rechtlicher und kultureller Übergänge, an denen die Individuen sich biographisch orientieren und in die sie zugleich als Erfahrungskollektiv verstrickt sind“ (Apitzsch 2003, 69). Es handelt sich also um soziale Räume, in denen die Individuen im Zuge vermehrter Mobilität mit den verschiedenen sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Bezügen konfrontiert werden und in denen sie in der Auseinandersetzung mit diesen ihre jeweiligen Identitätsentwürfe modifizieren (vgl. auch Pott 2002). Das so verstandene Konzept des transnationalen Raumes ermöglicht mit seinem Fokus auf den individuellen Biographien, Transformationsprozesse auch der mobilen Migrationsstrategien aufzuzeigen. Generell wird durch Migration ein Transformationsprozess angestoßen, der eine neue Handlungsautonomie bewirken kann, indem sich MigrantInnen mit ihren biographischen Erfahrungen auseinandersetzen, sie in Frage stellen, instrumentalisieren oder auch weiterentwickeln. Der Verlauf dieses Prozesses findet in Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Strukturen sozialer Ungleichheitsverhältnisse sowie den sozial-kulturellen Bedeutungen und den Diskursen darüber statt. Das Verhältnis zwischen den Strukturen sozialer Ungleichheitsverhältnisse, zwischen ihren sozial-kulturellen Bedeutungen und der individuellen Verortung gestaltet sich somit als „Möglichkeitsbeziehung“ (Riegel 2004, 72), anhand derer die Chancen und Risiken für migrationsbedingte Veränderungsprozesse analysiert werden können. Der Ansatz der Traditionsbildung gibt für die vorliegende Studie insbesondere dann wertvolle Hinweise, wenn die Transformationsprozesse nicht nur in progressiver, sondern auch in regressiver Hinsicht untersucht werden und bei der Analyse des Migrationsverlaufs die „Dynamik der Übertragungs- und Aneignungsprozesse“ (Lutz 2000b, 41) in den Mittelpunkt gestellt wird. 15
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Migration findet mit fortschreitender Globalisierung in immer vielfältigerer Form statt. Neben der dauerhaften Übersiedlung von einem Land in ein anderes, gewinnt die Transmigration an Bedeutung, bei der ein Wechsel zwischen verschiedenen Orten der Normalzustand ist (vgl. Gogolin 2006). Vgl. Pries 1997; Bash u.a. 1997; Apitzsch 2003.
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Er ermöglicht es, die „Integrationsarbeit“ (Lutz 2000b, 45) der MigrantInnen als subjektive Handlungskompetenz zu betrachten und damit in einem umfassenderen Sinne zu beleuchten, als es die Migrationssoziologie üblicherweise tut (vgl. Treibel 1999). Integrationsarbeit der MigrantInnen bezeichnet in diesem Zusammenhang „die (völlig unspektakuläre und großenteils unsichtbare) Anstrengung, unter veränderten Alltagsbedingungen eine alltägliche Ordnung aufrechtzuerhalten, neu zu strukturieren oder zu reorganisieren, zu deren Realisierung die selbstreflexive Auseinandersetzung mit den eigenen Handlungsmaximen, dem biographischen Aktionsschema und der möglicherweise dazu konträr erfahrenen Lebenswelt notwendig ist“ (Lutz 2000b, 45). Die Biographien von MigrantInnen werden aus dieser Perspektive als ein Resultat subjektiver Identitätsarbeit angesehen, die sich in der individuellen Auseinandersetzung mit den strukturellen Bedingungen – den Unsicherheiten und Widersprüchlichkeiten – der Aufnahmegesellschaft herausbilden. Der Zugang über die biographische Arbeit bei MigrantInnen ist von Lutz konzeptionell so angelegt, dass auch die psychischen Anteile dieser Integrationsarbeit in Verbindung zu anderen sozialen Prozessen beschrieben werden können (vgl. ebd.). An diesem Anspruch wird mit der vorliegenden Arbeit angeknüpft, indem eine Verbindung zwischen sozialen und psychischen Prozessen bei der Bearbeitung der Migrationssituation hergestellt wird.
3.2.3 Fazit Migration stellt ein komplexes Geschehen dar, an dem viele verschiedene Faktoren beteiligt sind. Das Verlassen des vertrauten Umfeldes und die Neuorientierung und Verankerung in der Ankunftsgesellschaft rufen zunächst eine grundlegende Verunsicherung hervor, die eine Bearbeitung der eigenen Identität provoziert. In Auseinandersetzung mit den Bedingungen der Aufnahmegesellschaft werden bisherige Gewissheiten in Frage gestellt, einer Überprüfung unterzogen und schließlich wird eine neue Position dazu eingenommen. Für eine Analyse der Bewältigung dieser Krisensituation ist das Konzept der Traditionsbildung anschlussfähig, nach dem die Bearbeitung des Migrationsprozesses wesentlich abhängig ist von der individuellen Konstitution bzw. den biographischen Ressourcen (vgl. Apitzsch 1999), die die MigrantInnen in ihrem jeweiligen familialen und kulturell-gesellschaftlichen Kontext bis zu ihrer Migration erworben haben und in Auseinandersetzung mit den gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen und sozial-kulturellen Praktiken der Aufnahmegesellschaft mobilisieren können (vgl. Apitzsch 1996). Für eine dezidierte Analyse der migrationsbedingten Prozesse der Orientierung und Neuverankerung in der Aufnahmege-
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sellschaft ist das Konzept der biographischen Ressourcen jedoch zu unspezifisch, es bleibt auf der Handlungsebene als soziale Praxis stehen. Denn bei der Identitätsarbeit von MigrantInnen spielen ja nicht nur bewusste, erzählbare und in Handlungsmustern sichtbare soziale Prozesse eine Rolle, sondern die (selbstreflexive) Auseinandersetzung mit den veränderten sozialen Bedingungen der Aufnahmegesellschaft beinhaltet ebenso die psychische Arbeit an bewussten und unbewussten inneren Bildern und ihre jeweilige Abgleichung mit der Realität. In einer umfassenden Analyse der migrationsbedingten Transformation der Identität muss dies folglich Berücksichtigung finden. Insgesamt soll mit der vorliegenden Studie der dichotome Blick darauf, inwieweit die mitgebrachten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster beibehalten oder die der Aufnahmegesellschaft übernommen werden, überwunden werden. Denn Wanderungsprozesse eröffnen „einen Raum, der Individuum und Umwelt, Gegenwart und Vergangenheit, bewusste und unbewusste Kulturaspekte verbindet“ (Hettlage-Varjas 2002) und in dem sich die Identität in einer spezifischen Weise transformiert. Es geht um die Perspektive einer „gelebten Interkulturalität“, in der sich Elemente vielfältiger Lebensformen finden lassen im Sinne einer „kulturellen Dynamik, die nicht Unvereinbarkeiten postuliert, sondern Koexistenz ermöglicht“ (Gogolin 2000, 26). Die vorliegende Arbeit stellt die Bearbeitung dieser Neudefinition der Identität in ihren bewussten und unbewussten Dimensionen in den Mittelpunkt. Des Weiteren soll bei der Untersuchung von BildungsmigrantInnen der Blick geöffnet werden für die dieser Lebensphase eigenen Herausforderungen. Diesen widmet sich das folgende Kapitel.
3.3 Adoleszenter Umbildungsprozess Das hier vertretene Sozialisationskonzept folgt weniger reflexiv-handlungstheoretischen Ansätzen, die Entwicklungsprozesse des Menschen als ein Wechselspiel von inneren und äußeren Impulsen begreifen und den Menschen als schöpferischen Interpreten und Gestalter seiner eigenen Entwicklung und auch seiner sozialen Lebenswelt verstehen (vgl. Hurrelmann 2005). Die Theorie der Adoleszenz, wie sie insbesondere von Hans Bosse (z.B. 1994, 2000) und Vera King (2002) formuliert wurde, legt ihren Fokus vielmehr auf die „Sozialität des Individuums gleichsam von innen heraus, in Hinblick auf die Art und Weise, wie sich die Dialektik von Individuation und Generativität gestaltet“ (King 2002, 14). Ausgangspunkt ist das besondere Veränderungspotential, das der Adoleszenz innewohnt. Diese Perspektive von innen ermöglicht es, Entwicklungsprozesse danach zu untersuchen, unter welchen Bedingungen sich Wandel oder
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3 Chancen und Risiken adoleszenter Bildungsmigration
Kontinuität strukturell konstituieren. Dazu wird das Ineinanderwirken der gesellschaftlichen, familialen sowie der individuellen Ebene beleuchtet, um die Bedingungsfaktoren für adoleszente Umbildungsprozesse zu analysieren. Es geht also um die Frage, unter welchen historischen, kulturell-gesellschaftlichen sowie sozialen Bedingungen Adoleszenz als eigene Lebensphase überhaupt möglich ist. Mit dieser Fragestellung ist ein wichtiger Unterschied zu den vorherrschenden jugendsoziologischen Konzepten formuliert, die das Phänomen Jugend vorwiegend als Statuspassage untersuchen, während der definierte Entwicklungsaufgaben zu bewältigen sind, die einer entsprechenden Bewertung unterliegen. Jugend wird jeweils von außen, aus der Perspektive der Erwachsenengeneration definiert, deren Interesse darin besteht, dass sich die Jugendlichen – nach einer Phase des Experimentierens – schließlich in ihre Welt integrieren sollen. Dieser Integrationsansatz gesteht den Jugendlichen zwar einen gewissen Spielraum zur subjektiven Ausgestaltung ihres Lebens zu und erkennt das gestalterische Potential der neuen Generation als Innovation an, grundsätzlich geht er jedoch von einer Anpassung an bestehende Strukturen aus. Die Adoleszenztheorie hingegen richtet ihren Fokus auf die Potentiale dieses Entwicklungsprozesses und fragt, welche gesellschaftlichen und individuellen Bedingungen und Konstellationen diese Entwicklungspotentiale zur Entfaltung bringen bzw. ihre Entfaltung behindern können. Die Adoleszenz wird als Umwandlungsprozess vom Kind zum Erwachsenen verstanden, während dessen grundlegende Veränderungen in physischer, psychischer und sozialer Hinsicht erfolgen. Zum Verständnis dieses Prozesses müssen daher alle drei Dimensionen und ihr jeweiliges Zusammenwirken Berücksichtigung finden. Eine scharfe Trennung zwischen den Begriffen Jugend und Adoleszenz ist schwer zu ziehen (vgl. Rang 2001). Die bevorzugte Verwendung des Begriffes Adoleszenz für diesen Entwicklungsprozess resultiert aus dem sozialwissenschaftlichen Ansatz, die Dimension des Psychischen in soziologische Analysen aufzunehmen und insbesondere psychoanalytische Ansätze (vgl. z.B. Blos 1973, Erdheim 1982, Leuzinger-Bohleber/Mahler 1993, Bohleber 1999) für die Theorie der Adoleszenz zu rezipieren (vgl. Flaake/King 1992, Bosse 1994, Schröder/Leonhard 1998, Bosse/King 2000, Flaake 2001, King 2002, King/Flaake 2005). Sie begründet sich jedoch auch damit, dass sich der Begriff Adoleszenz vom Alltagsverständnis dessen, was Jugend ist, abgrenzt und daher mit ihm ein theoretisch differenzierterer Abstraktionsgrad hinsichtlich der stattfindenden Prozesse möglich ist17. Das theoretische Konzept der Adoleszenz gilt es im Folgenden zu erörtern. 17
Zur detaillierten Auseinandersetzung der Begriffsverwendungen Jugend und Adoleszenz siehe King 2002, 19ff.
3.3 Adoleszenter Umbildungsprozess
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3.3.1 Die virulenten Themen der Adoleszenzphase Die Adoleszenz als Übergangsphase vom Kindsein zum Erwachsensein wird durch die psychodynamischen Entwicklungsprozesse der Pubertät angestoßen. Sie geht mit umfangreichen Veränderungsprozessen und Neuorientierungen einher und gilt als Zeit der Identitätsfindung. Zentrale Themen, mit denen sich die jungen Menschen in diesem Entwicklungsprozess auseinandersetzen, sind die Ausgestaltung einer geschlechtlichen Identität, die Modifizierung des Verhältnisses zu den Eltern, die Gestaltung eigener Liebes- und Arbeitsbeziehungen sowie die Entwicklung eigener Zukunftsperspektiven. Grundsätzlich geht es bei der Beschäftigung mit diesen Themen um eine Bearbeitung der bisherigen Erfahrungen und um die schrittweise Entwicklung und Ausbildung eines eigenen Lebensentwurfs. Einen wesentlichen Ausgangspunkt der adoleszenten Entwicklung stellt die Familie18 dar, insbesondere die in ihr erfahrenen primären Beziehungskostellationen, Geschlechterentwürfe sowie Deutungs-, Handlungs- und Wahrnehmungsmuster, auf deren Grundlage sich die kindliche Entwicklung vollzog. Die im Zuge der Adoleszenz zunehmende Hinwendung nach außen – zu Bildungs- oder Freizeitinstitutionen, besonders aber zur Gleichaltrigengruppe – provoziert die Infragestellung bisheriger Gewissheiten und fördert die adoleszente Auseinandersetzung mit der eigenen Gewordenheit. Die Hinwendung nach außen bedeutet gleichzeitig die „Erprobung neuer Bindungen“, sowohl Freundschafts- wie auch Liebesbindungen, aber „auch die neue Bindung an versachlichte Objekte, Projekte, Berufswünsche, Interessen und Betätigungen – an innere Entwürfe von ‚Arbeit’ im weitesten Sinne“ (King 2002, 103). Der dieser Phase eigene innere Drang zur Umgestaltung speist sich aus der besonderen psychosexuellen Erregung, die die Adoleszenten antreibt, mit neuen Beziehungsformen zu experimentieren (vgl. Reiche 2000). Im Zuge dieses Prozesses werden emotionale Erfahrungen aus der Kindheit „neu bearbeitet, indem sie neu erlebbar und dadurch neu reflektierbar werden“ (King 2002, 113). Der adoleszente Entwicklungsprozess ist insgesamt geprägt von starken Ambivalenzen, einerseits das Alte fortzusetzen und andererseits neue Wege zu wagen. Die Bearbeitung dieses Spannungsfeldes – von Vera King als „Dialektik von Individuation und Generativität“ (2002) konzipiert – ist die Hauptaufgabe der adoleszenten Auseinandersetzung. Welche Kräfte sich schließlich durchsetzen, wie sich Elemente aus bisherigen Entwürfen mit neuen Elementen verbinden und wie bisherige Erfahrungen verarbeitet und in einen neuen Lebensentwurf integriert werden können, ist abhängig vom jeweiligen Verlauf der Adoleszenz. Die Bearbeitung der adoleszenten Themen hängt wesentlich von der „Qualität dieser 18
Familie steht hier in einem erweiterten Sinne für die primäre Bezugsgruppe, die in der Kindheit zentrale Bedeutung hat.
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3 Chancen und Risiken adoleszenter Bildungsmigration
Übergangsphase“ (ebd., 28) ab, also davon, inwieweit den Adoleszenten Zeit und Raum zugestanden wird, um mit ihren eigenen kreativen Potentialen experimentieren können. Hans Bosse hat dafür den Begriff „psychosozialer Möglichkeitsraum“ (Bosse 2000, 54f) geprägt, der „jene weitergehenden psychischen, kognitiven und sozialen Separations-, Entwicklungs- und Integrationsprozesse zulässt, die mit dem Abschied von der Kindheit und der schrittweisen Individuierung im Verhältnis zur Ursprungsfamilie, zu Herkunft und sozialen Kontexten in Zusammenhang stehen“ (King 2000, 29). Das Konzept des psychosozialen oder auch adoleszenten Möglichkeitsraums erlaubt eine Verbindung der individuellen (psychischen, physischen und sozialen) Perspektive mit den jeweiligen strukturellen (familialen, kulturell-gesellschaftlichen und historischen) Bedingungen. Anhand dieses Konzeptes sollen im Folgenden die zentralen Themen der Adoleszenz und die mit ihnen verbundenen Anforderungen näher beleuchtet werden. Die Diskussion der Themen in aufeinanderfolgenden Unterkapiteln resultiert aus den begrenzten Möglichkeiten der schriftlichen Ausdrucksform und nicht aus einer zeitlichen oder inhaltlichen Rangfolge, die sie einnehmen.
3.3.1.1 Auseinandersetzung mit dem eigenen Geschlecht Die mit der Pubertät angestoßene körperliche Reifung erfordert eine Beschäftigung mit dem sich verändernden Körper und den damit verbundenen Bedeutungen. Der heftige Triebschub überfordert das kindliche Ich zunächst, denn es kann die körperlichen Veränderungen erst allmählich in „ein neues Körperbild integrieren“ (Leuzinger-Bohleber/Mahler 1994, 23f). In der dadurch ausgelösten Adoleszenzkrise muss die veränderte genitale Körperlichkeit – als zunächst fremde – psychisch angeeignet werden. Damit verbunden sind die Verarbeitung des Verlusts der kindlichen Welt und die Wiederherstellung der „selbstverständlichen, selbstgewissen Verankerung im Körper-Selbst auf neuem Niveau“ (King 2002, 171). Mit Aufgabe der kindlichen Vorstellung der Zweigeschlechtlichkeit erfolgt auch eine Abkehr von den kindlichen Liebesobjekten, in der Regel der Identifizierung mit Mutter und Vater. Die unwiderrufliche Entwicklung zu Mann oder Frau macht es erforderlich, das eigene Geschlecht anzunehmen und eine weibliche bzw. männliche Identität aufzubauen (vgl. Bosse 2000). Die adoleszente Auseinandersetzung mit dem eigenen Geschlecht findet jeweils eingebettet in die gesellschaftlich vorherrschenden Geschlechterbilder statt. In diesem Prozess werden die bewussten und unbewussten Geschlechterbedeutungen entsprechend der sozialen Herkunft, den Familienbeziehungen und den Bildern davon, was Weiblichkeit und Männlichkeit bedeutet, auf den Prüf-
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stand gestellt. Die Adoleszenz stellt also jene Phase im Leben dar, in der die Bedeutung des Geschlechts in besonderer Weise bearbeitet wird. „In ihr verbinden sich die sozialen Prozesse der Vergeschlechtlichung mit den individuellen Formen psychischer Verarbeitung der körperlichen Veränderungen und der Aneignung des auch im kulturellen Sinne des Wortes ‚geschlechtsreif’ und damit für Vergeschlechtlichungsprozesse ‚reif’ gewordenen Körpers. In diesem Sinne ist die Adoleszenz die heiße Phase der Produktion von Geschlechtlichkeit“ (King 2002, 67). Zugleich ist sie damit auch die Phase, in der Veränderungen der Geschlechterbedeutungen am ehesten möglich sind. Die historisch determinierte Differenzierung zwischen weiblicher und männlicher Identitätsentwicklung ist auf theoretischer Ebene umfassend kritisiert worden. Ebenso wurde die geschlechterpolarisierende Aufteilung zwischen Bindung und Autonomie, Familie und Kultur19 als undialektisch bzw. unreflektiert analysiert hinsichtlich der kulturell-gesellschaftlich vorherrschenden Machtverhältnissen zwischen den Geschlechtern (vgl. King 2002, 61ff). Die adoleszenztheoretische Folgerung liegt darin, die Adoleszenz für beide Geschlechter konsequent in ihrer Dialektik von Individuation und Generativität zu analysieren. Beide Geschlechter müssen sich im adoleszenten Entwicklungsprozess mit Trennungs- und Individuierungskonflikten auseinandersetzen, ebenso wie sie mütterliche und väterliche Identifizierungen in ihren eigenen Entwurf von Geschlechtlichkeit integrieren müssen (vgl. Reiche 1990). Aus dieser Perspektive „können dann auch die verschiedenen (sozialen und theoretischen) Konstruktionen von ‚Weiblichkeit’ und ‚Männlichkeit’ in Hinblick auf unterschiedliche Varianten der Auflösung der Dialektik von Individuation und Generativität präziser kritisch beleuchtet oder dekonstruiert werden“ (King 2002, 66). Die Art der adoleszenten Auseinandersetzung mit diesen Konflikten beziehungsweise Identifizierungen gibt Aufschluss über die mit dem Geschlecht in dem jeweiligen sozialen Kontext verbundenen Bedeutungen sowie über die Spielräumen, die für Veränderungen dieser Bedeutungen zugestanden werden. Weibliche und männliche Adoleszenzverläufe sind also immer daraufhin zu untersuchen, im Rahmen welcher sozialen Konstruktionen der Geschlechter sie stattfinden und wie sich die Machtbeziehungen zwischen den Geschlechtern jeweils gestalten. Gleichzeitig ist danach zu schauen, wie eng oder weit die 19
Der männliche Entwicklungsprozess wird nach dieser Auffassung als Individuierungsprozess definiert, in dessen Verlauf ein Generationenkonflikt stattfindet, der die Ablösung des Jungen von der Herkunftsfamilie und damit verbunden seine Enkulturation vorantreibt. Der weibliche Entwicklungsprozess wird demgegenüber zugleich als geprägt von der Zuständigkeit für die Ausgestaltung der Generativität verstanden, woraus einerseits eine engere Bindung an die Herkunftsfamilie, andererseits entsprechende Benachteiligungen im beruflichen Bereich resultieren. Dieser polarisierenden Sichtweise gemäß werden weibliche Sozialisationsprozesse vorwiegend unter dem Aspekt Bindung und Generativität betrachtet (vgl. King 2002).
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3 Chancen und Risiken adoleszenter Bildungsmigration
adoleszenten Spielräume hinsichtlich einer psychischen und sozialen Transformation der Geschlechterbedeutungen ausgestaltet sind.
3.3.1.2 Bindung und Autonomie – Modifikation der Beziehung zu den Eltern Die adoleszente Auseinandersetzung mit dem eigenen Geschlecht ist eng verbunden mit dem zweiten zentralen Thema der Adoleszenz, der Ablösung von den Eltern20 und der Modifizierung der Beziehung zu ihnen. Die innerpsychische Aneignung der reifen Genitalität als Frau oder Mann macht die Loslösung von primären Liebesobjekten, den idealisierten Eltern der Kindheit, notwendig und erfordert eine Objektwahl außerhalb der Ursprungsfamilie. Die Gleichaltrigengruppe gewinnt als außerfamiliale Bezugsgruppe an Bedeutung, da sie einerseits die Begegnung mit neuen Liebesobjekten und die Bewältigung der Unsicherheit mit der eigenen Geschlechtlichkeit ermöglicht. Andererseits bietet sie die Gelegenheit neuer Identifizierungen und damit verbundener neuer „Kommunikations- und Beziehungsstile“ (King 2002, 110), von denen aus „die geläufigen Beziehungsmuster und familialen Selbstverständlichkeiten, wie sie aus der Familie bekannt und präreflexiv eingespielt sind, reflektierbar“ (ebd.) werden. Diese Entwicklung ist jedoch keine lineare, die Abkehr von den Eltern ruft zunächst auch Verlustängste hervor und ist von starken Ambivalenzen des Gefühlserlebens begleitet. Die Adoleszenten suchen eine neue Balance zwischen sich und den anderen, sie befinden sich in einem „Zwischenstadium von NichtMehr und Noch-Nicht [und sind sich] selbst immer auch Fremde in einer unbekannten Welt“ (Bosse/King 1998, 216f). Die Rückbindung an die vertrauten Beziehungsmuster in der Familie ist daher immer wieder notwendig, um außerhalb der Familie neue Liebesobjekte erobern zu können. Gleichzeitig treiben aggressive Impulse, wie zum Beispiel die Hassgefühle gegen die Eltern, die Adoleszenten aus der Familie heraus. Diese „Trennungsaggression“ (Bosse 2000, 57) ist „ein äußerst aktiver, in die Beziehung eingreifender Schritt“ (ebd.), durch den eine innere Abgrenzung erst möglich und der Individuierungsprozess vorangetrieben wird. Entscheidend dabei ist, dass die Jugendlichen nicht in Entidealisierung und Abwertungshaltung verharren müssen, sondern eine positive Beziehung zu den Eltern entwickeln und sie in ihrer Verschiedenartigkeit akzeptieren können. Im günstigen Fall wird im Zuge des adoleszenten Prozesses eine befriedigende Lösung zwischen Autonomie und Bindung gefunden, durch die eine Ablösung und Abgrenzung von den primären infantilen Liebesobjekten erfolgen kann, um eine emotionale Unabhängigkeit zu erreichen und gleichzei20
Die Eltern stehen hier stellvertretend für die primären Beziehungserfahrungen
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tig das Gefühl des Verbundenseins aufrechtzuerhalten. Ablösung von den Eltern bedeutet aus adoleszenztheoretischer Perspektive somit nicht einfach Umformung der Beziehung in einem äußerlich gemeinten Sinn, „sie wird vielmehr als Neukonstruktion und zudem als mentale Umstrukturierung innerer Modelle von primären familialen Beziehungserfahrungen erkennbar“ (King 2002, 114). Neue Objektbeziehungen, wie sie beispielsweise in der Gleichaltrigengruppe eingegangen werden, knüpfen zwar an die primären Beziehungserfahrungen an, diese können jedoch im Zuge der adoleszenten Auseinandersetzung neu bearbeitet, reflektiert und damit auch innerlich umgestaltet werden. Hierin liegt das Potential der Adoleszenz, Neues herauszubilden, also von den elterlichen Modellen abweichende Lebensentwürfe zu formen. Für den so gemeinten Individuierungsprozess ist also „gerade der Perspektivenwechsel zwischen inner- und außerfamilialen intra- und intergenerationellen Beziehungserfahrungen und Kommunikationsschemata“ (ebd., 110f) von zentraler Bedeutung. Adoleszente Ablösung im generativen Sinne, wie sie als Umgestaltung kindlicher Bindungen mit Ablösung von den Eltern beschrieben wurde, bedeutet zugleich auch die Ablösung der Eltern als vorausgehender Generation (vgl. King 2002, 36). Hier ist die soziologische Perspektive angesprochen, nach der die nachwachsende Generation an die Stelle der bisherigen tritt, was Mannheim mit „Neueinsetzen neuer Kulturträger“ (Mannheim 1964, 530) beschrieben hat21, King aber in einem weiteren Sinne unter dem Begriff Generativität fasst. Auf Seiten der Jugendlichen ist damit „eine Position und Haltung psychischer und sozialer Wirkmächtigkeit, Fürsorgefähigkeit und Produktivität [gemeint], die sich auf die unterschiedlichsten Bereiche und Aktivitäten beziehen kann“ (King 2002, 37). Auf Seiten der Erwachsenengeneration bedeutet Generativität die „für die Individuationsprozesse der Adoleszenten (…) notwendigen Haltungen, Ressourcen, Kompetenzen und bereitgestellten Rahmenbedingungen“ (ebd.). Damit sind die Herausforderungen angesprochen, die intergenerational zu bewältigen sind, um den Generationenwechsel vollziehen zu können. Gleichzeitig sind damit auch die vielfältigen sozialen wie psychischen Ambivalenzen benannt, die diese Ablösung der elterlichen Generation auf beiden Seiten beinhaltet. Der Möglichkeitsraum adoleszenter Individuation ist wesentlich dadurch strukturiert, in welcher Weise die Jugendlichen von ihren Eltern begleitet werden, inwieweit die Eltern eigene, unbewältigte Lebensthemen auf die Kinder übertragen, und davon, ob und wie die Eltern ihrerseits die Loslösung von ihren Kindern bewältigen (vgl. z.B. Flaake 2001, Schubert 2005). Entscheidend für 21
Bereits Mannheim hat darauf hingewiesen, dass Veränderungen einer Kultur – durch einen „neuartigen Zugang“ (Mannheim 1964, 531) – in besonderer Weise entweder durch den Generationenwechsel oder durch Migrationsprozesse ermöglicht werden. Dabei hält er das Veränderungspotential von Jugendlichen für „viel radikaler“ (ebd.) als das der Erwachsenen.
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die generative Haltung der Eltern ist deren eigener Adoleszenzverlauf und deren Zufriedenheit mit den jeweils gefundenen Lösungen. Denn die adoleszente Auseinandersetzung der Kinder stellt ja auch die Lebensentwürfe der Eltern in Frage und reaktiviert damit ungelöste Konflikte. Inwieweit die Eltern in der Lage sind, sich mit den Ansprüchen ihrer Kinder auseinanderzusetzen, oder ob die Abgrenzungsbestrebungen der Adoleszenten kompromisshafte Lösungen der Eltern gefährden, sind wesentliche Bedingungsmerkmale für die Qualität des adoleszenten Möglichkeitsraumes. Die elterliche Paarbeziehung, deren Entwürfe von Weiblichkeit und Männlichkeit, von Familien- und Berufsarbeit und die Verbindung zwischen beiden, die elterlichen Vorstellungen vom Geschlechterund Generationenverhältnis sowie der Grad der Gelassenheit, die eigenen Vorstellungen einer radikalen Kritik ausgesetzt zu sehen, stellen somit den Ausgangspunkt und den Rahmen des Adoleszenzprozesses dar. Die genannten Bedingungsfaktoren des adoleszenten Möglichkeitsraumes hinsichtlich der Umgestaltung der Beziehung zu den Eltern verweisen zugleich auf die sozialen Kontexte, in die die Familiendynamik eingebettet ist und ohne die sie nur unzureichend verstehbar ist. Dazu gehören die historischen, kulturellgesellschaftlichen, aber auch die milieuspezifischen Kontexte, welche die Spielräume adoleszenter Entwicklungen entscheidend mitbestimmen. Darauf wird weiter unten noch gesondert eingegangen.
3.3.1.3 Gestaltung der Liebes- und Arbeitsbeziehungen, biographischer Entwurf Mit zunehmender Abgrenzung von den Eltern werden neue Bindungen außerhalb der Familie gesucht. In dieser Phase des Ausprobierens mit neuen realen Objekten suchen die Adoleszenten nach einer neuen eigenen Form der sexuellen Beziehung. Mit den ersten Versuchen des recht unsteten und oft abrupten „Verlieben und Sich-Trennen wird auch der Umgang mit den eigenen Affekten der Depression und der Trauer erprobt“ (Mertens 1994, 135). Aus der anfänglich eher distanzierten und passiven „zärtlichen Liebe“ (Blos 1973) entwickelt sich im Laufe der emotionalen Entwicklung im günstigen Fall allmählich eine Autonomie von den familiären Bezugspersonen sowie eine aktive Liebesfähigkeit, die eine stabile Partnerbeziehung möglich machen. In ähnlicher Weise wird auch mit versachlichten Objekten experimentiert. Hierzu gehören neben Berufswünschen auch Interessen, politische oder religiöse Weltanschauungen, kulturelle oder künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten sowie die vielfältigen Möglichkeiten der Freizeitgestaltung. Die Begeisterung für ein Projekt flammt anfangs ebenso schnell auf, wie sie wieder verblasst. Die
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Phantasien darüber, was man alles kann, erfahren eine Abgleichung an der Realität und münden schließlich in der Entwicklung einer Berufsidentität und eines eigenen Lebensstils. Bei der Gestaltung eigener Arbeitsbeziehungen kommt es darauf an, eine „Synchronisierung von Wunsch und Möglichkeit“ (Fend 1991, 74) zu erreichen sowie die Fähigkeit zu entwickeln „sich einen aktiven Platz in der Gesellschaft zu verschaffen“ (Schröder/Leonhard 1998, 33). Die Aufnahme einer beruflichen Erwerbsarbeit schafft die materielle Basis zur Sicherung der eigenen Existenz. Die ökonomische Unabhängigkeit von der Herkunftsfamilie stellt einen bedeutenden Schritt im adoleszenten Ablöseprozess dar. Die aktive Liebesfähigkeit sowie die Entwicklung einer Berufsidentität gehen einher mit der allmählichen Erkenntnis und Akzeptanz der Unvollkommenheit sowohl der Liebesobjekte als auch des eigenen Selbst. Gleichzeitig ist die Ausgestaltung der Liebes- und Arbeitsbeziehungen auch die Entscheidung für einen bestimmten Lebensweg und die damit verbundene gesellschaftliche Verortung. Während für Fend (1991, 65) lediglich die auszuübende berufliche Tätigkeit „Ausdruck der Art und Weise ist, was man insgesamt tun und sein möchte“, weist für King (2002, 103f) gerade die Art der Verbindung zwischen Liebe und Arbeit auf die komplexer werdenden Anforderungen an adoleszente Lebensentwürfe für beide Geschlechter hin. In modernisierten Gesellschaften, in denen die Familien- und Berufsorientierung nicht mehr automatisch geschlechtsspezifisch aufgeteilt ist, stellt die Auseinandersetzung mit diesem Thema eine besondere Herausforderung dar. Auch wenn diese Auseinandersetzung nach wie vor für junge Frauen eine ungleich höhere Relevanz hat als für junge Männer, wie zahlreiche empirische Studien feststellen (vgl. z.B. Fischer u. a. 2000, Cornelißen/Gille 2005), so sehen sich doch beide Geschlechter den realen gesellschaftlichen Beschränkungen ausgesetzt, wenn sie ihren Lebensentwurf sowohl familien- wie auch berufsorientiert ausrichten wollen (vgl. Deckenbach 2006). Aus adoleszenztheoretischer Perspektive sind die familialen Identifizierungen und deren Integration in hohem Maße bestimmend für Wandlungen und Kontinuitäten von Geschlechterentwürfen (vgl. Kaufmann 1994, Koppetsch/Burkart 1999, King 2000). Während in der Bundesrepublik Deutschland die Vereinbarkeitsfrage bereits für die Mütter vieler weiblicher Adoleszenter ein wichtiges Lebensthema darstellt, weisen die Männlichkeitsentwürfe der meisten Väter noch immer eine einseitige Berufsorientierung auf mit einer geringen Relevanz der Familienarbeit. An diese elterlichen Lebensmodelle knüpft die adoleszente Auseinandersetzung der Kinder an und setzt sie in Beziehung den jeweiligen kulturell-gesellschaftlich vorherrschenden Ansprüchen und Möglichkeiten der eigenen Generation.
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3.3.2 Adoleszente Identitätsbildung Die adoleszente Beschäftigung mit den in dieser Entwicklungsphase besonders virulenten Themen lässt sich zusammenfassen als Auseinandersetzung mit den Fragen nach der eigenen Identität: „Wer bin ich? Woher komme ich? Wer will ich sein?“ (King 2000a, 53). Vorgegebene Muster der Lebensführung werden nicht mehr unhinterfragt übernommen, sondern es entsteht mehr und mehr die Notwendigkeit, ein persönliches Lebensprogramm zu entwickeln, zu dem die selbstreflexive Entfaltung der Identität gehört. Die Jugendlichen sind herausgefordert, sich mit den Erwartungen ihrer Familie, den sozialen Rollen und gesellschaftlichen Vorstellungen und Strukturen auseinandezusetzen, sich die eigene Geschlechtlichkeit und Gewordenheit anzueignen und eine eigene Position zu erarbeiten. Während frühere Identitätskonzeptionen davon ausgingen, dass der adoleszente Identitätsfindungsprozess mit dem Eintritt in den Erwachsenenstatus abgeschlossen ist (Erikson 1959), besteht heute allgemein Konsens darüber, dass Identität immer wieder hergestellt werden muss, Individuen also entsprechend der vielfältigen sozialen Veränderungen immer wieder eine Neuorientierung ihrer Lebensgestaltung vornehmen bzw. eine „Passung von innerer und äußerer Welt suchen müssen“ (Keupp u.a. 2006, 7). Entsprechend den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen wird die flexible Lebensgestaltung, die vormals als Abweichung mit Begriffen wie „Identitätsdiffusion“ (Bohleber 1999) definiert wurde, heute als allgemeine Anforderung für Individuen modernisierter Gesellschaften unter den Begriffen „Bastelbiographie“ (Beck 1995) oder „Patchwork-Identität“ (Keupp 1994) diskutiert. Identität im hier gemeinten Sinne wird also nicht als irgendwann abgeschlossen angesehen, sondern vollzieht sich als lebenslanger Prozess, da die Übergänge zwischen den einzelnen Lebensphasen insgesamt fließender geworden sind und zeitlich sehr auseinanderklaffen können. Generell ist jedoch davon auszugehen, dass der Erwachsenenstatus erreicht ist, wenn die erörterten Themen, die bei der Identitätsbildung eine zentrale Rolle spielen, allmählich in den Hintergrund treten. Auch wenn die Adoleszenz also immer mehr einem nicht abschließbaren Projekt ähnelt, so bleibt die Identitätsbildung nach wie vor die Hauptaufgabe der adoleszenten Entwicklung im Jugendalter. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Person, den eigenen Bedürfnissen, Standpunkten und Fähigkeiten sowie den Erwartungen und Anforderungen der Umwelt kann in der Adoleszenz erstmals auf reflexive Weise stattfinden. Die Konzipierung eines individuierten Lebensentwurfes erfordert „die produktive Verarbeitung“ der eigenen „Lebensgeschichte, die Vermittlung der Konfliktpotentiale mit schöpferischen Lösungsmöglichkeiten und die partielle
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Korrektur kindlicher Konstruktionen bei der Umgestaltung innerer und äußerer Realität“ (Bosse/King 1998, 221). Dazu ist die Fähigkeit zur Selbstreflexion notwendig, aber auch die Auseinandersetzung mit den Positionen anderer, die probehalber übernommen werden, um anschließend angenommen oder wieder verworfen zu werden. Zur Identitätsausbildung ist die produktive Realitätsverarbeitung sowie das eigene Handeln und die Kommunikation mit anderen unabdingbar, weil die Einheit des Selbsterlebens nur „durch das Zusammenspiel von Innen und Außen dialektisch vermittelt“ (Bohleber 1999, 510) werden kann. Die Anerkennung des sozialen Umfeldes spielt in diesem interaktiven Neufindungsprozess eine wichtige Rolle, in dem immer wieder eine Balance geschaffen werden muss zwischen äußeren Erwartungen und der inneren Wirklichkeit. Adoleszente Identitätsbildung ist heute bestimmt durch soziale Prozesse, die mit Begriffen wie Enttraditionalisierung, Individualisierung, Pluralisierung oder Globalisierung (Beck 1986, 1997) umrissen werden können. Damit verbunden ist eine Ausdifferenzierung der Entscheidungsnotwendigkeiten im Alltag. Adoleszente Identitätsbildung steht daher in enger Verbindung mit gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen, sie ist sowohl als deren Resultat wie auch als deren Bedingung anzusehen. In dem Maße, in dem Lebensentwürfe Adoleszenter von den Vorgaben der vorausgehenden Generation abweichen, tragen sie selbst zu Wandlungsprozessen bei. Individualisierungsprozesse und die damit verbundenen Unsicherheiten (vgl. z.B. Beck/Beck-Gernsheim 1994) können aber auch ein Risiko für die adoleszente Identitätssuche darstellen. Daher ist Adoleszenz auch die Zeit, in der „eine schmerzliche Sehnsucht nach Identitätssicherungen besteht“ (King 2000a, 55), denn die zunehmende Flexibilität der Lebensgestaltung kann zur Verunsicherung und Orientierungslosigkeit führen und die Entwicklung des Umgangs mit den Unsicherheiten beeinträchtigen. Die Erfahrungen dieser Zeit sind insofern krisenhaft, als die alten Fundamente eingestürzt, die neuen aber noch nicht stabil genug sind. Die Identitätskonzeption, die sich entsprechend den gesellschaftlichen Transformationsprozessen im Zuge dieser adoleszenten Neuordnung der Persönlichkeit allmählich entwickelt, lässt sich also charakterisieren als „die Kompetenz, in einem dynamischen Konfliktfeld zwischen Selbst und inneren oder äußeren Objekten immer wieder Formen von Kohärenz, Kontinuität und Konsistenz zu erreichen“ (King 2002, 85). Zur Analyse des adoleszenten Identitätsfindungsprozesses müssen sowohl die äußere als auch die innere Realität in ihrer wechselseitigen Dynamik Berücksichtigung finden. Welche Risiken die Jugendlichen dabei jeweils eingehen, inwieweit sie sich aus vorhandenen Bindungen lösen, Konventionen überschreiten, also Identitätskonzepte umgestalten, ist grundsätzlich abhängig von der
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3 Chancen und Risiken adoleszenter Bildungsmigration
Qualität des adoleszenten Möglichkeitsraumes. Dieser ist danach zu untersuchen, welche innere und äußere Motivation zur Veränderung bzw. Bewahrung die Jugendlichen antreibt und auf welche innerpsychischen und sozialen Ressourcen sie dabei zurückgreifen können.
3.3.3 Veränderungsprozesse auf individueller und gesellschaftlicher Ebene Die bisherigen Ausführungen haben deutlich gemacht, dass die Umbildungsprozesse der Adoleszenz abhängig sind von dem wechselseitigen Verhältnis zwischen Individuum und seinem sozialen Kontext. Der Zusammenhang zwischen individuellem und gesellschaftlichem Wandel muss also Berücksichtigung finden, um die Bedingungen und Möglichkeiten der adoleszenten Individuierung im Hinblick auf ihre soziale Einbettung näher bestimmen zu können. Traditionelle Gesellschaften waren geprägt von der Fortsetzung ihrer überlieferten kulturellen Praxen, die sie dadurch zu bewahren versuchten, indem sie die intergenerationelle Ambivalenzspannung in Initiationsritualen kanalisierten. Mit diesen rituellen Feierlichkeiten zelebrierten sie den Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein und lenkten ihn in klar vorgegebene Bahnen. Die Rituale beinhalteten meist eine Reihe von körperlichen und psychischen Qualen, durch die die jungen Menschen hindurchgehen mussten, wollten sie Mitglieder der Gesellschaft als reife Frauen oder Männer werden. Durch die Zeremonien wurde jeder Mensch in die Werte seiner Kultur eingeweiht, um danach selbst Träger und Vermittler dieser Tradition zu sein. Damit wurde der inneren und sozialen Trennung von der vorhergehenden Generation begegnet, die strukturellen Machtunterschiede zwischen den Geschlechtern und Generationen, auf denen die traditionelle Ordnung beruhte, wurden aufrechterhalten (vgl. Bosse 2005). Adoleszenz und der damit verbundene Identitätsbildungsprozess entstand erst im Zuge von Modernisierungsprozessen. Veränderte politische, ökonomische und soziale Bedingungen, wie sie zum Beispiel in Europa besonders im Zuge der Industrialisierung oder in Afrika während der Kolonialisierung einsetzten, erforderten auch Veränderungen der traditionellen Ordnungen. Mit Einführung der Arbeitsteilung und Mechanisierung gewannen Schule und Berufsausbildung zur Vorbereitung auf veränderte Berufsfelder immer mehr an Bedeutung (vgl. Mitterauer 1986). Diese Zeit der Ausbildung, die oft auch eine räumliche Trennung von der Herkunftsfamilie erforderlich machte, stellte ein Bildungsmoratorium dar, welches den Jugendlichen erstmals die Gelegenheit eröffnete, sich mit den Erwartungen und Vorgaben der Umwelt sowie den eigenen Gefühlen, Bedürfnissen und Interessen auseinanderzusetzen. Diese „äußere
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Trennung von Verwandtschaft, Familie und Herkunftsmilieu“ ermöglichte erst die „innere Trennung“ von ihnen und „verwandelt somit Individualisierung in Individuierung“ (Bosse 2000, 54). Zugleich wird an diesen Prozessen deutlich, dass nicht alle Jugendlichen gleichermaßen über die Möglichkeit eines solchen Bildungsmoratoriums verfügten. Die Entwicklung in Europa zeigt, dass den Kindern der Fabrikarbeiter zunächst nur ein recht kurzes Moratorium gewährt wurde, da sie mit ca. vierzehn Jahren ins Arbeitsleben einstiegen. Es waren anfangs besonders die männlichen Nachkommen des Bürgertums, die aufgrund ihrer höheren Bildung auf Gymnasium und Hochschule auch eine Zeit der persönlichen Entwicklung zur Verfügung hatten. Den jungen Frauen war der Zugang zu den Bildungsinstitutionen weitaus länger verwehrt, da die Vorbereitung auf Heirat und familiale Reproduktionsarbeit für sie schichtübergreifend ihre Bedeutung behielt und sie durch altersmäßig frühe Heirat beziehungsweise Eintritt ins Arbeitsleben wenig Spielraum für adoleszente Entwicklungsprozesse erhielten. Ein entscheidender „Wendepunkt in der Epochalgeschichte der Jugend“ (Zinnecker 1985, 33) vollzog sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts, als der Trend zur verlängerten Schul- und Hochschulausbildung sich verbreitete und auch Arbeiterkinder und Mädchen zunehmend ein Moratorium nutzen konnten, womit sich die Adoleszenzverläufe entscheidend veränderten. Damit ging ein Wandel der Lebensformen und der Wertorientierungen einher, wie er gerade auch von der jungen Generation in den sechziger und siebziger Jahren angestoßen wurde und durch den die Jugendphase selbst und damit auch die Gleichaltrigenbeziehungen immer mehr an Bedeutung gewannen. An diesen Prozessen gesellschaftlichen Wandels zeigt sich einerseits, dass adoleszente Experimentierfelder von den gesellschaftlich bzw. kulturell zur Verfügung gestellten Zeit- und Spielräumen abhängen. Andererseits wirkt das Veränderungspotential der Adoleszenz nicht nur auf individueller Ebene, sondern nimmt ebenso Einfluss auf gesellschaftliche Prozesse. Die Adoleszenz stellt somit einen entscheidenden Faktor für gesellschaftliche Modernisierungsprozesse dar. Diese Entwicklung ist jedoch keine lineare, denn die Chancen zur Individuierung und damit zur Veränderung bestehender Verhältnisse sind auch in Zeiten der Individualisierung oder Enttraditionalisierung ungleich verteilt. Einerseits verfügen trotz veränderter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen nicht alle Jugendlichen über ausreichende zeitliche Spielräume, beispielsweise weil sie aus ökonomischen Notwendigkeiten früh in die Erwerbsarbeit einsteigen oder eine frühe Elternschaft das Moratorium beendet. Andererseits können vorhandene zeitlich ausgedehnte Bildungsphasen nicht immer für adoleszente Individiuierungsprozesse genutzt werden, weil die Jugendlichen etwa für die Interessen ihrer Eltern instrumentalisiert werden oder sie durch eine rigide Erziehung sehr eng an die Familie gebunden werden. Aber auch wenn sie sich
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innerhalb ihrer Familie nicht ausreichend verankert fühlen, kann eine Loslösung von ihr nicht erstrebenswert erscheinen. Auch die Bildungsinstitutionen selbst können Spielräume beschränken, indem sie z.B. hohe Leistungsanforderungen stellen oder die Aneignung von Wissen betonen und kaum Raum für kreative Aneignungsprozesse zulassen. Mit den Chancen und Risiken dieses Prozesses ist eine große Variation möglicher Konstellationen denkbar, die somit zu ganz unterschiedlichen Adoleszenzverläufen führen. Damit wird deutlich, dass nicht allein die Dauer der Adoleszenz bei der Analyse der Individuierungschancen zu berücksichtigen ist, sondern insbesondere die Qualität, mit der sie ausgestattet ist. „Diese Qualität des psychosozialen Moratoriums resultiert aus der Chancenstruktur des adoleszenten Möglichkeitsraums, wie sie sich im Zusammenspiel innerer und äußerer Ressourcen ergibt. Die Komplexität dieser Chancenstruktur ergibt sich daraus, dass gesellschaftliche und kulturelle Bedingungen, familiale Voraussetzungen und Dynamiken und individuelle Ressourcen verschränkt sind“ (King 2002, 94). Die adoleszenztheoretische Perspektive nimmt bei der Analyse des Individuierungsprozesses also stets die „jeweiligen sozialen, kulturellen, familialen, inter- und intragenerativen Besonderheiten, Kompetenzen und Defizite, inneren und äußeren Ressourcen, Rahmenbedingungen und Beziehungsqualitäten“ (ebd., 96) in den Blick und berücksichtigt damit auch, inwieweit soziale Ungleichheit sich darin reproduziert oder veränderbar ist. Der Adoleszenzbegriff ist somit auf einer differenzierten Ebene gefasst, die ihn nicht auf bestimmte kulturelle Regionen beschränkt, sondern auf sehr verschiedene soziale Kontexte anwendbar macht (vgl. z.B. Bosse 1994, 2000, 2005).
3.3.4 Fazit Das Vorhandensein adoleszenter Entwicklungsspielräume ist ein Merkmal modernisierter Gesellschaften, in dieser Entwicklungsphase werden entscheidende Prozesse individueller und gesellschaftlicher Transformation vollzogen. Die Neuschöpfung von Lebensentwürfen in der Adoleszenz ist wesentlich abhängig von der Möglichkeit, neue Erfahrungsräume zu erschließen, mit ihnen zu experimentieren und im Zuge dieses Prozesses eine reflexive Haltung zu bisherigen Erfahrungen einnehmen zu können, um daraus neue Perspektiven bzw. erweiterte Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsmuster zu entwickeln. An der Art der Bewältigung der adoleszenztypischen inneren und äußeren Konflikte, die sich im Wesentlichen um die Themen Bindung und Autonomie, Entwürfe von Weiblichkeit und Männlichkeit sowie die Gestaltung von Liebes- und Arbeitsbeziehungen drehen, lässt sich die Strukturiertheit des adoleszenten Möglichkeitsraumes ablesen. Denn „eine gelungene Konfliktbewältigung hängt zum einen
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davon ab, ob die Jugendlichen über ausreichende psychische Ressourcen verfügen, vergleichbar dem Proviant und den Notrationen auf einer langen, beschwerlichen Reise – und zum andern davon, wie viel Hilfestellung sie von außen bekommen. Schließlich stellt sich die Frage, ob Jugendliche überhaupt die Möglichkeit erhalten, eine Reise anzutreten: eine Reise in die Zukunft, die zugleich eine Auseinandersetzung mit Ursprung und Geschichte beinhaltet“ (King 2000a, 57). Denn obgleich sich in modernisierten Gesellschaften die Jugendphase stark verallgemeinert hat, sind die Chancenstrukturen der adoleszenten Möglichkeitsräume und damit die Verfügbarkeit über die psychischen, die inneren Ressourcen und die Hilfestellungen von außen, die äußeren Ressourcen gesellschaftlich ungleich verteilt. Konstitutiv für die Strukturierung der Chancen adoleszenter Individuierung ist die Art der Verknüpfung der Faktoren sozialer Ungleichheiten: Klasse/soziale Herkunft, Geschlecht, Rasse/Ethnizität. Dennoch ist zugleich zu betonen, dass auch „gerade durch Mangel- und Konflikterfahrungen kreative Potentiale angestoßen werden“ (King 2000a, 67), insofern es gelingt, auftretende Probleme durch die Mobilisierung psychischer Ressourcen durchzustehen und sich neuen Erfahrungen zu öffnen. Die Analyse des adoleszenten Möglichkeitsraums hinsichtlich seines individuellen und gesellschaftlichen Veränderungspotentials richtet ihren Blick also auf die Bewältigungsformen der adoleszenztypischen Konflikte sowie auf die dabei zur Verfügung stehenden inneren und äußeren Ressourcen. Das Konzept des psychosozialen Möglichkeitsraums (King 2002) stellt somit einen geeigneten Ausgangspunkt dar, um den durch Migration verdoppelten Transformationsprozess unter dem Gesichtspunkt der Chancen und Risiken zu untersuchen.
3.4 Herausforderungen adoleszenter Migration Die Migration stellt für Jugendlicher insofern eine besondere Herausforderung dar, als die in den beiden vorangegangenen Kapiteln erläuterten migrations- und adoleszenzspezifischen Umwandlungs- und Neubildungsprozesse zusammentreffen und sich gegenseitig verstärken. Jugendliche sehen sich also hinsichtlich der Bewältigung von Trennungen, der Veränderung von Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsmustern sowie der Neubildung der eigenen Identitätsentwürfe einer „doppelte Transformationsanforderung“ (King/Schwab 2000) gegenüber, weil ein Umwandlungsprozess sowohl auf individueller wie auch kultureller und sozialer Ebene stattfindet. Um beide Ebenen umfassend beleuchten zu können, wird im Folgenden eine Verbindung zwischen den sozialen und psychischen Dimensionen hergestellt, die im Veränderungsprozess adoleszenter Migration wirksam sind. Denn in ihm spielt nicht nur die Auseinandersetzung mit unter-
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schiedlichen sozialen Deutungsmustern eine Rolle, wie sie in den meisten soziologischen Theorien Beachtung finden, vielmehr wird die Bearbeitung der verdoppelten Krisensituation adoleszenter Migration wesentlich mitbestimmt von inneren Prozessen der Ablösung, Trennung und Neubildung. Mit dieser anderen Perspektive auf die Veränderungspotentiale adoleszenter MigrantInnen wird auch der in der Migrations- und Jugendforschung vorherrschende Integrationsansatz überwunden. Grundsätzlich erweitert adoleszente Migration die Entwicklungsspielräume, indem sie die Auseinandersetzung mit neuen Lebensentwürfen ermöglicht. Dieser Prozess beinhaltet jedoch neben Chancen ebenso Risiken, die im Folgenden anhand der zentralen Herausforderungen adoleszenter Bildungsmigration näher beleuchtet werden.
3.4.1 Die Migrationsentscheidung Wie in Abschnitt 3.2.1 dargelegt wurde, stellt die Auseinandersetzung mit den eigenen Wünschen und Zielen, die mit der Migration eingelöst werden sollen, eine wichtige Voraussetzung für den Migrationsprozess dar. Dieser Entscheidungsprozess erhält bei adoleszenten MigrantInnen eine zusätzliche Dynamik, da er in engem Zusammenhang mit den in der Adoleszenz virulenten Themen steht und diese verstärken kann. So kann die Migration als Lösung für aktuell unüberwindbar scheinende Konflikte – etwa mit den Eltern – angesehen werden oder man folgt dem Lebensentwurf eines Verwandten oder Freundes, der bereits erfolgreich migriert ist. Aber auch äußere Umstände können der Antrieb sein, wie z. B. die Gleichaltrigen, die die fremde Welt in großartigen Farben schildern und an denen man sich messen möchte, oder die Familie, die auf finanzielle Hilfe von außen angewiesen ist. Egal wie die Motivationskonstellation beschaffen ist, die Adoleszenten müssen – in welcher Form auch immer – vor ihrer Auswanderung eine Auseinandersetzung mit ihren Eltern hierüber führen, da sie finanziell, vor allem aber psychodynamisch von deren Unterstützung abhängig sind. Dies beinhaltet eine neue und verstärkte Beschäftigung mit der Frage: "weggehen oder bleiben?", – eine Metapher für den Adoleszenzprozess, die im Zuge der realisierten Migration eine konkrete Ausgestaltung erhält. Die Migrationsentscheidung, eingebettet in den Adoleszenzprozess, erfordert eine Auseinandersetzung nicht nur mit den eigenen Lebensentwürfen, die in diesem Entscheidungsprozess eine Konkretisierung erfahren, sondern ebenso mit den Wünschen und Bedürfnissen der engen Bezugspersonen. Die Migrationsentscheidung kann sowohl bereits das Resultat adoleszenter Individuierungsprozesse sein oder auch erst der entscheidende Anstoß für Entwicklungsprozesse. Wie die Migrationspläne umgesetzt werden, inwieweit eine offene Auseinandersetzung
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hierüber mit der Familie möglich ist, wer an der Umsetzung wie beteiligt ist, all das gibt Aufschlüsse darüber, wie eng oder weit die adoleszenten Spielräume gesteckt sind bzw. wie die Qualität des adoleszenten Möglicheitsraums beschaffen ist und wie die Jugendlichen für die mit der Migration verbundenen Veränderungsprozesse gerüstet sind. Dieser Aushandlungsprozess wird als wegweisend für den weiteren Verlauf der adoleszenten Migration angesehen.
3.4.2 Umgang mit Trennung und Bindung Das zentrale Thema der Adoleszenz, die Ablösung von der Herkunftsfamilie und die Modifikation der Beziehung zu ihr, erfährt durch die elternunabhängige Migration eine Verschärfung, da gleichzeitig die Ablösung von der Herkunftskultur und die Neugestaltung der Beziehung zu ihr bewältigt werden muss und weil die Trennung radikal vollzogen wird (vgl. Bosse 1994a, King/Schwab 2000). Die abrupte Trennung von den Eltern verändert die adoleszente Auseinandersetzung mit dem eigenen Ursprung und der eigenen Geschichte, die sich die Adoleszenten neu aneignen müssen, „um sie dann auch kritisch betrachten und sich reflexiv distanzieren zu können“ (King/Schwab 2000, 214). Die in dem Ablöseprozess immer wieder auftauchenden Rückbindungswünsche an die Herkunftsfamilie können in der Migration real nicht erfüllt werden und den Aneignungsprozess somit beeinträchtigen. Denn vertraute Beziehungsmuster, die genügend Sicherheit für das eigene innere Pendeln zwischen Trennung und Bindung bieten, stellen eine wichtige Grundlage für die „aneignende Ablösung“ (King/Schwab ebd.) dar. Diese Sicherheit wird durch die elternunabhängige Migration zunächst erschüttert und muss neu hergestellt werden. Die Migration provoziert gleichzeitig die Bearbeitung der Beziehung zur eigenen Herkunftskultur und bringt damit in den adoleszenten Aneignungsprozess eine zusätzliche Dimension. Denn die Auseinandersetzung mit der eigenen Gewordenheit dreht sich bei jugendlichen MigrantInnen nicht nur um die mit der individuellen Familiengeschichte verbundenen Erfahrungen, sondern im besonderen Maße auch um die kulturellen „Besonderheiten und Traditionen der zurückgelassenen sozialen Umgebung“ (ebd.). Diese erfahren im Lichte der zunächst fremden kulturellen Praxen der Aufnahmegesellschaft eine andere Betrachtung und müssen ebenfalls neu angeeignet werden. Wichtig für den Verlauf dieses individuell-psychischen sowie sozialkulturellen Aneignungsprozesses sind die Erfahrungen der jugendlichen MigrantInnen hinsichtlich der Aufnahme neuer Beziehungen im Aufnahmeland. Fühlen sie sich an- und aufgenommen, begünstigt dies die Selbstverankerung in
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der zunächst fremden Welt und damit auch die Ablösetendenzen, wohingegen Gefühle des Abgewiesenseins oder gar die Bedrohung des Aufenthaltes durch die Aufnahmekultur die Bindungssuche an die Herkunftsfamilie bzw. -kultur dauerhaft verstärken können. Hier spielen nicht nur Erfahrungen der alltäglichen sozialen Praxis eine Rolle, sondern ebenso die strukturellen Bedingungen, durch die der Aufenthalt in der Aufnahmegesellschaft rechtlich abgesichert oder bedroht ist. Die Migration Adoleszenter potenziert also das Spannungsverhältnis zwischen Autonomie und Bindung, indem sie die Trennungserfahrungen krisenhaft verstärkt und um die Dimension der kulturellen Bezogenheit erweitert. Die dadurch ausgelösten inneren und äußeren Unsicherheiten müssen die Jugendlichen zunächst durch Selbstverankerung in der Aufnahmekultur bewältigen, bevor sie sich den individuellen und kulturellen Ablöseprozessen widmen können. Der Umgang mit diesen Unsicherheiten und die Art ihrer Bewältigung gibt Auskunft über ihre adoleszenten Spielräume. Denn die Ausgestaltung ihrer Beziehung zur Aufnahmekultur und Positionierung gegenüber ihrer Familie sowie ihrer kulturellen Herkunft ist wesentlich abhängig von der Fähigkeit der Jugendlichen, ihr inneres Gefühl der Sicherheit wiederherstellen zu können, und von ihren Möglichkeiten, in diesem Prozess auf vertraute Bezugspersonen zurückgreifen zu können. Die Möglichkeiten der Adoleszenten, sowohl mit ihren Eltern eine offene Auseinandersetzung zu führen als auch sich mit den unterschiedlichen kulturellen Praxen und ihre eigenen Erfahrungen auseinanderzusetzen, zeigt das Ausmaß an Selbstbestimmung und Reflexivität, über das die Jugendlichen verfügen. Der verdoppelte Trennungs- und Aneignungsprozesses birgt die Gefahr der Überforderung, bietet aber auch Chancen für den adoleszenten Individuierungsprozess. Die Art und Weise der Überwindung dieser verdoppelten Unsicherheiten ist daher bei der Analyse der Bedingungen adoleszenter Migration aufschlussreich.
3.4.3 Bewältigung der Fremdheitserfahrungen Auch das Gefühl der Fremdheit stellt sowohl für Adoleszente wie für MigrantInnen ein Thema dar, das bearbeitet werden muss. Die in der Adoleszenz auf psychischer wie physischer Ebene stattfindenden Veränderungen, die in erhöhtem Maße von Empfindungen des „Sich-selbst-fremd-geworden-Seins“ (King/Schwab 2000, 215) begleitet sind, erfahren in der Migration eine Verstärkung durch die realen Fremdheitserlebnisse in der neuen Umgebung. Die Beschäftigung mit dem Fremden ist in der Adoleszenz insofern konstitutiv, als die Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen ein Hineinwachsen in
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eine zunächst fremde Welt ist, die es Schritt für Schritt zu erobern gilt. Dabei werden sowohl der sich verändernde Körper und das auf neue Weise wahrgenommene andere Geschlecht (vgl. Bosse/King 1998) wie auch „das bisherige kindliche Ich und die damit verbundenen inneren und äußeren Beziehungsformen“ (King/Schwab 2000, 215) als fremd wahrgenommen. Während des adoleszenten Entwicklungsprozesses muss ein neues Gleichgewicht zwischen dem Selbst und dem bzw. den Anderen gefunden werden. „Das Bild vom kulturell oder individuell Fremden“ (Bosse/King 1998, 216) ist in diesem Prozess mit starken Ambivalenzen verbunden, es kann zugleich faszinieren und abstoßen und ist „immer auch vom inneren Bild des Anderen gespeist“ (ebd.). Durch die Migration werden diese Fremdheitserfahrungen zusätzlich verstärkt, da sich die Jugendlichen auch der äußeren, sozialen und kulturellen Sicherheit enthoben fühlen. Insbesondere die afrikanischen BildungsmigrantInnen, die Gegenstand dieser Arbeit sind, erleben ihr Anders-Sein in Deutschland aufgrund ihrer Hautfarbe in drastischer Weise. Die Konfrontation mit den zusätzlichen Fremdheits- und Entfremdungserfahrungen kann die adoleszente Entwicklung stark beeinträchtigen. Sie kann aber auch eine Möglichkeit darstellen, die inneren Prozesse von Abgrenzung und Ambivalenz in neuer Weise zu bearbeiten. Hier spielt es eine wesentliche Rolle, wie die Aufnahmegesellschaft auf die MigrantInnen reagiert. Eine als abweisend und unzugänglich oder gar bedrohlich erlebte Umwelt verstärkt eher die Empfindungen der Fremdheit sich selbst gegenüber und kann zu einem Gefühl des Selbstverlustes oder der eigenen Nichtigkeit führen (vgl. King/Schwab 2000, 216), wohingegen das Gefühl einer aufnehmenden und wohlwollenden Umgebung die Fremdheitsgefühle eher abmildert und eine Integration der zunächst fremden eigenen Anteile begünstigt. Die Fremdheitserfahrungen können den adoleszenten Individuierungsprozess somit vorantreiben oder blockieren. Das Fremde kann als Herausforderung angesehen werden, weil es eine offene Auseinandersetzung mit den inneren Bildern ermöglicht, aber auch als Bedrohung empfunden werden, weil die eigenen inneren Unsicherheiten durch die äußere Fremdheit gesteigert werden. Der Umgang mit diesen Fremdheits- und Entfremdungserfahrungen wird davon beeinflusst, inwieweit bereits auf frühere Erfahrungen des Anders-Seins zurückgegriffen werden kann und welche Hilfen beansprucht werden können, um sich die fremde Welt nach und nach anzueignen. Die Bewältigung dieses verdoppelten Verlusterlebens gibt Aufschlüsse darüber, wie der adoleszente Möglichkeitsraum der MigrantInnen beschaffen ist.
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3.4.4 Auseinandersetzung mit veränderten Geschlechterverhältnissen Die adoleszente Bearbeitung der Weiblichkeits- bzw. Männlichkeitsentwürfe und die in Abhängigkeit mit den gesellschaftlichen Bedingungen stattfindende eigene Verortung als Frau oder Mann findet im Zuge der Migration auf einer zusätzlichen Ebene statt, weil die Beziehungen zwischen Männern und Frauen, die mit dem jeweiligen Geschlecht verbundenen Bilder und sozialen Praxen kulturell unterschiedlich ausgestaltet sind. In der Adoleszenz findet eine Auseinandersetzung mit den bewussten und unbewussten Geschlechterbedeutungen der sozialen Umgebung statt. Die eigene Positionierung ist wesentlich abhängig von den familialen Bildern von Weiblichkeit und Männlichkeit und den damit verbundenen Möglichkeiten bzw. Konflikten sowie den kulturell zur Verfügung stehenden Spielräumen zur Veränderung bestehender Geschlechterentwürfe (vgl. Kapitel 3.1.2). Der jeweilige Geschlechterentwurf der Adoleszenten spiegelt auch ihr Verhältnis zu den bestehenden Machtverhältnissen zwischen Mann und Frau. Aufgrund der bestehenden Ungleichheitsverhältnisse der Geschlechter streben weibliche Adoleszente grundsätzlich stärker eine Veränderung der Weiblichkeitsbilder an als männliche Adoleszente, die eher an den Männlichkeitsbildern ihrer Väter festhalten22. Eine zusätzliche Dimension erhält die Auseinandersetzung mit den Geschlechterverhältnissen, wenn die Weiblichkeits- und Männlichkeitsbilder durch die Migration mit anderen Bedeutungen und damit auch mit neuen Möglichkeiten versehen werden. Die guineischen BildungmigrantInnen der vorliegenden Untersuchung erleben in Deutschland beispielsweise eine Auflösung der in Guinea tendenziell fest gefügten Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern und sehen sich aufgrund der weiter vorangeschrittenen Individualisierungsprozesse mit einer größeren Variationsbreite an Geschlechterentwürfen konfrontiert (vgl. Heß-Meining/Tölke 2005). Die adoleszenten Entwicklungsspielräume erfahren dadurch grundsätzlich eine Erweiterung, da das Spektrum der Möglichkeiten, sich als Frau oder Mann zu entwerfen, sowie der Raum, mit verschiedenen Entwürfen zu experimentieren, vergrößert wird. Gleichzeitig ist damit auch die Gefahr der Überforderung verbunden, denn die Veränderung der vorher klar definierten Grenzen zwischen den Geschlechtern und der gültigen Regeln zur Ausgestaltung der Geschlechtsrollen kann zu einer tiefen Verunsicherung führen (vgl. Günther 2001). Die adoleszente Bearbeitung der veränderten Geschlechterverhältnisse in der Migration ist verbunden mit der jeweiligen Position in der Geschlechterhie22
Dies zeigt sich insbesondere an den unterschiedlichen Vorstellungen der weiblichen und männlichen Adoleszenten, Familie und Beruf in ihren Lebensentwurf zu integrieren (vgl. z.B. Scherr 1995, Oechsle/Geissler 1998, Fischer 2000, Heß-Meining/Tölke 2005).
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rarchie. Die geschlechtsspezifisch verschieden ausgestatteten Explorationsspielräume – sowohl seitens der Familie wie auch der Aufnahmegesellschaft – bedingen eine entsprechend unterschiedliche Verarbeitung dieser Thematik. Junge Frauen nutzen ihre tendenziell geringeren Spielräume eher in Richtung eines transformativen Entwurfs als junge Männer (vgl. Sauter 2000, Apitzsch 2005). Die Analyse der adoleszenten Möglichkeiten, in der Migration einem individuierten Entwurf von Männlichkeit bzw. Weiblichkeit zu folgen, bedeutet also, den konkreten Umgang mit den veränderten Geschlechterverhältnissen näher in den Blick zu nehmen. Die Beziehungsgestaltung zum eigenen wie zum anderen Geschlecht, die Auseinandersetzung mit eigenen Unsicherheiten hinsichtlich veränderter Bedeutungen sowie die Reflexion der eigenen Bedürfnisse und der daraus resultierenden Weiblichkeits- bzw. Männlichkeitsentwürfe gibt Aufschlüsse über die migrationsbedingte Adoleszenzentwicklung.
3.4.5 Räumliche Verortung – Entwicklung realistischer Zukunftsperspektiven Die adoleszente Auseinandersetzung mit dem eigenen biographischen Entwurf hinsichtlich der Gestaltung eigener Liebes- und Arbeitsbeziehungen erhält in der Migration eine zusätzliche Dimension, weil die auftauchenden Fragen immer zugleich mit der Frage nach der räumlichen Verortung im Zusammenhang stehen. Die mit dem biographischen Entwurf verbundene Frage „Wie will ich leben?“ ist bei adoleszenten BildungsmigrantInnen unauflöslich gebunden an die Frage „Wo will ich leben?“. Denn die Möglichkeiten, den mit dem Auslandsstudium erworbenen Beruf ausüben zu können, sind nicht überall gleichermaßen gegeben. Die adoleszenten BildungsmigrantInnen müssen daher in ihre Überlegungen hinsichtlich ihrer beruflichen Möglichkeiten die jeweiligen Bedingungen ihrer Herkunftsgesellschaft, der Aufnahmegesellschaft bzw. einer dritten in Frage kommenden Gesellschaft mit einbeziehen. Im Fall der adoleszenten BildungsmigrantInnen aus Guinea enthält dieses Thema ein besonderes Krisenpotential, denn die beruflichen Perspektiven ihrer Herkunftsgesellschaft sind aufgrund der politischen Situation Guineas sehr gering. Gleichzeitig wird ihnen ein Verbleib in Deutschland über das Studium hinaus rechtlich nicht ohne Weiteres gewährt23 (vgl. Kap. 3.1.1). Auch bei der Frage, mit welcher Partnerin, welchem Partner eine gemeinsame Zukunft vorstellbar ist, spielt die räumliche Verortung eine wichtige Rolle. Mit deutschen PartnerInnen findet diesbezüglich eine ganz 23
Zum Zeitpunkt der empirischen Erhebung der vorliegende Untersuchung galt noch die Regelung, dass Auslandsstudierende aus Entwicklungsländern nach Abschluss des Studium höchstens zwei Jahre zur Weiterqualifizierung in Deutschland bleiben können (vgl. BMZ 1995).
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andere Auseinandersetzung statt als mit afrikanischen oder russischen. Auch hier muss eine Lösung zwischen Wunsch und Möglichkeit gefunden werden, denn auch die Partnerwahl ist mit aufenthaltsrechtlichen Fragen verbunden, die in den biographischen Entwurf einfließen und bearbeitet werden müssen. So kann beispielsweise die Heirat mit einer Partnerin oder einem Partner, die unbegrenztes Aufenthaltsrecht in Deutschland genießen, auch den afrikanischen BildungsmigrantInnen in Deutschland den Aufenthalt über das Studium hinaus ermöglichen. Auch die Auseinandersetzung mit Problemen der räumlichen Verortung findet im Zusammenspiel von inneren Entwürfen und äußeren Möglichkeiten statt und erfährt in der Migration eine Potenzierung, da die eigenen Vorstellungen von dem zukünftigen sozialen Status, von Familienbindung und -gründung und vom Lebensstil insgesamt bestimmt sind von der jeweiligen politischen Situation, von aufenthaltsrechtlichen Fragen und Arbeitsmöglichkeiten an den in Frage kommenden Orten. Inwieweit die Adoleszenten eine befriedigende Lösung ihrer Konflikte finden oder einseitig an unerfüllbaren Perspektiven festhalten, gibt Aufschlüsse über ihre inneren und äußeren Spielräume.
3.4.6 Aneignung des adoleszenten Entwicklungsspielraums Der Verlauf des Migrationsprozesses Adoleszenter wird also wesentlich beeinflusst von den jeweiligen kulturell-gesellschaftlichen Konstellationen, in denen er stattfindet. So müssen sich die adoleszenten BildungsmigrantInnen aus Guinea mit ihrem „strukturell konflikthaften Verhältnis“ (King/Schwab 2000, 212) zur Aufnahmekultur in Deutschland auseinandersetzen. Einerseits verfügen sie in der Bundesrepublik – im Vergleich zu Guinea – über einen größeren adoleszenten Entwicklungsspielraum, in dem sie sich mit neuen Identifizierungsmöglichkeiten auseinandersetzen und experimentieren können. Gleichzeitig wird dieser Spielraum jedoch auch begrenzt, da sie auf struktureller und interaktiver Ebene mit Zurückweisungen und Einschränkungen konfrontiert sind. Die Migration nach Deutschland eröffnet den guineischen BildungsmigrantInnen einen erweiterten adoleszenten Möglichkeitsraum, weil hier mit der Etablierung und Verallgemeinerung der Jugendphase die Spielräume, die zum Experimentieren mit verschiedenen Lebensentwürfe zugestanden werden, weiter gefasst sind. Im Vergleich zu Guinea wird ihnen grundsätzlich eine größere Freiheit und Handlungsautonomie gewährt, sich verschiedene Bereiche der Kultur zu erobern. Damit verbunden ist aber auch die Forderung nach Eigenständigkeit, die modernisierte Gesellschaften von ihren Mitgliedern in hohem Maße verlangen. Diese Forderung kann für die adoleszenten MigrantInnen
3.4 Herausforderungen adoleszenter Migration
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leicht zur Überforderung führen (vgl. King/Schwab 2000), weil die individuelle Autonomie in ihrer Herkunftsgesellschaft eine deutlich geringere Rolle spielt (vgl. Kapitel 3.1.2). Zudem wird die Aneignung des adoleszenten Möglichkeitsraums den guineischen BildungsmigrantInnen erschwert durch die strukturell vorhandene Diskriminierung, von der MigrantInnen in Deutschland – und afrikanische EinwanderInnen aufgrund ihrer Hautfarbe in besonderer Weise – betroffen sind (vgl. Terkessidis 2004). Sie sehen sich einem alltäglichen Rassismus ausgesetzt, der sich auf persönlicher Ebene durch Kontaktvermeidung, Misstrauen, Ablehnung oder gar tätliche Übergriffe und auf struktureller Ebene in den aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen sowie deren restriktiver Umsetzung ausdrückt (vgl. BMZ 1995 bzw. Bundesgesetzblatt 2004, BMI 2006). Das für den adoleszenten Entwicklungsprozess notwendige Gefühl des Aufgehobenseins und der Sicherheit, aus der heraus die Welteroberung überhaupt erst möglich ist, wird durch diese strukturelle Diskriminierung stark beeinträchtigt (vgl. King/Schwab 2000). Der Umgang mit diesen strukturell konflikthaften Verhältnissen in der Aufnahmegesellschaft, die individuelle Ausgestaltung dieses Spannungsfeldes geben Hinweise auf die Beschaffenheit des jeweiligen migrationsbedingten Adoleszenzprozesses. Eine zentrale Rolle spielen in diesem Aneignungsprozess die ethnischen Communities, in denen der Umgang mit den individuellen und kulturellen Ablöseprozessen, mit Fremdheitserfahrungen, den veränderten Geschlechterverhältnissen und der Notwendigkeit, sich räumlich neu zu verorten, gemeinsam bearbeitet werden können. Die Radikalität der familialen und kulturellen Trennung wird ein Stück weit abgemildert durch die Vertrautheit der in diesen Gruppen gesprochene Sprache und der bei Festen und anderen Zusammenkünften gelebten kulturelle Praxis. Eine enge Anbindung an die ethnischen Gemeinschaften kann jedoch auch die Beziehungsgestaltung zur Aufnahmekultur beeinflussen, indem bestimmte Lebensformen oder kulturelle Ausdrucksweisen durch den Filter der in der jeweiligen Gruppe vorherrschenden Bewertung wahrgenommen werden. Inwieweit die ethnischen Gemeinschaften durch zunehmende Aneignung des adoleszenten Entwicklungsspielraums ihre herausragende Bedeutung allmählich verlieren oder dauerhaft behalten, hängt wesentlich von der Bewältigung der beschriebenen Herausforderungen und dem Grad der Selbstverankerung in der Aufnahmekultur ab. Dies gelingt in Abhängigkeit von den vorhandenen inneren und äußeren Ressourcen, Rahmenbedingungen und Beziehungsqualitäten, die den Adoleszenten zur Verfügung stehen. Anders formuliert: Die Bewältigung der aufgeführten Herausforderungen sagt etwas über die Qualität und Chancenstruktur des adoleszenten Entwicklungsspielraums in der Migration, über ihre sozialen, kulturellen, familialen, inter- und intragerativen Konstellationen aus.
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3 Chancen und Risiken adoleszenter Bildungsmigration
Anhand der dargelegten zentralen Herausforderungen adoleszenter Migration kann im Folgenden eine Präzisierung der Fragestellung für die vorliegende Untersuchung vorgenommen werden.
3.5 Präzisierung der Untersuchungsfragen Die vorliegende Studie folgt der allgemeinen Frage: Wie wirkt sich die Bearbeitung verdoppelter Transformationserfahrung auf die Lebensentwürfe adoleszenter MigrantInnen aus? Dieser Fragestellung wird am Beispiel guineischer BildungsmigrantInnen in Deutschland nachgegangen. Für die empirische Untersuchung werden, entsprechend dem Konzept der zentralen Herausforderungen adoleszenter Migration, konkrete Fragen zu den verschiedenen Themenkomplexen entwickelt, anhand derer die Beantwortung der Leitfrage in differenzierter Weise möglich ist.
Erfahrungen vor der Migration In welchen familalen und sozialen Umständen sind die BildungsmigrantInnen aufgewachsen? Wie sahen die Beziehungsdynamiken innerhalb der Familie aus und wie viel individuelle Autonomie wurde den einzelnen Familienmitgliedern zugestanden? Gab es bis zur Migration bedeutende Veränderungen oder Brüche, wie wurden diese von der Familie bzw. von den BildungsmigrantInnen verarbeitet? Welche soziale Position nimmt die Familie der BildungsmigrantInnen ein und wie gestaltet sie diese aus? Gibt es Familienmitglieder, die bereits migriert sind, welche Beziehung besteht zu ihnen? In welcher Weise wird die Zeit in Guinea von den BildungsmigrantInnen thematisiert?
Umsetzung der Migrationspläne Aus welchen Überlegungen entstand die Motivation zur Migration? Wie wurde die Idee zur Migration verhandelt? Gab es Widerstände, von welcher Seite? Mit welchen Strategien wurden diese überwunden? Auf welche Weise und aus welchen Gründen fiel die Entscheidung für Deutschland? Wer knüpfte den Kontakt zur deutschen Universität und wer beantragte das Visum? Wie lange dauerte der Prozess zwischen der Entscheidung zur Migration und der tatsächlichen Ausreise, wie wurde diese Zeit genutzt?
3.5 Präzisierung der Untersuchungsfragen
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Ankunft in Deutschland Wie wurde die erste Zeit in Deutschland erlebt, mit welchen Gefühlen sind die Erinnerungen daran verbunden, inwieweit sind diese noch immer dominant? Welche Bezugspersonen spielten in der ersten Zeit eine Rolle. Haben diese heute noch eine Bedeutung? Welche Strategien wurden angewandt, um die migrationsbedingten Unsicherheiten zu überwinden?
Auseinandersetzung mit Herkunftsfamilie und –kultur Wie erfolgt die Thematisierung der Herkunftsfamilie? Gibt es Erwartungen, Bedürfnisse, Konflikte? Wie gestaltet sich der Kontakt mit der Familie über die räumliche Distanz? Werden Unterschiede des sozialen Lebens zwischen Guinea und Deutschland thematisiert? Worin liegen dabei die Schwerpunkte und wie erfolgt die eigene Positionierung?
Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechtlichkeit Welche Lebensentwürfe als Frau bzw. Mann entwickeln die BildungsmigrantInnen? Folgen diese den familialen Vorbildern oder distanzieren sie sich von ihnen. Haben die BildungsmigrantInnen bisher Erfahrungen mit Liebesbeziehungen gemacht? Welche Bedeutung haben diese in ihrer aktuellen Lebenssituation? Welchen Einfluss haben die veränderten Geschlechterverhältnissen in Deutschland auf die Lebensentwürfe der BildungsmigrantInnen? Welche Konflikte sind bei diesem Thema besonders virulent?
Zukunftsperspektiven und räumliche Verortung Wie stellen die BildungsmigrantInnen sich ihre Zukunft vor? Welche beruflichen Perspektiven sehen sie für sich nach Abschluss ihres Studiums? In welchen sozialen Bezügen wollen sie leben, möchten sie eine Familie gründen, Kinder haben? Inwieweit folgen sie bei diesen Überlegungen den Vorstellungen und Erwartungen ihrer Familie oder weichen davon ab? Wo möchten die BildungsmigrantInnen nach Abschluss ihres Studiums leben? Inwieweit gibt es bei diesen Überlegungen eine Diskrepanz zwischen dem Wunsch und den Möglichkeiten der Verwirklichung? Wie verknüpft sich ihre räumliche Verortung jeweils
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3 Chancen und Risiken adoleszenter Bildungsmigration
mit den beruflichen und sozialen Vorstellungen des späteren Lebens. Welche Lösungen erscheinen ihnen möglich?
Aneignung des migrationsbedingt neuen Lebensraumes Wie wird die aktuelle Lebenssituation dargestellt und empfunden? Welches sind die dominanten Themen, die bei der Einwanderung nach Deutschland angesprochen werden? Wie stellt sich das Verhältnis der BildungsmigrantInnnen zum sozialen Leben in Deutschland dar? Wie gestaltet sich ihr soziales Beziehungsnetz? Wie sieht der Alltag der BildungsmigrantInnen aus? Welche Motive sind bei der Gestaltung ihres Alltags handlungsleitend? Welche Erfahrungen haben sie mit Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung gemacht? Welches Ziel wird aktuell mit der Migration vordergründig verfolgt?
4 Fallanalysen
4.1 Methodisches Vorgehen 4.1.1 Der ethnohermeneutische Ansatz Zur Analyse der verdoppelten Transformationsverarbeitung adoleszenter MigrantInnen bedient sich die vorliegende Studie der Methode der Ethnohermeneutik, wie sie insbesondere von dem Soziologen und Gruppenanalytiker Hans Bosse entwickelt wurde und durch Feldforschungen in Kamerun und PapuaNeuguinea sowie in der eigenen Kultur eine stetige Weiterentwicklung erfuhr (vgl. z.B. Bosse 1979, 1994, 1998, 2001, 2004, Bosse/King 1998, Keval 1999, Sauter 2000, Günther 2001, 2006, Kerschgens 2000, 2007, Janscó 2003, Prochnau 2003, Schubert 2005, Schwarz 2007). Der Begriff Lebensentwurf – zentraler Begriff der Ethnohermeneutik – macht das Erkenntnisinteresse deutlich, das mit dieser Methode verfolgt wird: Sie untersucht das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft anhand der – diesem Verhältnis inhärenten – Differenz zwischen den individuellen und kollektiven Sinnfiguren. Das Interesse richtet sich insbesondere auf soziale Wandlungsprozesse und die damit verbundenen kulturellen und institutionell-gesellschaftlichen Auswirkungen einerseits und ihre Verankerungen und Wirkungen in Individuen andererseits. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf den Aushandlungsprozessen zwischen Gruppe und Individuum, in denen sich Lebensentwürfe formieren. Lebensentwürfe geben Aufschluss über die Entstehung neuer Deutungsmuster und damit auch über die vorhandenen Spielräume für die Entfaltung oder Unbewusstmachung individueller Sinnfiguren. Lebensentwürfe, verstanden als Resultat biographischer Arbeit, bilden sich in Auseinandersetzung mit kulturell-gesellschaftlichen Regeln, Diskursen und sozialen Bedingungen sowie den innerpsychischen Bedürfnissen und Strebungen heraus. Sie finden ihren Ausdruck in jeder Kommunikation zwischen Individuen und werden in dieser ausgehandelt, ständig neu bearbeitet und formuliert. Dies dient sowohl der Sicherung von Kontinuität und dem Umgang mit Diskontinuität als auch dem Aufrechterhalten der sozialen Identität. Mit seinem Lebensentwurf setzt sich das Individuum zu seiner sozialen Gruppe in Beziehung und nimmt Stellung zu den in ihr vorherrschenden Regeln. Der Lebens-
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4 Fallanalysen
entwurf entsteht in Auseinandersetzung mit den biographischen Fragen: „Woher komme ich? Wer bin ich? Wohin gehe ich?“ (Bosse 1999, 244) und steht in enger Verbindung mit den kollektiven Fragen: „Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?“ (ebd.). Die Angewiesenheit des Individuums auf die Anerkennung einer sozialen Gruppe (vgl. Honneth 1992) erfordert einen stetigen Austausch zwischen den kollektiven Sinnfiguren und subjektiven Entwürfen. Biographische Arbeit vollzieht sich „in einer unauflösbaren Spannung zwischen individueller und kollektiver Sinnbildung“ (Bosse 1999, 244). Die sich daraus entfaltenden Lebensentwürfe sagen etwas darüber aus, inwieweit die jeweiligen kulturell-gesellschaftlichen Verhältnisse den Individuen Spielräume zur Veränderung der vorherrschenden Welt- und Selbstbilder eröffnen oder sie zur Anpassung an sie nötigen. Die Analyse der Lebensentwürfe kann daher zur Klärung der Frage beitragen, wie Individuen grundsätzlich eine Erweiterung ihrer Wunsch- und Vorstellungshorizonte und eine Integration der damit verbundenen Ängste in ihren Lebensentwurf möglich wird beziehungsweise inwieweit Individuen durch eine Anpassung an vorhandene Deutungsmuster in der Entfaltung ihrer Wunsch- und Vorstellungshorizonte sowie der Bearbeitung der damit verbunden Ängste blockiert werden, so dass sie diese abwehren, also unbewusst halten müssen (vgl. Bosse 1999). Die Untersuchung von Lebensentwürfen lässt also Aussagen darüber zu, wie sich das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft gestaltet und welche Spielräume die Einzelnen haben, neue, d. h. auch abweichende Entwürfe zu entfalten. Gesellschaftliche Modernisierungsprozesse, die sich durch zunehmende Individualisierung und Pluralisierung von Lebenslagen auszeichnen (vgl. Beck 1986, 1997) und damit das Autonomiepotential der Individuen erhöhen, sind jedoch „nicht etwa als Befreiung und Abweisung von kollektiver Sinnbildung“ (Bosse 1999, 245) aufzufassen. Es geht vielmehr um „eine neue Ausgestaltung des Verhältnisses von Individuen und Gruppe, von individueller und kollektiver Sinnbildung“ (ebd.). Das bedeutet, der Lebensentwurf ist immer durch individuelle und kollektive biographisch entstandene Abwehrstrukturen bestimmt, die ganz unterschiedlich ausgeprägt sein können. Die biographische Arbeit vollzieht sich prozesshaft während des gesamten Lebens, erfährt jedoch in Krisensituationen eine Intensivierung. Als Krisensituation werden sowohl die Adoleszenz als auch die Migration verstanden, die sich bei den adoleszenten MigrantInnen, wie bereits ausgeführt, verdoppelt. Denn nicht nur die Adoleszenz provoziert eine verstärkte Auseinandersetzung mit den virulent werdenden individuellen Sinnfiguren, sondern auch die durch die Migration sich verändernden kollektiven Deutungsmuster fordern in besonderem Maße zu einer Überarbeitung bisher (in anderen Gruppen) gültiger Muster heraus. Die Lebensentwürfe der adoleszenten BildungsmigrantInnen sollen somit
4.1 Methodisches Vorgehen
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Aufschluss darüber geben, wie die Jugendlichen mit der Spannung zwischen kollektiver und individueller Sinnbildung umgehen und sich in diesem höchst komplexen Wechselspiel zwischen äußerer und innerer Welt positionieren. Dazu sind nicht nur die sozialen Deutungsmuster relevant, die mit dem Phänomen Bildungsmigration verbunden sind, beispielsweise mit dem Bild des erfolgreich in die Heimat zurückkehrenden Hochschulabsolventen. Vielmehr soll in der vorliegenden Arbeit ergründet werden, was die Adoleszenten innerlich zur Migration bewegt, welche ganz persönlichen Themen sie bearbeiten und wie sie die vielfältigen Widersprüche, in denen sie sich befinden, für sich lösen. Für diese Untersuchung sind also die individuellen, sowohl auf psychischer wie sozialer Ebene vollzogenen, bewusst und unbewusst ablaufenden Entwicklungsprozesse von Interesse, die durch die Migration in Gang gesetzt oder behindert werden. Es wird davon ausgegangen, dass die ihnen bisher zur Verfügung stehenden Deutungsmuster sozialer Prozesse nicht ausreichen, um die komplexen Transformationsprozesse adoleszenter Migration umfassend erklären zu können. Denn die zum Teil gegensätzlichen Kräfte, die sowohl im Adoleszenz- wie auch Migrationsprozess nach Verwirklichung streben, setzen im Individuum Konflikte in Gang, für deren Lösung nicht auf vorhandene Entwürfe zurückgegriffen werden kann. Zur Verfolgung des so formulierten Erkenntnisinteresses stützt sich diese Untersuchung auf die Ethnohermeneutik, die Erkenntnisse aus Soziologie, Gruppenanalyse und Psychoanalyse fruchtbar macht, um die komplexe Dynamik zwischen Individuum und Gemeinschaft hinsichtlich ihrer bewussten wie unbewussten Anteile erfassen zu können. Ähnlich wie bei der psychoanalytischen Sozialpsychologie bzw. -forschung (vgl. Brückner, 1972; Horn u.a., 1983; Leithäuser/Volmerg, 1988) geht es der Ethnohermeneutik vor allem darum, die Wechselwirkung zwischen sozialen und psychischen Prozessen systematisch zu ergründen. Darüberhinaus stützt sich die Ethnohermeneutik auf Erkenntnisse der Gruppenanalyse, weil sich damit die gerade in Gruppenprozessen sich vollziehende Vermittlung des Sozialen mit dem Psychischen erschließen lässt. Die Ethnohermeneutik versteht sich als reflexive hermeneutische Forschungsmethode und verfügt über Verfahren zur Erhebung von Forschungsgesprächen sowie der Analyse von (Forschungs-)Texten. Reflexiv bedeutet hier, dass die Überprüfung der jeweiligen Bedingungen und Hindernisse der eigenen Erkenntnis den gesamten Forschungsprozess begleiten. Das bedeutet im Wesentlichen, dass einerseits die Vorannahmen der Forscherin in der Vorbereitung geprüft und entsprechende Einsichten in die Konstruktion des Forschungsgegenstandes einbezogen werden und dass andererseits in der hermeneutischen Fallrekonstruktion die „Art und Weise, wie Forschungsteilnehmer die Forschung deuten und gestalten“ (King 2004, 51) wichtige Erkenntnisse über den
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4 Fallanalysen
Fall liefern. Die systematische Analyse der Ausgestaltung der Forschungssituation trägt somit zur Überwindung von Verstehenswiderständen bei. Der Blick auf die Forschungssituation als Ort einer gemeinsamen Praxis und Beziehung von Forscherin und TeilnehmerInnen, in der alle Beteiligten ihre Lebensentwürfe interaktiv aushandeln, stellt daher ein zentrales Element der ethnohermeneutischen Fallrekonstruktion dar (vgl. Bosse 1998, Bosse/King 1998, Günther/Kerschgens 2005). Damit schließt die Ethnohermeneutik auch an die unter anderem von Dilthey (1926), Habermas (1968), Bourdieu (1996) und Schülein (1998, 1999) formulierten Erkenntnisse an, die eine – in den Sozialwissenschaften häufig praktizierte – Trennung von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt als unmöglich erachten, weil hermeneutische Sozialforschung nicht eine objektiv vorgefundene, sondern eine von uns selbst erzeugte Welt untersucht (vgl. auch Jensen/Welzer 2003, Keßeler 2006). Der Erkenntnisprozess wird somit grundsätzlich als subjektive Arbeit verstanden, die von den biographischen Erfahrungen der Forscherin nicht zu trennen ist. Dem Anspruch einer systematischen reflexiven Hermeneutik (vgl. King 2004) folgend, betrachtet die Ethnohermeneutik somit jeden Fall konsequent als „Fall in der Forschung“, „anstatt der Fiktion des von der Forschung unberührten Falls anzuhängen“ (King 2004, 51). Weiter versucht sie über die Frage, „wie sich ein Fall in der Forschung konturiert, zentralen Aufschluss über den Gegenstand“ (ebd.) zu gewinnen. Und schließlich folgt sie „einer konsequenten interpretativen Durchdringung der Dialektik von Form und Inhalt“ (Bosse/King 1998, 225) der Forschungstexte.
4.1.2 Zentrale Erkenntnisinstrumente der Ethnohermeneutik Zur Erfassung von Lebensentwüfen mit ihren verschiedenen bewussten, unbewussten und abwehrgeprägten Anteilen bedient sich die Ethnohermeneutik der Triangulation (vgl. Flick 2004) verschiedener empirischer Zugangsweisen. Die Kombination der Sequenzanalyse, wie sie insbesondere in der Objektiven Hermeneutik angewandt wird, mit dem szenischen Verstehen, wie es vor allem von der Tiefenhermeneutik fruchtbar gemacht wird, die beide für sich allein genommen jeweils nur „die Analyse von Einzelaspekten sozialer Phänomene und von Wirklichkeitsausschnitten“ (Jung/Müller-Doohm 1995, 23) vornehmen, ermöglicht mit der konsequenten Perspektive auf die Forschungssituation, sowohl den manifesten wie auch den latent-unbewussten Sinn zu rekonstruieren (vgl. Kerschgens 2006). Die Erhebung der Forschungssituation erfolgt durch die Tonbandaufnahme des Forschungsgesprächs sowie das von der Forscherin nach einem systematischen Protokollleitfaden (vgl. Bosse 1986) geführte Protokoll.
4.1 Methodisches Vorgehen
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Die drei zentralen Erkenntnisinstrumente der Ethnohermeneutik, die Sequenzanalyse, das szenische Verstehen und die Analyse der Forschungssituation, werden im Folgenden erläutert und begründet. Im Anschluss daran wird anhand des konkreten Forschungsfeldes gezeigt, wie der ethnohermeneutische Ansatz für die Forschungsgespräche der vorliegenden Arbeit fruchtbar gemacht wurde.
4.1.2.1 Sequenzanalyse Die sozialwissenschaftliche Sequenzanalyse, wie sie insbesondere in der objektiven Hermeneutik (vgl. Oevermann 1993) systematisch Anwendung findet (vgl. Reicherts 1997), hat in einer modifizierten Form eine zentrale Bedeutung in der Ethnohermeneutik. Anhand der Analyse einzelner Sequenzen des transkribierten Forschungstextes werden der sprachlich mitgeteilte und damit den Handelnden bewusste oder manifeste Sinn und die ihnen zugrunde liegenden Deutungsmuster, der latente Sinn, herausgearbeitet. Die Sequenzanalyse erschließt die kollektiven Sinnfiguren und deren fallspezifische Ausgestaltung durch die ForschungsteilnehmerInnen. Konkret wird bei diesem Verfahren der Text, mit der Eröffnungsszene beginnend, Satz für Satz auf die jeweilige soziale Praxis des Sprechers hin untersucht. Über die Bildung verschiedener Lesarten ergibt sich im Fortgang der Interpretation die Formulierung einer tragenden latenten Sinnfigur. Die Ethnohermeneutik sieht den Nutzen der Sequenzanalyse nicht allein darin, die kollektiven Sinnfiguren und mit der Fallstruktur die Eindeutigkeit eines Falles aus dem Text zu erschließen (vgl. Oevermann 1993), sondern sie beabsichtigt mit der Sprachanalyse, über die Erfassung der Deutungsmuster hinaus auch auf die nicht konsistenten, widersprüchlichen und konflikthaften Themen zu stoßen und damit Hinweise auf die abgewehrten Anteile des Lebensentwurfs zu erhalten, die dann einer weiteren Analyse unterzogen werden können (vgl. Bosse 2007). Das bedeutet, innerhalb eines Textes können verschiedene Sinnfiguren, die einander widersprechen, zur Geltung kommen, deren Bedeutung über das szenische Verstehen erschlossen werden kann.
4.1.2.2 Szenisches Verstehen Das Konzept des szenischen Verstehens wurde von Lorenzer (1970) als zentrales Element der tiefenhermeneutischen Kulturanalyse (Lorenzer 1986) entwickelt. Auf Erkenntnisse der Psychoanalyse zurückgreifend, macht es sich die szenische Funktion des Ichs nutzbar, nach der die menschliche Repräsentanzenwelt zu einem großen Teil aus Szenen besteht (vgl. Haubl 1999). Die psychi-
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4 Fallanalysen
sche Verarbeitung lebensgeschichtlicher Ereignisse erfolgt durch Umcodierung „auf unterschiedlichen Symbolisierungsniveaus in verschiedenen Repräsentationsmodi“ (ebd., 33), in denen sie auf verschiedenen Ebenen gespeichert werden, vom vollständig Unbewussten bis zum reflexiven Bewusstsein reichend. Das reflexive Bewusstsein ist immer an Sprache gebunden, kann somit nur die sprachlich repräsentierten Erfahrungsanteile erfassen. „Vollständig repräsentiert ist eine Erfahrung nur dann, wenn alle Repräsentationsmodi synergetisch zusammenwirken“ (ebd.). So dringen auch unbewusste Anteile in das Bewusstsein ein, beispielsweise indem „die nicht-sprachlichen Repräsentanzen die sprachlichen überlagern oder sogar ihre Entstehung stören“ (ebd.). Das szenische Verstehen zielt gerade auf die nicht sprachlichen Ausdrucksformen, die sich in Interaktionen in Form von Inszenierungen zeigen. Es erfasst somit neben der Sprache auch sinnlich-symbolische Äußerungen in Kommunikationsprozessen und nähert sich damit den immer mitschwingenden unbewussten, sprachlich nicht fassbaren Aspekten des verhandelten Themas bzw. des Lebensentwurfs (vgl. Lorenzer 1986). Methodisch wird das Szenische des Forschungsprozesses neben dem transkribierten Gesprächstext durch das systematische Führen von Protokollen dokumentiert, in denen nicht nur die äußeren Rahmenbedingungen, sondern insbesondere auch Mimik und Gestik, Körperausdruck und leibgebundene Handlungen, wie Räuspern, Fingertrommeln oder Seufzen, interaktive Handlungen (z. B. Umarmen oder Handschütteln zur Begrüßung) und instrumentell raumzeitliche Handlungen (z.B. Verlassen des Raumes während des Gesprächs), Affekte und körperlichen Empfindungen (z. B. Kopfschmerzen, Müdigkeit, Hunger) sowie die Erwartungen und Irritationen der Forscherin festgehalten werden (vgl. Bosse 1986, Keval 1999).
4.1.2.3 Forschungssituation Die Forschungssituation, in der sich die ForschungsteilnehmerInnen als zunächst Unbekannte in einer nicht alltäglichen Situation begegnen und ihre Lebensentwürfe interaktiv aushandeln, wird als Ort einer gemeinsam hergestellten Praxis untersucht (vgl. Bosse 1998). Die Forschungssituation öffnet den Blick auf die inneren und äußeren Dimensionen sozialer Praxis (vgl. Bosse 1994, 1998; Bosse/King 1998; Günther/Kerschgens 2005): Einerseits wird sie von den TeilnehmerInnen als institutionell und gesellschaftlich strukturierte Realsituation wahrgenommen und entsprechend ihren Interessen, Zielen, Konventionen und Zwängen gedeutet. Sie verweist damit auf die jeweils eingespielte soziale, institutionelle und kulturelle Praxis. In die Analyse fließen die äußere Realität
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der Forschungssituation gemäß ihrem institutionellen Charakters sowie das zwischen Forscherin und ForschungsteilnehmerInnen geschlossene Arbeitsbündnis ein, denn die Ausgestaltung der Forschungssituation ist immer auch als eine Auseinandersetzung mit der äußeren Form, in der die Forschung sich konstelliert, zu verstehen. Andererseits gilt die Forschungssituation als Übertragungsraum, den die Teilnehmer entsprechend ihrer verinnerlichten biographischen Erfahrungen ausgestalten, indem lebensgeschichtliche und aktuelle Beziehungsbilder, die sowohl aus familalen wie auch aus unterschiedlichen öffentlichen und institutionellen Situationen stammen, auf die Realsituationen übertragen werden und die Art und Weise der Kontaktaufnahme bestimmen24. Die Analyse der Beziehungsdynamik zwischen Forscherin und TeilnehmerInnen gibt somit auch Aufschluss über die verinnerlichte Welt der TeilnehmerInnen und ihre Selbstentwürfe. Der Rolle der Forscherin kommt für die Ausgestaltung der Forschungssituation ebenfalls eine zentrale Bedeutung zu, weil sie einerseits die Forschung in verschiedener Weise strukturiert und andererseits durch die ForschungsteilnehmerInnen in einer für deren Struktur bedeutsamen Weise wahrgenommen wird (vgl. King 1992). Bei der Rekonstruktion werden daher die beabsichtigten oder unbeabsichtigten, subjektiven und objektiven und zum Teil verborgenen Vorgaben von Seiten der Forscherin mit einbezogen, um zu verstehen, wie diese von den TeilnehmerInnen ausgedeutet werden. Im Hinblick auf die Ausgestaltung der Forschungssituation gilt es somit, die Interaktion zwischen Forscherin und TeilnehmerInnen mit ihren verschiedenen Bedeutungsebenen differenziert und aufeinander bezogen zu analysieren (vgl. Bosse 1994, Mecheril 1999). Darüber hinaus können auch die Ermöglichungen und Be- bzw. Verhinderungen von Neubildungsprozessen analysiert werden. Denn die Ausgestaltung der Forschungssituation als fremde, außergewöhnliche Situation zeigt, inwieweit die inneren und äußeren Möglichkeiten eine kreative Lösung zulassen (vgl. Koller 2002, Günther/Kerschgens 2005).
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Die Theorie der Übertragung stammt aus der Psychoanalyse (Freud 1949) und „beschäftigt sich mit der Art und Weise, wie überhaupt Kontakt mit der Realität aufgenommen wird“ (Schülein 1998, 296). Freud hat die Prozesse der Übertragung insbesondere für die psychoanalytische Therapie fruchtbar gemacht. Dies führt vielfach zu der Annahme, dass Übertragungsphänomene nur bei neurotisch gestörten Interaktionen zur Geltung kommen. Tatsächlich finden diese unbewussten Aktivitäten jedoch in jeder Kommunikation zwischen Menschen statt und sind sowohl „handlungswirksam als auch resonanzfähig“ (Schülein 1999, 351; vgl. auch Keßeler 2006 sowie Horn u.a. 1983).
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4 Fallanalysen
4.1.2.4 Ethnohermeneutische Fallrekonstruktion Die ethnohermeneutische Fallrekonstruktion erfolgt in einer Interpretationsgruppe und richtet sich in erster Linie auf das transkribierte Forschungsgespräch. Das von der Forscherin erstellte Forschungsprotokoll wird in einem weiteren Interpretationsschritt hinzugezogen. Die Rekonstruktionsarbeit richtet sich gleichermaßen auf die sprachlichen wie nicht sprachlichen Äußerungen und ist grundsätzlich als Doppelbewegung (vgl. Keval 1999) zu verstehen, da sie, ausgehend von der Initialszene, mittels der Sequenzanalyse einzelne Passagen Satz für Satz analysiert, gleichzeitig aber auch das Gespräch in seiner Gesamtheit in den Blick nimmt und den Ablauf sowie seine Charakteristik beleuchtet. Zu Beginn der Interpretation in der Gruppe werden die ersten Eindrücke beim Lesen des Textes zusammengetragen. Hierzu zählen insbesondere die Gefühle, Irritationen und Bilder, die einzelne Gruppenmitglieder bei sich wahrgenommen haben. Hieraus lassen sich bereits erste Aussagen über den Charakter des Gesprächs treffen, die häufig innerhalb der Gruppe in Form von Polarisierungen, Differenzen oder Ambivalenzen repräsentiert sind und wichtige Hinweise auf verdeckte Affekte oder unbewusste Strukturen geben. In einem weiteren Schritt wird eine gemeinsame sequenzanalytische Rekonstruktion der Anfangsszene des Gesprächs vorgenommen. Mit der daraus gewonnenen Hypothese werden die ersten Thesen überprüft und weiterentwickelt. Diese werden im weiteren Fortgang der Interpretation an mehreren ausgewählten Stellen des Textes mittels der Sequenzanalyse konkretisiert. Die Analyse der Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene wird anhand der protokollierten affektiven Reaktionen der Leser auf den Text sowie der Aufzeichnungen im Forschungsprotokoll vorgenommen, sie dient ebenfalls der Präzisierung der entwickelten Hypothesen. Auf Erkenntnissen der Gruppenanalyse aufbauend, nähert sich die ethnohermeneutische Interpretation ihrem Gegenstand jeweils aus ethnographischer, soziologischer, psychoanalytischer und gruppenanalytischer Perspektive, in deren Zusammenführung die Dynamik zwischen Form und Inhalt des Forschungsgesprächs erschlossen werden kann (vgl. Bosse 1994). Die Rekonstruktion in der Interpretationsgruppe folgt ebenfalls dem gruppenanalytischen Verständnis, nach dem sich erst durch „die Gesamtheit der Reaktionen, aus der Vielfalt der Resonanz der einzelnen Sprecher herrührend“ (Kerschgens 2007, 5), das fallspezifische Muster zusammensetzt. Diese durch die unterschiedlichen Biographien der TeilnehmerInnen der Interpretationsgruppe erweiterten Bedeutungsinhalte erhöhen die Gültigkeit der Rekonstruktion und vermeiden Einzeldeutungen. Das bedeutet zugleich, dass die Interpretation nicht als endgültig abgeschlossen gelten kann, da in einer anderen Konstellation der Interpretationsgruppe neue Lesarten möglich werden.
4.1 Methodisches Vorgehen
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4.1.3 Das Forschungsfeld Wie in der Einleitung bereits ausgeführt, steht die empirische Untersuchung der Transformationsbewältigung guineischer BildungsmigrantInnen im Zusammenhang mit meinem entwicklungspolitischen Engagement in Guinea und den daraus gewonnen Erfahrungen. Die aus persönlichen Beziehungen gewonnenen Erfahrungen und Kenntnisse über die Lebenszusammenhänge in Guinea flossen als wesentliche Bestandteile in die Forschung ein. Einerseits ermöglichten mir die persönlichen Kontakte zu in Deutschland lebenden Guineern und mein Engagement im Verein "Mango" den Zugang zu meinen GesprächspartnerInnen. Das bei vielen der guineischen BildungsmigrantInnen vorherrschende Misstrauen mir als deutscher Forscherin gegenüber wurde von einigen überwunden, als sie erfuhren, dass ich schon mehrmals in Guinea war und mich für die Verbesserung der guineischen Lebensbedingungen einsetze. Andererseits sind meine konkreten Erfahrungen in der guineischen Lebenswelt als Interpretationshintergrund für die Analyse der Forschungsgespräche von großer Bedeutung. Die Erhebungsphase der vorliegenden Untersuchung begann im Herbst 2002 und dauerte etwa ein Jahr25. Der Kontakt zu den guineischen BildungsmigrantInnen erfolgte zunächst über die persönliche Beziehung zu Verwandten oder Bekannten der Jugendlichen und wurde dann per Schneeballsystem fortgesetzt. Nach Rücksprache und mit dem Einverständnis der guineischen StudentInnen wurde ihre Telefonnummer an mich weitergegeben. Mein Forschungsinteresse begründete ich mit einer von mir bereits durchgeführten Studie über jugendliche MigrantInnen aus Guinea, die nach Deutschland gekommen sind, um hier zu studieren. Ich machte mein Interesse an der Biographie der Jugendlichen deutlich, die ich anhand ihrer individuellen Interessen, Erlebnisse und Erfahrungen erheben wollte. Ich erläuterte im Vorfeld ebenfalls, dass es mir nicht um ein klassisches Interview geht, das durch konkrete Fragen strukturiert ist, sondern um ein Gespräch, in dem die Jugendlichen frei über ihre Erlebnisse berichten können. Einige der von mir kontaktierten BildungsmigrantInnen waren sehr interessiert und neugierig auf die Forschungsgespräche und verabredeten sofort einen Gesprächstermin. Andere äußerten ihr Unbehagen hinsichtlich der Verwertung des erhobenen Erzählmaterials und wollten genauere Informationen über meine Person und die von mir durchgeführte Studie, bis sie bereit waren, sich mit mir zu treffen. In einigen Fällen gelang es mir nicht, das mir entgegengebrachte Misstrauen auszuräumen, so dass ein Treffen nicht zustande kam. Die Wahl des Ortes überließ ich in der Regel meinen GesprächspartnerInnen. In etwa der Hälfte der Fälle besuchte ich sie zu Hause, die anderen lud ich 25
Vier Forschungsgespräche wurden im Rahmen einer Vorstudie bereits im Jahr 2000 durchgeführt (vgl. Günther 2001).
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4 Fallanalysen
in meine Wohnung ein. Aufgrund der geringen Anzahl der in Deutschland studierenden Guineer, die im gesamten Bundesgebiet verteilt leben, unternahm ich mehrmals längere Fahrten für die Gespräche. Der thematische Rahmen wurde von mir zwar gemäß dem oben genannten Forschungsinteresse vorgegeben, ich formulierte meine Fragen auch immer mit Blick auf die präzisierten Untersuchungsfragen. Mit den offen angelegten Forschungsgesprächen wollte ich den Adoleszenten jedoch die Möglichkeit bieten, ihre Akzente selbst zu setzen und den vorgegebenen Rahmen in für sie relevanter Weise auszufüllen. So verstand ich meine Rolle nicht als Interviewerin, sondern als Gesprächspartnerin, die als Subjekt das Forschungsfeld mitgestaltet. Die damit verbundenen Verwicklungen während eines Gespräches galt es anschließend, während der Rekonstruktionsarbeit, zu reflektieren. Die Forschung wurde von der ersten Kontaktaufnahme an ausführlich protokolliert. In den Protokollen wurden sowohl die objektiven Daten des Gesprächs als auch Randbedingungen, Auffälligkeiten und Irritationen festgehalten. Darüber hinaus enthält das Protokoll meine Erwartungen und Gefühle vor und nach dem Gespräch, die von mir wahrgenommene Dynamik des Gesprächs hinsichtlich seiner Atmosphäre, vorgenommene Interventionen, Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene sowie die verhandelten Themen. Die Forschungsgespräche wurden auf Deutsch geführt, weil meine Französischkenntnisse dafür nicht ausreichend sind, die jungen Guineer hingegen für ihr Studium alle über gute Deutschkenntnisse verfügen. Die dennoch sich ergebenen Missverständnisse oder Unverständlichkeiten wurden in die Analyse einbezogen. Grundsätzlich fiel mir der Zugang zu den weiblichen Gesprächspartnerinnen verständlicherweise leichter. Die jungen Frauen fanden in mir mehrheitlich das Identifikationsangebot einer weiblichen Wissenschaftlerin interessant, zu der sie sich mit ihren eigenen Entwürfen in Beziehung setzten. In den Gesprächen mit den jungen Männern hingegen konnte häufig die Distanz durch das mir entgegengebrachte Hierarchieempfinden nicht überwunden werden, was eine offene Gesprächsatmosphäre verhinderte. Da dies aber nicht durchgängig so war, galt es umso mehr, die jeweilige Ausgestaltung der Forschungssituation in die Fallrekonstruktion systematisch einzubeziehen. Die Distanz mir gegenüber zeigte sich beispielsweise in der Form, wie die Jugendlichen mich anredeten. Der in Deutschland verwendete Unterschied zwischen „du“ für informelle und „Sie“ für formelle Beziehungen findet sich auch in Guinea, wo das formale „Sie“ noch deutlicher als Grenzmarkierung verwendet wird. Ungeachtet dieser Tatsache war es für mich anfangs selbstverständlich, die guineischen Studierenden zu duzen, weil ich dachte, damit auch eine gewisse Nähe zu signalisieren. Meinen GesprächspartnerInnen – den jungen Männern häufiger als den jungen Frauen – fiel es jedoch teilweise schwer, mich zu duzen.
4.2 Fallportraits
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Auch wenn sie es zu Beginn eines Gesprächs taten, so benutzten sie häufig im weiteren Verlauf die Sie-Form. Diese Irritation versuchte ich im Fortgang der Forschung zu vermeiden, indem ich den Kontakt in der Sie-Form aufnahm und es dem weiteren Verlauf des Gesprächs überließ, ob es dabei blieb oder wir uns auf das informelle Du einigten. Die Forschungsgespräche waren nicht als Datenerhebung im Sinne der Registrierung bereits vorfindbarer Daten angelegt, sondern wurden von mir als kreativer Prozess verstanden, an dem ich als Forscherin aktiv beteiligt bin (vgl. auch Schülein 1999). Mein Interesse an den Lebensentwürfen der adoleszenten BildungsmigrantInnen beschränkte sich also nicht nur auf die Erfassung vergangener Ereignisse und deren Bewältigung, sondern auch auf solche Vorgänge, die sich möglicherweise während des Forschungsgesprächs selbst, beim Erzählen und in der Interaktion mit mir vollziehen (vgl. auch Koller 2002). Denn die Aushandlungsprozesse im Rahmen der Forschungssituation spiegeln prozesshaft die Lebensentwürfe wider. Die Rekonstruktion der Forschungsgespräche erfolgte im Rahmen einer Interpretationsgruppe, die den gesamten Forschungsprozess begleitete.
4.2 Fallportraits Zum besseren Verständnis der Einzelfälle werden im Folgenden die aus der Auswertung aller dreizehn Forschungsgespräche gewonnenen allgemeinen Merkmale der Lebenszusammenhänge adoleszenter BildungsmigrantInnen aus Guinea vorgestellt. Die BildungsmigrantInnen der vorliegenden Studie sind zum Zeitpunkt des Gesprächs zwischen 22 und 29 Jahre alt26. Sie stammen mehrheitlich aus privilegierten Verhältnissen, da ihre Familien hinsichtlich ihres Bildungsgrades, des beruflichen Status und der finanziellen Absicherung der Elite des Landes Guinea angehören. Aufgewachsen sind sie überwiegend in der Hauptstadt Conakry und kennen das Landleben nur von Ferienbesuchen bei Verwandten. Die soziale Praxis der Adoleszenten zeichnet sich in Guinea durch eine „gelebte Interkulturalität“ (Gogolin 2000, 26) aus, die sich in ihrer Mehrsprachigkeit27, dem multiethnischen Leben in Conakry und bei den meisten auch durch ihre multiethnische Herkunft28 ausdrückt.
26 27 28
Der Altersdurchschnitt liegt bei fünfundzwanzig Jahren. Eine afrikanische Sprache als Muttersprache, manchmal mehrere afrikanische Sprachen innerhalb der Familie und Französisch als offizielle Landessprache Guineas. Fulbe, Malenke, Sussu u.a.
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Die Beziehung zu den Eltern wie auch zu Onkeln und Tanten ist grundsätzlich streng hierarchisch geordnet. Den Kindern wird den Älteren gegenüber Respekt abverlangt, welcher offenen Widerspruch nicht zulässt. Diese Ordnung wird nicht selten durch autoritäre Haltung und körperliche Züchtigung aufrechterhalten. Die Eltern treffen Entscheidungen in nahezu allen Bereichen des Lebens ihrer Kinder. Auch mit zunehmendem Alter wird den Adoleszenten kaum Gestaltungsspielraum für ihr Leben gewährt, was zu einer weitgehenden Unselbstständigkeit der Jugendlichen führt. Die elternunabhängige Migration versetzt die Jugendlichen daher erstmals in die Situation, ihr Leben eigenständig organisieren zu müssen. Die guineischen BildungmigrantInnen erlangen somit durch die Erfahrungen in der Migration einen Grad an praktischer Selbstständigkeit, der ihnen in Guinea in dieser Weise normalerweise nicht möglich gewesen wäre. Entsprechend ihrer privilegierten Herkunft sehen viele der untersuchten Jugendlichen es als selbstverständlich an, eine höhere Berufskarriere anzustreben. Damit verbunden empfinden sie häufig auch die Verpflichtung, zur Entwicklung ihres Landes einen Beitrag zu leisten. Das Auslandsstudium gilt als einzige Gewähr für eine realistische berufliche Perspektive. Ganz allgemein erträumten sich die Adoleszenten vor ihrer Migration, entsprechend ihren familialen Vorbildern, eine strahlende und erfolgreiche Rückkehr mit anschließender beruflicher Karriere in der Heimat. Die Generationseinheit (vgl. Mannheim 1964) der untersuchten guineischen BildungsmigrantInnen wird aufgrund der politischen und sozialen Situation Guineas zur Migration getrieben, weil nur durch ein Auslandsstudium der Status und das Prestige der Familien erhalten oder vermehrt werden kann. Bei einigen stellt die Migration gar eine wirtschaftliche Notwendigkeit dar, um zum Erhalt des Status oder gar zur Überlebenssicherung der Familie beitragen zu können. Diese rationalen Aspekte, die zur Migration führen, werden bei einigen begleitet vom adoleszenten Aufbruchsbegehren. Die Schilderungen bereits ausgewanderter Freunde oder Verwandter über ihr Leben in Amerika und Europa nährt die Sehnsucht nach fremden Welten und setzt bei den Jugendlichen auch einen Wettbewerb um die besten zukünftigen Lebensbedingungen in Gang. Deutschland als Studienland gilt für die meisten als Kompromiss, der individuell unterschiedlich gelagert ist. Es besteht unter den Gymnasiasten eine Rangliste der begehrtesten Ziele für ein Auslandsstudium, an deren oberster Stelle die USA und Kanada stehen. Auch Frankreich besitzt hohe Attraktivität, da hier die Sprachbarriere wegfällt und das Bildungssystem dem guineischen sehr ähnlich ist. Der gebührenfreie Zugang zu deutschen Hochschulen stellt bei der Entscheidung für Deutschland ein wichtiges Kriterium dar, allerdings nicht das einzige, wie die Fallbeispiele zeigen werden. Das deutsche Bildungssystem
4.2 Fallportraits
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bedeutet für die guineischen BildungsmigrantInnen eine Umstellung, da hier grundsätzlich mehr Wert auf selbstständiges Lernen und weniger auf die Reproduktion von Wissen gelegt wird, als dies in Guinea der Fall ist. Die adoleszenten Guineer reisen alle allein, ohne Familienangehörige nach Deutschland ein. Die meisten haben die Adresse von einer Kontaktperson, die sie vorher noch nie gesehen haben und die sich in der ersten Zeit um sie kümmert29. Einige werden von einem Verwandten30 aufgenommen. Nur zwei der untersuchten Adoleszenten mieten anfangs in Deutschland ein privates Zimmer an, vier ziehen in ein Studierendenwohnheim, die Mehrheit wird in der Wohnung oder dem Zimmer der guineischen Kontaktperson bzw. der Verwandten aufgenommen. Auf den in Deutschland praktizierten alltäglichen Rassismus (vgl. Terkessidis 2004) treffen die Jugendlichen quasi unvorbereitet. Trotz theoretischer Kenntnisse über die Diskriminierung Schwarzer überall in der Welt konnten sie sich die realen Auswirkungen dieser Praxis nicht vorstellen (vgl. hierzu auch Priso 2003). Mit den Ethnisierungs- und Ausgrenzungsprozessen geht ein deutlicher Statusverlust der BildungmigrantInnen in Deutschland einher. Sie sehen sich mit der Situation konfrontiert, dass sie, egal welche berufliche Position sie einmal erreichen werden, aufgrund ihrer Hautfarbe immer Diskriminierungsprozessen ausgesetzt sein werden. Zum Zeitpunkt der Forschungsgespräche 2002/03 war das Einwanderungsgesetz noch nicht in Kraft, d. h. es galt noch die alte Aufenthaltsregelung. Nach dieser erhielten die guineischen BildungsmigrantInnen in Deutschland ein Visum, das an das Studium gebunden war und alle zwei Jahre mit entsprechendem Nachweis über den Fortgang des Studiums verlängert wurde. Nach Ausbildungsabschluss bestand kaum eine Möglichkeit, eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten. Das Innenministerium wies in seinen Runderlassen die Ausländerbehörden ausdrücklich an, Anträge auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis abzulehnen. Eine Ausnahme wurde nur bei Aus- oder Weiterbildung nach Beendigung der Hochschulausbildung gemacht, diese blieb jedoch grundsätzlich auf zwei Jahre beschränkt (vgl. Nebel 1998). Das Verhältnis der guineischen BildungsmigrantInnen zum Studienland Deutschland wird durch diese rechtlichen Rahmenbediungenen entscheidend mitgeprägt. Im Folgenden werden von den insgesamt dreizehn Fällen der Studie sechs exemplarisch analysiert. Die Auswahl der Fälle erfolgt nach dem Kriterium ihrer möglichst hohen Kontrastivität. Die Fallportraits sind das Ergebnis der verschiedenen Interpretationsschritte, wie sie im Kapitel über den methodischen 29 30
Lediglich bei einem Fall gibt es keine Kontaktperson, nur die Anmeldung in der Sprachschule. Onkel, Schwester oder Cousine.
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Ansatz beschrieben wurden. Alle Namen und persönlichen Daten der ForschungsteilnehmerInnen wurden anonymisiert. Die Notation der Transkription befindet sich im Anhang.
4.2.1 Aida Sangaré - Die Kreative Aida ist dreiundzwanzig Jahre alt und lebt seit knapp fünf Jahren in Deutschland. Sie ist die dritte von insgesamt vier Töchtern ihrer Eltern. Die älteste Schwester lebt mit ihrer Familie in Guinea, die zweitälteste hat ihr Studium im Ausland abgebrochen und ist nach Guinea zurückgekehrt. Die jüngste Schwester geht in Conakry noch zur Schule. Aidas Vater studierte in Frankreich, arbeitete in Guinea als Direktor einer bedeutenden Bergbaufirma und ist jetzt im Ruhestand. Die Mutter ist nicht berufstätig. Aida lebt in Frankfurt in einem Studentenwohnheim und studiert Politik.
Kontaktaufnahme Die Forscherin erhielt die Telefonnummer von einem der anderen Forschungsteilnehmer. Im ersten telefonischen Kontakt ist Aida sofort sehr offen und fragt, wieso die Forscherin gerade über Guinea schreiben möchte. Als die Forscherin ihre Verbindung zu dem Land erläutert, betont Aida, wie wichtig es sei, in Guinea etwas zu verändern. Sie verabreden den Gesprächstermin für einen Sonntag in der Wohnung der Forscherin, weil Aida deutlich macht, dass sie froh ist, aus ihrem Studentenwohnheim herauszukommen. Als die Forscherin ihre Adresse und die Namen nennt, die an der Klingel stehen, sagt Aida sofort, dass sie auch ihren Namen behalte, wenn sie heirate. Aida kommt pünktlich zum Gespräch, sie wirkt sehr weiblich in ihrem kurzen Sommerkleid, den hochhackigen Sandalen und mit den langen, rot lackierten Fingernägeln. Sie erzählt, dass sie gerade aufgewacht sei, da sie bis morgens um acht Uhr auf einer Party mit Kameruner Freunden war. Nach einigen einleitenden Sätzen beginnt das Gespräch, das eine knappe Stunde dauert.
Initialszene M.G.:
Mein Oberthema ist halt so die Lebensgeschichte von Migranten und eh .. ich würde dich einfach bitten, dass du mir das erzählst, was dir zu deiner Geschichte einfällt, dass du mir einfach, zunächst mal so deine Geschichte erzählst.
4.2 Fallportraits
Aida: M.G.: Aida: M.G.: Aida:
M.G.: Aida:
M.G.: Aida:
107 Eh, wie ich hierher gekommen bin oder so was in der Richtung? Wo du anfangen möchtest. Ha, .. naja okay (lacht). Ich bin erst mal nach Dresden gekommen Hmhm eh .. ich wollt halt nicht zu Hause bleiben, ich wollte .. eh weil .. halt alle von der Schule, einer war in den USA oder dies und das, da hab ich mal meinen Eltern gesagt: hier studiere ich auch nicht, warum soll ich Hm warum eh .. und ja, das war entweder Deutschland oder gar nicht. Die haben eigentlich gedacht, wenn sie Deutschland sagen, dass ich sag: nein, da geh ich nicht hin. Hmhm Und ja, und dann Dresden
(Transkript S. 1) Die Forscherin hat ein „Oberthema“, das sie benennt. Dies impliziert, dass es ein oder mehrere Unterthemen gibt, die jedoch nicht benannt werden. Das Oberthema ist „die Lebensgeschichte von Migranten“, ein abstrakter Begriff, der von Aidas persönlicher Situation abgehoben ist. Dazwischen setzt sie ein „halt so“, das irritiert, da das Thema dadurch gleichzeitig wieder herabgesetzt wird, denn die Geschichte von MigrantInnen lässt sich nicht „halt so“ erzählen . Diese Diskrepanz setzt sich im nächsten Satz fort, in dem die Forscherin Aida bittet, „einfach“ zu erzählen, „was dir zu deiner Geschichte einfällt“. Damit spricht sie einerseits die Reflexionsfähigkeit Aidas an, die aus der Distanz über ihre Geschichte sprechen soll. Andererseits scheint es jedoch nicht einfach zu sein, diese Geschichte zu erzählen, daher schränkt sie sie ein auf das, was Aida zu ihrer Geschichte einfällt. Das heißt, neben dem, was sie erzählt, scheint es noch etwas zu geben, was schwierig ist zu erzählen. Auch im letzten Abschnitt des Satzes fordert die Forscherin Aida auf, „zunächst mal so deine Geschichte“ zu erzählen. „Zunächst“ bedeutet, dass danach noch etwas kommen soll, was jedoch nicht benannt wird. Aida reagiert auf den einleitenden Satz mit der Frage, was die Forscherin denn nun eigentlich wissen wolle: „Eh, wie ich hierher gekommen bin oder so was in der Richtung?“ Damit gibt sie einerseits zu erkennen, dass sie sich schon vorstellen kann, was die Forscherin meinen könnte, sich aber nicht sicher ist. Mit dem Zusatz „oder so was in der Richtung?“ deutet Aida an, dass sie ihre Lebensgeschichte auch anders betrachten kann als unter dem genannten Aspekt, sie kann sich ihr auch aus anderen Richtungen nähern. Die Forscherin lässt sich auf die Frage jedoch nicht ein, sondern gibt die Benennung des eigentlichen Themas an Aida zurück: „Wo Du anfangen möchtest“. Aida soll selbst bestimmen, womit sie anfängt. Aidas Reaktion darauf ist ein Zögern: „Ha, .. naja“. Sie
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scheint nicht ganz zufrieden mit der Antwort der Forscherin, lässt sich aber darauf ein, indem sie lachend sagt „okay“. Im nächsten Satz beginnt sie ihre Erzählung mit: „Ich bin erst mal nach Dresden gekommen“. In diesem Satz geht sie auf das Oberthema der Forscherin, Aidas Status als Migrantin ein, indem sie ihre Ankunft in Dresden an den Beginn ihrer Erzählung setzt. Gleichzeitig macht sie mit der Formulierung „erst mal“ deutlich, dass Dresden der Anfang von etwas war und danach etwas anderes kam. Im nächsten Satz greift Aida zeitlich etwas weiter zurück und erläutert, warum sie nach Dresden gekommen ist. Mit „Ich wollte halt nicht zu Hause bleiben“ stellt sie sich als Akteurin vor. Auch im weiteren Verlauf dieses Satzes fällt die häufige Verwendung des „ich“ auf: „ich wollte (..) da hab ich mal meinen Eltern gesagt: hier studiere ich auch nicht, warum soll ich". Aida stellt sich damit als handelndes Subjekt in den Mittelpunkt. Sie hat den Entschluss gefasst, wie alle anderen ihrer Schule auch im Ausland zu studieren, und zu ihren Eltern gesagt: „hier studiere ich auch nicht, warum soll ich“. Damit deutet sie einen Konflikt an, „warum soll ich“ weist auf ein Hindernis seitens der Eltern hin, denen Aida sich trotzig widersetzt. Die Eltern wollten Aida zurückhalten, sie verboten es ihr jedoch nicht einfach, sondern stellten eine Bedingung: „das war entweder Deutschland oder gar nicht. Die haben eigentlich gedacht, wenn sie Deutschland sagen, dass ich sag: nein, da geh ich nicht hin.“ Aida gibt mit diesem Satz zu verstehen, wie groß ihr Drang war, von Guinea wegzugehen. Darum akzeptierte sie die von ihren Eltern aufgestellte Bedingung „Deutschland“ und erhielt daraufhin die Erlaubnis zur Ausreise. „Und ja, und dann Dresden“. Dieser Satz bleibt scheinbar unverbunden stehen. Das „Und ja,“ hört sich an, wie ein abgebrochener Satz, was nach dem „Und“ kommen sollte, wird abgeschnitten. „und dann Dresden“ bleibt zunächst für sich alleine stehen. Der Satz enthält weder Verb noch Subjekt und erhält dadurch etwas Starres. Man könnte vermuten, dass Aida in Dresden in Passivität verfallen ist, im Kontrast zu ihrer Aktivität vor der Ausreise. Aida knüpft damit an den ersten Satz ihrer Erzählung an, auf den sie zunächst nicht näher eingehen wollte. Der Einschub ihrer Erzählung, unter welchen Umständen sie nach Dresden kam, war notwendig, um die Ereignisse in Dresden verstehen zu können. Aida konnte nicht selbst bestimmen, wohin sie migriert, sondern musste sich dem Willen ihrer Eltern fügen. Dies hatte Einfluss auf ihre Erlebnisse in Dresden. Zusammenfassend bietet sich folgende Lesart für die Initialszene an: Die Forscherin öffnet den Raum des Gesprächs für das benannte Oberthema, welches sowohl selbstreflektierend als auch anhand erlebter Ereignisse behandelt werden kann. Indem Aida zunächst über den Rahmen des Gesprächs verhandelt, demonstriert sie ihre Flexibilität und fordert präzisere Angaben von der Forscherin ein. Als sie diese nicht erhält, setzt Aida ihren Schwerpunkt und erzählt
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ihre Migrationsgeschichte als eine selbst initiierte, bei der es Hindernisse gab, die sie aber mit Hilfe ihrer Flexibilität bewältigt hat. Aida stellt sich als selbstbewusste Akteurin vor, die ihren Willen durchsetzt und Widerstände kreativ zu überwinden weiß. Die Beziehung zur Forscherin gestaltet sie als eine ebenbürtige, in der Aida ihre eigenen Akzente zu setzen versteht.
Inhalt und Verlauf des Forschungsgesprächs Im weiteren Gespräch erzählt Aida zunächst, dass sie nach Dresden gegangen sei, weil ihre Eltern sie dort in der sicheren Obhut eines Cousins gewusst hätten. Neben ihm hat es dort eine ganze Gruppe guineischer Jugendlicher gegeben, die zum Studium nach Deutschland gekommen sind und mit denen sie gemeinsam ihren Sprachkurs und ihr Studienkolleg absolviert hat. Das Leben in der Gruppe hat Aida im Laufe der Zeit als einengend empfunden, besonders weil sich das Geschlechtsrollenmuster nach guineischem Vorbild fortgesetzt habe. Sie erzählt, dass die Mädchen für die Jungen gewaschen und gekocht und dafür ihr Studium vernachlässigt haben. Sie hat das abgelehnt und sagt: „nee, ich bin nicht deswegen gekommen“ (S. 2/45) 31. Mit ihrer kritischen Haltung habe sie sich gegen den Gruppendruck gewehrt und sich dadurch immer mehr zur „Außenseiterin“ (S. 2/38) gemacht. Das sei soweit gegangen, dass die Jungen zu ihren Freundinnen gesagt hätten: „freundet euch nicht mit Aida an .. und so weiter, die macht alles kaputt“ (S.14/29f). Schließlich ist sie gemeinsam mit ihrem Freund nach Köln gezogen. Doch auch dort habe sie sich von ihm noch zu sehr eingeschränkt gefühlt, so dass Aida sich von ihm getrennt hat und nach Frankfurt gewechselt ist. „Ja und hier bin ich nun mal seit drei Jahren, (lacht) es gefällt mir schon“ (S. 1/40). Hier kann sie Abstand nehmen von den Zwängen ihrer guineischen Freundesgruppe und hat einen Ort gefunden, wo sie „halt ... in Ruhe leben kann“ (S. 2/50). Aida beschreibt ihr Leben in Frankfurt als ein selbstbestimmtes, in dem sie selbst entscheidet, was sie möchte, und von niemandem in ihrer Freiheit beschnitten wird: „ich bin der Meister meines Lebens halt, ich hab meine Freiheit, das ist mir wichtig“ (S. 3/44). Aida ist es wichtig, nicht nur guineische Freunde zu haben, daher achtet sie darauf, viele verschiedene Kontakte zu haben. Sie geht arbeiten neben dem Studium, obwohl sie es gar nicht müsste. Die Freiheit und Unabhängigkeit von ihren Eltern ist ihr aber so wichtig, dass sie von sich aus ihren Eltern gesagt hat, sie brauche deren Geld nicht mehr. Sie betont: „da kann man mich nicht erpressen“ (S. 6/40), und erklärt, dass sie in Guinea oder auch Frankreich diese Erfahrung nicht hätte machen können, „das 31
Die Zitate dieses Abschnitts stammen alle aus dem Transkript des Forschungsgesprächs mit Aida. Die Zahlen beziehen sich auf die jeweilige Seite und Zeile.
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lernt man alles in Deutschland“ (S.10/11). Eigentlich wollte Aida, wie einige ihrer Schulfreunde, in Kanada oder in den USA studieren. Doch weil ihre Schwester die Ausbildung an einer teuren Privatschule in Kanada abgebrochen hatte, hätten die Eltern ein Auslandsstudium für sie abgelehnt. Sie habe nicht eingesehen, dass sie für einen Fehler ihrer Schwester bestraft werden soll, und ein Jahr lang gebraucht, die Eltern umzustimmen. Diese Zeit hat sie mit Jobben und Diskobesuchen verbracht, was der Mutter gar nicht gefallen habe, so dass sie schließlich eingelenkt habe und ihr das Studium in Deutschland ermöglichte. Die Eltern hätten Aida gerne mit dem Cousin in Dresden verheiratet, der sich sehr um sie in bemüht habe. Aida hatte an ihm aber kein Interesse, was auch einer der Gründe gewesen war, warum sie aus Dresden weggegangen ist. Außerdem habe sie in Dresden eine starke Ablehnung von Seiten der Deutschen empfunden. Sie habe sich auf der Straße stets wie eine „Außerirdische“ (S. 3/6) behandelt gefühlt und sei nachts wegen der fremdenfeindlichen Bedrohung nicht allein unterwegs gewesen. In Frankfurt finde sie das Verhältnis normaler, obwohl sie auch hier häufig bezüglich ihrer Herkunft angesprochen und in manche Disco nicht reingelassen werde. Doch könne sie hier damit leben. Aida erzählt von ihrer Familie, in der sie für guineische Verhältnisse eine „liberale Erziehung“ (S.3/30) genossen hat. Die Eltern seien nicht streng gewesen und haben Aida viel Freiheit gelassen. „Ich durfte tun, was ich wollte, solange ich gute Noten hatte. Nicht übertrieben aber, schon lange bin ich daran gewöhnt, meine eigenen Entscheidungen zu treffen. [Mhm] Und da wenn ich die an jemand anderen übergeben muss, dann kann ich mich daran nicht gewöhnen (lacht)“ (S.4/29ff). Der Vater war die meiste Zeit abwesend. Erst studierte er in Frankreich, als er zurückgekehrt war und Direktor im über hundert Kilometer entfernten Kamsar wurde, blieb die Familie trotzdem in Conakry wohnen. Aida sagt über ihn: „Ist ganz okay, ich mein, so lange man seinen Computer nicht anfasst, hat er wirklich keine Probleme mit einem (lacht)“ (S.5/2). Aidas Mutter habe „das Sagen zu Hause“ (S. 9/21) und immer „ein bisschen Show abgezogen“ (S. 4/28). „Meine Mutter ist wirklich eh ein bisschen schon sehr sehr traditionell. Oder ich weiß nicht, ob sie das .. nur so tut. ... Auf der einen Seite sagt sie schon: ja ohne Diplom wird nicht geheiratet, man muss unabhängig werden und und und aber auf der anderen Seite ist das so ja! ... muss ich einen Ehemann finden .. suchen und dann ... so geht das manchmal (lacht)“ (S. 5/3ff). Besonders wenn Verwandte zu Besuch da gewesen seien, habe die Mutter darauf geachtet, dass Aida abends nicht so viel ausgeht, normalerweise habe sie dies aber toleriert. Eine heftige Auseinandersetzung habe es jedoch gegeben, als die Mutter in Aidas Schrank eines Tages die Pille gefunden habe: „die war .. fast war umgekippt! Tagelang rumgeheult […] wie kannst du mir das antun. Hat
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Monate lang nicht mit mir geredet. Mein Vater hat sich zum Glück nicht eingemischt“ (S. 7/11f). Die Partnerschaft der Eltern schildert Aida als eine, bei der die gegenseitige Akzeptanz und Achtung voreinander selbstverständlich und ein Abweichen von den üblichen Rollenbildern lebbar ist. Aida betont dabei, dass dies nicht selbstverständlich ist, ihre Mutter habe Glück gehabt, einen solchen Mann gefunden zu haben. Ihre Familie habe auch „einen sehr hohen Familienkult“ (S. 11/39), weil ihr Urgroßvater ein bedeutender Religionsführer war. Diese Herkunft sei den Kindern gegenüber immer wieder betont worden: „dass heißt dann immer: vergesst nie, wer ihr seid, vergesst nie dies und das“ (S.11/42). Aida erkennt, dass ihr dies heute hilft, weil sie dadurch ein hohes Selbstbewusstsein habe und sich besonders in Deutschland wegen ihrer Hautfarbe nicht einschüchtern lasse. „weil man mir immer gesagt hat: du bist jemand Wichtiges, du kommst aus einer wichtigen Familie.[Hmhm] Dann, immer wenn irgend jemand hier etwas anfängt, dann .. nein nein nein, nicht mit mir“ (S.12/1ff). Die Familie sei insgesamt politisch sehr interessiert, einige ihrer Verwandten üben bedeutende politische Ämter im In- und Ausland aus. Aida habe sehr früh Bücher über Sékou Touré sowie die französische Zeitschrift „Jeune Afrique“ gelesen, woraus auch Aidas Interesse resultiert, Politik zu studieren. Aida kommt im Gespräch immer wieder auf ihr wichtigstes, von starken Ambivalenzen geprägtes Thema zu sprechen: Partnerschaft und Heiraten. Einerseits spürt sie die Erwartungen von außen, von ihrer Familie und ihren guineischen Freunden, die sie drängen, einen Mann zum Heiraten zu finden. Gleichzeitig setzt sie sich selbst mit diesem Thema auseinander, da sie ihr Lebenskonzept in entscheidender Weise von der Wahl ihres zukünftigen Partners beeinflusst sieht. Sowohl die Frage, wo als auch wie sie einmal leben will, ist für Aida mit der Partnerwahl verbunden. Zugleich treibt sie die Frage um, welcher Mann zu ihr passen würde. Zu Selbstständigkeit und Freiheit erzogen, suche sie einen Mann, der sie akzeptiert, wie sie ist, und dem sie sich nicht unterordnen muss. Aida weiß: „brauche ich schon einen, der .. einen sehr starken Charakter hat (lacht) aber wo finde ich so was? (lacht) ... Das ist das Problem unter den Jungs hier“ (S. 13/17ff). Einerseits wäre es ihr schon vertraut, wenn es einer aus Westafrika wäre, doch sie hat die Erfahrung gemacht, dass die meisten diesen starken Charakter nicht haben. Jemand aus Deutschland kommt auch in Frage, doch das scheint ein noch zu unvertrautes Feld zu sein. Obwohl ihre Freunde sagen: „die kann sowieso nur mit einem Deutschen zusammen sein“ (S. 4/22), ist sich Aida selbst diesbezüglich noch nicht sicher. Eng verbunden mit der Auswahl eines Ehemannes sieht sie ihre Entscheidung, nach dem Studium nach Guinea zurückzukehren oder in Deutschland zu bleiben. Mit einem afrikanischen Mann müsste sie nach Guinea zurückkehren, da nach Abschluss des Stu-
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diums keine Möglichkeit für Guineer besteht, einen Aufenthaltsstatus in Deutschland zu erhalten. Sie wisse jedoch, dass die meisten Männer nicht nach Guinea zurückkehren wollten. Würde sie einen deutschen Mann heiraten, könnte sie hier bleiben. Sie will aber keinen Mann heiraten, nur um hier bleiben zu können, „das wäre nicht fair“ (S. 16/39). Um sich über all diese Fragen selbst erst einmal Klarheit zu schaffen, möchte sie zurzeit keine Liebesbeziehung eingehen und sagt: „So genieße ich jetzt das Single-Leben in Frankfurt (lacht)“ (S.8/26). Die Frage, ob sie nach Guinea zurückkehren will oder nicht, ist für Aida in den letzten Monaten sehr wichtig geworden. Nach einem Besuch in Guinea vor einem Jahr kann sie sich „eigentlich nicht vorstellen wieder nach Hause ... und eh .. bei den Eltern noch mal zu wohnen“ (S. 5/30). Es sei ein bisschen komisch gewesen, nach drei Jahren in Deutschland das Leben in Guinea wieder zu erleben. „vor allem auch mit den Eltern auch zu reden als Erwachsene. Auf einmal .. man man traut sich jetzt mehr zu sagen, über Sex zum Beispiel so das ist ja, das ist ober-, es wird, ist Tabu, darüber wird nie nie nie gesprochen“ (S. 6/13ff). Indem Aida sagt, sie habe sich „als Beobachter .. irgendwie“ (S.6/4) dort gefühlt, beschreibt sie die Distanz, die sie durch ihre Migration nach Deutschland zu ihrer Heimat gewonnen hat. Wenn sie heute nach Guinea zurückkehren würde, müsste sie, solange sie nicht verheiratet ist, bei den Eltern wohnen, da gibt es keine Ausnahme. Aida erklärt sich zu diesem Kompromiss nicht bereit, nachdem sie ihr Leben in Frankfurt so unabhängig führen kann. Sie spürt, dass das nicht mehr ohne Weiteres geht, und muss sich mit der Frage auseinandersetzen, wo und wie sie später leben will, „das ist total deprimierend“ (S. 5/44). Sie betrachtet ihre Situation als Migrantin in Deutschland sehr realistisch, reflektiert das Für und Wider und macht dadurch ihre innere und äußere Ambivalenz deutlich, in der sie steckt: „Guinea ist ja mein Land! Meine Familie ist dort. Ich kann ja nicht sagen, ich will da nicht“ (S. 6/2f). Sie weiß aber auch: „mein Leben ist nun mal in Frankfurt (lacht)“ (S. 6/11). Aida versucht den Konflikt zu lösen, indem sie sagt, sie habe sich „eigentlich schon entschieden, nicht für Guinea“ (S. 16/32), sieht gleichzeitig jedoch das Problem, dass sie „eigentlich nicht hier bleiben darf“ (S. 16/35). Die Vorstellung ihres zukünftigen Lebens bleibt ambivalent. In Deutschland hat sie ihre Freiheit, kann ihre Lebensvorstellungen ausprobieren, ist aber gleichzeitig in der Entfaltung ihres Zukunftsentwurfes eingeschränkt, weil sie von der Gesellschaft ständig als Fremde wahrgenommen wird, besonders aber weil sie keinen dauerhaften Aufenthaltsstatus erhalten kann, sofern sie nicht einen Deutschen heiratet.
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Verlässliche Bindungen erleichtern Autonomie Nachdem Aida ihre inneren und äußeren Konflikte hinsichtlich ihres zukünftigen Lebens in den beschriebenen Aspekten deutlich gemacht hat, fragt die Forscherin gegen Ende des Gesprächs nach ihren Vorstellungen und Gefühlen, bevor sie nach Deutschland gekommen ist. Aida: M.G.: Aida:
M.G.: Aida: M.G.: Aida: M.G.: Aida: M.G.: Aida: M.G.: Aida: M.G.: Aida: M.G.: Aida:
M.G.: Aida: M.G.: Aida:
Und man hat sich immer vorgestellt, dass .. ich dachte, dass ich an eine kalifornische Uni . lande. Hm Und dann .. kommt, mitten im Winter in Dresden, es ist alles grau (lacht) Oh Gott, was ist das denn? (lacht) Hmhm Und da waren auch sehr viele aus Guinea, die haben dann nur wieder Französisch, Sussu miteinander gesprochen, das war oh je ... Hmhm so toll ist es dort nicht. Also für dich war es schon auch wichtig .. auch hier sofort die Kurve zu kriegen. Hmhm Mal was Neues zu lernen und nicht wieder in die alten .. zurück. Die sind die sind alle jetzt, viele viele sind in Berlin. Hmhm Und .. die besuche ich gerne mal ab und zu mal, das ist dann für mich eine Art .. Wiedersehen, das ist dann so als ob ich in Guinea wäre. Hm Weil in Berlin sind die auch alle fast im gleichen Studentenwohnheim oder im gleichen Viertel. Hmhm Da sieht man den, isst man dies und das aus Guinea .. ein zwei drei Tage, dann komme ich wieder nach Frankfurt (lacht) das ist dann schön für mich. Hmhm Ab und zu mal wichtig auch, halt wieder in der Familie zu sein, oder in Dresden. Hm, was Vertrautes wieder zu haben. Genau. Aber ich weiß: ich hab was anderes.
(Transkript, S. 21f) Aida träumte sich an eine kalifornische Universität, wo ihre Freundin schon war, und landet stattdessen im grauen Dresden. Sie kommt damit noch einmal auf den Anfang des Gesprächs zurück, wo sie sich von den Freunden abgrenzen
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musste, weil sie ihr zu sehr an den traditionellen guineischen Mustern festhielten. Sie vertritt den Standpunkt: „so toll ist es dort nicht“ und distanziert sich damit von ihrer guineischen Herkunft. Die Forscherin versucht eine Zusammenfassung von Aidas Äußerung dahingehend zu formulieren, dass sie sagt: „Also für dich war es schon auch wichtig .. auch hier sofort die Kurve zu kriegen. Mal was Neues zu lernen und nicht wieder in die alten .. zurück“. Aida ist diese Version zu einseitig. Sie betont nicht nur den Aspekt des „Neuen“, sondern beschreibt ihre Strategie, wie sie versucht, ihre alte mit der neuen Welt zu verbinden. Sie fährt ab und zu nach Berlin, wo viele ihrer Freunde zusammen wohnen. Dort fühlt sie sich wie in Guinea, inmitten ihrer Familie und genießt es. „Das ist dann schön für mich“ kann verstanden werden als ein Bedürfnis, das Aida nach ihrer Heimat, ihrer Familie, nach Vertrautheit hat. Dies scheint sie in Frankfurt nicht zu haben, sich aber manchmal danach zu sehnen, was sie folgendermaßen ausdrückt: „Ab und zu mal wichtig auch, halt wieder in der Familie zu sein“. Die Rückbindung an Vertrautes gibt ihr die notwendige Sicherheit, sich weiter in der neuen Welt behaupten zu können. Die Vertrautheit tut gut, gleichzeitig weiß sie aber, dass sie dort nicht bleiben muss. Nach einigen Tagen in der "Heimat" kehrt sie in ihre andere Welt nach Frankfurt zurück. Mit: „Aber ich weiß: ich hab was anderes“ drückt Aida ihr Bedürfnis nach Abgrenzung von der Heimat aus. Sie kann das Alte genießen, weil sie weiß, sie hat ein anderes, ein neues Leben. Das eine geht ohne das andere nicht. In dieser Szene wird Aidas Reflexionsfähigkeit deutlich. Sie blickt auf ihre Erfahrungen in Deutschland zurück und betont noch einmal, wie wichtig es ihr war, sich von ihren guineischen FreundInnen getrennt zu haben und sich ein eigenes, anderes Leben aufzubauen. Gleichzeitig erkennt sie aber auch, dass die FreundInnen ihr wichtig sind, weil sie mit ihnen die Vertrautheit leben kann, die sie so fernab ihrer Familie auch vermisst. Aida erkennt, dass sie beide Welten braucht, um zufrieden zu sein, und versucht mit dieser Strategie, beide Anteile in ihr Leben zu integrieren. Sie besucht die vertraute Welt, tankt auf und haut wieder ab, wenn es ihr zu eng wird. Aida entscheidet selbst, wann sie das Bedürfnis hat und wann es ihr zuviel wird, und eignet sich damit auf kreative Weise den adoleszenten Spielraum in der Migrationssituation an.
Schluss-Szene Direkt im Anschluss an die obige Szene fragt die Forscherin Aida, ob sie in Frankfurt bleiben möchte oder sich vorstellen kann, auch woanders zu leben.
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Aida:
Also wenn ich dann in Deutschland leben will, dann will ich .. schon ... ich war in Berlin Berlin ist mir zu groß und auch gefährlich, mit dem ganzen Rechtsradikalismus M.G.: Hmhm Aida: ich war letztes, ich war dieses Jahr, das erste Mal war ich in Berlin .. und ... das war sehr viele, mit Skinhead und link, die sich dann rumrandaliert haben M.G.: Hat man eher Angst? Aida: Hmhm M.G.: Ist die Atmosphäre nicht so schön. Aida: Hamburg sind sehr viele Drogendealer und das M.G.: Also Frankfurt ist schon okay? Aida: Ja. M.G.: Aber einfach, weil es dir hier gefällt. Aida: Ja und jobmäßig auch, es ist nicht soo, die gucken einen hier nicht wie einen Außerirdischen M.G.: Ja. Aida: Die gehen zwar anders ein bisschen, wenn man irgendwo hingeht, die gucken einen schon .. aber man hat das auch so: sprechen Sie deutsch? Aber man gewöhnt sich dran M.G.: Hmhm Aida: doch Frankfurt ist mir schon ein bisschen sicherer. M.G.: Hmhm (5 Sec. Pause) Okay, fällt dir noch was ein, was du noch sagen möchtest? ... Nein? Okay. (schaltet Band ab)
(Transkript, S. 22) Aida macht deutlich, dass zunächst die Frage, ob sie in Deutschland bleiben will oder nicht, beantwortet werden muss. Wenn sie sich für Deutschland entscheidet, „dann will ich .. schon …“. Was sie will, sagt sie nicht, sondern setzt sich erst mit verschiedenen Alternativen auseinander. Berlin ist ihr „zu groß und auch gefährlich, mit dem ganzen Rechtsradikalismus“. Dass dies nicht einfach so dahergeredet ist, verdeutlicht Aida, indem sie von konkreten Erfahrungen in Berlin mit Skinheads berichtet. Der Frage der Forscherin, ob sie vor ihnen Angst habe, weicht Aida aus und benennt die allgemeine Atmosphäre als „nicht so schön“. Damit macht Aida deutlich, dass sie sich nicht ihrer Angst beugt, sondern ihre Handlungsfähigkeit behält, indem sie entscheidet, sich dieser bedrohlichen Atmosphäre nicht auszusetzen. Auch Hamburg hat für Aida Nachteile, weil dort „sehr viele Drogendealer“ sind. Die Forscherin greift dann ihre Frage wieder auf: „Also Frankfurt ist schon okay?“, was Aida mit einem einfachen „Ja“ beantwortet. Die Forscherin hakt weiter nach, inwieweit der Vorzug für Frankfurt auch begründet ist oder ob es Aida „einfach“ in Frankfurt gefällt. Daraufhin begründet Aida ihre Wahl für Frankfurt mit den Arbeitsmöglichkei-
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ten und ihrer Erfahrung, dass sie hier nicht so wie eine „Außerirdische“ angesehen werde. Ein bisschen anders wird sie zwar schon angesehen, aber daran könne sie sich gewöhnen. Insgesamt begründet sie ihre Wahl für Frankfurt damit, dass sie sich hier „ein bisschen sicherer“ fühlt als anderswo. Nach einer kurzen Gesprächspause fragt die Forscherin, ob Aida noch etwas sagen möchte. Als diese verneint, beendet sie das Gespräch. Zusammengefasst lässt sich die Schlusspassage folgendermaßen verstehen: Aida wägt wohlüberlegt ab, wo sie leben möchte. Priorität hat dabei ihr Sicherheitsgefühl als Schwarze in einer ihr teilweise feindlich gegenübertretenden Gesellschaft. Sie geht offen mit dieser Konfrontation um und entscheidet sich für Frankfurt, wo sie bereits ein hohes Vertrautheitsgefühl entwickelt hat und sich nicht mehr allzu fremd fühlt wie in anderen, ihr weniger bekannten Städten. Anhand dieser Auseinandersetzung wird deutlich, dass Aida, weiß, was sie will, und ihre Bedürfnisse unter Abwägung der realen Umstände auch umsetzen kann.
Ausgestaltung der Forschungssituation Der Ort des Gesprächs – der Esstisch im Wohnzimmer der Forscherin – gibt ihm einen persönlichen Rahmen, der sich auch inhaltlich wiederfindet, da Aida sehr offen ist und von sich aus auch intime Probleme thematisiert, mit denen sie sich beschäftigt. Sie erzählt jedoch nicht zusammenhängend, sondern es entstehen immer wieder Pausen, durch die die Forscherin sich veranlasst sieht, gezielte Fragen zu stellen und damit ihr Oberthema abzuklopfen. Aida versteht es, immer wieder ihr eigenes Oberthema, die selbstständige junge Frau, die Widerstände überwinden muss, durchzusetzen. Dies führt zu einigen Brüchen und Irritationen während des Gesprächs, da die Forscherin die Äußerungen Aidas sowohl inhaltlich wie auch sprachlich einige Male nicht versteht. Aida nuschelt häufig und spricht in teilweise sehr verschachtelte Sätze oder führt sie nicht zu Ende. Auch lacht sie sehr oft während des Gesprächs, manchmal aus Verlegenheit, häufig aber auch aus Distanziertheit gegenüber den Lebensvorstellungen anderer. Nach Abschalten des Tonbandes sitzen Aida und die Forscherin noch etwa zwei Stunden zusammen und reden über die Aktivitäten der Forscherin für Guinea im Rahmen des Vereines, allgemein über Guinea und gemeinsame Bekannte. Erst als allmählich der Gesprächsstoff ausgeht, verabschiedet sich Aida. Aida begegnet der Forscherin offen und neugierig. Sie sucht auch über das eigentliche Forschungsgespräch hinaus Anknüpfungspunkte zur Forscherin, indem sie nach der Tonbandaufnahme Interesse an der Forscherin und deren
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Aktivitäten bekundet. Dabei ist sie stets die Handelnde, die bestimmt, wie weit sie geht. Im Gespräch über gemeinsame guineische Freunde wird deutlich, dass Aida über ein großes Netzwerk verfügt und innerhalb der Community eine zentrale Rolle einnimmt. Der selbstverständliche Umgang mit der Forscherin verdeutlicht zugleich, dass sie wenig Berührungsängste Fremden sowie neuen Situationen gegenüber hat, sondern ihnen grundsätzlich aufgeschlossen begegnet. Insgesamt begegnen sich Forscherin und Aida als ebenbürtige Gesprächspartnerinnen, die über das Forschungsanliegen hinaus gegenseitiges Interesse und Sympathie füreinander empfinden.
Fazit Aida wächst in einer relativ freiheitlichen und toleranten Atmosphäre auf. Die Eltern lassen ihren Kindern einen großen Entfaltungsspielraum, sind jedoch gleichzeitig auf die Wahrung der traditionellen gesellschaftlichen Normen bedacht. Der Vater ist die meiste Zeit abwesend und nimmt seiner Familie gegenüber eine eher gutmütige und tolerante Rolle ein. Die Mutter ist eine starke, selbstständige Frau, die von ihrem Mann in ihrer Eigenständigkeit und Andersartigkeit unterstützt wird, ohne dass der Vater dadurch in seiner Position geschwächt wird. Konflikte werden offen ausgetragen und es besteht eine grundsätzliche Achtung vor den Bedürfnissen der anderen. Im Zuge ihrer Adoleszenzentwicklung nutzt Aida diesen von ihrer Familie gewährten Spielraum aus und erprobt verschiedene Weiblichkeitsentwürfe. Dabei überschreitet sie bewusst Grenzen und setzt sich Konflikten mit ihrer Mutter aus. Die Großfamilie bietet Aida einen wichtigen Rückhalt und hohe Identifikationspotentiale. Einige Mitglieder bekleiden hochrangige Positionen, viele Verwandte leben im Ausland. Durch diese Vorbilder kann Aida mit einer relativen Offenheit an den Entwurf ihres eigenen Lebens herangehen, eine Abgrenzung von ihnen ist jedoch bei dieser ‘idealen’ Familie gleichzeitig sehr schwer. Geprägt durch die allgemeine Stimmung ihrer Generation, sucht sie daher ihre Ablösewünsche durch die Migration zu realisieren. Sie träumt sich an eine Universität in Kalifornien, muss sich die Erlaubnis zur Migration jedoch von den Eltern erkämpfen. Als Kompromiss kommt sie schließlich nach Deutschland, wo sie in der Obhut ihres Cousins verbleiben soll, der sie heiraten möchte. Aida trifft in Dresden auf eine Gruppe Guineer, die ihr Leben nach den guineischen Regeln und Normen, von der deutschen Gesellschaft relativ abgeschottet, weiterführen. Eineinhalb Jahre bleibt sie im Verband der Gruppe, lernt Deutsch, macht ihren Schulabschluss nach und grenzt sich im Laufe der Zeit immer mehr von ihren guineischen Landsleuten ab.
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Aida ist neugierig auf das Leben der Deutschen, sie möchte ihre Sprachkenntnisse erproben und ihre Vorstellungen von Freiheit ausleben. Da das innerhalb der Gruppe in Dresden nicht möglich ist, zieht sie nach Köln, zunächst gemeinsam mit ihrem Freund. Als sie dort nicht das findet, was sie sucht, zieht sie weiter nach Frankfurt. Auch in Frankfurt hat Aida guineische Freunde und einen Onkel, mit dem sie sich gut versteht. Hier empfindet sie die Nähe zu ihnen jedoch nicht erdrückend. Aida hat in Frankfurt einen Ort gefunden, wo sie ihr Leben frei bestimmen kann. Durch die räumliche Distanz und ihre finanzielle Selbstständigkeit hat sie sich die nötige äußere Unabhängigkeit von ihrer Familie geschaffen, um sich auch innerlich von ihr lösen zu können. Intensiv setzt sie sich mit ihrer eigenen Gewordenheit sowie ihren daraus resultierenden Lebensentwürfen auseinander und erprobt sie. Dies stellt einen wichtigen Schritt in der adoleszenten Entwicklung dar. Deutlich wird dabei Aidas Ambivalenz, in der sie steckt. Sie schätzt ihre Herkunft, die von ihren Eltern vorgelebte Unabhängigkeit und Andersartigkeit bei gleichzeitiger Anerkennung und Wahrung der überlieferten Werte. Zugleich möchte sie sich von den Vorgaben ihrer Eltern lösen und ihr eigenes Lebenskonzept finden, das sie mit der größtmöglichen Freiheit verbindet. Aidas Freiheitsstreben macht sie aber auch einsam. Sie merkt, dass ihre guineischen Freunde mit ihren eigenwilligen und unabhängigen Lebensentwürfen nichts anfangen können und sie bei der Durchsetzung ihrer Vorstellungen auch plötzlich alleine dastehen kann. Sie wendet sich daher zunehmend der Welt der Deutschen zu, versucht hier die verschiedenen Lebensbereiche zu erobern und sich auszuprobieren. Diese Welt steht ihr jedoch nicht unbegrenzt offen, da sie als Fremde die Distanz und Ablehnung von Seiten der Deutschen überwinden muss. Die adoleszente innere Fremdheitserfahrung verdoppelt sich hier durch die migrationsbedingte äußere Fremdheit in der gesellschaftlichen Realität. Aidas Adoleszenzkrise macht sich besonders deutlich bemerkbar bei ihrer Suche nach einer Partnerschaft, die gleichberechtigt ist, aber auch Nähe zulässt. Sie möchte mit einem Mann leben und nicht neben ihm. Damit distanziert sie sich von dem Konzept ihrer Eltern, die als zwei starke Persönlichkeiten immer getrennt voneinander gelebt haben. Aida befürchtet, dass die eigene Stärke in der Partnerschaft eine Einschränkung erfahren wird, sucht aber einen Mann mit einem ebenso starken Charakter, wie sie ihn hat. Sie weiß, dass sie Kompromisse machen muss, ist sich aber noch nicht sicher, welche sie machen möchte. Die Migration erweitert ihren adoleszenten Spielraum, da sie hier mit alternativen Weiblichkeitsbildern und Erfahrungsmöglichkeiten konfrontiert ist und mehr Freiheit hat auszuprobieren, was sie möchte. Sie setzt sich innerlich damit auseinander, wie die Partnerschaft mit einem deutschen Mann aussehen könnte, fühlt sich aber mit der Welt der Deutschen noch nicht so vertraut, so dass sie
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befürchtet, damit einen Bruch zu ihrem bisherigen Leben zu vollziehen. Aida sind ihre Herkunft und die Verbindung zu ihrer Familie jedoch sehr wichtig. Gleichzeitig wird der Entwicklungsspielraum von den äußeren Zwängen der Migrationssituation aber auch eingeschränkt. Aida muss nach Guinea zurückkehren, wenn sie keinen deutschen Mann heiratet. Damit ist sie nicht frei in ihrer Partnerwahl, kann nicht wirklich frei ausprobieren, was sie möchte. Sie kann sich von ihrer Ambivalenz nicht befreien, sondern die Hin- und Hergerissenheit wird durch die Migrationssituation noch verstärkt. In Aidas adoleszenter Auseinandersetzung mit den Themen Heirat, Familie, Partnerwahl, Rückkehr nach Guinea oder Leben in Deutschland wird die gegenseitige Beeinflussung und Potenzierung ihrer Konflikte durch die Migration deutlich. Aida präsentiert sich im Gespräch als selbstbestimmte und unabhängige Frau, die auf die Vorgaben der Forscherin mit eigener Akzentsetzung eingehen kann. Sie lässt sich auch über das Gespräch hinaus auf die Forscherin ein und steckt für sich die Felder ab, bei denen es Berührungspunkte gibt. Aida zeigt damit, dass sie mehr will als den vorgegebenen Rahmen und sowohl an Guinea, ihrem Heimatland, wie auch an Deutschland, ihrem zukünftigen Lebensmittelpunkt interessiert ist. Sie sucht nach Identifikationsmöglichkeiten mit der Forscherin, was sich bereits im ersten Telefonat bezüglich des Namens an der Klingel zeigt, sowie in ihrem Interesse an dem Engagement der Forscherin für Guinea. Aidas Adoleszenzthemen kreisen um die Frage, wie sie ihr Leben auf selbstbestimmte Weise führen kann, ohne allein zu sein. Bezüglich der Ablösung von ihrer Familie hat sie einen Weg gefunden, ihre individuelle Lebensform mit den traditionellen Familienressourcen zu verknüpfen. Sie besucht die Freunde und die Familie, wenn sie das Bedürfnis hat, besteht aber auf ihrer Selbstständigkeit und lässt sich nicht reinreden. In der Frage der Partnerschaft steckt sie mitten im inneren Aushandlungsprozess und sucht aktiv nach einer Lösung. Adias Adoleszenz ist geprägt von einer starken inneren Substanz, mit der sie an die Bewältigung neuer Aufgaben herangehen kann. In dem seitens der Familie großzügig gewährten adoleszenten Möglichkeitsraum kann sie schon früh ihre eigenen Vorstellungen ausprobieren und gegen die Eltern durchsetzen. Die durch die Migration hervorgerufene Unsicherheit wird aufgefangen, da Aida über eine starke innere Selbstständigkeit und Unabhängigkeit verfügt und in der Freundesgruppe zunächst einen Rückhalt hat, mit dem sie sich allmählich in die fremde Welt einleben kann. Nach wiedergewonnener Sicherheit löst sie sich langsam von der Gruppe, um neue Erfahrungen in der fremden Kultur zu machen. Aida ist aus dieser inneren und äußeren Sicherheit heraus in der Lage, ihre adoleszenten Explorations- und Bindungswünsche selbst zu steuern und ihr
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Leben nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Ihre Identitätssuche erfährt durch die äußere Trennung von den Eltern und den erweiterten adoleszenten Entwicklungsspielraum einen deutlichen Schub, denn sie kann freier mit verschiedenen Entwürfen von Weiblichkeit experimentieren. Sie erreicht ihre ökonomische Unabhängigkeit und setzt einen individuierten Lebensentwurf durch, der sowohl die Bindung an die Familie wie auch ihre Autonomie aufrechterhält. Durch ihre starken inneren Ressourcen kann sie die fremdenfeindlichen Reaktionen der Deutschen kompensieren und die strukturellen Beschränkungen in ihr Adoleszenzprojekt aufnehmen. Sie leidet unter dieser Einschränkung, ist aber in der Lage, Hürden aktiv zu überwinden und den Entwicklungsspielraum auch in der Migration schöpferisch auszugestalten.
4.2.2 Ibrahim Diallo – Der Provokateur Ibrahim Diallo ist sechsundzwanzig Jahre alt und lebt seit fünf Jahren in Deutschland. Er ist der zweitälteste von insgesamt fünf Kindern seiner Eltern. Der Vater ist seit vielen Jahren leitender Regierungsbeamter. Die Mutter ist für eine amerikanische Organisation tätig. Der ältere Bruder Ibrahims studiert in den USA, seine nächst jüngere Schwester in Frankreich, die beiden jüngsten Geschwister gehen in Conakry noch zur Schule. Ibrahim lebt in einer Wohngemeinschaft in Frankfurt mit zwei deutschen Studenten zusammen.
Kontaktaufnahme Der Kontakt zu Ibrahim wurde über Fanta, eine gemeinsame Bekannte, möglich. Im ersten Telefongespräch wirkt Ibrahim sehr nett, er lädt die Forscherin ein, zu ihm in die Wohngemeinschaft zu kommen. Sie verabreden sich für einen Sonntagmittag. In der Wohngemeinschaft wird die Forscherin von einem der Mitbewohner Ibrahims empfangen, der ihr sagt, Ibrahim sei dort hinten, und ans Ende des Flures zeigt. Die Forscherin gelangt in ein dunkles Zimmer, in dem Ibrahim im Bett liegt. Bei ihrem Eintreten räkelt er sich im Bett und sagt: „Ich habe zu lange geschlafen“32. Die Forscherin will gerade fragen, ob sie ein andermal wiederkommen soll, da erklärt Ibrahim, er werde aufstehen, die Forscherin solle im Nebenzimmer auf ihn warten. Das Nebenzimmer ist der Aufenthaltsraum der Wohngemeinschaft, wo der Mitbewohner gerade den Frühstückstisch abräumt und die Forscherin einlädt, sich an den Tisch zu setzen. Es herrscht eine typi32
Zitat aus dem Gesprächsprotokoll.
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sche Wohngemeinschaftsatmosphäre, Titanic’-Comics33 am Kühlschrank, politische Plakate an den Wänden und die aktuelle Telefonabrechnung an einer Zimmertür. Die Forscherin hört, wie Ibrahim seinem Mitbewohner erzählt, wer sie ist, und beide dann über die Telefonabrechnung sprechen. Die Atmosphäre wirkt angenehm und lässt erkennen, dass die beiden sich gut verstehen. Dann kommt Ibrahim ins Zimmer, er trägt eine kurze Hose und ein T-Shirt ohne Arme, das seine muskulösen Oberarme betont. Im Stehen sich räkelnd, sagt er zur Forscherin, sie sei ja schon mehrmals in Guinea gewesen, Fanta habe es ihm erzählt, als er sie vor einigen Tagen besucht habe. Dann erzählt er, dass er am Vorabend am Flughafen eine Einweisung erhalten habe für einen Job, den er demnächst dort antreten wolle. Es sei eine körperlich sehr schwere Arbeit. Schließlich fragt er, was die Forscherin trinken möchte und geht hinaus, um einen Tee zu holen. Ibrahim führt die Forscherin danach in sein Zimmer und sagt, es sei sehr eng hier, aber okay. Er stellt der Forscherin den einzigen Stuhl im Zimmer zurecht und setzt sich selbst aufs Bett. Dann möchte er wissen, wieso die Forscherin über Guinea schreibt, und erzählt, nachdem die Forscherin über ihre Beziehung zu dem Land berichtet hat, dass er einmal eine Veranstaltung des Vereins, in dem die Forscherin tätig ist, besucht hat und darüber ein Artikel mit einem Bild von ihm in der Zeitung erschienen ist. Er habe dieses Bild aber nie gesehen. Die Forscherin erinnert sich an den Artikel und versichert Ibrahim, dass sie ihm den Artikel besorgen werde. Im Gesprächsprotokoll notiert sie: „Als er sagt, er wisse ja gar nicht, wie das hier so laufen soll, schalte ich das Band ein“.
Initialszene Ibrahim: läuft, überhaupt alles M.G.: Jetzt hier das Gespräch? . Also ich hab, mach, schreib halt über junge Leute, die aus Guinea kommen. Die hier in Deutschland studieren und mich in- interessiert so die .. eigene, die individuelle Leben Lebensgeschichte. .. würde ich Sie bitten, einfach mal zu erzählen, was Ihnen einfällt. Ibrahim: Also eh ich bin-n am fünfzehn ehm am dreizehnt . also am dreizehnten März ’98 gekommen. Also ich konnte erstmal kein Deutsch, konnte nur „Guten Tag“ sagen. (schnieft) Dann eh wurde ich so von Philipe empfangen. M.G.: Mhm Ibrahim: Eh, Sie kennen ihn, *oder? M.G.: (bestätigend) *Mhm 33
Titanic ist eine Satirezeitschrift.
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Ibrahim: Philipe Barry, das ist mein Tutor in Deutschland. Dann hab ich erstmal (lachend) drei Wochen in einem Zimmer verbracht, weil mein eh sollte die also mein eh Sprache in Deutsch sollten erst nach drei Wochen anfangen. M.G.: Mhm Ibrahim: Und war erstmal mein erster (lacht, schnieft) so ehm meine erste Erfahrung waren eigentlich wie hier in einem Zimmer und ich hab nur die Nachbarn bisschen gesehen. Ein bisschen fand ich die Leute eigentlich (schnieft) ein bisschen zurückhaltend, aber na ja. M.G.: So so wie? Ibrahim: Sehr zurückhaltend. M.G.: Mhm Ibrahim: Ehm dann hab ich angefangen, die Sprache zu lernen, nach drei Wochen, dann hab Ich eh .. eh diese Sprachschule verlassen, weil es für mich zu langsam war, also fünf Stunden waren für mich zu wenig pro Tag. Und dann bin ich zur Volkshoch- nee! zu eh .. ja genau zur Volkshochschule, wo ich zehn Stunden am Stück Deutsch gelernt hab pro Tag. Insgesamt vierzig Stunden pro Woche. M.G.: Mhm Ibrahim: Dann hab ich intensiv Deutsch gelernt und ich hab im Verein Basketball auch gespielt.(schnieft)
(Transkript S. 1) Die Aufnahme beginnt inmitten eines Satzes von Ibrahim, der sich mit dem Zitat aus dem Gesprächsprotokoll erschließen lässt. Ibrahim bezieht sich hier wohl auf die Begegnung mit der Forscherin, von der er nicht wisse, wie das „läuft, überhaupt alles“. Dies ist offenbar eine Aufforderung an die Forscherin zu erläutern, wie sie sich das gemeinsame Gespräch mit ihm vorstellt. „überhaupt alles“ kann jedoch auch über das Gespräch hinaus auf die Beziehung mit der Forscherin gerichtet sein. Er will offenbar wissen, was die Forscherin von ihm will. Die Mehrdeutigkeit von Ibrahims Aussage zeigt sich auch in der Antwort der Forscherin, die zunächst fragt: „Jetzt hier das Gespräch?“ und damit sicher sein will, dass sie Ibrahims Frage richtig verstanden hat. Er gibt ihr offenbar eine nonverbale Zustimmung, denn die Forscherin fährt dann fort: „Also ich hab, mach, schreib halt“. Sie scheint sich unsicher, wie sie beginnen soll, denn sie reiht zunächst drei verschiedene Verben aneinander, entscheidet sich dann für das dritte und sagt, sie schreibe „über junge Leute, die aus Guinea kommen. Die hier in Deutschland studieren“. Dies ist zunächst eine sehr allgemeine Aussage, die zu Ibrahim insoweit einen Bezug hat, als er jung ist, aus Guinea stammt und in Deutschland studiert, also zu der Gruppe der jungen Leute gehört, über die die Forscherin schreibt. Damit macht sie deutlich, dass sie nicht nur an Ibrahim persönlich interessiert ist, sondern aufgrund seiner Merk-
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male, die sie aufgezählt hat, an ihm als Teil einer bestimmten Gruppe. Sie fährt fort: „und mich in- interessiert so die .. eigene, die individuelle Leben Lebensgeschichte“. Damit kommt die Forscherin auf ihr Interesse zu sprechen. Es richtet sich auf die „eigene, die individuelle“ Lebensgeschichte. Bei dieser Formulierung bleibt unklar, für wessen Lebensgeschichte sie sich interessiert, für das der jungen Leute allgemein oder für Ibrahim im Besonderen. Nach einer kurzen Pause fügt die Forscherin hinzu: „würde ich Sie bitten, einfach mal zu erzählen, was Ihnen einfällt“. Nach dieser knappen und vagen Einführung in ihr Anliegen für das Gespräch mit Ibrahim fordert sie ihn nun auf, „einfach“ das zu erzählen, was ihm „einfällt“. Damit eröffnet sie ihm einen breiten Raum, den er füllen kann, wie er möchte. Ibrahim antwortet: „Also eh ich bin-n am fünfzehn ehm am dreizehnt . also am dreizehnten März ’98 gekommen“. Er beginnt seine Geschichte mit dem genauen Datum seiner Ankunft in Deutschland, das er jedoch nicht sofort exakt erinnert. Die Nennung des Datums deutet auf eine Zäsur hin, sie teilt sein Leben in ein Davor und ein Danach. „Also ich konnte erstmal kein Deutsch, konnte nur „Guten Tag“ sagen (schnieft)“. Ibrahim gelangte mit seiner Ankunft in Deutschland offenbar in eine fremde Welt, in der er sich zunächst kaum verständigen konnte. „Dann eh wurde ich so von Philipe empfangen“. Nach seinem ersten Fremdheitsgefühl empfing ihn Philipe, eine offenbar vertraute Person. Nachdem die Forscherin „Mhm“ erwidert, sagt Ibrahim: „Eh, Sie kennen ihn, *oder?“. Er war wohl mit der Nennung des Namens davon ausgegangen, dass Philipe der Forscherin bekannt sei. Sie bestätigt ihm dies, und Ibrahim erläutert: „Philipe Barry, das ist mein Tutor in Deutschland“. Philipe ist ein Guineer, der bereits viele Jahre in Deutschland lebt und für Ibrahim anscheinend bis heute eine wichtige Bezugsperson in Deutschland ist, da er ihn seinen „Tutor“ nennt. „Dann hab ich erstmal (lachend) drei Wochen in einem Zimmer verbracht, weil mein eh sollte die also mein eh Sprache in Deutsch sollten erst nach drei Wochen anfangen“. Ibrahim hat sich also zunächst drei Wochen lang nur in einem Zimmer aufgehalten. Er sagt dies lachend, so als amüsiere er sich heute selbst über diese Zeit. Zu vermuten ist, dass er sich nicht traute, allein das Zimmer zu verlassen, und der Tutor keine Zeit hatte, mit ihm zu gehen. Als Begründung nennt Ibrahim, dass sein Sprachkurs erst nach diesen drei Wochen begann. Sprachlich drückt er sich in diesem Satzabschnitt so konfus aus, als fühle er sich beim Sprechen in diese Zeit zurückversetzt, wo er sich noch nicht richtig ausdrücken konnte. „Und war erstmal mein erster (lacht, schnieft) so ehm meine erste Erfahrung waren eigentlich wie hier in einem Zimmer und ich hab nur die Nachbarn bisschen gesehen. Ein bisschen fand ich die Leute eigentlich (schnieft) ein bisschen zurückhaltend, aber na ja“. Ibrahim wiederholt die Äußerung, dass er anfangs nur in einem Zimmer gesessen hat, diese Situation
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scheint für ihn eine besondere Bedeutung gehabt zu haben. Er fügt dann hinzu, dass er „nur die Nachbarn bisschen gesehen“ hat. Ob er mit den Nachbarn in einer Wohnung wohnte oder es die Nachbarn im Haus waren, erfährt man nicht. Auch welcher Nationalität die Nachbarn angehörten, erwähnt Ibrahim nicht. Es liegt jedoch nahe, dass es Deutsche waren. Seine Erfahrung war jedenfalls, dass er die „Leute eigentlich (schnieft) ein bisschen zurückhaltend“ fand. Die einzigen Menschen, zu denen er in seinen ersten drei Wochen in Deutschland Kontakt hatte, kümmerten sich anscheinend nicht genügend um ihn. Er vermisste den Kontakt zu ihnen. Ibrahim relativiert seine Aussage dann sogleich mit: „aber na ja“, was man verstehen kann als: Ist ja nicht so schlimm. Er hat sich von den Nachbarn nicht adäquat behandelt gefühlt, will dieser Aussage jedoch nicht allzu viel Gewicht beimessen. Ibrahim macht hier im Gespräch mit der deutschen Forscherin eine kritische Äußerung über die Deutschen. Es ist ihm wichtig, seine Erfahrungen zu erzählen, er will aber die Forscherin nicht verärgern und versucht, die Aussage abzumildern. Die Forscherin hat Ibrahims Aussage offenbar nicht verstanden, denn sie fragt nach: „So so wie?“. Daraufhin antwortet Ibrahim: „Sehr zurückhaltend“ und verstärkt seine vorherige Äußerung, indem er aus dem „bisschen zurückhaltend“ ein „sehr zurückhaltend“ macht. Die Forscherin geht darauf nicht weiter ein, sagt nur „Mhm“, und Ibrahim fährt fort, dass er dann begann „die Sprache zu lernen“. Nach kurzer Zeit habe er jedoch die Sprachschule gewechselt, „weil es für mich zu langsam war, also fünf Stunden waren für mich zu wenig pro Tag“. An der Volkshochschule hat er dann „zehn Stunden am Stück Deutsch gelernt“, das waren „insgesamt vierzig Stunden pro Woche“. Zwei Lesarten bieten sich hier an: entweder fiel Ibrahim das Lernen der Sprache sehr schwer, so dass er einen intensiveren Unterricht benötigte, oder er fand es unerträglich, in der fremden Welt nicht kommunizieren zu können, und wollte darum so schnell wie möglich die Sprache beherrschen. Jedenfalls veränderte er aktiv die für ihn unbefriedigende Situation. „Dann hab ich intensiv Deutsch gelernt und ich hab im Verein Basketball auch gespielt. (schnieft)“. Ibrahim widmete sich also intensiv dem Deutschstudium und spielte nebenbei in einem Verein Basketball. Der Erwerb der Sprache stand im Vordergrund, er brauchte jedoch offenbar einen körperlichen Ausgleich. Diesen suchte er im Verein mit anderen Menschen, mit denen er sich körperlich messen konnte und von deren Mentalität er dabei gleichzeitig etwas mitbekam. Zusammengefasst lässt sich die Eingangsszene folgendermaßen interpretieren: Ibrahim möchte zunächst von der Forscherin wissen, was sie von ihm will. Auf ihre recht offene, aber etwas distanzierte Gesprächseröffnung hin erzählt Ibrahim von seinen ersten Erfahrungen in Deutschland. Er erlebt die Deutschen als sehr distanziert und antwortet darauf seinerseits mit einem intensiven
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Sprachstudium und der direkten Begegnung im Sportverein. Er setzt sich dadurch mit seiner ganzen Person der Konfrontation mit der unbekannten Welt und deren Menschen aus, die sich so seiner Begegnung nicht entziehen können. Damit provoziert Ibrahim Reaktionen seiner Umwelt auf sein Dasein. Er will nicht defensiv im einsamen Zimmer verharren, sondern geht offensiv auf die fremde Welt zu. Zur Forscherin setzt er sich insoweit in Beziehung, als er ihre Distanziertheit mit seiner herausfordernden Offenheit zu überwinden versucht.
Inhalt und Verlauf des Forschungsgesprächs Im Anschluss an die Initialszene erzählt Ibrahim, er sei bei der ersten Sprachprüfung für das Studienkolleg durchgefallen. Dies sei „natürlich sehr sehr hart“ (S.1/38)34 für ihn gewesen, weil er den Erwartungen der Eltern nicht entsprach. Die zweite Prüfung bestand er dann aber und schloss auch das Studienkolleg ab. Zunächst studierte er zwei Semester Betriebswirtschaft in Mainz und wechselte dann an die Fachhochschule nach Darmstadt, wo er nun seinen WunschStudiengang ‚International Management’ studiert. Wenn alles klappt, werde er in zwei Monaten sein Vordiplom machen. Auf die Frage der Forscherin, was Ibrahim später einmal machen möchte, antwortet er: „langfristig habe ich nicht eh nachgedacht, aber .. ich glaube, nach dem Studium werde ich irgendwas mal fünf Jahre arbeiten entweder in Frankreich oder den USA, Kanada. Ich hoffe, dass es klappt und eigentlich um ein Kapital zu haben, bevor man, bevor ich nach Guinea überhaupt zurückgehe“ (S.3/1ff). Wenn er gleich nach dem Studium nach Guinea zurückkehre, erwarte ihn Arbeitslosigkeit, da man dort nur über Kontakte einen Job bekomme. Ibrahim möchte schon nach Guinea zurückgehen, es ist ihm aber wichtig, dass er mit dem Studienabschluss auch in USA, Kanada oder Frankreich arbeiten kann, denn Deutschland kommt für ihn eher nicht in Frage, weil „ich fühle mich nicht unbedingt (Telefonklingeln) hundert Prozent integriert“ (S.4/15). Wegen seiner Hautfarbe müsse er ständig beweisen, dass er ein Mensch wie andere sei, der Rassismus würde ihn stören. Es gebe nur ganz wenige Menschen, die ihm ohne Vorurteile begegnen. Normalerweise sei er jedoch ständig mit Ablehnung und Demütigungen konfrontiert, ob das bei der Wohnungssuche sei, bei Kontrollen der Polizei oder auf Behörden. Das „Dümmste, was ich in meinem Leben gehört hab“ (S.5/22), findet Ibrahim, war bei einer Ausweiskontrolle, bei der er seinen Studentenausweis vorgezeigt hatte, die Frage eines Polizisten, ob er Asylant in Deutschland sei. Er antwortete: „wenn Sie lesen können oder wenn Sie telefonieren können in Ihrer Zentrale, 34
Die Zitate dieses Abschnitts sind alle dem Transkript des Forschungsgesprächs mit Ibrahim entnommen.
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dann werden Sie alle Auskünfte über mich wissen. [Mhm] Ich eh .. bin kein Asylant in Deutschland und ich habe auch nicht vor, hier mein Leben zu verbringen“ (S.5/29ff). Manche würden ihn für paranoid halten, wenn er von seinen Erfahrungen spreche, für ihn seien sie jedoch fast alltäglich. Dennoch gebe es in Deutschland auch viele positive Sachen, „zum Beispiel diese Disziplin“ (S.6/1f). Das sei auch der Grund, warum Ibrahim überhaupt in Deutschland sei. Aufgrund von „Schwierigkeiten“ (S.6/3) mit seinem Vater habe dieser ihn gerade nach Deutschland geschickt, damit er Disziplin lerne. Ibrahim selbst wollte eigentlich in die USA zu seinem Bruder, doch der Vater war dagegen, für ihn kam nur Deutschland in Frage. Er habe sich persönlich um Ibrahims Visum gekümmert, sei eines Abends nach Hause gekommen, habe ihm seinen Pass gegeben und gesagt: „Da (klatschendes Geräusch), dein Visum, du fliegst am Montag“ (S.6/35). Ibrahim wusste von dem Vorhaben seines Vaters, er habe aber gebetet, dass es nicht klappt. Die Schwierigkeiten mit seinem Vater beschreibt Ibrahim so: „Mein Vater ist sehr sehr streng [Mhm] Und er wollte uns zu guten Moslems so erziehen. [Mhm] Das ging natürlich nicht .. so einfach [...]Da wurden wir sehr oft . geschlagen“ (S.7/10ff). Er vergleicht seinen Vater mit den Deutschen, er sei wie sie „sehr sehr sehr sehr diszipliniert“ (S.7/35). Er habe viel Druck auf seine Kinder ausgeübt, was dazu führte, dass sie als Jugendliche gegen den Vater rebelliert hätten. Ibrahim habe mit fünfzehn Jahren begonnen, heimlich Auto zu fahren und schließlich auch Unfälle gebaut. „Ich hab zwei Autos ganz zu Schrott gefahren. Natürlich für meinen Vater war ganz schwer“ (S.8/14). Auch gingen sie oft in den gefährlichen Strömungen des Atlantiks schwimmen, obwohl sie das nicht durften, weil dort schon Leute ertrunken sind. Sein Verhältnis zu seinen Geschwistern beschreibt Ibrahim als gut. Besonders verbunden fühlt er sich mit seinem älteren Bruder, der heute in den USA lebt. Beide hätten sich am meisten gegen den Vater aufgelehnt. Die Mutter habe bei den Konflikten mit dem Vater manchmal Partei für ihre Kinder und manchmal für ihren Mannergriffen. Eigentlich habe die Mutter aber dabei „nicht viel zu sagen“ (S.9/8), da der Vater Angst gehabt hätte, seine Autorität zu verlieren, wenn die Mutter widersprochen hätte. Ibrahim sagt, dennoch seien die Männer- und Frauenrollen zu Hause ausgeglichen gewesen und beschreibt seine Mutter als „kämpferisch“ (S.9/33). Sie hat für eine amerikanische Organisation in der Gesundheitsfürsorge gearbeitet und sich dabei immer sehr engagiert. Deswegen kam sie oft erst spät nach Hause, obwohl der Vater sich darüber aufregte. Ibrahim beschreibt die unterschiedliche Beziehung von ihm und seinen Geschwistern zu den Eltern so: „Wenn unsere Mutti zu Hause war, dann kamen wir alle zu unserer Mutti, zu fünft ins Zimmer [...] und haben mit ihr geredet. Sobald mein Vater kam, sind wir alle raus aus dem Zimmer“ (S.27/25ff). Von der Mutter erfuhren sie, dass der Vater darüber sehr traurig war.
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Der Vater arbeitete fast immer für die Regierung in verschiedenen Ministerien und ist heute Finanzminister in Conakry. Ibrahim beschreibt seinen Vater als einen der wenigen Intellektuellen aus seinem Dorf, der als einziger von zwölf Geschwistern eine Schulausbildung absolviert hat. Heute sei daher die ganze Familie finanziell von Ibrahims Vater abhängig, da sie auf dem Land kaum Geld verdienten. Dies führte zu vielen Problemen, wenn manchmal die kranken, hilfsbedürftigen Verwandten des Vaters auf seine Kosten per Taxi aus dem Dorf angereist kamen und ein, zwei Jahre blieben. Der Vater habe sich dieser Verpflichtung nicht entziehen können, was zu zahlreichen innerfamilären Konflikten geführt und das Familienklima sehr belastet habe. Ibrahim glaubt, dass diese Konflikte auch ein Grund waren, warum sein Vater immer so aggressiv war. Ibrahim kommt dann auf die Entscheidung zur Migration zu sprechen. Er selbst habe, wie viele seiner Freunde, unbedingt aus Guinea raus gewollt, weil man in Guinea keine gute Aubildung erhalten könne. Er selbst wollte gerne in die USA, weil man dort auch nach den Studium die Möglichkeit habe, etwas zu machen, im Gegensatz zu Deutschland, wo man bei der Visumverlängerung regelmäßig unterschreiben muss, dass man einverstanden ist, nach dem Studium das Land zu verlassen. Ibrahim habe keine Ahnung gehabt, welche Ausmaße der Rassismus in Deutschland hat. In seiner ersten Zeit in Deutschland lernte er Fanta kennen, die ihm die Stadt gezeigt und ihm gesagt habe, „wie das alles so läuft“ (S.12/43). Er lernte auch einen Deutschen kennen, den Ibrahim als seinen „bester Freund eigentlich“ (S.13/2) bezeichnet. Mit Norbert ist Ibrahim während seiner ersten drei Monate in Deutschland in andere Städte gereist, nach Köln und Berlin, und „da hab ich zum ersten Mal überhaupt Rassismus erlebt“ (S.13/8). Norbert wollte eigentlich nicht mit Ibrahim nach Ostberlin, weil er „so ein mulmiges Gefühl“ (S.13/11) hatte. Doch Ibrahim bestand darauf. Während ihres Aufenthaltes dort wurde Ibrahim mehrfach Opfer rassistischer Angriffe und Beleidigungen. Seitdem will Ibrahim nie wieder in den Osten Deutschlands. In Frankfurt passiere ihm so etwas selten. Nur einmal habe es in Bad Homburg eine Auseinandersetzung mit einem Jugendlichen gegeben, der ihn erst „Neger“ (S.14/40) nannte, dann hinter Ibrahim hergelaufen kam und ihn angriff. Ibrahim habe sich aber problemlos wehren können, weil er älter und kräftiger gewesen sei und früher Kampfsport betrieben hatte. Ibrahim ist schockiert über solche Erlebnisse. Auch in Österreich habe er sich deswegen sehr unwohl gefühlt und Angst vor Übergriffen verspürt. Er beschreibt dann diskriminierende Erfahrungen bei Kontrollen in Zügen, in Diskotheken mit Türstehern und mit Polizisten bei Routinekontrollen. „Ja und . dann denkt man ehrlich das eh . woher kommt das überhaupt, dieser .. wenn man jemand so .. wenn man gejagt, man fühlt sich
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so gejagt!“ (S.18/16f). Ibrahim fragt sich, wie das wäre, wenn er nach dem Studium hier arbeiten würde: „ich hab eine normales Job, hab ich vielleicht einen BMW oder keine Ahnung. Sitze ich da, dann würde ich wahrscheinlich immer noch sofort kontrolliert“ (S.18720f). Er übt Kritik an der Willkür der Kontrollen, räumt jedoch ein, dass er sich in Frankfurt, im Vergleich zu anderen deutschen Städten, recht wohl fühlt. Er wolle jedoch nicht sein Leben lang um die Anerkennung als normaler Mensch kämpfen. Befragt nach seinen ersten Erfahrungen in Deutschland ohne seinen Vater, der ja vorher sein Leben bestimmt hatte, erzählt Ibrahim, er habe sowohl das Gefühl von Freiheit, aber auch eine „Angst jetzt vor dieser Herausforderung“ (S.21/24) empfunden, weil er den Druck seiner Eltern verspürt habe, aus seinem Leben etwas zu machen. Früher sei er Nachdenken nicht gewöhnt gewesen, da die Eltern „sich um alles gekümmert“ (S.21/33) haben. Er habe keine Erfahrung in der Organisation seines Lebens gehabt, daher „musste ich alles wie ein Baby lernen“ (S.21/38). Er habe von Anfang an in Deutschland erkannt, dass es niemanden interessieren wird, „wenn ich alleine verrecke“ (S.21/45). Daraus schloss er: „muss ich einfach aufstehen und dafür kämpfen, dass das besser wird“ (S.21/48). Ibrahim findet das aber auch sehr positiv und denkt, dass er, wäre er in Guinea geblieben, heute noch von seinen Eltern abhängig wäre. Auch habe sich sein Horizont wesentlich erweitert, er mache sich heute seine eigenen Gedanken und bildet sich eine Meinung. Wenn man nur in Guinea gelebt habe, könne man „einfach manche Visionen nicht haben“ (S.22/4). Besonders schätzt er die Erfahrungen mit seinen Mitbewohnern. Die Disziplin in der Aufteilung der Hausarbeit gefällt ihm. In der Wohnung habe er viel Ruhe zum Lernen, weil die anderen auch immer lesen. Mit Leuten aus Guinea wäre das so nicht möglich, mit denen würde er viel Zeit damit verbringen, über die Zukunft Guineas zu diskutieren, was Ibrahim als „unnötige Gespräche“ (S.22/41) bezeichnet. Ibrahim schätzt die Anerkennung seiner Mitbewohner und fühlt sich, seitdem er mit ihnen zusammen wohnt, „noch mehr zu mehr so integriert als früher“ (S.22/49). Er kann mit ihnen über alles reden, sie akzeptieren seine Freunde und wissen einfach, wie man „mit Menschen echt umgeht“ (S.23/8). Vorher hatte Ibrahim alleine gewohnt, das war ihm aber zu einsam, „ich brauchte einfach Leute um mich“ (S.23/24). Mit seinen Mitbewohnern habe er sich noch nie gestritten, jeder halte sich an die Regeln, er lerne viel von ihnen, und das ohne Druck. „Also ehm jetzt sehe ich selber ein, dass das einfach man soll diszipliniert sein, wenn man echt was aus seinem Leben machen [Mhm] will“ (S.24/27ff). Durch einen Telefonanruf wird das Gespräch kurz unterbrochen, Ibrahims Ex-Freundin ruft an. Anschließend erzählt er über diese Beziehung, die seine längste bisher in Deutschland gewesen sei. Sie kommt aus Tschechien, er hat
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mit ihr dort auch ihre Eltern besucht. Sie leben in einem Dorf, in dem noch nie ein Schwarzer gesehen wurde, wo die Leute viel ärmer sind als die Ostdeutschen, und dennoch waren alle sehr nett zu ihm. Die Forscherin fragt Ibrahim dann, ob er einmal eine Familie gründen möchte. Nach dem Studium, so mit dreißig Jahren, möchte er heiraten und drei oder vier Kinder haben. Einerseits begründet er es damit, ein Kind sei „ein Teil von mir, die Person sieht mir ähnlich“ (S. 26/2f). Andererseits brauche er eine Familie, „sonst stehe ich irgendwann .. alleine da, verrecke und bin einsam, das will ich nicht“ (S.26/24f). Auch wenn er ohne Freundin sei, könne er es schwer aushalten und suche daher immer eine. Auf die Frage, wie er sich die Beziehungen innerhalb seiner Familie vorstelle, antwortet Ibrahim, dass er niemals so streng sein möchte, wie sein Vater es war. Er findet es wichtig, einen guten Kontakt zu seinen Kindern aufzubauen und mit ihnen zu reden. Sein Opa sei noch viel strenger gewesen als sein Vater. Im Laufe der Generationen verliere sich das. Er möchte auch kein Macho sein, seine Frau habe auch etwas zu sagen, und im Haushalt sollen beide sich gegenseitig helfen. Ibrahim kommt dann wieder auf seinen Vater zu sprechen und erzählt, dass dieser sich heute sehr bemüht, einen guten Kontakt zu seinem Sohn zu bekommen. Als sein Vater ihn vor zwei Jahren in Deutschland besuchte, habe ein anderer Mensch vor Ibrahim gestanden. „Dass er mich so, überhaupt umarmen oder, dass er meine Hand so gehalten, dass er so .. wir haben die Stra- auf die Straße so dann geredet über sogar Frauen. Alles Mögliche!“ (S.28/22ff). Ibrahim sagt, er selbst habe sich in den fünf Jahren, seitdem er in Deutschland ist, sehr verändert, um „echt hundertachtzig Grad“ (S.29/4). „Ich war auch sehr sehr sehr aggressiv, als mein Vater aggressiv war“ (S.29/6f). Ibrahim hat seinen Frust auch an seinen Freunden ausgelassen, hat sie geschlagen, fünf Jahre Kampfsport betrieben und habe „Leute ohne Probleme Krankenhau- so eh reif so schlagen“ (S.29/39f) können. Heute denkt er mit komischen Gefühlen daran zurück, seine zahlreichen Narben am Körper, die von diesen Kämpfen, aber auch den Schlägen des Vaters stammen, erinnern ihn stets an diese Zeit. In Guinea hat er auch außerhalb der Familie viel Gewalt gesehen. Beispielsweise habe er mehrmals erlebt, wie ein Dieb von etwa hundert Leuten auf der Straße zu Tode geprügelt wurde. Die Leiche habe anschließend noch einige Tage später auf der Straße gelegen. „Ich bin so aufgewachsen nur einfach .. [Mhm] ich kenn nur Gewalt . Gewalt, Gewalt“ (S.31/2ff). Obwohl er nie eine Therapie gemacht habe, würde er heute niemandem mehr etwas tun, selbst wenn er auf der Straße beleidigt würde. „Die Aggressivität ist total weg, wahrscheinlich weil ich keine Aggressivität mehr erlebe“ (s.30/20f). Ibrahim glaubt an die Veränderungspotentiale des Menschen, „man ändert sich ja . wie gesagt, ich glaube schon fest daran .. man hört nie auf . so sich zu verändern kann immer was machen“ (S.30/12ff).
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Heute ist Ibrahim der Meinung, dass er nicht in der Lage gewesen wäre, noch viel länger in Guinea zu bleiben. Die Probleme mit seinem Vater seien zu groß gewesen. Durch den räumlichen Abstand könne man sich nach einer Zeit anders begegnen und besser verstehen. Seinem Vater sei dies nur bedingt gelungen, da er sich den traditionellen Verpflichtungen seiner Familie gegenüber nicht entziehen könne und sich ihnen auch verbunden fühle. Ibrahim hingegen möchte seine Familie begrenzen auf seine Frau, Kinder und Geschwister. Den weiteren Verwandten, wie Cousins, würde er auch helfen „aber nie so wie meinen Geschwi- also meinen Geschwistern direkt so“ (S.34/42). Sonst komme man irgendwann selbst nicht mehr zurecht. Er sei beispielsweise heute schon finanziell von seinem Vater unabhängig, obwohl dieser genug Gelt hätte, ihn noch zu finanzieren. Er wolle jedoch, dass sein Vater lieber seinen Verwandten im Dorf helfe, die keine Alternative hätten. Auf die Frage der Forscherin, ob Ibrahim sich als einen guten Moslem bezeichnen würde, antwortet er lachend: „Was heißt überhaupt guter Moslem?“ (S.36/8). Er glaube fest an die Religion, habe viele Bücher gelesen über den Islam und sich so unabhängig von seinem Vater seine Meinung gebildet. Ibrahim praktiziert die Religion nicht so offensiv, weil dies schwer in den hiesigen Alltag zu integrieren sei. Allerdings hält er sich an die Regeln, keinen Alkohol zu trinken und kein Schweinefleisch zu essen.
Angriff als Verteidigung Die folgende Szene steht im Kontext der Diskriminierungserfahrungen, die Ibrahim in Deutschland gemacht hat und über die er ausführlich berichtet. Hier geht es ihm um das Vorgehen der Polizei als öffentliche Institution. Ibrahim: Ja (nuschelt) der Stadt .. ich weiß es nicht, ich habe so viele Sachen schon erlebt kann ich nicht alles so sagen, zum Beispiel vo-or eineinhalb Jahren .. ging ich ehm .. ging ich eh zur Bu- zur U-Bahn M.G.: Mhm Ibrahim: dann bin ich in die durch die Stadt natürlich wo die Hauptwache M.G.: Mhm Ibrahim: durch die Innenstadt hier, dann sah mich ein Polizist, waren schon sehr viele, aber das war die einzige, die mich gesehen hat, M.G.: Mhm Ibrahim: (atmet ein) und ich hatte schon viele a- a- Autos schon Polizeiautos oben gesehen hab mir schon gedacht: wahrscheinlich gibt’s wahrscheinlich eine Razzia oder keine Ahnung .. sie hatte den anderen Freunden Bescheid gesagt, schau mal da, sie sind hinter mir hergerannt. M.G.: Echt?
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Ibrahim: Ich sch- ich war sie waren hundert Meter von mir, sie sind hinter mir gerannt. Ich bin weitergelaufen hab nur . und dann bin ich die Treppe runter, die Treppen hat mich ein Polizist .. und dann sagte er: den Ausweis oder und ich musste mich dann meine Jacke und alles ausziehen und so ja, M.G.: Mhm Ibrahim: so auf den Boden und an die Mauer so . haben die mich da durchsucht ich . so viele Leute lief vorbei, liefen vorbei. Einfach das ist eine sehr schreckliches Gefühl. M.G.: Mhm mhm Ibrahim: Und ehm .. ich hab natürlich denen auch ein bisschen auch gesagt, was ich . dachte, ich habe gesagt, eh diese Art diese Kontrollen finde ich nicht in Ordnung, nur leider kann ich nicht gegen Sie M.G.: Mhm Ibrahim: weil ich das nicht filmen kann M.G.: Mhm Ibrahim: und ich bin (uv) weil eh .. und ich find das einfach nicht gut und natürlich, wenn du mit denen, wenn du denen sowas sagst, und dann nee das hat nichts mit Hautfarbe, ich sag doch! M.G.: Mhm Ibrahim: Ich mein, ich bin doch nicht der einzige hier. M.G.: Mhm Ibrahim: Und ich bin mir sicher, ich bin viel sauberer als Sie, also in dem Sinn, dass ich nicht rauche und trinke ich keinen Alkohol, habe niemals in meinem Leben einen Joint geraucht und M.G.: Mhm Ibrahim: ja meine Erfahrung, egal wo ich überall gewohnt habe, ich kenn keinen einzige . Deutsche, der niemals noch nicht einmal probiert hat M.G.: Mhm Ibrahim: noch nicht bis heute . und immer wenn ich dann Leute erzählt habe: ich hab niemals geraucht, noch gar nicht probiert M.G.: Mhm Ibrahim: Alkohol noch nie einen Schluck getrunken, die glauben kaum, *weil für sie ist das M.G.: *(lacht) Ibrahim: unmöglich M.G.: (lachend) Ja ja Ibrahim: und eh .. das hab ich dem Polizisten gesagt ich rauche ich trinke nicht, ich hab gar nichts mit Drogen am Hut. M.G.: Mhm Ibrahim: Ich mein, es gibt klar paar Farbige, die Drogen verkaufen, aber das
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heißt nicht alle Farbige sind Dealer. M.G.: Mhm Ibrahim: Man kann dann zwar nicht alle Menschen in gleichen Topf schmeißen, oder soll ich Sagen, alle Deutsche sind Nazis?
(Transkript, S. 16f) Am Anfang dieser Szene macht Ibrahim deutlich, dass er schon „so viele Sachen“ erlebt hat, die er nicht alle erzählen kann. Er erzählt dann beispielhaft von einem Ereignis, bei dem er auf dem Weg zur U-Bahn von Polizisten kontrolliert wurde. Es waren sehr viele Polizisten in der Station präsent, es handelte sich wohl um einen Sondereinsatz, in den Ibrahim zufällig hineingeraten war. Ibrahim berichtet, wie die Polizisten, als sie ihn sahen, hinter ihm her rannten und ihn aufforderten, seinen Ausweis zu zeigen. Er musste die „Jacke und alles ausziehen und so ja, [Mhm] so auf den Boden und an die Mauer so . haben die mich da durchsucht ich . so viele Leute lief vorbei, liefen vorbei. Einfach das ist eine sehr schreckliches Gefühl“. Ibrahim fühlt sich wie ein Verbrecher an die Wand gestellt, kontrolliert, in aller Öffentlichkeit vor so vielen Leuten bloßgestellt und schämt sich dafür. „Und ehm .. ich hab natürlich denen auch ein bisschen auch gesagt, was ich . dachte“. Ibrahim hat sich nicht einfach in die Situation ergeben, sondern „natürlich“ versucht, sich gegen diese Behandlung zu wehren. „ich habe gesagt eh diese Art diese Kontrollen finde ich nicht in Ordnung nur leider kann ich nicht gegen Sie [Mhm] weil ich das nicht filmen kann“. Ibrahim sagt den Polizisten, dass sie seiner Meinung nach nicht korrekt mit ihm umgehen, er sich jedoch seiner Machtlosigkeit, dagegen vorzugehen, auch bewusst ist. Trotzdem sagt er zu den Polizisten: „und ich find das einfach nicht gut“. Damit appelliert er an sie, ihren Überlegenheitsstatus nicht auszunutzen gegenüber Schwächeren. „und natürlich, wenn du mit denen, wenn du denen so was sagst, und dann nee das hat nichts mit Hautfarbe“. Ibrahim ist nicht überrascht über die Reaktion der Polizisten, sie streiten „natürlich“ ab, dass sie ihn wegen seiner Hautfarbe so behandeln. „ich sag doch! [Mhm] Ich mein, ich bin doch nicht der einzige hier“. Damit spielt er wohl auf den Umstand an, dass nur er als Schwarzer kontrolliert wird, während andere Passanten unbehelligt weiter ihres Weges gehen können. „Und ich bin mir sicher, ich bin viel sauberer als Sie, also in dem Sinn, dass ich nicht rauche und trinke ich keinen Alkohol, habe niemals in meinem Leben einen Joint geraucht“. Ibrahim macht nun eine provozierende Bemerkung, indem er den Polizisten unterstellt, nicht „sauber“ zu sein. Diese Formulierung hat etwas Zweideutiges, einerseits meint Ibrahim „sauber“ im Sinne von Drogen, wie Alkohol und Haschisch oder Marihuana, mit denen man seinen Körper ‘verunreinigt’; andererseits ist „sauber“ auch zu verstehen im Sinne von Verstößen gegen die Rechtsordnung, die man begeht, wenn man illegale Drogen konsumiert. Er vermutet wohl, dass ihn die Polizisten aufgrund
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des Verdachts, er sei ein Drogendealer oder -konsument, kontrollieren. „ja meine Erfahrung, egal wo ich überall gewohnt habe, ich kenn keinen einzige . Deutsche der niemals noch nicht einmal probiert hat [Mhm] noch nicht bis heute . und immer wenn ich dann Leute erzählt habe: ich hab niemals geraucht, noch gar nicht probiert [Mhm] Alkohol noch nie einen Schluck getrunken, die glauben kaum, *weil für sie ist das [*(lacht)] unmöglich“. Diese Äußerung richtet Ibrahim nun an die Forscherin, der gegenüber er seine Provokation der Polizisten rechtfertigen möchte. Seiner Erfahrung nach gibt es keinen Deutschen, der wirklich „sauber“ ist, also nicht raucht und nicht trinkt. Ibrahim fühlt sich daher von den Polizisten zu Unrecht kontrolliert und bloßgestellt, da er seinem Gefühl nach viel reiner ist als sie. „und eh .. das hab ich dem Polizisten gesagt, ich rauche ich trinke nicht, ich hab gar nichts mit Drogen am Hut“. Er verteidigt sich hier den Polizisten gegenüber, indem er seine Unschuld beteuert. „Ich mein es gibt klar paar Farbige, die Drogen verkaufen, aber das heißt nicht alle Farbigen sind Dealer“. Er verwehrt sich dagegen, nur wegen seiner Hautfarbe als Dealer verdächtigt zu werden. „Man kann dann zwar nicht alle Menschen in gleichen Topf schmeißen, oder soll ich sagen, alle Deutsche sind Nazis?“. Ibrahim wünscht sich eine differenzierte Behandlung und keine Gleichsetzung aller Schwarzen mit Drogendealern. Zur Verdeutlichung seines Anliegens fügt er dann den Vergleich der Gleichsetzung aller Deutschen mit den Nazis an. Damit trifft Ibrahim einen wunden Punkt der Deutschen, die sich in der Aufarbeitung des Nazi-Regimes immer wieder mit dieser Gleichsetzung auseinandersetzen müssen. Mit dieser Äußerung zielt Ibrahim auf die Gefühle der Polizisten und sucht durch diese Provokation, Verständnis für seine Situation zu erhalten. Zusammengefasst lässt sich diese Szene folgendermaßen verstehen: Bei einer Kontrolle der Polizei fühlt Ibrahim sich zu Unrecht in der Öffentlichkeit bloßgestellt. Er fügt sich jedoch nicht einfach in die Situation und lässt sie über sich ergehen, sondern versucht, sich gegen das Vorgehen der Polizei verbal zu wehren. Er führt mit den Polizisten eine provozierende Diskussion, in der er deutlich macht, dass er unschuldiger ist als sie selbst und sie ihn nicht korrekt behandeln. Ibrahim weiß rational, dass er nicht viel gegen die Polizisten ausrichten kann, er hat jedoch das Bedürfnis, dem gefühlten Unrecht etwas entgegensetzen zu müssen. Ibrahim ist ein Provokateur, der für sich als Mensch Anerkennung verlangt und mit seiner ganzen Person dafür kämpft, diese zu erhalten.
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Schluss-Szene Nach der Passage über Ibrahims Beziehung zur Religion stellt die Forscherin eine abschließende Frage: M.G.:
Mhm (7 Sec. Pause) Ja .. gibt es noch irgendwas, was Ihnen noch wichtig wäre? Ibrahim: (überlegt) Hmmm M.G.: Was jetzt noch nicht angesprochen wurde oder was Sie Ibrahim: Ich glaube, wir haben fast alles angesprochen, also gerade fällt mir nichts Besonderes ein. Ich hoffe nur, dass es sich verbessert, das ist mein einziger Wunsch M.G.: Was? Ibrahim: überhaupt. M.G.: Dass was sich ver Ibrahim: Die Lage von überhaupt ehm .. Leute .. ehm, ich weiß nicht, ich rede jetzt von Dunkelhäutigen M.G.: *(uv) ja, mhm Ibrahim: *ich weiß es nicht, was ja die anderen erleben, ich kann für sie nicht reden ich rede nur von uns speziell, M.G.: Mhm Ibrahim: dass es sich richtig verbessert. M.G.: Mhm Ibrahim: Dass einfach die Leute ein bisschen mehr tolerant, ich will nicht, dass sie da ganz Afrika hier aufnehmen sollen. M.G.: Mhm Ibrahim: Überhaupt aber, dass einfach diese Vorurteile . ich weiß es nicht, das ist mein größter Wunsch eigentlich. Wie wahrscheinlich für Ärzte: Leuten zu helfen. Größte Wunsch, dass einfach dass das verschwindet, dass man (atmet ein) M.G.: Mhm Ibrahim: Dass Leute einfach normal finden, dass du Arzt sein kannst als Schwarzer, alles Mögliche, dass die Leute nicht Angst haben, oh ich gehen nicht in deine Praxis M.G.: Mhm Ibrahim: oder kommst du zu einem Arzt, der hat Angst dich zu berühren, denkt er du bist krank oder ich weiß es nicht, solche Sachen sind halt die (uv) M.G.: Mhm Ibrahim: Aber sonst . denke ich .. dass eh es alles war. M.G.: Okay, vielen Dank! Ibrahim: Bitte schön. (Band wird ausgeschaltet)
(Transkript, S. 37f)
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Die Forscherin fragt Ibrahim am Schluss des Gesprächs, ob er noch etwas sagen möchte, was ihm wichtig ist, aber noch nicht angesprochen wurde. Ibrahim antwortet, „Ich glaube wir haben fast alles angesprochen, also gerade fällt mir nichts Besonderes ein“. Das Wort „glaube“ deutet darauf hin, dass er sich nicht ganz sicher ist, noch überlegt. Er sagt auch „fast alles“ und weist damit auf einen Rest hin, der noch fehlt. Die Formulierung „wir“ haben fast alles angesprochen zeigt, dass Ibrahim das Gespräch als etwas Gemeinsames mit der Forscherin betrachtet, was zusammen entstanden ist. „Ich hoffe nur, dass es sich verbessert, das ist mein einziger Wunsch“. Er hofft, dass „es“ sich verbessert, ohne jedoch zu benennen, was er damit meint. Ibrahim geht offenbar davon aus, dass die Forscherin weiß, wovon er spricht. Sie fragt jedoch nach: „Was?“ und Ibrahim antwortet mit: „überhaupt“ wieder sehr vage. Die Forscherin weiß nicht, worauf er sich bezieht, und fragt nochmals nach: „Dass was sich ver“. Bevor sie den Satz beenden kann, antwortet Ibrahim: „Die Lage von überhaupt ehm .. Leute .. ehm, ich weiß nicht, ich rede jetzt von Dunkelhäutigen“. Er wünscht sich also, die Lage der Dunkelhäutigen solle sich verbessern. Entweder fällt es ihm schwer, dies deutlich auszudrücken, oder der Bezug des gesamten Gespräch zu diesem Thema scheint für ihn so deutlich, dass er es hier nicht noch einmal extra benennen muss. Während die Forscherin signalisiert, dass sie ihn verstanden hat, fährt Ibrahim fort: Er weiß nicht, ob sich seine Aussage verallgemeinern lässt, die „anderen“ sind hier wohl die nicht dunkelhäutigen Ausländer in Deutschland. Er redet „nur von uns speziell“, also von den Dunkelhäutigen. Für sie möchte er, dass sich ihre Lage „richtig verbessert“, es also eine wirkliche Veränderung im Verhältnis zwischen weißen Deutschen und schwarzen Ausländern gibt. Die Veränderung soll darin liegen, dass die Leute den Schwarzen mehr Toleranz entgegenbringen. Die Formulierung „einfach“ weist darauf hin, dass Ibrahim es nicht schwierig findet, diese Toleranz aufzubringen. Er denkt, dass sich dadurch vieles verbessern würde. „ich will nicht, dass sie da ganz Afrika hier aufnehmen sollen“. Er bezieht sich hiermit wohl auf Positionen in der öffentlichen Diskussion, in denen es um die Begrenzung der MigrantInnen in Deutschland geht. Ibrahim möchte aber nicht politisch diskutieren, sondern seinem Wunsch Ausdruck verleihen, dass die Deutschen keine Vorurteile gegenüber Schwarzen mehr haben sollen. Die Vorurteile sollen einfach verschwinden. Dies sei sein größter Wunsch, den er vergleicht mit dem Wunsch von Ärzten, Leuten helfen zu wollen. Deren Wunsch sei ein ebenso natürlicher wie seiner. „Dass Leute einfach normal finden, dass du Arzt sein kannst als Schwarzer, alles mögliche, dass die Leute nicht Angst haben, oh ich gehen nicht in deine Praxis“. Offenbar finden viele Leute es nicht normal, dass ein Schwarzer Arzt sein kann. Sie gehen aus Angst vor dem Schwarzen dann nicht in dessen Praxis. Ibrahim wünscht sich, dass diese Angst verschwindet. „oder kommst
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du zu einem Arzt, der hat Angst, dich zu berühren, denkt er du bist krank oder ich weiß es nicht“. Hier dreht er die Position um und spricht von der Angst eines Arztes, zu dem ein Schwarzer in die Praxis kommt. Die Ironie des Satzes liegt darin, dass er ja gerade, weil er krank ist, den Arzt konsultiert und dieser ihn aufgrund seiner Hautfarbe nicht berühren möchte, so als sei er krank. Ibrahims Beispiele vom Besuch beim Arzt berühren einen sehr intimen Bereich des täglichen Lebens. Die Arzt-Patienten Beziehung verlangt ein hohes Maß an Vertrauen von beiden Seiten, das durch die von Ibrahim geschilderten Vorurteile gegenüber Schwarzen tiefgreifend gestört ist und eine besondere Kränkung darstellt. Er beschließt dann die Beispiele mit: „solche Sachen sind halt die (uv)“. Er beendet den Satz nicht bzw. spricht unverständlich. Offenbar meint er, nun alles gesagt zu haben. Ibrahim hebt in der Schlusspassage das für ihn wichtigste Thema des Gesprächs, den Rassismus in Deutschland, noch einmal hervor und verbindet es mit seinem Wunsch auf Veränderung der alltäglichen Diskriminierung von Schwarzen in Deutschland. Während des Gesprächs hat er seine Erlebnisse beschrieben, am Schluss stellt er seine Gefühle in den Vordergrund und sein Hoffen auf Veränderung der aktuellen Situation. Das wichtigste Anliegen im Gespräch scheint ihm die Anerkennung der Schwarzen als Menschen zu sein, die er in Deutschland vermisst und von der er hofft, dass sie sich in Zukunft einstellen werde. Mit dem Beharren auf seinem Thema und seiner Forderung nach Veränderung der aktuellen Situation wird Ibrahims Unnachgiebigkeit im Kampf für seine Sache deutlich, die er selbstbewusst vorbringt und verteidigt.
Ausgestaltung der Forschungssituation Während des Gesprächs sitzt Ibrahim auf seinem Bett und hat die Bettdecke über seine nackten Beine geschlagen, die er oft unruhig hin und her bewegt. Durch sein eigenes Interesse, von sich zu erzählen, verläuft das Gespräch flüssig. Er spricht ein recht gutes Deutsch, das jedoch an den Stellen brüchig wird, in denen er etwas nicht zur Sprache bringen möchte. Ibrahim nutzt das Gespräch über weite Passagen als Plattform, seine negativen Erfahrungen als Schwarzer in Deutschland zu schildern. Immer wieder kommt er auf den Rassismus in Deutschland zu sprechen. Ebenso wichtig ist ihm jedoch auch seine Beziehung zu seinem Vater. Während des Gesprächs klingeln mehrmals verschiedene Telefone. Eines steckt Ibrahim beim ersten Mal unter das Kopfkissen und lässt es läuten. Als sein Handy klingelt, geht er dran und spricht kurz mit seiner Ex-Freundin. Im Flur der Wohnung klingelt später ein anderes, das Ibrahim jedoch ignoriert.
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Ibrahim setzt sich mit seiner ganzen Person offensiv zur Forscherin in Beziehung. Gleich zu Beginn fordert er sie heraus, indem er sie noch im Bett liegend empfängt. Auch später versteckt er seine Körperlichkeit nicht, er führt das Gespräch nur knapp bekleidet, wodurch er seine ausgeprägten Muskeln zur Schau stellt. Ibrahim sieht in der Forscherin eine Kennerin Guineas, denn er weist ihr in vielen Äußerungen kompetentes Wissen über das Land und seine Leute zu. Einige Tage vor dem Gespräch hat er sich bei Fanta über sie erkundigt und erfahren, dass sie mehrmals in Guinea war. Gleich zu Anfang geht er davon aus, dass die Forscherin Philipe, seinen Tutor, kennt. Im weiteren Gespräch benutzt er Formulierungen wie: „Sie wissen schon wie das ist“ (S.1/40), „wie Sie wissen eh in Guinea macht man so“ (S.2/27), „Sie waren in Afrika, aber Sie wussten ...“ (S.20/11) oder: „Sie kennen ein bisschen Faranah35, oder?“ (S.35/12f). Diese Haltung gegenüber der Forscherin zeigt, dass Ibrahim nicht eine einseitige Erzählung über sein Leben führt, sondern die Auseinandersetzung mit der Forscherin sucht, von der er glaubt, dass sie versteht, wovon er spricht. Er lässt sich mit der Forscherin auf etwas Neues ein. Seine Anfangsäußerung, er wisse ja gar nicht, wie das hier so laufen soll, ist einerseits provokativ, zeugt jedoch auch von einer gewissen Offenheit und einem Sicheinlassen auf eine unbekannte Situation. Inhaltlich erzählt er der deutschen Forscherin immer wieder von seinen negativen Erfahrungen mit den Deutschen, hebt aber auch seine positiven Beziehungen mit seinem besten Freund und seinen Mitbewohnern hervor. Ibrahim nutzt das Gespräch auch zur Bearbeitung seiner aktuellen Themen, indem er zum Beispiel immer wieder seine Veränderung hinsichtlich der Gewalt gegenüber anderen hervorhebt und Erklärungen dafür sucht.
Fazit Ibrahim wächst in einem relativ wohlhabenden Elternhaus auf, das geprägt ist von dem sehr strengen und dominanten Vater und der moderaten, eher verständnisvollen Mutter, die beide berufstätig sind. Mit Einsetzen der Adoleszenz beginnt Ibrahims Auflehnung gegen seinen Vater, dessen strengen Regeln er sich nicht unterwerfen will. Den harten körperlichen Strafen des Vaters beugt Ibrahim sich nicht, sondern beantwortet sie stattdessen mit dem Training seines Körpers und der Suche nach immer neuen Grenzerfahrungen, mit denen er seinen Vater stets aufs Neue herausfordert. Männlichkeit wird von ihm vorwiegend 35
Eine mittelgroße Stadt in Guinea.
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mit körperlicher Kraft und Überlegenheit in Verbindung gebracht. So nimmt Ibrahims Adoleszenzentwicklung zunächst einen krisenhaften Verlauf, die von einer starken Oppositionshaltung seinem Vater gegenüber bestimmt ist. Ibrahims adoleszenter Möglichkeitsraum in Guinea ist geprägt von der Bildungsaspiration seines Vaters, die ihm einerseits großzügige Freiheiten gewährt, die aber durch die väterliche Strenge auch wieder begrenzt werden. Im Kampf gegen die väterliche Autorität entwickelt Ibrahim grundlegende innere Ressourcen, mit denen er die Durchsetzung seines Lebensentwurfs zu erreichen versucht. In diesen Auseinandersetzungen wird Ibrahims Adoleszenzthema – sein unerlässliches Streben nach Autonomie und Anerkennung – deutlich, dessen Bewältigung durch die Migration entscheidend beeinflusst wird. Für beide Seiten stellt die Migration die einzige Lösung ihres Konfliktes dar. Der Vater bestimmt gegen Ibrahims Willen, dass dieser nach Deutschland geht. Damit ermöglicht er Ibrahim einerseits neue Erfahrungen, möchte seine adoleszenten Explorationsbestrebungen aber andererseits wieder eindämmen. Die Ankunft in Deutschland bedeutet eine Zäsur in Ibrahims Leben, plötzlich ist er auf sich alleine gestellt. Die Trennung vom Vater stellt eine Erleichterung dar, weil sie Imbrahim aus der Konfrontation mit ihm befreit. Sie ermöglicht ihm auch, sich mit anderen Lebensentwürfen auseinanderzusetzen und verschiedene Positionen zu erproben. Die mit der Trennung aber auch verbundenen Verlusterfahrungen kann Ibrahim relativ schnell überwinden, indem er sich auf neue Bindungen einlässt und sich mit seiner neuen Lebenswelt intensiv auseinandersetzt. Die alltäglichen Diskriminierungserfahrungen als Schwarzer in Deutschland beleben Ibrahims adoleszente Auseinandersetzung, insofern er sich wieder der Erfahrung ausgesetzt sieht, dass er nicht so akzeptiert wird, wie er ist, sondern stets für seine Anerkennung als Person kämpfen muss. Daher verstärken sich Ibrahims adoleszente innere Fremdheitsgefühle durch die migrationsbedingte äußere Fremdheit der gesellschaftlichen Realität. Sein Adoleszenzkonflikt erhält durch die Migration eine neue Dynamik, weil sein strukturell konflikthaftes Verhältnis zur Aufnahmegesellschaft Ibrahims adoleszente Auseinandersetzung auf einer anderen Ebene fortsetzt. Kennzeichnend für Ibrahims Adoleszenz ist seine herausfordernde Haltung, mit der er sich einerseits mit seinem sozialen Umfeld in Beziehung setzt, es mit seinem Wunsch nach Andersartigkeit konfrontiert und neue Lösungen erprobt. Andererseits fordert er damit Anerkennung und Respekt gegenüber seiner Person und seinem autonomen Lebensentwurf. In der intensiven Auseinandersetzung mit seinem Vater hat Ibrahim wichtige Ressourcen entwickelt, die er in der Migrationssituation zur Bewältigung der Diskriminierungserfahrungen mobilisieren kann. Indem er sich in der deutschen Gesellschaft immer mehr verankert und neue Erfahrungen mit anderen Lebensformen macht, versucht er auch, aktiv die Erfahrungen seiner
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Kindheit zu verarbeiten. Dies führt zu einer konstruktiven Umgestaltung seiner aggressiven und gewaltvollen Auflehnung in eine reflexive Auseinandersetzung mit seiner Person. Die engen Beziehungen zu seinen Mitbewohnern und seinem Freund Norbert verhelfen Ibrahim auch zu neuen Erfahrungen hinsichtlich seiner Männlichkeit und ermöglichen ihm, einen eher intellektuell orientierten männlichen Habitus zu entfalten. Intensiv setzt er sich mit der Beziehung zu seinem Vater auseinander und entwickelt allmählich ein anderes Verhältnis zu ihm. So kann Ibrahim durch die in der Migration geleistete konstruktive adoleszente Verarbeitung seiner Kindheitserlebnisse auch die väterlichen Repräsentationen weitgehend integrieren und eine reifere Position seinem Vater gegenüber einnehmen. Die in Guinea vorwiegend auf körperlicher Ebene ausgetragene, selbstgefährdende Auflehnung gegen den Vater kann er im Zuge der Migration umbilden in eine auf intellektueller Ebene ausgetragene, selbsterhaltende Auflehnung gegen den Rassismus in Deutschland. Somit hat die Migration bei Ibrahim einen deutlichen Entwicklungsschub bewirkt, durch den er seine frühen Erfahrungen in seine heute reifere Persönlichkeit integrieren und neue Verarbeitungsmuster entwickeln kann. Er lernt in Deutschland, ein von den Eltern unabhängiges und weitgehend selbstständiges Leben zu führen, die finanzielle Unabhängigkeit von seinem Vater erweitert seine Autonomie. Die positiven Erlebnisse mit seinen deutschen Mitbewohnern ermöglichen ihm, die Disziplin, gegen die er sich früher so aufgelehnt hat, in seinen Lebensentwurf zu integrieren. Insofern wirken sich die Erfahrungen, die er mit der deutschen Gesellschaft macht, überwiegend positiv auf seinen Individuierungsprozess aus. Ibrahim eignet sich den adoleszenten Möglichkeitsraum in Deutschland aktiv an und kann die neu gewonnene Freiheit für die Entwicklung seiner Persönlichkeit konstruktiv nutzen. Durch die strukturelle Zurückweisung als Schwarzer in Deutschland erfährt Ibrahim jedoch auch eine deutliche Einschränkung in seiner adoleszenten Entwicklung, mit der er täglich ringt. Doch auch mit diesen migrationsbedingten Beschränkungen seines adoleszenten Entwicklungsspielraums geht Ibrahim konstruktiv um, indem er selbstbewusst seine Position vertritt und verteidigt, sich also nicht passiv der Situation unterwirft. Ibrahims Verhältnis zu Guinea und seine Vorstellung davon, wo er später einmal leben möchte, spielen momentan keine große Rolle. Seine Lebensplanung geht noch nicht sehr weit über das Ende seines Studiums hinaus. Er hat jedoch eine gefühlsmäßig starke Bindung an sein Land und fühlt sich als Guineer. Dies wird auch deutlich in der Bildung seines Zukunftsentwurfs, der mit einer gewissen Modifizierung an das Familienmodell seiner Eltern angelehnt ist. Grundsätzlich inszeniert Ibrahim sich als internationaler Mann mit festen Wurzeln in Guinea, für den es keine große Rolle spielt, wo er lebt, da er in der Lage
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ist, sich überall zu verankern und mit der jeweiligen Umwelt konstruktiv auseinanderzusetzen. Ibrahim konfrontiert sein Gegenüber jeweils mit seiner ganzen Person, sowohl mit seinen körperlichen als auch seinen intellektuellen Anteilen. Er ist offen gegenüber neuen Erfahrungen und sucht geradezu die Herausforderung. Indem er die Forscherin im Bett liegend empfängt, testet er aus, mit wem er es zu tun hat. Auch verbal fordert er während des Gesprächs ihre Position zum Rassismus in Deutschland sowie ihr Verhältnis zu Guinea heraus. Es ist jedoch nicht bloße Provokation, sondern Ibrahim sucht dadurch neue Erfahrungen und zeigt, dass er sich mit dem jeweilig Neuen intensiv auseinandersetzt, um seine eigene Position zu überprüfen. Er erzählt der Forscherin nicht bloß aus Höflichkeit von seiner Kindheit und seinen Erfahrungen in Deutschland, sondern nutzt das Gespräch auch zur Bearbeitung seiner eigenen Themen. So ist die Provokation für Ibrahim ein Mittel, mit dem er Erfahrungen sammelt und sich weiterentwickelt. Ibrahims adoleszenter Möglichkeitsraum ist durch die Strenge des Vaters stark eingeschränkt. Die offene Auseinandersetzung mit dem Vater ermöglicht ihm jedoch die Ausbildung starker innerer Ressourcen, mit denen er den Einschränkungen seines Entwicklungsspielraums entgegentreten kann. Der ständige Kampf gegen seinen Vater erlaubt Ibrahim zunächst nicht, eigene Positionen auszuleben, er kann hauptsächlich seiner Auflehnung gegen den Vater Ausdruck verleihen. Erst die Migration bietet Ibrahim einen erweiterten Entwicklungsspielraum, in dem er verschiedene Modelle der Lebensführung ausprobieren, seine eigenen Positionen mit der Realität abgleichen und damit einen autonomieorientierten Lebensentwurf entwickeln kann. Durch die mit der Migration verbundene äußere Trennung von seinen Eltern gelingt es ihm, auch innerlich von ihnen Abstand zu nehmen und sich mit der eigenen Gewordenheit, mit den Lebensentwürfen seiner Eltern sowie seiner Herkunftskultur in neuer Weise auseinanderzusetzen und sich selbst anders zu positionieren. Gleichzeitig wird jedoch seine Erfahrungsmöglichkeit in Deutschland wieder beschränkt, weil er auch hier nicht bedingungslose Anerkennung seiner Person erfährt und ständig dafür kämpfen muss, akzeptiert zu werden. Diesen Widerständen begegnet Ibrahim mit seiner inneren Stärke und seinen Erfahrungen, sich zur Wehr zu setzen. Er eignet sich den erweiterten Möglichkeitsraum in Deutschland aktiv und reflexiv an, kann seine frühen Erfahrungen mit seinen Eltern positiv umwandeln und dadurch seinen impulsiven Strebungen eine andere Richtung geben. Sein Individuierungsprozess wird somit durch die Migration entscheidend vorangetrieben. Sie versetzt ihn in die Lage, sich mit seiner eigenen Geschichte reflexiv auseinanderzusetzen und die äußeren Begrenzungen, die seine adoleszente Identitätsfindung – zunächst durch den Vater, später durch den Rassismus in
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Deutschland – erfährt, schöpferisch in seinen Lebensentwurf aufzunehmen. Insgesamt begegnet Ibrahim der Welt mit einer Offenheit, die neue Erfahrungen zulässt und herausfordert.
4.2.3 Fatima Touré – Die Ungebundene Fatima Touré ist fünfundzwanzig Jahre alt und seit viereinhalb Jahren in Deutschland. Ihre Eltern haben sich getrennt, als Fatima fünf Jahre alt war, sie lebte seither bei ihrer Mutter. Ihr Vater hat mit anderen Frauen noch zwei weitere Kinder. Beide Eltern haben eine Ausbildung in Frankreich absolviert und anschließend eine gute berufliche Position in Conakry erhalten. Fatima studiert Betriebswirtschaft in Siegen, wo sie seit zwei Jahren lebt.
Kontaktaufnahme Einer der männlichen Forschungsteilnehmer vermittelte den Kontakt zwischen Fatima und der Forscherin. Beim ersten Telefonkontakt wirkt Fatima sehr aufgeschlossen und freundlich, sie bietet der Forscherin an, bei ihr zu übernachten, da die Forscherin extra von Frankfurt aus anreisen wird, was diese jedoch ablehnt. Die Terminabsprache ist unkompliziert und Fatima erläutert der Forscherin genau den Weg vom Bahnhof zu ihrer Wohnung, in der sie alleine lebt. Bei ihrer Ankunft kommt Fatima der Forscherin im Treppenhaus entgegen, eine sehr dünne Frau mit kurzen Haaren, in Jeans und T-Shirt gekleidet. Sie begrüßt die Forscherin sehr herzlich und offen. Nach einigen Sätzen, in denen sie sich gesiezt haben, schlägt Fatima vor, sich zu duzen. In ihrer Wohnung sitzt ein junger Mann auf dem Sofa vor dem laufenden Fernseher, den sie als ihren Nachbarn vorstellt. Sie reden über die Stadt Siegen. Fatima sagt, ihr gefalle es sehr gut hier, es sei ein Dorf, man werde nicht abgelenkt, weil es kaum etwas zu erleben gebe. Lachend sagt sie: „Hier gehe ich nicht mehr weg“36. Ihr Nachbar steht alsbald auf und verabschiedet sich. Fatima umarmt und küsst ihn und bestellt Grüße für seine Mutter. Anschließend sagt Fatima, dass sie nicht genau wisse, worum es der Forscherin gehe in dem Gespräch. Sie habe mit einem Freund aus Chemnitz darüber gesprochen, der ihr geraten habe, es gelassen zu sehen, und sie gefragt habe, warum sie so aufgeregt sei. Ihre Vermutung ist, dass die Forscherin etwas über Politik hören möchte, es gebe aber nicht so viel zu sagen über Guinea. Die Forscherin erklärt daraufhin die qualitative Methode 36
Zitat aus dem Gesprächsprotokoll, S. 1.
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und betont, dass es ihr um die persönlichen Erfahrungen Fatimas geht. Sie interessiere sich für die Erlebnisse Fatimas in Guinea, aber auch für den Weg, wie sie nach Deutschland kam, und ihre Erfahrungen hier. Daraufhin fängt Fatima an zu erzählen, dass sie gar nicht nach Deutschland wollte. Die Forscherin unterbricht sie, da sie zunächst das Aufnahmegerät aufbauen will. Bei der Probeaufnahme funktioniert das Gerät jedoch nicht, die Forscherin wird nervös und sagt, sie sei auch aufgeregt. Schließlich funktioniert es, die Aufnahme beginnt.
Initialszene M.G.: Fatima: M.G.: Fatima: M.G.: Fatima:
M.G.: Fatima: M.G.: Fatima: M.G.: Fatima: M.G.: Fatima:
... erzählst ... das was dir (atmet aus) .. was dir einfach so einfällt, zu deiner Geschichte. (lacht) hab ich eine? (uv) wollen wir mal *die Tür zu machen? *oh Mann! (leise) Ja, wir machen mal die Tür zu (steht auf, macht die Tür zu) Es ist so laut von draußen. Ja .. ob ich eine Geschichte habe, Mann! (3 Sec. Pause) Das Problem ich weiß nicht, was wir alles, was ich erlebt habe, das ist das Problem jetzt (lacht) Du weißt nicht, wo du anfangen sollst? Es ist so viel und so wenig kann man so sagen, keine Ahnung. Was fällt dir denn spontan ein? (atmet aus) ... Spontan (4 Sec. Pause) Hm Wenn das Band endlich läuft, wird’s dann doch schwierig. Ja ja ja ja ja, das stimmt ja. (lacht) Hmna
(Transkript, S. 1) Die Aufnahme beginnt mitten im Satz der Forscherin, die Fatima auffordert zu erzählen, was ihr zu ihrer „Geschichte“ einfällt. Dabei stockt die Forscherin mehrmals im Satz und atmet einmal hörbar aus, so als falle es ihr nicht leicht, dies zu sagen. Der Begriff „Geschichte“ deutet auf etwas Vergangenes hin, das bereits abgeschlossen ist und aus dem Fatima nun berichten soll. Fatima antwortet zunächst mit einem Lachen, dem die Frage folgt: „hab ich eine?“. Sie zweifelt, ob sie ihr bisheriges Leben als Geschichte begreifen soll, und versucht durch das Lachen, zur Aufforderung der Forscherin Distanz zu schaffen. Die Forscherin geht auf Fatimas Antwort nicht ein, sondern nimmt stattdessen Bezug auf die Forschungssituation, indem sie fragt: „wollen wir mal die Tür zumachen?“. Fatima sagt zunächst zeitgleich mit der Forscherin: „oh Mann!“, was wohl noch auf ihre Auseinandersetzung mit dem Begriff „Geschichte“ bezogen
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ist. Dann antwortet sie auf die Frage der Forscherin: „Ja, wir machen mal die Tür zu“ und geht damit auf das Angebot der Forscherin ein. Diese steht daraufhin auf, schließt die Zimmertür und sagt: „Es ist so laut von draußen“. Die Geräusche von draußen waren offenbar so störend, dass es ihr notwendig erscheint, der Gesprächssituation einen intimeren Rahmen zu geben und es Fatima damit zu erleichtern, über sich zu sprechen. Fatima bestätigt zunächst die Äußerung der Forscherin und kommt dann auf den Inhalt des Gesprächsanfanges zurück: „ob ich eine Geschichte habe, Mann!“ Damit deutet sie an, dass ihr das Wort Geschichte etwas zu hoch gegriffen erscheint für ihr bisheriges Leben. Nach einer kurzen Pause fährt sie fort: „Das Problem ich weiß nicht, was wir alles, was ich erlebt habe, das ist das Problem jetzt (lacht)“. Damit distanziert Fatima sich von ihrem Leben. Zunächst spricht sie in der Wir-Form, ohne dass klar wird, wen sie damit alles meint, dann korrigiert sie sich jedoch und spricht von sich selbst. Diese Aussage wirkt etwas paradox, denn wer sonst als sie selbst sollte wissen, was sie erlebt hat? Vielleicht fällt es ihr schwer, darüber zu sprechen, weil sie sich ihr Leben anders vorgestellt hat. Sie wiederholt jedoch, dass dies „das Problem jetzt“ sei und lacht daraufhin. Zu vermuten ist, dass Fatima sich unsicher ist, was sie erzählen soll oder womit sie anfangen soll. Die Aufforderung zu erzählen, was ihr einfällt, ist vielleicht zu wenig konkret formuliert. Die Forscherin greift diese Unsicherheit in ihrer nächsten Äußerung auf, indem sie Fatima fragt: „Du weißt nicht, wo du anfangen sollst?“. Fatima antwortet daraufhin: „Es ist so viel und so wenig kann man so sagen, keine Ahnung“. Ihre Erlebnisse kann man sowohl mit „viel“ als auch mit „wenig“ bezeichnen. Fatima selbst will dieses Urteil aber nicht fällen, sie hat „keine Ahnung“, was sie selbst von ihrem Leben halten und vor allem worüber sie hier berichten soll. Damit bekräftigt sie ihr vorher bezeichnetes Problem, dass sie nicht weiß, was sie erlebt hat. Die Forscherin fragt daraufhin: „Was fällt dir denn spontan ein?“, sie möchte damit wohl Fatimas Scheu vor dem Begriff „Geschichte“ überbrücken und sie zum Erzählen ihrer Erlebnisse auffordern. Fatima atmet erst einmal hörbar aus und wiederholt dann „Spontan“, macht eine Pause und sagt „Hm“. Offensichtlich fällt ihr spontan nichts ein, was sie erzählen möchte. Vielleicht braucht sie einen konkreteren Hinweis, worüber sie erzählen soll. Die Forscherin greift dann Fatimas Sprachlosigkeit auf, indem sie sagt: „Wenn das Band endlich läuft, wird’s dann doch schwierig“. Damit nimmt sie Bezug auf ihr Gespräch vor der Tonbandaufnahme, in dem Fatima ganz viel erzählt hat, die Forscherin sie jedoch unterbrochen hat, weil sie Fatimas Äußerungen auf Band aufnehmen wollte. Fatima antwortet: „Ja ja ja ja ja, das stimmt ja“ und bestätigt damit ihre Schwierigkeiten, bei laufendem Aufnahmegerät zu sprechen. Die Forscherin lacht daraufhin und Fatima sagt: „Hmna“. Damit sind
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alle Versuche der Forscherin, Fatima zu einer offenen, selbstbestimmten Erzählung zu bewegen, erfolglos geblieben. Zusammengefasst kann man die Eingangsszene folgendermaßen verstehen: Nachdem Fatima bereits im informellen Teil des Gesprächs, vor der Tonbandaufnahme, lebhaft über ihre Erlebnisse berichtet hat, fällt es ihr schwer, bei laufendem Band weiter zu sprechen. Deutlich wird Fatimas Unsicherheit darüber, wer sie ist und ob sie sich als Einzelperson oder als Mitglied einer Gruppe definieren soll. Sie weist die offene Aufforderung der Forscherin, etwas aus ihrer „Geschichte“ zu erzählen, zurück, weil sie dem Begriff eine Bedeutung zumisst, die sie verunsichert und blockiert. Es fällt Fatima schwer, eine Verbindung herzustellen zwischen der Aufforderung der Forscherin, ihr Leben als großes Ganzes darzustellen, und ihren Erlebnissen und Erfahrungen. Sie fordert daher eine konkretere Anleitung für das Gespräch, an der sie sich orientieren kann.
Inhalt und Verlauf des Forschungsgesprächs Im Anschluss an die Eingangsszene nimmt die Forscherin Bezug auf das Gespräch vor der Tonbandaufnahme und fragt Fatima nach ihren Beweggründen, warum sie nicht nach Deutschland wollte. Fatima erzählt daraufhin, dass sie ursprünglich nach Kanada gehen wollte. Von Deutschland habe sie kein gutes Bild gehabt und musste erst die Sprache erlernen. Wenn sie heute darüber nachdenke, wüsste sie nicht, ob sie noch mal hierher komme. Außerdem sei es auch sehr schwer, sich hier zu integrieren. „Du machst alles für diese Integration, aber hast immer eine Grenze [Mhm] Diese Grenze wartet immer auf dich“ (S.2/17ff)37. Fatima findet dies sehr schwer zu ertragen. In Siegen lebt Fatima ganz allein unter Deutschen, es gibt sonst keine Afrikaner hier. Sie kennt viele Leute und versucht sich zu integrieren, doch es falle ihr nicht leicht. Zu ihren deutschen Freunden habe sie kein wirkliches Vertrauen und könne ihre Probleme mit ihnen nicht besprechen, darunter leide sie. Sie ist aber bewusst nach Siegen gegangen, weil sie hier nicht von ihren guineischen Freunden vom Studium abgelenkt wird. Sie hat entschieden, sich hier zu integrieren, das sei schwer, aber sie kämpfe weiter dafür. Kanada sei nicht in Frage gekommen, weil die finanziellen Mittel ihrer Mutter dafür nicht ausgereicht hätten. Von einer Freundin der Mutter wussten sie, dass die Universitäten in Deutschland kostenlos sind. Fatima hat sich gegen Deutschland gesträubt, schließlich aber eingelenkt. Auf die Frage der Forscherin, ob es keine Alternati37
Alle Zitate dieses Abschnitts sind dem Transkript des Forschungsgesprächs mit Fatima entnommen.
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ve gewesen sei, in Guinea selbst zu bleiben, antwortet Fatima eindeutig. Alle ihre Freunde seien auch weg gewesen und alleine habe sie nicht dableiben wollen. Außerdem wollte sie auch „ein bisschen Abenteuer in meinem Leben haben“ (S.5/6). Dies sei besonders schwer gewesen, weil Fatima ein Einzelkind ist. Ihre Eltern ließen sich scheiden, als Fatima fünf Jahre alt war, sie sei dann bei ihrer Mutter aufgewachsen. Drei Jahre lang hat sie bei der Großmutter in Faranah gelebt, während die Mutter noch einmal eine Fortbildung in Frankreich machte. Anschließend zog Fatima aber wieder zur Mutter nach Conakry, die dort als Büroangestellte in einem großen Büro gearbeitet und später auch wieder geheiratet hat. Zu ihrem Vater hatte sie einen guten Kontakt, einmal pro Woche haben sie sich gesehen. Er hat wieder geheiratet und noch zwei weitere Kinder bekommen. Als die Forscherin Näheres über die Mutter wissen möchte, wird Fatima einsilbig, wechselt das Thema und kommt auf ihre Schullaufbahn zu sprechen. Nach dem Gymnasium ging Fatima zunächst in den Senegal, um dort zu studieren. Obwohl sie sich im Senegal sehr wohl gefühlt habe, sei sie dort wieder weggegangen. In gewisser Weise sei dies auch eine Strafe für ihre Mutter gewesen, weil sie damit die Finanzierung des Auslandsstudiums von ihr forderte. Fatima schiebt die Schuld an der Trennung der Eltern der Mutter zu, sie habe sich daher immer an ihr rächen wollen, indem sie nur Dinge gemacht habe, die ihre Mutter ärgern konnten. Heute denkt sie anders darüber, es tue ihr leid, besonders seit ihr Vater im vergangenen Jahr gestorben ist. Seitdem versucht sie, ihr Leben in Ordnung zu bringen, „das war wirklich nicht . so doll in meinem Leben“ (S.7/23). Jetzt, glaubt Fatima, sei sie „auf dem richtigen Weg (lacht)“ (S.7/31). Als Fatima nach Deutschland kam, besuchte sie in Chemnitz einen Deutschkurs. Dort waren zahlreiche BildungsmigrantInnen, die wie sie aus Guinea kamen und mit denen sie ihre ganze Zeit verbracht habe, statt das Studienkolleg zu besuchen. Zwei Semester habe sie dadurch verloren. Dann ging sie nach Nürnberg, sei dort wieder fast ausschließlich mit guineischen und afrikanischen Freunden zusammen gewesen und habe ihr Studium vernachlässigt, da sie stets auf Partys unterwegs gewesen sei. „zwei Semester auch, zwei verlorene Semester (lacht) Ja und danach hab ich gesagt: das reicht jetzt. Ich bin hier für ein Ziel“ (S.9/31f). Daraufhin ging Fatima nach Siegen, wo sonst niemand aus Guinea lebt, der sie ablenken könnte. Jetzt konzentriere sie sich auf ihr Studium. Sie ist nun im fünften Semester, hat ihr Vordiplom und sucht gerade eine Stelle für ihr Vorpraktikum. Früher sei sie sehr rastlos gewesen, doch in den zwei Jahren in Siegen habe sie bewiesen, dass sie ihre Bedürfnisse zügeln könne. „manchmal muss man auf eh viele Dinge verzichten, wenn man . etwas erreichen möchte“ (S.11/43f). Sie habe ein Ziel vor Augen und dann gehe das
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auch. „Ich mache gar nichts, ich gehe an die Arbeit .. komme zurück . in die eh Schule nur wenn ich Aufgaben habe, mache ich. [Mhm] Das läuft!“ (S.12/2ff). Auf die Frage der Forscherin, ob Fatima Vorstellungen und Träume habe, was sie später einmal machen möchte, antwortet sie: „Mein Traum: erstmal hier mein Studium fer- eh fertig machen [Mhm] und zurück nach Guinea, da selbstständig machen“ (S.8/31ff). Sie hat auch schon konkrete Vorstellungen, möchte dort eine Werbeagentur gründen. Auf jeden Fall möchte Fatima eine Familie gründen: „das ist kein Traum, das ist eh, es muss so sein bei uns. Vielleicht hier ist es ein Traum, man sagt okay ich möchte gerne Familie gründen [Mhm] und so weiter. Aber bei uns muss man“ (S.12/16ff). Wenn man keine Familie habe, lebe man einsam. Fatima kann sich nicht vorstellen, allein zu leben, weil sie so erzogen wurde. Es gebe immer Leute, mit denen man sprechen könne, das vermisse sie hier sehr. Besonders seit sie in Siegen lebt, merkt sie dies, weil sie vorher ja immer die guineischen Freunde, hatte, die ein Ersatz für ihre Familie gewesen seien. Aber jetzt, besonders „am Wochenende habe ich wirklich Heimweh“ (S.13/18). Fatima hatte einen Freund, aber es habe nicht funktionieren können mit ihm, weil er Deutscher ist und sie ja nach Guinea zurück will. Darum konnte sie mit ihm keine Familie gründen, weil sie unterschiedliche Mentalitäten haben. Als Deutscher denke man zuerst an sich und die Beziehung. Fatima sieht aber eine Verpflichtung ihrer Familie gegenüber, die sie zuerst erfüllen müsse, bevor sie an ihre eigene Familie denke. Ihr Ex-Freund wollte sie aber unbedingt heiraten und Kinder haben, „deshalb, da konnte nicht funktionieren“ (S.14/48). Fatima kenne nur einen Fall, bei denen es gut klappe. Bei vielen Paaren funktioniere es aber nicht. Fatima will das nicht, weil sie eine Scheidung fürchtet. Daher müsse sie, bevor sie heiratet „muss ich tausendmal überlegen, er ist der Richtige (lacht)“ (S.15/43). Fände sie einen Mann, der mit ihr nach Guinea ginge, wäre ihr seine Herkunft egal. In Deutschland habe sie gute Männer kennen gelernt, ihr Problem sei aber, dass sie hier keinen finde, der mit ihr gehen würde. „Ich will unbedingt dorthin zurückkehren“ (S.24/31). Die Männer in Guinea hätten Angst vor ihr, weil sie denken, „das ist eine, die da studiert hat. Sie ist anders“ (S.24/43). Fatima selbst glaubt nicht, dass sie sich grundlegend verändert hat, dadurch dass sie in Deutschland studiert. Eine Lösung sieht sie darin, einen Mann aus Guinea zu finden, der wie sie hier studiert und mit dem sie dann nach Guinea zurückkehren kann. Sie weiß aber, dass auch das nicht ganz einfach ist und sagt dazu: „man . plant, Gott lehnt ab“ (S.16/26). Die Frage, ob Fatima religiös sei, bejaht sie. Eine weitere Frage, ob dies auf ihre Erziehung zurückzuführen sei, umgeht sie und erzählt: „Jetzt habe ich eh mit Beten angefangen, jetzt mache ich meine eh fünf beten pro Tag“ (S.16/50f). Das tue ihr wirklich gut, man müsse von etwas leben, „an etwas glauben“ (S.17/9). Fatima betont: „wenn man nicht an etwas glaubt, hat man
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keinen Mut mehr zu leben. Und eh es muss nur ein weniges Problem reinkommen und hat man keine Lust mehr zu leben“ (S.17/14ff). Seit Januar sei ihr Leben durcheinander und sie meint, dass sie „vielleicht nicht mehr existieren“ (S.17/21) würde, hätte sie nicht an Gott geglaubt. Der Frage, was im Januar passiert ist, weicht Fatima aus. Die Forscherin vermutet, dass ihre Krise im Zusammenhang mit dem Tod des Vaters steht, Fatima greift das Thema auf und erzählt, dass ihr Vater plötzlich gestorben ist, nachdem er einige Tage Kopfschmerzen hatte. Es hat sie sehr getroffen, besonders weil sie im Ausland war, als es passierte, und sie nur kurz nach Guinea fahren konnte, weil sie hier arbeiten musste. Sie habe danach nachts nicht mehr schlafen können, weil ihr vieles durch den Kopf gegangen sei: „das was ich, was ich mache oder was ich eh bin oder was ich jetzt tun würde oder was ich muss (atmet ein) du hast so viel Fragen und ohne Antwort das ist schlimm“ (S.19/36ff). Wenn es gar nicht mehr geht, ruft Fatima ihre Mutter an. Das koste zwar viel Geld, müsse aber sein. Sie habe immer mit ihrer Mutter gesprochen und insgesamt eine „offene Beziehung“ (S.20/4) zu ihren Eltern gehabt. Das sei in Guinea nicht selbstverständlich, viele Probleme kämen daher, dass man nicht miteinander spreche. Insgesamt habe sie eine „gute Kindheit gehabt“ (S.20/48). Die Mutter sei eine emanzipierte Frau, die für Fatima auch ein Vorbild darstelle, das zu erreichen für sie aber nicht ganz einfach sei. Die Mutter habe Fatima „ihr Bestes gegeben“ (S.20/36), Fatima war in der „besten Schule in Guinea“, hat „tolle Klamotten gehabt“ (S.15/37f) und „alles bekommen, was ich möchte“ (S.20/37). Ihr Problem sei aber gewesen, dass ihr immer etwas gefehlt habe, weil ihr Vater nicht dabei war. Fatima wollte sie darum stets wieder zusammenbringen. Die Eltern lernten sich in Frankreich kennen und kehrten dann gemeinsam nach Guinea zurück. Dort habe sich die Familie an der Lebensweise der beiden gestört, da es nicht gerne gesehen wurde, dass z. B. der Vater in der Küche für seine Frau kocht. „Ja, meine Tante hat immer gemeckert, hat gemeckert, hat gemeckert. Bis meine Mutter weggegangen ist. Sonst, sie haben sich immer geliebt“ (S.34/33f). Fatima sagt: „Bei uns ist das eh wirklich ein bisschen schwer“ (S.34/37f), besonders für Frauen, weil sie immer akzeptieren müssten, was der Mann sagt, er habe immer recht. Weil die Eltern anders lebten, hätten sie es sehr schwer gehabt. Fatima hat zwei Halbgeschwister, einen Bruder, der ist ungefähr so alt ist wie sie, und eine Schwester im Alter von zehn Jahren. Seit dem Tod des Vaters fühlt Fatima sich verpflichtet, sich um die Schwester zu kümmern. Sie zahlt für deren Schulausbildung, weil die Mutter des Mädchens nicht genug Geld dafür hat. Um ihre Mutter müsse sie sich nicht kümmern, denn sie verdiene genug Geld.
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Hinsichtlich ihrer Rückkehr nach Guinea in Anbetracht der politischen Situation Guineas hat Fatima eine klare Meinung: „wenn wir alle hier bleiben, wer sollte das da ändern?“ (S.21/36). Sie ist der Auffassung, dass man zurückgehen müsse, und kritisiert die Politiker, die in Europa leben und davon sprechen, wie sie Guinea helfen wollen. Sie kritisiert auch die Regierung, die viel Geld verdiene, aber nichts für die Bevölkerung tue, sondern nur in die eigene Tasche wirtschafte. Sie lerne hier viel von Deutschland und frage sich, warum sie hier bleiben solle. „Was ich gelernt habe, ich habe das für mein Land gelernt“ (S.22/29f). Erst einmal müsse man die Situation in Guinea so akzeptieren, wie sie ist. Veränderungen könne man nur etappenweise durchführen. Fatima erzählt, dass sie sich hier in einem Verein engagiert, der Patenschaften organisiert. Sie findet es wichtig, dass die Kinder eine Ausbildung bekommen, besonders auf dem Land sei eine Hilfe dringend notwendig. Bei genauerem Nachfragen der Forscherin wird jedoch deutlich, dass sie plant, sich zu engagieren, es bisher aber keine praktische Umsetzung dafür gibt. Dann berichtet Fatima, dass der Schwiegervater ihrer Freundin Arzt in Nordfrankreich ist und ihr im vergangenen Sommer viele ausrangierte Geräte und Medikamente angeboten habe, die sie nach Guinea schicken könne. Sie selbst habe nicht gewusst, wie sie das machen könne und darum Unterstützung bei ihren Freunden in Deutschland gesucht. Doch die antworteten ihr, sie wüssten auch nicht, wie sie das machen sollten, woraufhin Fatima sehr enttäuscht von ihren Freunden war. Bis heute habe sie keinen Weg gefunden, das Material nach Guinea zu transportieren. Als die Forscherin sagt, es gebe doch einige Guineer in Deutschland, die sich zu Hilfsorganisationen zusammengeschlossen haben und die genau so etwas machen, ist Fatima überrascht. Davon wisse sie nichts, sie habe sich ja früher nur für Partys interessiert und sonst nichts mitgekriegt. Seit Fatima in Siegen lebt, hat sich ihr Leben radikal geändert. Sie habe irgendwann erkannt, dass sie ihr Studium nie schaffen wird, wenn sie sich nicht von ihren guineischen Freunden räumlich trennt. Sie wolle ihre Chance in Deutschland nutzen. Heute interessiere sie sich nicht mehr sonderlich für Partys. Es sei ja doch immer das Gleiche. In Nürnberg war sie „wie die Mutter von allen [...] Bei mir war immer voll, und eh . ich habe immer geredet, nur geredet, nur Problem gelöst und ich selber hatte ich mein selber Problem, weil ich konnte nicht umgehen, weil ich eh ich unbedingt Leute helfen wollte“ (S.32/40ff). Jetzt sei das vorbei, in Siegen kenne sie „nur die Deutschen“ (S. 32/38) und habe ihre Ruhe. Sie möchte heute lieber „vernünftige“ (S.29/19) Dinge tun und sich über andere Sachen unterhalten. Sie bezeichnet sich als ernst. Wenn sie etwas nicht möchte, sage sie es und mache es nicht. Für eine Frau sei das bei ihnen schlecht angesehen, man sage von ihr, sie sei ein Dickkopf. Fatima findet das nicht, das sei eben ihre Persönlichkeit. Ihre Freunde hätten ihr auch nicht
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zugetraut, dass sie es in Siegen alleine schaffen würde, sie sei aber stolz auf diese Entwicklung: „zwei Jahre habe ich durchgemacht und eh mache ich weiter!“ (S.33/21). Wenn Fatima Probleme habe, gebe es nur einen in Deutschland, der ihr wirklich helfen könne: „Diallo in Chemnitz“ (34/2), sonst sagt sie aber nichts über ihn. Meistens ruft Fatima ihre Mutter an: „Wenn . alles leer ist, ich rufe sie an, das ist wie ich getankt habe. [Mhm] Ich bin voll wieder“ (S.34/11ff). Die Mutter gibt ihr klare Anweisungen: „Du musst so und so machen. Du musst es. ... Ja.“ (S.34/16f). Gegen Ende des Gesprächs kommt Fatima wieder auf ihren zukünftigen Partner zu sprechen und die Probleme, die sie in Guinea für sich sieht. Sie glaubt, dass sie dort schon einen Mann finden würde, sieht aber die Schwierigkeit darin, ob sie von ihrem Mann so akzeptiert würde, wie sie ist. Fatima kommt daraufhin auf ihren Ex-Freund zu sprechen, mit dem sie eineinhalb Jahre zusammen war und der „im Januar .. weggegangen“ (S.36/2f) ist. „Dieser Januar, das ist das war wirklich schwer“ (S.36/5). Der Freund sei wie ein Vater gewesen, auch weil er schon älter war, er war wie ein Freund, mit dem sie über alles reden konnte, und ein Berater. Er habe schon im Ausland gelebt und kenne die Afrikaner, hatte immer Beziehungen mit Afrikanerinnen. Fatima habe ihn wirklich geliebt, ihm wirklich vertraut und ihm alles erzählt. Er habe sich schließlich von ihr getrennt, weil sie ihn nicht heiraten wollte oder konnte. Früher sei sie in solchen Situationen immer durch ihre Freunde abgelenkt gewesen, aber nun lebe sie alleine. „Das tut immer noch weh, aber puh (leiser) muss man mit umgehen“ (S.37/4).
Bindungen vermeiden aus Angst vor Trennung Vor der nun folgenden Szene spricht Fatima über ihre Eltern, die nach ihrer Rückkehr aus Frankreich mit ihrer anderen Lebensweise von der Familie des Vaters nicht akzeptiert wurden und sich darum schließlich trennten. Insgesamt sei das ein Problem in Guinea, besonders für die Frauen, weil diese sich immer dem Mann unterordnen müssten. Fatima sagt, dass sie keine Schwierigkeit damit hätte, in Guinea einen Mann zu finden. Fatima:
M.G.: Fatima:
Aber ob dieser Mann mich verstehen kann und mich akzeptieren kann und mich akzeptieren wie ich bin. Das ist nicht eh .. leicht. Das wär nicht leicht. Mhm und ob der dann für dich in die Küche steht, in der Küche steht und für dich *kocht. *Das ist mir egal! Ich kann auch kochen, ich kann ga- alles für dich tun, aber Hauptsache dass du . dass ich weiß: mein Mann . ist da für mich.
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M.G.: Fatima: M.G.: Fatima: M.G.: Fatima: M.G.: Fatima: M.G.: Fatima: M.G.: Fatima: M.G.: Fatima: M.G.: Fatima: M.G.: Fatima: M.G.: Fatima:
M.G.: Fatima: M.G.: Fatima: M.G.: Fatima:
M.G.: Fatima: M.G.: Fatima: M.G.:
Aber in Guinea ist es anders . man sagt eh .. wie ich gesagt hab, erstmal das ist die Familie Mhm danach an sich selbst. Mhm und würdest du, würdest du dich schon nem Mann unterordnen wollen? (atmet aus) Wenn du jetzt einen . mit einem zusammen wärst, der das verlangt? Auf jeden Fall. Ja? Ja. Das wär kein Problem für dich? I- nee, das ist kein Thema für mich. Das ist kein Thema für mich, Hauptsache ich weiß, das ist mein Mann und der ist da für mich. Mhm, und der geht nicht mehr weg? Nee Das ist wichtig. Das ist sehr sehr wichtig. Erstmal muss ich das wissen. (atmet ein) .. Weil für meine Kinder, nee. Geschiedene Eltern möchte ich nicht. Mhm (verneinend) mhm. Vielleicht das ist mein Hauptproblem. Das ist wirklich ein Problem. Meinst du? Auf jeden Fall, weil ich gesagt habe, ich will wirklich nicht geschieden sein. Ich möchte das nicht. .. Mhm Ich möchte wirklich das nicht, und vielleicht davon hab ich Angst, vielleicht deshalb will ich wirklich nicht eh .. nicht soweit gehen. Weil ich wirklich Angst habe, Mhm diese Trennung, ich habe wirklich Angst von der Trennung. Mhm Das ist eh das tut mir immer weh, zum Beispiel egal mit wem ich bin. Mhm Wenn eine Beziehung geht und es .. es geht kaputt. Das tut mir immer weh, weil ... von der Kindheit bis jetzt hab ich immer Angst mit jemand zu trennen. Und das kommt immer selten. Leider ist es so, aber ist es so und .. Mhm (leise) Kann man gar nichts dafür Hast du denn auch eh Befürchtungen schon, wenn du mit jemandem ne Beziehung beginnst? Dass du denkst, oh je, hoffentlich geht das gut? Ja. Ja?
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Fatima:
Vielleicht deshalb klappt nie (lacht) Ja, vielleicht deshalb klappt nie. Weil ich diese Angst habe, ständig diese Angst. Mhm Und wenn man Angst hat, wird nie klappen. .. Aber es ist so.
M.G.: Fatima:
(Transkript, S. 35) Fatima stellt im ersten Satz dieser Szene in Frage, ob ein Mann aus Guinea sie verstehen kann und sie so akzeptieren würde, wie sie ist. Sie weiß, dass es nicht leicht ist, einen solchen Mann zu finden. Die Forscherin wendet ein: „Mhm und ob der dann für Dich in die Küche steht, in der Küche steht und für Dich kocht“. Damit nimmt sie Bezug auf das Beispiel von Fatimas Eltern, deren Familien es nicht akzeptiert hatten, dass der Vater im Haushalt tätig war. Fatima antwortet jedoch, dass sie selbst kochen könne, wesentlich für sie sei aber, „dass ich weiß: mein Mann . ist da für mich. Aber in Guinea ist es anders . man sagt eh .. wie ich gesagt hab, erstmal das ist die Familie [Mhm] danach an sich selbst“. Fatima ist es also egal, wer z. B. kocht, für sie ist es wichtiger, dass der Mann zu ihr steht. Sie sieht aber, dass dies in Guinea für die Männer sehr schwierig ist, da die Familie viel Einfluss darauf hat, wie Paare zusammenleben. Die Forscherin fragt genauer nach, ob sie sich einem Mann unterordnen wollte. Fatima atmet aus, die Antwort fällt ihr offenbar nicht leicht Als die Forscherin insistiert: „Wenn Du jetzt einen . mit einem zusammen wärst, der das verlangt?“, antwortet Fatima: „Auf jeden Fall“. Die Forscherin fragt noch einmal nach: „Ja?“ und Fatima bestätigt ihre Antwort mit „Ja“. Die Antwort scheint für die Forscherin überraschend, denn sie hakt abermals nach: „Das wär kein Problem für Dich?“. Damit nimmt sie Fatimas Antwort zwar auf, unterstellt ihr aber, dass sie sich aus einem Kompromiss heraus unterordnen würde, der ihr jedoch nicht leichtfiele. Fatima sagt: „I- nee, das ist kein Thema für mich. Das ist kein Thema für mich, Hauptsache ich weiß, das ist mein Mann und der ist da für mich“. Fatima sieht also ihr Hauptproblem darin, dass ihr zukünftiger Mann kompromisslos zu ihr steht. Dafür würde sie selbst Zugeständnisse machen, die für sie aber „kein Thema“ sind. Damit schiebt sie das von der Forscherin eingebrachte Thema der Hierarchie der Partner von sich und betont, wo ihr Thema liegt. Es ist für Fatima von großer Wichtigkeit, dass ihr Mann sie so akzeptiert, wie sie ist und sie nicht verlässt. Was sie mit „Erstmal“ meint, wird nicht ganz klar. Sie atmet hörbar ein, was darauf hindeutet, dass dieses Thema für sie nicht einfach ist. „Weil für meine Kinder, nee. Geschiedene Eltern möchte ich nicht“. Offenbar möchte Fatima ihren zukünftigen Kindern die eigene Erfahrung, ein Scheidungskind zu sein, ersparen, weil sie so sehr darunter gelitten hat. Damit transportiert sie ihre Erlebnisse, die sie als Kind hatte, in ihre zukünftige Partnerbeziehung. „Vielleicht das ist mein Hauptproblem. Das ist wirklich ein Problem“, nämlich ihre Befürchtung, dass ihr Mann nicht kompromisslos zu ihr steht und sich eventuell
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doch von ihr trennt. Auf die Nachfrage der Forscherin bekräftigt Fatima ein weiteres Mal ihre Aussage: „Auf jeden Fall, weil ich gesagt habe, ich will wirklich nicht geschieden sein. Ich möchte das nicht [Mhm] Ich möchte wirklich das nicht, und vielleicht davon hab ich Angst, vielleicht deshalb will ich wirklich nicht eh .. nicht soweit gehen“. Mit der mehrmaligen Wiederholung dessen, was Fatima nicht möchte, wird ihre Not sichtbar, in der sie steckt. Immer wieder muss sie betonen, was sie nicht möchte, gerade so, als ziehe ein Sog sie doch dahin, wovor sie sich versucht zu bewahren. Fatima sagt, dass sie Angst habe, geschieden zu werden, und deutet mit dem „vielleicht“ an, mit welcher Strategie sie sich zu schützen versucht, nämlich indem sie „nicht soweit“ geht. Damit meint sie vermutlich, dass sie in einer Beziehung nicht so weit geht, dass es zur Heirat kommt oder sie Kinder bekommt. Sie führt dies jedoch nicht näher aus. „Weil ich wirklich Angst habe [Mhm] diese Trennung, ich habe wirklich Angst vor der Trennung [Mhm] Das ist eh das tut mir immer weh, zum Beispiel egal mit wem ich bin“. Nun führt sie näher aus, wovor sie Angst hat, nämlich vor der Trennung als solcher. Diese tue ihr immer weh, unabhängig davon, von wem sie erfolgt. „Wenn eine Beziehung geht und es .. es geht kaputt. Das tut mir immer weh, weil ... von der Kindheit bis jetzt hab ich immer Angst mit jemand zu trennen“. Den Schmerz am Ende einer Beziehung kennt sie schon seit ihrer Kindheit, daher kommt ihre Angst. Fatima sagt hier: „mit jemand zu trennen“, statt sich von jemandem zu trennen. Auch auf der sprachlichen Ebene wird ihre Schwierigkeit deutlich, diese Trennung wirklich zu vollziehen, die sie am liebsten mit jemandem gemeinsam, also gar nicht machen möchte. „Und das kommt immer selten. Leider ist es so aber ist es so und .. [Mhm] (leise) Kann man gar nichts dafür“. Fatima sagt nicht genau, was immer selten kommt, zu vermuten ist, dass sie sich seltener trennt, weil sie sich auch seltener bindet. Sie bedauert dies, macht aber deutlich, dass es nun mal so sei und „man“ dafür nichts könne. Mit dieser Formulierung geht sie wieder ein Stück von sich weg und macht eine allgemeine Aussage: Wie man ist, kann man nicht beeinflussen. Fatima hat sich in diesen Zustand der Angst also längst gefügt. Die Forscherin fragt daraufhin, ob die Befürchtungen so weit gehen, dass eine Beziehung von vornherein davon beeinflusst ist. Fatima bestätigt dies und fährt fort: „Vielleicht deshalb klappt nie (lacht) Ja, vielleicht deshalb klappt nie. Weil ich diese Angst habe, ständig diese Angst“. Fatima stellt auch hier ihre Angst vor der Trennung in den Vordergrund, sie glaubt, dass die Beziehungen, die sie mit Männern eingeht, wegen dieser ständig vorhandenen Angst wieder auseinandergehen. Das Lachen während dieser Äußerung irritiert zunächst, tatsächlich spricht Fatima hier ja einThema an, über das zu sprechen ihr nicht leicht fällt. Mit dem Lachen versucht sie wohl, ein wenig Distanz zu schaffen, weil sie sonst vielleicht weinen müsste. Nach dem „Mhm“ der Forscherin fügt sie hinzu: „Und wenn man Angst hat,
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wird nie klappen. .. Aber es ist so“. Fatima hat sich offenbar schon viele Gedanken über diese Angst gemacht und ist der Meinung, dass sie darum „nie“ eine dauerhafte Beziehung eingehen wird. Sie akzeptiert diesen Zustand, indem sie sagt, „aber es ist so“. Sie spürt offenbar, dass sie wenig ausrichten kann gegen ihre Angst, die sie als übermächtig erlebt. Zusammenfassend lässt sich die Szene folgendermaßen verstehen: Fatima schildert hier ihre Schwierigkeiten, einen Mann zu finden, der sie trotz ihrer Angst vor Trennung akzeptiert. Ihr Dilemma besteht darin, dass sie aus Angst vor erneuter Trennung eine enge Bindung, die in Heirat und Familiengründung münden könnte, vermeidet. Gleichzeitig verspürt sie aber eine starke Sehnsucht nach einer solchen Bindung, die sie aber stets aus ihrer übergroßen Angst heraus selbst blockiert. So sieht sie sich als dauerhaft Ungebundene ihrer Angst verhaftet, ohne dass ein Ausweg aus diesem Dilemma in Sicht wäre.
Die Schluss-Szene Gegen Ende des Gesprächs, direkt im Anschluss an die Schlüsselszene erzählt Fatima, dass sich ihr Freund im Januar von ihr getrennt hat und ihr die Trennung sehr weg getan habe. Es entstehen mehrere Pausen. Als die Forscherin sieht, dass die Kassette des Aufnahmegerätes bald zu Ende geht, beschließt sie, das Gespräch allmählich zu beenden, möchte aber Fatima das Schlusswort vorbehalten. M.G.: Fatima: M.G.: Fatima:
M.G.: Fatima: M.G.: Fatima: M.G.:
Mhm mhm (17 Sec. Pause) Ja, gibt’s noch irgendwas, was du vielleicht noch sagen möchtest? Das musst du jetzt wissen (lacht) Ich hab jetzt so viele Fragen gestellt immer wieder, vielleicht hast du ja noch irgendwas, wo du denkst, das würd ich gern noch sagen? (5 Sec. Pause) Ph . ich bräuchte nur ... was will ich? . Etwas für mein Land tun. Sonst will ich gar nichts. Wenn ich diese Leute treffen könnte, dass jemand mir helfen könnte, etwas für dieses Land zu tun . (flüstert) ja das wär nett ... (uv) (lacht) (leise) sonst etwas zu sagen eh (normale Lautstärke) ich fühl mich hier wohl, aber richtig wohl, das ist eine schöne Stadt, du hast alles, was du brauchst. Mhm Das ist nicht groß . du hast die Wälder, du hast die Stadt. Du hast Feuerwehr (lacht) (lacht) Ja und ich komme wirklich klar mit den Leuten. Was kann man sich ja wünschen, mehr wünschen? Mhm
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Fatima: M.G.: Fatima: M.G.: Fatima:
Ich kenne fast jede hier, jeder kennt mich. Mhm Ja Schön Ja .. ich finde auch, deshalb ich kann mir . hier ich glaube ich habe mein Land mhm nicht mein Land richtig mein Land gefunden, aber wo ich wirklich . in Ruhe bleiben kann, habe ich gefunden. M.G.: Ein Ort? Fatima: Einen Ort gefunden. M.G.: Wo du dich wohlfühlst? Fatima: Ja M.G.: Mhm Fatima: Ich habe wirklich gefunden. .. Ja ... ich mache nicht so viel, aber egal. Ich gehe in die Schule .. sowieso habe ich nicht so viel Zeit für Spaß zu haben. Die Arbeit zurück zu Hause. Und das ist gut so. Und ich fühle mich dabei wohl (Bandende)
(Transkript, S. 37) Als die Forscherin Fatima fragt, ob es „noch irgendwas“ gebe, das sie „vielleicht noch sagen“ möchte erwidert Fatima, dass die Forscherin dies „jetzt wissen“ müsse und lacht. Damit macht sie deutlich, dass sie eine klare Aufforderung von der Forscherin verlangt, die doch wissen müsste, was sie noch wissen will. Die Forscherin verweist darauf, sie habe bereits „so viele Fragen gestellt, immer wieder“ und gibt an Fatima zurück, ob sie vielleicht „noch irgendwas“ hat, „wo du denkst, das würd ich gern noch sagen?“. Sie räumt Fatima damit ausdrücklich einen Raum ein, den diese eigenständig füllen kann, weil sie offenbar der Meinung ist, durch ihre vielen Fragen das Gespräch zu sehr bestimmt zu haben. Fatima antwortet nicht gleich, es entsteht eine Pause. Es fällt ihr offenbar nicht leicht, den Raum selbst zu füllen. Sie fragt sich aber dann selbst, was sie will. Dann gibt sie die Antwort: „Etwas für mein Land tun. Sonst will ich gar nichts. Wenn ich diese Leute treffen könnte, das jemand mir helfen könnte, etwas für dieses Land zu tun . (flüstert) ja das wär nett ...“. Sie sagt also abschließend, dass sie etwas für ihr Land tun möchte. Sie fände es „nett“, wenn sie die Leute treffen könnte, die ihr dabei behilflich sein können. Dieser Ausdruck irritiert, denn mit „nett“ bezeichnet man eine Begegnung, die freundlich oder liebenswürdig ist, nicht aber eine, in der es in erster Linie um eine konkrete inhaltliche Hilfe gehen soll. Fatima unterstreicht hier noch einmal ihr Bedürfnis, sich für ihr Land zu engagieren, macht aber auch deutlich, dass sie dazu nicht alleine in der Lage ist, sondern dass andere ihr dabei helfen müssten. Sie möchte daraus eine ‘nette’ Begegnung machen, von der sie selbst profitiert, die Hilfe für Guinea steht an nachrangiger Stelle. Es scheint ihr selbst klar, dass der Satz „das
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wär nett“ nicht so richtig zu dem vorher Gesagten passt, denn sie flüstert ihn, so als solle er auf dem Band nicht wirklich verständlich sein. Nach dieser Äußerung lacht sie und fährt leise fort: „sonst etwas zu sagen eh“. Fatima hat Schwierigkeiten, der Aufforderung der Forscherin Folge zu leisten und noch etwas zu sagen, sie fühlt sich jedoch dazu verpflichtet, sie sagt nicht einfach nein. Indem sie hier leise spricht, wird deutlich, dass ihr bewusst ist, auf Tonband aufgenommen zu werden, sie sucht dafür ein Thema. Dann hat sie offenbar etwas gefunden und spricht lauter weiter: „ich fühl mich hier wohl, aber richtig wohl, das ist eine schöne Stadt, du hast alles, was du brauchst [Mhm] Das ist nicht groß . du hast die Wälder, du hast die Stadt. Du hast Feuerwehr (lacht)“. Fatima begründet, warum sie sich hier wohl fühlt. Der Satz „Du hast die Feuerwehr“ und ihr anschließendes Lachen irritieren wieder, weil man sich fragt, wozu die Feuerwehr für Fatima wichtig ist. Normalerweise erwähnt man bei der Beschreibung des Ortes, an dem man lebt, nicht die Feuerwehr. Hat sie für Fatima eine besondere Relevanz? Möchte sie aus ihrem trostlosem Leben in Siegen gerettet werden? Oder hat die Feuerwehr sie schon einmal gerettet? Sie bemerkt offenbar die Irritation und versucht sie durch das Lachen aufzuheben. Die Forscherin lacht mit und Fatima fährt fort: „Ja und ich komme wirklich klar mit den Leuten. Was kann man sich ja wünschen, mehr wünschen? [Mhm] Ich kenne fast jede hier, jeder kennt mich“. Jetzt nimmt Fatima Bezug auf die Menschen, mit denen sie in der Stadt zusammenlebt. Sie kommt „klar mit den Leuten“, das heißt nicht, dass sie sich gut mit ihnen versteht, sondern eher, dass sie keine Schwierigkeiten mit ihnen hat. Die Stadt ist so klein und überschaubar, dass man sich kennt und, wie Fatimas Aussage zu interpretieren ist, sich gegenseitig in Ruhe lässt. Die Forscherin sagt ein bestätigendes „Mhm“ und Fatima bekräftigt ihre Aussage noch einmal, woraufhin die Forscherin sagt: „Schön“, was soviel heißt wie: schön, dass es dir hier gut geht. Fatima bestätigt dies mit „Ja .. ich finde auch“ und ergänzt : „deshalb ich kann mir . hier ich glaube ich habe mein Land mhm nicht mein Land richtig mein Land gefunden, aber wo ich wirklich . in Ruhe bleiben kann, habe ich gefunden“. Fatima beginnt den Satz erst, bricht ihn ab und sagt dann, dass sie glaube, ihr Land gefunden zu haben. Der Begriff „Land“ trifft aber nicht ganz das, was sie ausdrücken möchte, das merkt sie auch, ohne jedoch ein passendes anderes Wort zu finden, und sagt dann, dass sie hier „in Ruhe bleiben kann“. Dies ist die Ergänzung zu ihrer Aussage, dass sie in Siegen ihre Ruhe hat und die Stadt darum sehr schätzt. Die Forscherin versucht dann den fehlenden Begriff zu finden und fragt: „Ein Ort?“, woraufhin Fatima ergänzt: „Einen Ort gefunden“. Damit fügt sie den Begriff der Forscherin in ihren vorherigen Satz ein. Die Forscherin hakt noch mal nach: „Wo Du Dich wohlfühlst?“, was Fatima mit bestätigt. Nachdem die Forscherin mit einem „Mhm“ signalisiert, dass sie Fatima verstanden hat, fühlt Fatima sich
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veranlasst, ihre Aussage weiter zu bekräftigen und fügt nun auch ‘negative’ Aspekte ein, nämlich: „ich mache nicht so viel, aber egal“ und „sowieso habe ich nicht so viel Zeit für Spaß zu haben“. Fatima versucht dem Leben in Siegen so viel Gutes wie möglich abzugewinnen. Dem wenig spaßvollen Leben in Siegen gewinnt sie die positive Seite ab, dass sie ihre Arbeit macht, in die Schule geht und dabei sowieso kaum Zeit für „Spaß“ hat. Das mehrmalige Wiederholen dessen, dass es Fatima in Siegen gut geht, hört sich wie eine Beschwörung an, als sollte die Aussage durch die Wiederholungen endlich wahr werden. Die Schluss-Szene lässt sich folgendermaßen verstehen: Fatima hat – wie in der Eingangsszene auch – Schwierigkeiten, darüber zu sprechen, was ihr selbst wichtig ist. Sie braucht eine Orientierung, was sie machen oder sagen soll. Gleichzeitig fühlt sie sich aber verpflichtet, der Aufforderung der Forscherin, noch etwas zu sagen, zu folgen, und sucht nach einem Thema. Ihre AbschlussStatements über ihr Bedürfnis, Guinea zu helfen, und über ihr Leben in Siegen wirken wie ein Tribut an die Forscherin, die dadurch einen guten Eindruck von ihr bekommen soll, den sich Fatima aber zäh abringt. Sie malt darin ein Bild von sich, das inhaltlich und sprachlich sehr brüchig ist, wenig authentisch wirkt und das sie selbst gleichzeitig wieder konterkariert. Damit wird die Diskrepanz zwischen Fatimas Anspruch an ihr Leben und seinem tatsächlichen Verlauf deutlich.
Ausgestaltung der Forschungssituation Fatima empfängt die Forscherin sehr freundlich, herzlich und neugierig. Gleich zu Beginn zeigt sie ihre Aufregung wegen des Gesprächs und möchte wissen, was genau die Forscherin von ihr will. Während des Gesprächs bemüht Fatima sich sehr, dem gerecht zu werden. Sie lacht sehr viel, auch an Stellen, an denen es nicht passt. Einmal weint sie kurz, unterdrückt es aber schnell wieder. Die Forscherin notiert dazu in ihrem Forschungstagebuch: „Ich hatte den Eindruck, dass das Lachen oft ein Weinen unterdrücken sollte“. Fatima erzählt nicht aus eigenem Antrieb aus ihrem Leben, sondern muss immer wieder durch Fragen angeregt werden. Das führt dazu, dass das Gespräch stark durch die Vorgaben der Forscherin bestimmt wird. Nach dem aufgezeichneten Gespräch möchte Fatima, dass die Forscherin mit ihr Tee trinkt, sie hat dafür Kuchen vorbereitet. Dabei führen sie noch ein sehr angeregtes Gespräch über Fatimas Leben, in dem Fatima offener persönliche Erlebnisse erzählt. Sie berichtet beispielsweise, dass ihre Mutter es nie gerne gesehen hat, wenn sie in die Disco gegangen ist. Da habe es ihr besonderen Spaß gemacht. Jetzt sei es ja egal, sie könne machen, was sie wolle, es merke ja niemand, der Reiz sei weg. Lange erzählt sie von
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ihrer Position unter den Guineern in Deutschland. Sie gelte bei ihnen als verrückt, weil sie sagt, was sie denkt, und jetzt in Siegen ihr Leben allein lebt. Fatima meint, die anderen würden sie nicht wirklich kennen und ihr vorwerfen, jetzt so emanzipiert zu reden, weil sie in Deutschland ist, wo das möglich sei. Die wüssten aber nicht, dass sie auch in Guinea bereits so war und immer gesagt habe, was sie dachte. So sei sie erzogen worden. Viele der anderen – besonders aber die jungen Männer – würden hier auf traditionellen Einstellungen bestehen, die die Leute in Guinea selbst gar nicht so eng sähen. Sie verstehe nicht, warum das so sei. Fatima hätte gerne einen Freund, der aus Guinea kommt. Das sei aber nicht so einfach, denn die guineischen Männer fänden es nach wie vor komisch, dass sie als Frau mitrede, z. B. über Politik. Fatima erzählt auch, dass sie sich im Senegal sehr wohl gefühlt habe. Heute sei sie der Meinung, dass sie dort hätte bleiben sollen. Der Schritt nach Deutschland sei „ein Schritt zu weit“ gewesen. Sie fühle sich den Anforderungen hier nicht gewachsen. Wie beim ersten Kontakt am Telefon ist Fatima auch in der persönlichen Begegnung herzlich und freundlich. Die Forscherin ist fasziniert von Fatima und lässt sich in ihren Bann ziehen. Sie protokolliert im Anschluss: „Ich glaubte ihr das Bild von der unabhängigen, durchsetzungsfähigen jungen Frau. Daher wurde ich immer stutzig, wenn dieses Bild konterkariert wurde von ihren Erzählinhalten“38. Fatima macht stets absolute Behauptungen über ihr Leben und besteht auch auf diesen. An späterer Stelle werden diese Absolutheiten jedoch wieder ins Gegenteil verkehrt, was die Forscherin im Laufe des Zusammenseins mit Fatima völlig verwirrt. Zum Beispiel sagt sie einerseits, dass sie sich in Siegen so wohl fühle, dass sie hier nicht mehr weggehe. Gleichzeitig stellt sie aber ihren Wunsch, nach Guinea zurückzukehren, ebenso absolut dar. Als sie nach dem aufgezeichneten Gespräch zu Tee und Kuchen übergehen, denkt die Forscherin: „Jetzt werde ich ja sehen, ob es stimmt, was sie mir erzählt hat“39. Aber auch hier kommt sie der "Wahrheit" nicht näher, weil beide Positionen für Fatima Gültigkeit haben. Als die Forscherin auf die Widersprüche in Fatimas Erzählung konkret zu sprechen kommt, antwortet sie: „Das ganze Leben ist paradox“40. Sie erzählt alles mit einer gespielten Leichtigkeit, so dass es der Forscherin Mühe macht zu erkennen, wer Fatima wirklich ist. Dahinter ist aber auch ihre Traurigkeit zu spüren, die sie mühsam zu unterdrücken versucht. Die Forscherin hat das Gefühl, sie nicht greifen zu können. Die Zeit vergeht im Empfinden der Forscherin wie im Fluge. Schließlich verabschiedet sie sich, um den Zug zurück nach Frankfurt zu erreichen. Sie notiert dazu im Gesprächsprotokoll: „Wahrscheinlich hätte ich ohne die feste Abfahrtszeit schwer ein Ende 38 39 40
Zitat aus dem Gesprächsprotokoll, S. 3. Zitat aus dem Gesprächsprotokoll, S. 1. Ebd.
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gefunden“41. Anschließend fühlt sie sich müde und erschöpft und sehnt sich nach Ruhe.
Fazit Fatima wächst als Einzelkind bei ihrer emanzipierten Mutter auf, die ihr Leben eigenverantwortlich und unabhängig von einem Mann gestaltet. Sie pflegt ein offenes und vertrauensvolles Verhältnis zu ihrer Tochter und sieht die Selbstbestimmtheit als selbstverständlichen Baustein der Erziehung. Trotz des Kontaktes zum Vater und seiner neuen Familie kann Fatima die Trennung von ihm nicht verwinden. Sie spürt stets das Bedürfnis nach Geborgenheit und Sicherheit in der Familie, das ihr die Mutter mit ihrer materiell verwöhnenden Fürsorge nicht genügend bieten kann. Durch die erneute Trennung von der Mutter und Fatimas Aufenthalt bei der Großmutter in einer anderen Stadt wird dieses Bedürfnis eher noch verstärkt. Fatimas Adoleszenz ist somit weniger von Ablösetendenzen geprägt als von dem unerfüllten Wunsch nach Bindung. Die äußerlich gewährten Freiheiten seitens der Mutter und die damit verbundenen Autonomieforderungen stellen für Fatima aufgrund der fehlenden emotionalen Rückbindung eine Überforderung dar. Ihre adoleszenten Erprobungen und Auflehnungen sind daher immer von dem Bemühen um emotionale Zuwendung angetrieben. Die emanzipierte und durchsetzungsfähige Mutter stellt für Fatima zunächst ein unerreichbares Vorbild dar, weil sie den Preis dafür, nämlich alleine, ohne Partner zu leben, als zu hoch einschätzt. Fatimas Wunsch, im teuren Kanada zu studieren, entspringt nicht in erster Linie ihren adoleszenten Ablösewünschen, sondern ist eher Ausdruck ihres konflikthaften Verhältnisses zur Mutter. In Deutschland taucht Fatima in eine Gruppe guineischer Jugendlicher ein, in deren Verbund sie ihren inneren und äußeren Fremdheitsgefühlen in der neuen Umgebung zunächst begegnen kann. Fern von der Aufsicht der Mutter und weniger gesellschaftlichen Kontrollinstanzen ausgesetzt, lebt Fatima ihre adoleszenten Strebungen aus und probiert im Kreise ihrer Landsleute neue Positionen als Frau und Freundin aus. Die enge Anbindung an diese Gruppe bringt zugleich eine Vernachlässigung ihres Studiums mit sich. In ihrem guineischen Freundeskreis fällt sie mit ihrem selbstbewussten und emanzipierten Lebensentwurf auf. Als sie darüber jedoch in Konflikte mit der Freundesgruppe gerät, besinnt Fatima sich auf ihr eigentliches Migrationsziel und entscheidet sich zu einer radikalen Veränderung ihres bisherigen Lebens. Mit dem Studienort wechselt sie auch ihr soziales Bezugsfeld, indem sie sich von ihren afrikanischen 41
Zitat aus dem Gesprächsprotokoll, S. 3.
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Freunden abwendet und gezielt versucht, sich in Siegen die deutsche Lebensweise anzueignen. Durch ihre Aufgeschlossenheit und ihr Bestreben, Beziehungen zu knüpfen, findet sie schnell zahlreiche Kontakte in der fremden Stadt und setzt ihr Studium nun erfolgreich fort. Fatima erweitert damit ihren adoleszenten Entwicklungsspielraum, indem sie sich neuen Erfahrungen aussetzt. Die fehlende emotionale Rückbindung, die mit der radikalen äußeren Trennung von ihren guineischen Freunden auch verbunden ist, versucht Fatima zu ersetzen, indem sie eine Liebesbeziehung zu einem deutschen Mann eingeht. Mit ihm kann sie zunächst ihr Bedürfnis nach Geborgenheit und emotionaler Zuwendung ausleben und sich zugleich noch mehr in der deutschen Kultur verankern. Die Forderungen ihres Freundes nach Familiengründung überfordern Fatima jedoch, woran die Beziehung schließlich scheitert. Sie ist noch zu sehr im Konflikt mit ihrer Herkunftsfamilie verhaftet, als dass sie selbst eine Familie gründen könnte. Der Tod ihres Vaters und einige Zeit später die Trennung des Freundes verstärken Fatimas Verlassenheitsängste und stürzen sie in eine schwere Identitätskrise, aus der sie nur schwer herausfindet. Sie sucht Halt in äußeren Stützen, beispielsweise in der Hinwendung zur Religion sowie durch die Intensivierung des Kontaktes zur Mutter, bei der sie Handlungsanleitung in allen Fragen des Lebens sucht. Fatima ist durch die Migrationssituation insgesamt überfordert, weil sie in den stärker auf Individualisierung ausgerichteten Beziehungen zu Deutschen eine Wiederbelebung ihrer unerfüllten Bindungswünsche erfährt. Hinzu kommen die Ausgrenzungstendenzen, die sie aufgrund ihrer Hautfarbe seitens der Deutschen alltäglich erlebt und die ihre Verschmelzungstendenzen konterkarieren. Die Migration potenziert somit ihre adoleszenten Fremdheits- und Verlusterlebnisse, zu deren Bearbeitung sie den Rückhalt sicherer Beziehungen benötigt. Fatimas adoleszente Auseinandersetzung kreist immer wieder um die Frage Trennung oder Bindung, aus deren Ambivalenz sie sich nicht lösen kann. Weil ihr Bedürfnis nach emotionaler Zuwendung und verlässlichen Beziehungen innerhalb der Familie als Kind nicht ausreichend befriedigt wurde und von ihr in der bisherigen Adoleszenzentwicklung nicht genügend bearbeitet werden konnte, ist ihr vordergründiges Bestreben darauf gerichtet, diesen Mangel auszugleichen. Anhand ihres Weiblichkeitsentwurfs wird die Ambivalenz zwischen Autonomie und Bindung sichtbar. Fatimas Hin- und Hergerissenheit zwischen Anpassung an einen Mann und Durchsetzung ihrer Autonomieansprüche führen zu zahlreichen Konflikten, die sie nicht lösen kann. Dies wird besonders deutlich in ihrer aktuellen Auseinandersetzung, wo und mit welchem Mann sie später leben möchte. Fatima sieht sich dem Dilemma gegenüber, dass sie für guineische Männer zu emanzipiert und selbstbewusst ist und sich nicht ohne Weiteres in enge Verhaltensmuster einpassen lässt. Die deutschen Männer sind für
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Fatima wiederum zu individualistisch und berücksichtigen ihren Wunsch nach enger Verbundenheit zu wenig. Eng verknüpft mit der Frage, welcher Mann zu ihr passt, ist auch die Frage, wo sie leben möchte. Fatima versucht ihre Ambivalenz aufzulösen, indem sie sich klar für die Rückkehr nach Guinea entscheidet, weil sie glaubt, dort ihre Bindungsbedürfnisse eher befriedigen zu können. Das bedeutet zugleich, dass sie einen guineische Mann finden muss, der zu ihr passt und der sie in ihrer Autonomie achtet. Aufgrund der fehlenden adoleszenten Bearbeitung ihrer inneren Konflikte scheint sie somit eher das Dilemma der Mutter zu wiederholen, die schließlich alleine lebte. Die Migration verdoppelt somit Fatimas Konflikt um Autonomie und Bindung, aus dessen Ambivalenz sie sich nicht befreien kann, was zur Aufspaltung der verschiedenen Positionen führt. Es gibt für sie nur ein Entweder – Oder: Partys oder Studium, Guinea oder Deutschland, totale Bindung oder Autonomie. Die fehlende adoleszente Auseinandersetzung mit ihren frühen Erfahrungen verhindert, die Integration der gegensätzlichen Pole in ihren Lebensentwurf. Fatimas Polarisierungstendenzen führen während des Forschungsgesprächs zu dem Eindruck, sie spiele verschiedene Rollen, die sie nicht vereinen kann. Daraus resultieren auch ihre Schwierigkeiten am Anfang des Gesprächs, etwas aus ihrer "Geschichte" zu erzählen. Hinter der Fassade der selbstbewussten, emanzipierten jungen Frau, die weiß, was sie will, verbirgt sich der unerfüllte Wunsch nach emotionaler Nähe. Fatimas offene und direkte Haltung ist immer auch mit der Forderung nach unbegrenzter Zuwendung verbunden. Dies wird in der Beziehungsaufnahme zur Forscherin deutlich, indem Fatima sie bereits am Telefon einlädt, bei ihr zu übernachten, und sie nach Beendigung des offiziellen Forschungsgesprächs noch zu einer Fortsetzung des Gesprächs bei Tee und Kuchen verpflichtet. Fatimas Adoleszenz war zunächst geprägt von den unbewältigten Konflikten aus der Kindheit, die nicht befriedigend bearbeitet werden konnten. Die Identifikation mit der relativ selbstständigen und durchsetzungsfähigen Mutter sowie deren Forderungen nach Autonomie ermöglichen Fatima zwar einerseits die Ausbildung innerer Ressourcen, mit denen sie konflikthaften Situationen begegnen kann. Ihr adoleszenter Möglichkeitsraum war jedoch dahingehend eingeschränkt, dass eine Auseinandersetzung mit der Mutter hinsichtlich Fatimas Bindungsdefiziten nicht erfolgen konnte. Die mit der Migration verbundene Trennungserfahrung verstärkt Fatimas Bindungsbedürfnis und verhindert damit zusätzlich eine innere Distanznahme und adoleszente Auseinandersetzung mit der eigenen Gewordenheit. Äußerlich kann Fatima sich die fremde Lebensweise weitgehend aneignen und sich in Deutschland verankern. Innerlich bleibt sie jedoch in ihren unbewältigten Konflikten gefangen, was zu einer Polarisierung ihrer Lebensentwürfe führt. Fatima kann sich den durch die Migration erweiter-
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ten adoleszenten Entwicklungsspielraum somit nur begrenzt aneignen. Die Migrationssituation erschwert eine Umgestaltung ihrer frühen Erfahrungen, da Fatima die hiesige Gesellschaft als zu individualistisch empfindet, was ihre Sehnsucht nach Gemeinschaft eher verstärkt als abschwächt. Fatima kann innere Ressourcen mobilisieren, um die Migrationssituation äußerlich gut zu bewältigen. Auch ist sie in der Lage, sich in Krisensituationen Hilfestellung von außen zu holen. Sie reflektiert ihre Position hinsichtlich ihrer Herkunftsfamilie und -kultur sowie innerhalb der deutschen Gesellschaft rational und differenziert und wägt genau ab, wie und wo sie leben möchte. Fatima bleibt jedoch in ihrem Dilemma stecken, dass sie – egal wo sie sich verortet – alleine bleibt ohne die dauerhafte Bindung an einen Partner bzw. an eine Familie oder Gemeinschaft, weil ihre übergroße Angst vor erneuter Trennung jede Bindung zerstört.
4.2.4 Oumar Bah – Der Rationalist Oumar Bah ist neunundzwanzig Jahre alt und lebt seit sechs Jahren in Deutschland. Er ist das mittlere von insgesamt fünf Kindern seiner Eltern. Der Vater war früher Polizist und betreibt heute eine Farm in Boffa, einer Kleinstadt in der Küstenregion. Die Mutter ist Krankenschwester. Beide Eltern waren früher politisch aktiv, wurden deshalb verfolgt und haben sich heute aus dem politischen Leben zurückgezogen. Oumars älterer Bruder lebt in Guinea, seine ältere Schwester in der Elfenbeinküste. Einer seiner jüngeren Brüder studiert in Frankreich und der jüngste geht in Guinea noch zur Schule. Oumar lebt in Hamburg und studiert Betriebswirtschaft.
Kontaktaufnahme Der Kontakt zu Oumar kam über Kadia zustande, einer anderen Forschungsteilnehmerin. Am Telefon wirkt Oumar sehr nett und verbindlich, die Terminvereinbarung ist unkompliziert. Die Verabredung wird für einen Sonntagmittag im Studentenwohnheim in Hamburg getroffen, wo Oumar wohnt. Bei ihrer Ankunft nimmt Oumar die Forscherin auf dem Flur des Studentenwohnheims in Empfang und begrüßt sie freundlich. Er ist ein gut aussehender Mann von großer, schmaler Statur und wirkt sehr gepflegt. Sie gehen in einen Aufenthaltsraum, in dem Sofas, ein Tisch und ein Fernseher stehen. Oumar erzählt, er habe den Aufenthaltsraum mit einigen anderen StudentInnen selbst hergerichtet. Sein Zimmer sei sehr eng, daher könne das Gespräch hier stattfinden. Sie setzen sich
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auf zwei Sofas einander gegenüber. Während die Forscherin das Aufnahmegerät aufbaut, fragt sie ihn, ob er noch Fragen zum Ablauf des Gesprächs habe. Oumar möchte wissen, wieso sie über dieses Thema schreibt. Daraufhin erzählt die Forscherin von ihrer Beziehung zu Guinea und über den Verein, in dem sie aktiv ist. Oumar sagt, dass er das bereits wisse und auch schon eine Veranstaltung des Vereins besucht habe. Nachdem die Forscherin einige Erläuterungen zur Methode gegeben und das Thema umrissen hat, schaltet sie das Band ein. Oumar hat eine Sprachstörung, er stottert zeitweise, daher schreitet das Gespräch sehr langsam voran und vieles bleibt unverständlich42.
Initialszene M.G: Oumar:
M.G: Oumar:
M.G: Oumar:
M.G: Oumar:
M.G:
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... wie es dazu gekommen ist, dass du nach Deutschland gekommen bist. Ja (atmet ein) eh nach meinem . Abitur in eh Guinea hab ich ich hatte also einfach die Traum nach eh Frankreich zu gehen (uv) eh und eh vielleicht mal nach eh Amerika auch. Aber in Amerika ich habe gehört, dass dort also das eh S-tudium sehr teuer war Mhm und meine Freunde, die dort schon w-aren, haben mir also gesagt, das ist unmöglich, da zu studieren und ich wollte eigentlich also (atmet tief ein) a-a-aber studieren Mhm und ich hab mich eh überlegt vielleicht meine (uv) nach Frankreich auch Leben vielleicht auch ein bisschen . besser oder so was aber .. schon ich kannte schon die .. Sprache schon und ich w-wollte eigentlich unbedingt etwas (atmet ein) anderes also l-lernen, Englisch oder Deutsch oder so was. Mhm Und das hat (uv) das war also (uv) ich h-ab mich f-ür D-Deutschland einfach so entschi-ieden, das war ei-gentlich für die Sprache erstmal und dann ich hab noch ein also ab und z-u mal mit meinem Vater über Deutschland auch eh gesprochen, der hat mir immer gesagt, dass die berühmte Philosophen, diese Sch-schri-ftsteller aus Deutschland herkamen Mhm
Das Stottern wird in der Transkription mit Bindestrichen kenntlich gemacht (z. B. a-a-lso). Wenn er ein Wort nicht herausbringt, gelingt es ihm oft über das Wort „aber“, wieder in Fluss zu kommen. Das heißt, nicht jedes „aber“ wird von Oumar in seiner eigentlichen Bedeutung verwendet.
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Oumar:
163 das war ein Kultur also ein Kulturland und so was und das-swegen ich hab mich eh entschieden nach D-Deutschland zu kommen also ja.
(Transkript S. 1) Die erste Äußerung der Forscherin beginnt mitten im Satz, es gibt ein Davor, das unbekannt bleibt. „wie es dazu gekommen ist, daß du nach Deutschland gekommen bist“. Es kann eine Aufforderung zur Erzählung oder eine Frage sein, die Oumar beantworten soll. Die Betonung des „gekommen“ weist auf Umstände hin, die zusammengekommen sind und dazu geführt haben, dass Oumar nach Deutschland kam, und die er erzählen soll. Es scheint nicht normal zu sein, dass Oumar in Deutschland ist. Oumar antwortet mit „Ja“ und gibt damit sein Einverständnis, auf die Frage oder Aufforderung zu antworten, das darauf folgende Luftholen deutet darauf hin, dass es ihm nicht ganz leicht fällt anzufangen. Er beginnt dann „eh nach meinem . Abitur in eh Guinea hab ich“. Damit stellt Oumar sich als jemand vor, der das Abitur abgeschlossen hat und der aus Guinea kommt. Dann bricht er zunächst den Satz ab und geht weiter zurück in die Vergangenheit: „ich hatte also einfach die Traum nach eh Frankreich zu gehen eh und eh vielleicht mal nach eh Amerika auch“. Oumars ursprünglicher Traum war es also, nach Frankreich zu gehen. Die Formulierung „einfach die Traum“ hat etwas Leichtes, er hat es einfach geträumt. Im nächsten Teil des Satzes erweitert er seinen Traum einerseits, er träumte, vielleicht sogar bis Amerika zu gehen; er schränkt diesen Traum jedoch gleichzeitig durch das „vielleicht“ auch wieder ein. Da Oumar heute in Deutschland ist, kann man vermuten, dass die Träume nicht in Erfüllung gegangen sind. „Aber in Amerika ich habe gehört, dass dort also das eh S-tudium sehr teuer war“. Dieser Satz macht deutlich, warum Oumar nicht nach Amerika gegangen ist: Aus finanziellen Gründen konnte sein Traum nicht verwirklicht werden. Diese Aussage wird noch verstärkt, indem Oumar das „sehr“ vor teuer besonders betont. „und meine Freunde, die dort schon w-aren, haben mir also gesagt, das ist unmöglich, da zu studieren und ich wollte eigentlich also (atmet tief ein) a-a-aber studieren.“ Nicht nur allgemein hat er davon gehört, sondern Freunde von ihm, die bereits nach Amerika gegangen waren, berichteten von den hohen Kosten dort. Oumars Priorität liegt im Studium, dafür hat er seinen Traum von Amerika aufgegeben. „Und ich hab mich eh überlegt vielleicht meine (uv) nach Frankreich auch Leben vielleicht auch ein bisschen besser oder so was aber ..“. Dieser Satz irritiert durch seine sprachliche Inkonsistenz. Oumar kommt hier anscheinend auf den zweiten Traum, nach Frankreich zu gehen, zu sprechen. Er hat sich etwas überlegt, was das ist, bleibt unklar, weil ein Wort unverständlich und der Satz auch grammatikalisch nicht stimmig ist. Der letzte Teil des Satzes „auch Leben vielleicht auch ein bisschen besser oder so was“ lässt darauf schließen, dass er in
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Frankreich eine bessere Situation erwartete, als dies in Amerika der Fall gewesen wäre. Ob sich das „Leben“ nur auf die finanzielle Situation oder das Leben insgesamt bezieht, kann aus dem Satz nicht geschlossen werden. Oumar selbst weitet seine Aussage mit „besser oder so was“ selbst aus, ohne sie jedoch auszuführen. Er relativiert die Aussage dann mit dem „aber“ und bricht den Satz danach ab. Oumar scheint hier einen für ihn heiklen Punkt anzusprechen, da er sich sprachlich verheddert und undeutlich bleibt, was er sich eigentlich überlegt hatte. Nach einer kurzen Pause im Satz fährt er fort: „schon ich kannte schon die .. Sprache schon und ich w-wollte eigentlich unbedingt etwas (atmet ein) anderes also l-lernen, Englisch oder Deutsch oder so was.“ Oumar relativiert die vorhergehende undeutlich gebliebene Aussage dadurch, dass er ja für Frankreich die Sprache bereits beherrschte, eigentlich jedoch unbedingt noch eine andere Sprache als Französisch lernen wollte. Dass er im Satz deutlich Luft holt, bevor er sagt, dass er „eigentlich unbedingt“ eine andere Sprache lernen wollte, deutet darauf hin, dass ihm diese Aussage nicht ganz leicht fällt. Hier entsteht die Frage, ob der Wunsch wirklich so dringlich war oder warum es ihm so schwer fällt, dies zu sagen. Oumar wollte also einerseits unbedingt studieren, in Amerika ist dies aber aus finanziellen Gründen nicht möglich. Andererseits wollte er eine andere Sprache lernen, wie Englisch oder Deutsch, daher kam auch Frankreich nicht in Frage. Aufgrund des irritierenden Satzes, dessen Inhalt verschleiert ist, bleibt unklar, was mit Frankreich noch war. „Und das hat (uv) das war also (uv) ich h-ab mich f-ür D-Deutschland einfach so entschi-ieden, das war ei-gentlich für die Sprache erstmal“. Oumar beschließt hier zunächst seine vorhergehenden Ausführungen, indem er sagt „und das hat (uv) das war also“, das sich wie eine Zusammenfassung des Bisherigen anhört. Irritierend ist jedoch, dass er zweimal ansetzt und sich so undeutlich ausdrückt, dass zwei Wörter unverständlich bleiben. Es entsteht der Eindruck, als nehme er Anlauf und wisse nicht recht, wie er sich ausdrücken soll. Dann sagt er, er habe sich einfach so für Deutschland entschieden. Nach den vorherigen Ausführungen war deutlich geworden, dass die Entscheidung für Deutschland gerade nicht „einfach so“ gekommen ist, sondern dass es ein wohlüberlegtes Abwägen war, das ihn erst an dritter Stelle auf Deutschland brachte. An dem darauf folggende Satz „das war ei-eigentlich für die Sprache erstmal“ irritiert das „erstmal“. Die Kernaussage der gesamten Vorrede wird damit wieder relativiert, denn aus dem „eigentlich“ wird ein „erstmal“, worauf ein "dann" folgen müsste, der eigentliche Grund wird damit als einer von mehreren relativiert. Man ist nun gespannt, was es noch für Gründe gibt, aus denen Oumar sich für Deutschland entschieden hat. „und dann ich hab noch ein also ab und z-u mal mit meinem Vater über Deutschland auch eh gesprochen, der hat mir immer gesagt, dass die berühmte Philosophen, diese Sch-schri-ftsteller aus Deutsch-
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land herkamen“. Oumars Vater hat ihm das Bild von Deutschland als dem Land der Dichter und Denker vermittelt. Das hört sich an, als habe der Vater für Deutschland geworben und Oumar die Vorzüge angepriesen. „das war ein Kultur also ein Kulturland und so was und das-swegen ich hab mich eh entschieden nach D-Deutschland zu kommen also ja.“ Oumar bekräftigt hier noch mal seine Entscheidung für Deutschland als Kulturland. Irritierend dabei ist, dass Oumar sagt, es „war“ ein Kulturland. Dies könnte einerseits so gemeint sein, dass heute keine bedeutenden Persönlichkeiten mehr aus Deutschland kommen, das Land aber aufgrund seiner Vergangenheit für ihn interessant ist. Andererseits könnte Oumar seine Meinung von damals geändert haben und es heute, da er es kennen gelernt hat, nicht mehr als Kulturland ansehen. Oumar schließt seinen Satz dann ab mit einer Bekräftigung seiner Aussage: „und das-swegen ich hab mich eh entschieden nach D-Deutschland zu kommen also ja.“ Die doppelte Bekräftigung am Schluss mit dem „also ja“ hört sich an, als sage Oumar dies zu sich selbst. Nach einigen Umwegen der Begründung für sein Kommen nach Deutschland möchte er dieser Begründung seine besondere Betonung geben. Zusammengefasst lässt sich die Anfangsszene so interpretieren: Die Forscherin eröffnet das Gespräch mit der Aufforderung, Oumar solle von den Umständen erzählen, durch die er nach Deutschland kam. Er beginnt damit, dass er einen Traum hatte, der jedoch unerfüllbar war. Die Gründe dafür und seinen Schmerz darüber hält Oumar im Verborgenen. Er äußert stattdessen plausible und realitätsnahe Begründungen, die gegen sein eigentliches Traumland und für Deutschland sprechen. Oumar präsentiert sich hier als jemand, dessen Traum unerfüllbar ist und der seine Pläne ändern muss. Er begründet die Wahl Deutschlands auf rationaler Ebene, was ihm hilft, die Realität ertragbar, erklärbar zu machen. Er setzt sich zur Forscherin insoweit in Beziehung, als er ihrer Aufforderung Folge leistet und nach kurzer Überwindung bereitwillig von sich erzählt.
Inhalt und Verlauf des Forschungsgesprächs Oumar erzählt dann auf Nachfragen der Forscherin, dass er kaum Leute gekannt habe, als er nach Deutschland gekommen ist: „das war nur wenige Leute also ich habe eigentlich (lachend) keine Unterst-tützung gehabt“ (S.1/34)43. Seine Mutter war vorher in Jena gewesen und hatte ihn dort im Sprachinstitut angemeldet. Sie selbst ist Gewerkschafterin und früher öfter in Deutschland und Frankreich auf Reisen gewesen. Sie habe dann jedoch ein „politisches eh Prob43
Alle Zitate dieses Abschnitts sind dem Transkript des Forschungsgesprächs mit Oumar entnommen.
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lem“ (S. 2/10) gehabt, sei nämlich gekidnappt worden und habe ihre politische Aktivität daraufhin aufgegeben. Die Mutter hat Ostdeutschland kennen gelernt und gesehen, dass dort auch die Frauen in Männerberufen arbeiten. Sie habe mit ausländischen Studierenden gesprochen, die ihr erzählt hätten, dass man neben dem Studium hart arbeiten müsse, und „wenn man nicht eh genug fleißig ist oder genug eh eh selbst-bewußt ist, dann ist das eh ziemlich schwer“ (S.2/39ff). Die Mutter habe ihm gesagt: „Oumar, also Deutschland ist nicht so ei-einfach, aber ich kenn dich schon und ich eh weiß, dass du also durch-kommen kannst also [Mhm] ver-versuch mal das zu .. p-acken“ (S.1/44ff). Oumar hat in Jena Deutsch gelernt und das Studienkolleg besucht. Nach dem Studienkolleg sei eine schwierige Zeit für ihn gekommen, „weil eh ich hatte ein finanzielles Problem, dann musste ich eh kurz nach Hause eh zurück fliegen für ein Jahr und so also ich habe ein Jahr eh verloren [Mhm] dann eh ich bin nachdem ich zurück eh gekommen, ich habe Jena ver-lassen dann [Mhm] bin ich hier gekommen. Und seitdem also ja es geht mir gut“ (S.3/5ff). Oumar beschreibt sein Problem zunächst als ein finanzielles. Zur Lösung dieses Problems musste er kurz nach Hause zurückkehren, woraus jedoch ein ganzes Jahr wurde. Im weiteren Verlauf erzählt Oumar dann, dass er in Jena aufgrund der Anfeindungen, denen er als Schwarzer dort ständig ausgesetzt war, nicht habe lernen können. Daraufhin hat er sich entschieden, nach Hamburg zu gehen, er fühle sich hier wohl, da er auch nachts alleine in der Stadt unterwegs sein könne, ohne Angst haben zu müssen. Mit starker emotionaler Beteiligung sagt Oumar, er sei sehr erschüttert über die Behandlung durch die Deutschen gewesen: „Weil an sich also als eh wir in eh Afrika waren, wir haben immer so ein ein solches Vorbild immer gehabt, also Europa ist eh ein . tolerantes (uv) aber die Leute dort sind tolerant (lauter und aufgeregt) das war eigentlich ein Schock! Für uns zu hier zu entdecken, dass es Leute auch hier gibt, die wie wir in eh A-Afrika sind, also das war ein eh ein Schock ha! [Mhm]H-ier a-uch?!“ (S.3/41ff). Oumar versucht aber auch, Verständnis für die Reaktion der Deutschen aufzubringen, indem er sie mit der hohen Arbeitslosigkeit zu erklären versucht. Inwieweit er selbst Opfer fremdenfeindlicher Übergriffe gewesen ist, bleibt unerwähnt. In Hamburg fühlt er sich nun wohl, er hatte „Gottseidank“ (S.4/15) seit drei Jahren einen Job bei einer Firma, wo er in den Semesterferien arbeitet und während des Semesters einmal pro Woche. Das Geld reicht gerade, um seinen Lebensunterhalt zu finanzieren. Von seinen Eltern erhält er keine finanzielle Unterstützung. Stattdessen schickt er ab und zu etwas Geld an sie. Oumar erzählt dann, dass er Betriebswirtschaft studiert und im vorigen Semester sein Vordiplom abgeschlossen hat. Auf die Frage, was er nach dem Studium machen möchte, antwortet Oumar: „eigentlich ich würde nach meinem Studium eh nach Guinea zurückgehen“ (S.4/32). Es hänge jedoch davon ab, wie sich die politi-
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sche Lage in Guinea entwickele. Oumar findet es eine „schwierige Frage“ (S.4/44), die er jetzt noch nicht beantworten könne. Oumar erzählt, dass sein Vater Polizist und seine Mutter Krankenschwester ist und er in „eine ganz eh normale Familie .. geboren und aufgewachsen“ (S.5/8) sei. Er hat vier Geschwister. Es habe keine Religion gegeben und eine „ein bisschen strenge Erzie-iehung“ (S.5/15). Oumar kommt bei diesem Thema ins Stocken, wird inhaltlich unverständlich und betont mehrmals, dass alles ganz „normal“ gewesen sei. Als er acht Jahre alt war, habe seine Mutter entschieden, dass er im Senegal bei seiner Großmutter leben solle, weil es in Guinea unter der Diktatur Sékou Tourés zu gefährlich gewesen sei. So habe er gemeinsam mit seiner Schwester einen Teil seiner Kindheit im Senegal verbracht. Im Senegal sei es auch „normal“ gewesen, „meine Oma war . sehr streng aber ... (uv) ich durfte nicht also Fußball spielen oder so was“ (S.5/31f). Auch hier stockt er mehrmals im Satz, bricht Sätze ab und beginnt neu. Die Großmutter sei katholisch gewesen und habe ihn ab und zu mit in die Kirche genommen. Sie habe immer geglaubt, die Muslime seien Extremisten. Obwohl sein Vater Muslim ist, habe Religion bei seinen Eltern jedoch keine große Rolle gespielt. Sie seien „frei denkende“ (S.6/6) Menschen. Erst auf Nachfragen der Forscherin sagt Oumar, dass er insgesamt elf Jahre bei der Oma gelebt habe, er also erst mit neunzehn Jahren nach Guinea zurückgekehrt sei. Als die Forscherin fragt, ob er denn nicht wieder zurück nach Hause gedurft habe, Sékou Touré sei ja schließlich 1984 gestorben, antwortet Oumar, nach dem Tod des Diktators sei er noch zwei Jahre im Senegal geblieben und dann nach Guinea zurückgekehrt. Zwischen beiden Versionen besteht eine zeitliche Differenz von sechs Jahren. Dieser Widerspruch wird im Gespräch jedoch nicht aufgelöst. Auf die Frage, ob er im Senegal seine Eltern vermisst und Heimweh gehabt habe, antwortet er: „Ja sehr! [..] und des-wegen ich war immer also, als ich im Senegal war, ich war immer in Conakry zweimal pro Jahr, weil das war total (uv) also ich ka-kann das überhaupt nicht e-rtragen“ (S.8/34ff). Seine Schwester hingegen sei „schon eine unabhängige also a-a-ber Mensch“ (S.8/38) gewesen, daher habe ihr der Aufenthalt bei der Oma nichts ausgemacht. Von seinen Eltern berichtet Oumar, sie seien durch ihre Berufsausbildung nicht mehr so traditionsorientiert wie andere Familien. Sein Vater hat nur eine Frau, er habe immer zu Oumar gesagt: „also eine F-rau zu h-aben, das ist sehr sehr eh schwer. [Mhm] Zwei, das ist [lacht] chaotisch (lacht)“ (S.6/25ff). Sein Opa väterlicherseits habe vier Frauen gehabt habe. Sein Vater würde dies aber ablehnen und seine Mutter ohnehin eine weitere Frau nicht akzeptieren, da sie eine sehr emanzipierte Frau sei. In Oumars Erzählung wird seine große Bewunderung für seine Eltern, insbesondere für seinen Vater deutlich: „Ich denke er ist ein sehr wichtige also ein sehr wichtige P-erson auch, weil der war früher Poli-
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zist“ (S.7/7). 1978 war der Vater zum „Oberchef“ (S.8/9) der Polizei in Boffa ernannt worden, aber 1983 zurückgetreten, weil er die politischen Gegner des Regimes nicht habe ins Gefängnis bringen wollen. Deswegen betreibt er heute einen Bauernhof mit viertausend Hühnern und einigen Rindern, er sei sehr innovativ. Oumar ist es wichtig, dass die Tätigkeit des Vaters auf dem Bauernhof nicht mit ordinärer Landwirtschaft verwechselt wird. Er erzählt, dass der Vater französische mit guineischen Kühen gekreuzt und die Milchproduktion der guineischen Kühe dadurch gesteigert hat. Voller Anerkennung sagt Oumar: „Ja der war i-immer so, der war der will immer ent-decken *und so [*Ja, mhm] ja der war immer so aber .. aber leider so (uv) solche Entwicklung also solche Ent-deckungen so-sowas das entwickelt sich nicht (uv)“ (S.7/43ff). Oumar tut es offenbar leid, dass der Vater trotz seiner Leistungen nichts davon hat. Der Vater hat hauptsächlich in Boffa gelebt, die Mutter war aufgrund ihrer Arbeit meistens in Conakry, sie pendelte zwischen den Orten. Als Oumar aus dem Senegal schließlich nach Guinea zurückgekehrt war, habe er das Zusammenleben mit den Eltern sehr genossen, obwohl die Lebenssituation in Guinea wesentlich chaotischer war und die Menschen in größerer Armut lebten als im Senegal. Nach Beendigung seiner Schulausbildung fing er an der Universität in Conakry ein Studium an. Allerdings habe die politische Instabilität zu ständigen Streiks an der Universität geführt, so dass er eigentlich zwei Jahre lang nichts gemacht habe. Zwar arbeitete er während dieser Zeit auf der Farm seines Vaters, habe dort jedoch keine Zukunft gesehen, so dass er sich schließlich zur Migration entschloss. „Ich h-atte ei-eigentlich keine Perspektive dort. Ich eh [Mhm] also musste einfach das L-land vielleicht für eine bestimmte Zeit verlassen“ (S.10/3ff). Oumar betont auch seinen Wunsch, wieder nach Guinea zurückzukehren. Allerdings hänge dies davon ab „wie aber Lage dort sich eh e-ntwickelt und eh wenn es eines Tages da eine Demokratie ge-geben würde“ (S.10/11f). Oumar erzählt, dass er im Falle seiner Rückkehr ein kleines Unternehmen gründen wolle. Genaue Vorstellungen hierüber habe er jedoch noch nicht, erst einmal müsse er sein Studium beenden, dann könne er darüber nachdenken. Wenn man in Europa studiere, habe man immer diese Ideen, was man in der Heimat alles nach dem hiesigen Beispiel verändern könnte. Führe man dann aber nach Afrika zurück, sei man erst einmal geschockt und enttäuscht, weil die Umstände dort nicht so seien, wie man es sich vorgestellt habe. Oumar will selbst nicht für die Regierung arbeiten, sondern sich auf eine Tätigkeit im Privatsektor beschränken. Dadurch würde er seinem Land „mittelbar oder unmittelbar“ (S.10/27) auch helfen können, ohne sich politisch positionieren zu müssen. Als die Forscherin fragt, wie es für Oumar gewesen sei, als er zwischendurch ein Jahr wieder in Guinea war, antwortet er zunächst konfus und stockt mehrmals während der Erzählung, als habe er große Mühe, darüber zu sprechen. Er habe
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sich wieder eingewöhnen müssen und dann das Leben dort beobachtet. Er ist während dieser Zeit immer mit seinem Vater zusammen gewesen und hat mit ihm auf dessen Farm gearbeitet. Der Verdienst seiner Eltern würde, obwohl sie beide arbeiten, nicht für einen ganzen Monat reichen. Viele Familien lebten in Armut, was Oumar bei diesem Besuch erstmals deutlich geworden sei. Seine Eltern jedoch hielten das durch, weil „mein Vater hat immer Ideen, wie wie man also G-eld verdienen kann also“ (S.11/40). Als die Forscherin fragt, ob der Vater dies auch schaffe, antwortet Oumar: „Jaa! .. Ja ein bisschen. Sein Fehler war (räuspert sich) 1991 er hat ein bisschen Politik da gemacht“ (S.12/4f). Der Vater war auf der Seite der Opposition, und das sei in Guinea schwer. Oumar sagt nicht, was genau dem Vater durch seine politische Aktivität widerfahren ist, er habe jedoch dadurch Probleme bekommen und dann damit aufgehört. Auf die Frage der Forscherin, ob Oumar auch politische Ambitionen habe, antwortet er: „Ich?! Oh nein. (lacht) Nein das ist eh, nein das gibt nur Enttäuschung, Schock Schock Schock“ (S.12/37ff). Oumar sei „zu ehrlich, um Politiker zu sein“ (S.12/41). In Afrika müsse man dazu auch ein bisschen kriminell sein und das könne er nicht. Nach seinen Geschwistern gefragt, erzählt Oumar, dass der ältere Bruder in Guinea Geschäfte macht, über die er jedoch nichts wisse. Seine Schwester hat in Marokko studiert und lebte mit ihrem Mann in der Elfenbeinküste. Sein jüngerer Bruder studiert in Frankreich und erhält dort Unterstützung von einem Freund des Vaters, der jüngste Bruder geht noch zur Schule. Oumar hat zur Schwester und dem Bruder in Frankreich regelmäßig telefonischen Kontakt, es gebe jedoch zwischen ihnen „diese Unabhängigkeit. Also jeder muss seine also Sachen machen“ (S.13/38). Oumar rechnet damit, in zwei oder drei Jahren sein Studium abschließen zu können. Neben dem Studium hat er nicht so viel Zeit für Freunde. Es gebe ein paar Kumpels, mit denen er sich ab und zu treffe. Außerdem „habe ich die Kadia da. Ab und zu mal einmal pro Woche wir treffen uns bei ihr hier. Wir kochen etwas zusammen, wir essen zusammen und eh wir . das ist schon eine sehr gute ehm eh eh moralische also [..] Unterstützung“ (S.14/15ff). Auch hat er einen Freund in Lübeck, den er etwa einmal im Monat besucht. Mit ihm könne er auch über seine Probleme sprechen. „Und eh das tut schon gut, wenn man weiß, dass eh man nicht eh man ist nicht eh .. a-llein schon. Ja“ (S.14/25f). Er hat auch einen deutschen Freund, den er vom Studium her kennt und der sich sehr für Afrika interessiert. „Und sonst eh, ich hab m- eh ich hab meine F-reundin h-ier, die al- also alles für mich ist, also, Freundin, Vater, Mutter oder so was hier“ (S.14/43f). Sie ist eine Deutsche, wohnt in Stade und studiert auch Betriebswirtschaft. Oumar kennt sie seit einem Jahr, er findet sie „sehr gut“ (S.15/41) und
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könne sich vorstellen, sie „eines Tages“ (ebd.) zu heiraten, aber man wisse ja nie, er könne das heute noch nicht planen. Auf die Frage, ob Oumar Vorbilder habe, antwortet er: „Mein Vater (lacht)“ (S.16/3). Ihn bewundere er für dessen Mut, in Guinea geblieben zu sein, um dort etwas zu verändern, obwohl er während der Diktatur das Land auch hätte verlassen können. Die Forscherin möchte wissen, ob Oumar diesem Vorbild folgen möchte. „Ja folgen ha! Ja aber . es gibt schon einen Unterschied zwischen den Generationen“ (S.16/17). Die neue guineische Generation habe eine andere Denkweise als die Eltern, sie seien fast alle im Ausland. Oumar hofft, dass sie alle eines Tages nach Hause zurückkehren werden, dafür müsse jedoch „mindestens eine Stabilität da sein“ (S.16/25). Sie lebten nun so lange in einer Demokratie, dass sie es nicht mehr ertragen könnten, wenn es Ungerechtigkeiten gebe. Die Eltern hätten diese Denkweise nicht gehabt. „Aber ich, ich will unbedingt in einem Land l-eben, wo De-demokra-kratie schon ist“ (S.16/35f).
Realistische Träume Ziemlich zum Schluss des Gesprächs spricht Oumar von seinen Freunden in Deutschland und davon, dass er eine deutsche Freundin hat, mit der er sich gut verstehe. M.G.: Oumar:
M.G.: Oumar: M.G.: Oumar: M.G.: Oumar: M.G.:
(...) Und denkst du auch darüber nach, mal ne Familie zu haben oder wie, (atmet ein) wie du mal leben möchtest später? Ja (uv) wenn man schon im Ausland eh, das ist nicht ganz eh einfach sein eh Leben einfach so zu planen, weil es gibt so viel eh .. Unsicherheit, ja also mein Familie zu bauen und so was, ja ich denke ab und zu mal .. da- darüber. Aber erst mal ich muss, erst mal erst mal mein eh Studium (lacht) Ja. be-enden, weil eh mein eh Aufenthaltsgenehmigung auch hier hängt davon ab, und das ist eh das wichtige Ziel zurzeit Mhm und eh wenn ich das mache, dann werde ich daran denken, ob ich eh ob ich meine Freundin doch als Frau heiraten werde oder . nicht oder. Mhm aber man hat ja manchmal so Träume und stellt sich so was vor, wie man wie man es gerne möchte. *Wie man mal leben möchte. *Ja. Träume ich denke, man hat das, wenn man eh .. jung ist aber sehr jung ist (lacht)
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Oumar: M.G.: Oumar: M.G.: Oumar:
171 aber (lacht) in einem gewissen also Alter ich denke .. Träumen ist nicht ganz gut. Aber man muss also ja in der Realität schon also Mhm s-ein ja. . Weil . wenn man soviel aber träumt, dann kann das eh schädlich sein also, man muss vielleicht ein bisschen aber träumen. Mhm Und mein ständiger Träume zurzeit das ist, dass ich meine Diplom in der Hand habe. Dann später mal ich werde was überlegen wie ich, wie das weitergeht.
(Transkript, S.15) Die Forscherin fragt Oumar, ob er darüber nachdenke, „mal ne Familie zu haben“. Dann relativiert sie ihre Frage mit einem „oder wie“, atmet erst einmal ein und formuliert ihre Frage dann anders: „wie du mal leben möchtest später?“. Der erste Satzteil richtet sich konkret auf eine Familiengründung, im zweiten ist die Frage offener gehalten, indem sie sich auf seine Vorstellungen vom Leben insgesamt richtet. Oumars Antwort geht auf den ersten Teil der Frage ein, er wehrt eine Antwort zunächst ab und sagt, dass es nicht ganz einfach sei, „wenn man schon im Ausland“ lebe, sein „Leben einfach so zu planen“. Mit dieser Verallgemeinerung („man“) stellt er sich in eine Reihe mit anderen, deren Lebenssituation er teilt. Dann begründet er seine Aussage damit, dass es „so viel eh .. Unsicherheit“ gebe. Die Unsicherheit betont er extra, so dass man annehmen kann, dass sie für ihn eine wichtige Rolle spielt. Im nächsten Teil des Satzes wird er persönlicher, spricht von sich und greift die Frage wieder auf. „ja ich denke ab und zu mal .. da-darüber“ nach „eine Familie zu bauen und so was“. Allerdings müsse er „erst mal erst mal mein eh Studium beenden“. Mit der Betonung der Äußerung „erst mal“ macht Oumar deutlich, wie wichtig es ihm ist, zunächst sein Studium zu beenden und erst dann an Familie zu denken. Die Forscherin lacht bei dieser Äußerung. Trotz ihres bestätigenden „Ja“ scheint sie Oumars Bedenken nicht ganz ernst zu nehmen. Oumar fährt fort, dass er im Anschluss seines Studiums „daran denken“ werde, „ob ich eh ob ich meine Freundin doch als Frau heiraten werde oder . nicht oder“. Er hat also schon daran gedacht, mit seiner Freundin gemeinsam eine Familie zu gründen. Es gibt für ihn offenbar aber auch Gründe, die dagegen sprechen, wenn er anfügt „oder . nicht oder“. Die Forscherin zeigt zunächst, dass sie Oumar versteht, hakt dann jedoch nach: „aber man hat ja manchmal so Träume und stellt sich so was vor, wie man wie man es gerne möchte“. Durch das „aber“ am Satzanfang gibt sie zu verstehen, dass sie mit Oumars Antwort nicht ganz einverstanden. In Träumen stelle man sich vor, „wie man es gerne möchte“. Sie möchte offenbar Oumars Gefühle ansprechen und erfahren, was er sich wünscht. Da sie Oumar nicht persönlich anspricht, sondern den Satz in der ‘man-Form’ formuliert, scheint sie
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eine Barriere seinerseits bei diesem Thema zu spüren. Indem sie Träume als etwas Allgemeines formuliert, will sie ihn offenbar herausfordern, auch seine Träume zu erzählen. Oumar sagt ihr daraufhin, was er über Träume denkt, nämlich dass „man“ sie nur habe, wenn man sehr jung sei. Er bleibt damit auf der von der Forscherin vorgegebenen allgemeinen Ebene und hält sich sowohl formal als auch inhaltlich die Träume gewissermaßen vom Leibe: Weil er nicht mehr „sehr jung“ ist, hat er auch keine Träume mehr. Die Forscherin lacht über diesen Satz, Oumar lacht mit und ergänzt dann, was er über Träume denkt: „in einem gewissen also Alter ich denke .. Träumen ist nicht ganz gut“. Er weist sie nicht gänzlich von sich, sagt ihnen aber auch schlechte Eigenschaften nach und lässt undefiniert, ab welchem Alter träumen nicht gut sei. „Aber man muss also ja in der Realität schon also [Mhm] s-ein ja“. Für Oumar ist es also wichtig, realitätsbezogen zu leben: „Weil . wenn man soviel aber träumt, dann kann das eh sch-ädlich sein also, man muss vielleicht ein bisschen aber träumen“. Immer noch spricht Oumar in der allgemeinen Form und steigert seine vorherige Aussage, dass Träumen „nicht ganz gut“ sei, er hält es sogar für „schädlich“, wenn man zuviel träumt. Es sei daher besser, nur „ein bisschen“ zu träumen. Oumar lehnt also Träume nicht ganz ab, hält es aber für wichtig, sie wohl zu dosieren und in der Realität zuleben. Nachdem die Forscherin wieder ihr zustimmendes „Mhm“ gegeben hat, fährt er fort: „Und mein ständiger Träume zur Zeit das ist, dass ich meine Diplom in der Hand habe. Dann später mal ich werde was überlegen wie ich, wie das weitergeht“. Damit gibt Oumar zu verstehen, dass er doch einen Traum hat, aber einen, der sehr nahe an der Realität angesiedelt ist. Er wünscht sich, sein Diplom in der Hand zu haben. Die Formulierung „Träume“ statt Traum lässt vermuten, dass er häufig daran denkt, wie es sein wird, wenn er sein Diplom hat. Es lässt sich auch so verstehen, dass alle Träume Oumars damit zu tun haben, dass er mit seinem Studium fertig wird. Im letzten Satz sagt er schließlich, wenn er sein Diplom habe, werde er „überlegen“, wie es weitergeht. Oumar macht damit deutlich, dass er auch dann nicht träumen, sondern sich wohl überlegen werde, was er machen wird. Oumar macht in dieser Szene deutlich, dass er sein Leben auf einer sehr realistischen Ebene plant und führt. Er setzt sich ausführlich mit den Vor- und Nachteilen verschiedener Möglichkeiten der Lebensplanung auseinander, möchte aber nicht über alle hier sprechen. Er hat gewisse Wünsche und Bedürfnisse, weiß aber auch, dass sie nicht unbedingt in Erfüllung gehen. Wie Oumar es bereits in der Eingangsszene angeführt hat, macht er in dieser Passage noch einmal deutlich, dass Träume für ihn mit Enttäuschung verbunden sind. Träume gehören für ihn zum Jungsein, denn aus seinen negativen Erfahrungen heraus bevorzugt er heute realistische Lebensziele. Aus Angst vor erneuter Enttäuschung erscheint es ihm sicherer, sich an den fassbaren Realitäten zu orientieren
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und seine Ziele in kleinen Etappen abzustecken, die auch berechenbar sind. Dass er dennoch einerseits von seinen Träumen spricht und sie andererseits so vehement ablehnt, zeigt, dass er sie sich nicht wirklich vom Leibe halten kann, wie er es vielleicht gerne möchte. Mit seiner Strategie der Rationalisierung versucht er aber, den Schmerz über die unerfüllbaren Träume zu verdrängen und die Angst vor Misserfolg zu mildern. Oumar lebt mit dem Gefühl der Unsicherheit und versucht daher, sich pragmatisch an die gegebenen Umstände anzupassen und seine Gefühle den vorhandenen Möglichkeiten unterzuordnen. Für Oumar ist es wichtig, die Realität rational zu beurteilen, seine unerfüllten Wünsche und Bedürfnisse zu verdrängen und sich an objektiven Tatsachen zu orientieren.
Schluss-Szene Gegen Ende des Gesprächs spricht Oumar über seinen Vater als Vorbild und über die Unterschiede zwischen den Generationen. Er betont, dass er nicht bedingungslos nach Guinea zurückkehren wolle, sondern nur dann, wenn dort auch demokratische Verhältnisse etabliert seien. M.G.:
Oumar: M.G.: Oumar: M.G.: Oumar: M.G.: Oumar: M.G.: Oumar: M.G.: Oumar: M.G.:
Oumar: M.G.:
Mhm, Ja ja . aber dass du das Land verlassen kannst und dann auch, und hier praktisch ne Ausbildung machen kannst, ist ja schon was Besonderes, auch für Guinea (atmet ein) Ja sind ja nicht viele, die das machen können, ne? Nee Oder? Also leider nicht, leider nicht also . (leise) die Guinesen, die da sind, es gibt eh nur ein kleiner Teil, die studieren können. Mhm Die . großer Teil also sind eh .. verh-eiratet aber na ja sie sind eh Asylbewerber hier Mhm und es ist ziemlich eh a-ber schwer aber Mhm ja. Ja ich meine auch von Guinea aus, ne? Es können ja praktisch nur die, die auch das Gymnasium besucht haben, (atmet ein) das sind ja sehr wenige eigentlich, ne? Nee, also ich denke schon in Guinea also, was ich . denke schon wir sw-aren viel hier (uv) so Gymnasium, haben auch r-elativ viel. Mhm
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Oumar: M.G.: Oumar:
M.G.: Oumar: M.G.: Oumar:
M.G.: Oumar: M.G.: Oumar: M.G.: Oumar: M.G.: Oumar: M.G.: Oumar:
Aber Leute haben auch das Abitur a-bgeschlossen, aber die Universität zu b-esuchen das ja also das ist sch-wer, Mhm (uv) die sind zum Teil eh eh hier auch an der Uni, sie gehören nicht dieser Bewegung also arbeiten und eh m-anchmal auch gibt auch viel .. aber Leute, die keine Arbeit f-inden können, das heisst sie aber müssen aber die das S-tudium schon immer etwas eh vor schie- also nach schieben und dann ein bisschen Mhm arbeiten, damit sie also . später mal ihre Studium unterst-ützen also können. Mhm Das ist immer diese a-a-aber Lotterie also das ist nicht ganze a-ber deswegen ich habe gesagt, ich kann überhaupt nicht etwas eh ein Jahr oder f-ünf Jahre Mhm v-orplanen, weil das ist unsicher. Mhm Ja Ja ja (leise) (uv) (5 Sec. Pause) Okay. Mhm Dann dank ich Dir vielmals. Bitte
(Transkript, S.16f) Die Szene beginnt mit einer Äußerung der Forscherin, die dem vorher Gesagten einerseits ihre Zustimmung gibt mit „Mhm, ja ja“. Anschließend hält sie jedoch dagegen, indem sie mit „aber“ fortfährt, dass es für Oumar etwas Besonderes sei, dass er Guinea verlassen konnte, um hier eine Ausbildung zu machen. Sie betont, dass es „ja nicht viele“ seien, „die das machen können, ne?“. Oumar antwortet mit: „Nee“, ohne dass klar ist, ob er damit der Forscherin zustimmt oder ihrer Aussage widerspricht. Die Forscherin scheint auch unsicher, wie seine Antwort zu deuten ist, denn sie fragt nach: „Oder?“. Oumar bestätigt, dass es „leider nicht“ viele könnten. Etwas leiser spricht er dann weiter, dass von den Guineern, die in Deutschland sind, nur wenige studieren können. Damit bezieht er sich auf die zweite Aussage der Forscherin, dass nicht alle eine Ausbildung machen können. Oumar senkt die Stimme, es scheint ihm unangenehm zu sein, dies zu sagen. Er fährt fort: „Die . großer Teil also sind eh .. verh-eiratet aber na ja sie sind eh A-sylbewerber hier“. Oumar beginnt den Satz mit „Die“, stockt, bricht ab und spricht anders weiter. Es scheint ihm wieder nicht leicht zu fallen zu sprechen. Nachdem die Forscherin abermals ein zustimmendes „Mhm“
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geäußert hat, sagt Oumar „und es ist ziemlich eh a-ber schwer aber“, was die Forscherin wieder bestätigt. Oumar sagt dann einfach „ja“ und lässt damit offen, was schwer ist. Die Forscherin geht auf Oumars Äußerung nicht ein und sagt: „Ja ich meine auch von Guinea aus, ne? Es können ja praktisch nur die, die auch das Gymnasium besucht haben, (atmet ein) das sind ja sehr wenige eigentlich, ne?“. Sie bezieht sich hiermit offenbar auf ihre erste Äußerung und betont noch einmal ihre Perspektive: Nur diejenigen, die das Gymnasium besucht haben, können das Land verlassen, um ein Studium im Ausland zu machen, dies sind nur wenige und es ist daher etwas Besonderes. Oumar ist jedoch anderer Meinung: „Nee also ich denke schon in Guinea also, was ich . denke schon wir s- w-aren viel hier (uv) so Gymnasium, haben auch r-elativ viel“. Der Satz ist brüchig und schwer verständlich. Offenbar fällt es Oumar schwer, der Forscherin zu widersprechen. Für seine Äußerung kann folgende Lesart gelten: In seiner Generation haben sowohl von den in Guinea als auch von den hier lebenden Guineern relativ viele das Gymnasium besucht. Durch die Betonung des „viel“ setzt sich Oumar deutlich von der Äußerung der Forscherin ab. Nachdem die Forscherin ihre Zustimmung signalisiert, fährt Oumar sprachlich wieder deutlicher fort: „Aber Leute haben auch das Abitur a-bgeschlossen, aber die Universität zu b-esuchen dass ja also das ist sch-wer“. Oumar führt hier eine Differenzierung ein: Von denjenigen, die das Abitur abgeschlossen haben, sei es für viele dennoch schwer, die Uni zu besuchen. Diese Aussage erläutert er im nächsten Satz: „(uv) die sind zum Teil eh eh hier auch an der Uni, sie gehören nicht dieser Bewegung also arbeiten und eh m-anchmal auch gibt auch viel .. aber Leute, die keine Arbeit f-inden können, das heißt sie aber müssen aber die das S-tudium schon immer etwas vor schie-also nach sch-ieben und dann ein bisschen [Mhm] arbeiten, damit sie also . später mal ihre Studium unterst-ützen also können“. Was Oumar mit „dieser Bewegung“ meint, der diese Studierenden nicht angehören, erläutert er nicht. Er stellt fest, dass es für viele Studierende schwer ist, ihr Studium zu finanzieren und sie daher ihr Studium verschieben müssen, um erst einmal Geld zu verdienen. Nachdem die Forscherin wieder ein zustimmendes „Mhm“ geäußert hat, sagt Oumar: „Das ist immer diese a-a-aber Lotterie also das ist nicht ganze a-ber deswegen ich habe gesagt, ich kann überhaupt nicht etwas eh ein Jahr oder f-ünf Jahre [Mhm] vorplanen, weil das ist unsicher“. Die Situation der anderen bezieht Oumar hier auch auf sich und betont in dem Vergleich mit der Lotterie, es sei Zufall, dass er sein Studium finanzieren könne. Er sagt zwar, das sei „nicht ganze“ also nicht alles, jedoch würde er sein Leben nicht lange vorausplanen, da „das“ unsicher sei. Was genau er unsicher findet, sagt er nicht. Er scheint sich hier auf seine allgemeine Lebenslage, also seine Zukunft insgesamt zu beziehen.
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Nachdem beide die vorherigen Aussagen bestätigt haben, entsteht eine Pause, die die Forscherin veranlasst, das Gespräch zu beenden. Die Schluss-Sequenz gibt Aufschluss einerseits über die Beziehung zwischen Oumar und der Forscherin, andererseits auch über Oumars grundsätzliche Lebenseinstellung. Die Forscherin hat von Oumar das Bild eines privilegierten Bildungsmigranten, der froh über seine Sonderstellung sein kann. Oumar traut sich nicht, diesem Bild offen zu widersprechen und versucht inhaltlich seine Akzente zu setzen. Die Forscherin beharrt zunächst auf ihrer Sichtweise und registriert den Widerspruch erst, als Oumar deutlicher wird. Sie gibt ihm Raum, seine Sichtweise darzulegen, tritt mit ihm darüber jedoch nicht in Dialog. Beide Sichtweisen bleiben nebeneinander stehen. Inhaltlich widersetzt Oumar sich der positiven Beschreibung der Forscherin und betont die Möglichkeit des Scheiterns, das er am Beispiel der anderen guineischen Studenten stets vor Augen hat, die ihr Studium abbrechen müssen, weil sie keine Arbeit finden können. Damit deutet er auch seinen eigenen, eher unsicheren sozialen Status an und die damit verbundenen Schwierigkeiten, wegen der finanziellen Unsicherheit das Auslandsstudium zu bewältigen. Für Oumar gilt daher, dass das Leben eine Lotterie ist. Er hat kein Vertrauen in seine eigene Kraft, sondern sieht die äußeren Umstände als Gefahrenquelle an, die jederzeit die eigenen Pläne umstürzen kann. Die Zukunft ist für ihn so unsicher, dass er vermeidet, sie zu planen. Mit dieser resignierenden Haltung wird das Gespräch schließlich beendet. Es scheint keinen Ausweg zu geben aus dem Gefühl der Unsicherheit. Auch die Forscherin überlässt sich nun der passiven Ergebenheit und beschließt ohne vorherige Ankündigung an dieser Stelle das Gespräch. Darin drückt sich eine gewisse Beziehungslosigkeit beider Gesprächspartner aus.
Ausgestaltung der Forschungssituation Die Forschungssituation hat einen eher förmlichen Charakter, der sich auch in der Wahl des Aufenthaltsraumes als Ort für das Gespräch ausdrückt. Oumar vermeidet damit die enge und intime Atmosphäre seines eigenen Zimmers. Er spricht meistens sehr leise und wirkt auf die Forscherin sanft und zerbrechlich. Sein Stottern provoziert die Rücksichtnahme der Forscherin. An vielen Stellen während des Gesprächs spürt sie aber auch ihre Ungeduld wegen der Sprachstörung und seiner mitunter umständlichen Ausdrucksweise und nimmt ihm manchmal ein Wort oder Satzende vorweg. Die Stimmung des Gesprächs ist eher ernst und bedrückt, es wird wenig gelacht. Insgesamt ist es stark durch die Fragen und Eingaben der Forscherin bestimmt. Oumar selbst nimmt sich wenig Raum, und antwortet auf die Fragen eher knapp. Es entsteht der Eindruck, als
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führe Oumar dieses Gespräch aus Höflichkeit, nicht aus eigenem Interesse. So hat das Gespräch eher die Form eines Interviews, in dem Fragen gestellt und korrekt beantwortet werden - ein gegenseitiger Austausch findet nicht statt. Die Forscherin notiert in ihrem Forschungstagebuch: „Seine Körperhaltung im Stehen und Gehen wirkt etwas steif, als hätte er Rückenprobleme und müsse sich gerade halten. Im Sitzen verliert sich der Eindruck, ich bemerke es erst wieder, als wir zum Abschied aufstehen.“ Nach dem Gespräch erzählt Oumar, dass er gemeinsam mit einigen Freunden einen Verein gegründet hat, der sich um die Interessen der hier lebenden Guineer und deren Freunde kümmere. Die Forscherin kann sich aus seinen Ausführungen jedoch kein rechtes Bild über die Aktivitäten des Vereins machen. Oumar wirkt auf die Forscherin einerseits sehr gefühlvoll und sanft. Inhaltlich drückt er jedoch kaum Gefühle aus, sondern argumentiert stets auf sachlicher und rationaler Ebene. Seine Emotionalität wird jedoch an den Stellen der sprachlichen Inkonsistenz spürbar. Zum Teil belegt er Ereignisse seines Lebens mit exakten Jahreszahlen, während er andere so nebulös schildert, dass die zeitliche Einordnung schwer fällt. Dadurch entsteht der Eindruck, dass Oumar wichtige Dinge seines Lebens verschleiert, über die er nicht sprechen möchte. Die Beziehung zwischen Forscherin und Oumar ist durch eine höfliche Oberflächlichkeit geprägt. Aufgrund des zerbrechlichen Eindrucks, den Oumar auf die Forscherin macht, nimmt sie eine eher respektvolle Haltung ihm gegenüber ein. An einigen Stellen ist sie irritiert durch widersprüchliche Aussagen. Sie scheut sich jedoch, diese direkt anzusprechen, da sie fürchtet, dass er sich noch mehr zurückzieht, wenn sie an seine wunden Punkte stößt. Stattdessen versucht sie, auf der sachlichen Ebene durch penibles Erfragen von Fakten die Unstimmigkeiten aufzuklären. Dies führt jedoch zu weiteren Irritationen und Missverständnissen zwischen den Gesprächspartnern, so dass sie mitunter aneinander vorbeireden. Dies passiert immer an den Stellen, wo unbearbeitete Erfahrungen angesprochen werden. Die größte Irritation entsteht bei Oumars Erzählung, er habe bei seiner Großmutter im Senegal gelebt. Die Forscherin spürt, dass diese Zeit für ihn sehr schwer war. Er deutet seine Gefühle verbal jedoch nur an oder gibt sie zu, wenn die Forscherin direkt danach fragt. Sie notiert in ihrem Forschungstagebuch: „Er erzählt bereitwillig alles, dennoch fehlt mir der emotionale Teil. Das Kind, das zur Oma geschickt wurde und sich nach Hause sehnt, kann ich nur ahnen.“ Oumar präsentiert sich als höflicher Student, der seiner Freundin Kadia zuliebe dieses Gespräch führt, der jedoch kein eigenes Interesse hat, mit der Forscherin über sein Leben zu sprechen.
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Fazit Oumars Kindheit ist geprägt von den politischen Idealen seiner Eltern, für deren Durchsetzung sie ihr Leben einsetzen und wofür sie immer wieder Repressionen erleiden müssen. Die Familie muss sich stets den politischen Aktivitäten der Eltern unterordnen. Für Oumar bedeutet dies die Trennung von den Eltern, die er bei der strengen Großmutter nicht verwinden kann. Er macht die Erfahrung, dass Gefühlen weniger Bedeutung beigemessen wird als den politischen Idealen seiner Eltern, und lernt somit früh, seine Gefühle zu unterdrücken und sich in eine unliebsame Situation zu fügen, für die es rational gute Gründe gibt. Die Frauen in seiner Familie erlebt Oumar als aktiv, selbstbewusst und emanzipiert, sie bestimmen, wo es langgeht. Er identifiziert sich mit seinem Vater, der gemäß seinen intellektuellen Idealen handelt und dafür große Einschränkungen seines Lebens in Kauf nimmt. Insgesamt bestehen eher lose Bindungen zwischen den Familienmitgliedern, es wird mehr die Autonomie denn die Beziehung zueinander betont. Bei Oumars Rückkehr zu den Eltern haben diese sich bereits aus ihrem politischen Leben zurückgezogen. Der Vater betreibt heute einen Bauernhof, der nur kläglich das Einkommen der Familie sichert und auch nicht den intellektuellen Ansprüchen der Eltern gerecht wird, wodurch das Leben aber ungefährlich ist. Die Mutter arbeitet als Krankenschwester. Oumars Adoleszenzentwicklung ist von den Trennungserfahrungen im Kindesalter überschattet, so dass nicht die Ablösung von den Eltern, sondern die ersehnte Verschmelzung mit ihnen sein vorrangiges Bestreben ist. Gefühlen und emotionalen Bedürfnissen wird in der Familie jedoch kaum Raum zugestanden. Er identifiziert sich mit den Idealen der Eltern und ist bestrebt, sein Leben nach ihren Vorgaben zu leben, um ihre Anerkennung zu erhalten. Den Autonomieforderungen seiner Eltern tritt Oumar entsprechend entgegen. Um in der Nähe der Eltern zu bleiben, beginnt er zunächst ein Studium in Conakry, obwohl ihm die Perspektivlosigkeit dieser Ausbildung deutlich ist. Das Anliegen der Eltern, Oumar solle in Deutschland studieren, stellt eine erneute Kränkung für ihn dar. In der darüber geführten Diskussion stimmt er der Forderung der Eltern aber schließlich aus rationalen Gründen zu. In Deutschland wird Oumar offenbar, dass sich die Vorstellungen seiner Eltern für ihn nicht bestätigen. Die Deutschen begegnen ihm nicht mit ihrem Interesse an intellektueller Bildung, vielmehr steht ihre deutliche Ablehnung aufgrund seiner Hautfarbe im Vordergrund. Diese Demütigung kann Oumar ohne Unterstützung kaum überwinden. Die durch die Migration vollzogene radikale äußere Trennung von den Eltern verstärkt seine inneren Bedürfnisse nach Bindung an sie und belebt auch seine Kindheitserfahrungen in neuer Weise wieder. Er fühlt sich völlig allein gelassen und sieht sich nicht in der Lage, neue Bindungen einzugehen, um seine Verlas-
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senheitsgefühle abzumildern. Zusätzlich erlebt er durch die fremdenfeindliche Ablehnung der Deutschen eine Verdoppelung seines adoleszenten Fremdheitsund Verlusterlebens, für deren Bewältigung er nicht über ausreichende Ressourcen verfügt. Die Migration führt somit zu heftigen inneren Konflikten, die Oumar überfordern. Die einzige Lösung stellt für ihn zunächst die Rückkehr zu seinen Eltern dar, mit denen er seine erlittenen Kränkungen zu bewältigen versucht. Die Migrationserfahrungen setzen bei Oumars Rückkehr nach Guinea eine neue Beschäftigung mit seiner Herkunftsfamilie und -kultur in Gang, die jedoch auf die rationale Ebene beschränkt bleibt. Nicht seine erfahrenen und erlittenen emotionalen Entbehrungen seitens der Eltern sind Gegenstand von Oumars Auseinandersetzung, vielmehr konzentriert sie sich auf die aussichtslose Lage, in der sich seine Eltern sowohl finanziell als auch ideell befinden. Nach einem Jahr nimmt Oumar sein Migrationsvorhaben wieder auf, diesmal angetrieben von der Motivation, zur Verbesserung der Lebenssituation seiner Eltern beizutragen, worin sich die weiterhin bestehende innere Gebundenheit an die Eltern ausdrückt. Er kehrt nicht nach Jena zurück, sondern geht nach Hamburg, weil er dort, eingebettet in ein Netz von guineischen Freunden, die nötige Geborgenheit und Unterstützung findet, um die immer noch vorhandenen Trennungs- und Verlusterfahrungen sowie die Fremdheitsgefühle in der ihm grundsätzlich abweisend gegenübertretenden Aufnahmegesellschaft bewältigen zu können. Unter diesen veränderten Bedingungen eignet sich Oumar allmählich die fremde Lebensweise an und verankert sich soweit in Deutschland, dass er sein Studium erfolgreich absolvieren und sein Leben aus eigener Kraft finanzieren kann. Die Liebesbeziehung zu einer deutschen Frau stellt einen weiteren Schritt in diese Richtung dar. Nach wie vor schränken jedoch die Diskriminierungserfahrungen in Deutschland Oumars adoleszente Auseinandersetzung ein, weil durch die alltäglichen äußeren Fremdheitserfahrungen sein inneres Gleichgewicht ständig bedroht ist. Oumar begegnet diesen Bedrohungen mit seinen Rationalisierungstendenzen, womit er seinen Schmerz zu lindern versucht. Dies zeigt sich in der intellektuellen Auseinandersetzung mit der demokratischen Rechtordnung Deutschlands, die Oumar im Vergleich zu den diktatorischen Verhältnissen in Guinea sehr schätzt, worin er auch einen wichtigen Grund sieht, sich mit den negativen Seiten seiner Migration zu arrangieren. Indirekt drückt sich darin auch Oumars Auseinandersetzung mit den Lebensentwürfen seiner Eltern aus, deren Leben von dem unerfüllten Bestreben bestimmt war, die Diktatur zu überwinden, was für Oumar immer nur Entbehrung und Enttäuschung bedeutete. Ein derartiges Engagement lehnt er heute daher für sich ab und zieht das Leben in einer Demokratie vor. Seine adoleszente Auseinandersetzung mit den Eltern bleibt jedoch auf deren politisches Engagement beschränkt. Eine innere Distanznahme und Auseinandersetzung mit den seitens
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der Eltern unerfüllten emotionalen Bedürfnissen findet nicht statt. Damit wird die Idealisierung der Eltern sowie die Identifizierung mit ihnen aufrechterhalten und eine adoleszente Ablösung von ihnen vermieden. Die mit der Migration verbundene räumliche Trennung von den Eltern verstärkt Oumars Bindungssuche eher noch, als dass sie ihm eine adoleszente Ablösung ermöglicht. Dagegen wird durch die Migration eine intensive Auseinandersetzung mit seiner Herkunftskultur bzw. -gesellschaft gefördert. Seine kritische Haltung zur politischen Kultur Guineas ermöglicht ihm, den Lebensentwürfen seiner Eltern zu folgen und somit die Nähe zu ihnen beizubehalten. Auch hinsichtlich seiner geschlechtlichen Identität folgt er dem freiheitlichen und autonomieorientieren Männlichkeitsentwurf seines Vaters. Die in Deutschland vorherrschenden Geschlechterverhältnisse stellen für Oumar eine Bestätigung der von den Eltern vorgelebten, auf Gleichheit ausgerichteten Paarbeziehung dar. An dem Thema, ob er nach seinem Studium nach Guinea zurückkehren soll oder nicht, werden Oumars Ambivalenzen deutlich, denen er mit seinen Rationalisierungstendenzen zu begegnen versucht. Sein Wunsch, in einer Demokratie zu leben, schließt eine Rückkehr nach Guinea – zumindest in absehbarer Zeit – aus. Deutschland ist für Oumar jedoch auch unsicher als Zukunftsperspektive, weil seinVerhältnis zu diesem Land nach wie vor distanziert ist und er darum nicht weiß, ob er überhaupt in Deutschland bleiben will. Trotz der positiv erlebten demokratischen Verhältnisse leidet er gefühlsmäßig stark unter der strukturellen Zurückweisung und fremdenfeindlich motivierten Ablehnung seitens der Deutschen. Darüber hinaus ist es fraglich, ob er nach seinem Studium einen Aufenthaltsstatus in Deutschland erhalten kann. Oumar kann sich den erweiterten adoleszenten Möglichkeitsraum in Deutschland nur zögerlich aneignen und braucht dazu viel Unterstützung von anderen. Insgesamt sind Oumars Lebensvorstellungen noch nicht gefestigt. Das Hin- und Herpendeln zwischen den Idenitifizierungen mit den Idealen seiner Eltern und seinen eigenen zaghaften Entwürfen prägen sein unsicheres Gefühl für die Zukunft. Er weiß noch nicht, wie seine Identitätssuche ausgehen wird – alles scheint möglich, wie in einer „Lotterie“. Die Ambivalenz zwischen den extremen Polen scheint unauflösbar zu sein, wenn auch sein intellektueller Habitus vordergründig über die Unsicherheit hinwegtäuscht. Deutlich ist eine enge Identifizierung mit seinem Vater, dessen Scheitern Oumar zwar andeutet, gleichzeitig aber nicht wirklich wahrhaben möchte. Oumar ist kein Draufgänger, der voranschreitet, sondern er sucht einen Gruppenzusammenhang beziehungsweise eine starke Frau an seiner Seite, in dessen Gemeinschaft bzw. mit deren Unterstützung er Kraft gewinnt. Oumar wirkt einerseits als Erwachsener, der seine Zukunftsperspektiven realistisch auslotet und sich pragmatisch zur Migration entscheidet. Gleichzeitig präsentiert er sich auch als der zerbrechliche Jun-
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ge, der Hindernisse tapfer zu überwinden versucht. Oumars Strategie, seine Gefühle zu unterdrücken und unliebsame Situationen rational zu begründen, wird auch in seiner Haltung zur Forscherin erkennbar. Es ist ihm schwer möglich, mit ihr, einer Repräsentantin der Gesellschaft, die ihm als Schwarzen ablehnend gegenübertritt, über seinen Schmerz der erlittenen Demütigungen in Deutschland zu sprechen. Aus Unklarheit darüber, was die Forscherin von ihm will, hält er sie sich auf Distanz, indem er das Gespräch auf einer intellektuellen und sehr realitätsbezogenen Ebene führt. Oumars Habitus zeigt aber unverkennbar den verletzbaren, sehr gefühlvollen Menschen, der große Anstrengung darauf verwendet, Haltung zu bewahren, und dadurch seine Rationalisierungen wieder enthüllt. Oumar Adoleszenzentwicklung findet unter einschränkenden Bedingungen statt. Seine in der Kindheit erlebten Trennungserfahrungen verhindern das Einsetzen von adoleszenten Ablösewünschen. Die Migration nach Deutschland setzt einerseits einen adoleszenten Entwicklungsschub in Gang, indem Oumar gezwungen wird, die Idealvorstellungen seiner Eltern mit der Realität abzugleichen, und dadurch in eine innere Krise hinsichtlich seines eigenen Lebensentwurfes gerät. Andererseits verzögert die Migrationssituation in Deutschland Oumars Entwicklung, weil die Auseinandersetzung mit den Eltern wegen der räumlichen Distanz blockiert wird. Auch ist er von den äußeren Fremdheitserfahrungen in der hiesigen Gesellschaft überfordert und muss einen großen Teil seiner Energie darauf verwenden, sich ein stabiles emotionales Umfeld zu schaffen, mit dessen Hilfe er in der ihm noch fremden Welt bestehen kann. Aufgrund seiner fehlenden inneren Auseinandersetzung mit seinen Eltern bleibt sein Lebensentwurf grundsätzlich gebunden an deren intellektuelle Muster, von denen er sich nur partiell lösen kann. Nicht Autonomie ist Oumars Bestreben, sondern die Bindung an eine stabile Bezugsgruppe, die ihm die nötige Geborgenheit und Sicherheit gibt, um seine beruflichen Ziele zu erreichen und die ihm feindlich gesinnte Außenwelt ertragen zu können. Oumar hat im Laufe seines Lebens wenig innere Ressourcen entwickelt, um sich in der fremden und ablehnenden deutschen Gesellschaft aktiv einen Platz zu erobern. Erst durch die Einbettung in ein Netz enger Freunde findet er den nötigen emotionalen Halt, um sich allmählich auch den erweiterten adoleszenten Entwicklungsspielraum aneignen und sich damit in der fremden Welt ein Stück weit verankern zu können. Dies findet jedoch in engen Grenzen statt – es bleibt eine deutliche Distanz zwischen Oumar und den Deutschen bestehen. Ähnlich wie in der Migrationserfahrung seiner Kindheit unterdrückt er auch heute seine Kränkungen und begegnet der hiesigen Gesellschaft mit intellektuellem Habitus und der Rationalisierung seiner negativen Erfahrungen.
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4.2.5 Binta Traoré – Die Deplatzierte Binta Traoré ist siebenundzwanzig Jahre alt und lebt seit vier Jahren in Deutschland. Sie stammt aus einer wohlhabenden Familie mit vielen Kindern, von denen Binta die zweitjüngste ist. Eine ihrer älteren Schwestern lebt mit ihrer Familie in Frankreich und einer ihrer älteren Brüder in Hamburg. Die anderen Geschwister leben in Guinea. Binta studiert zurzeit in Darmstadt Internationales Recht.
Kontaktaufnahme Der Kontakt zu Binta kam über Mohamed, einen anderen Forschungsteilnehmer, zustande, der ein Freund Bintas ist. Sie ist in den Semesterferien täglich bei Mohamed in Frankfurt zu Besuch, da sie in dem Studentenwohnheim in Darmstadt, wo sie wohnt, kaum Kontakte hat. Mohamed organisiert das Gespräch mit Binta und der Forscherin. In einem Telefongespräch am Tag vorher stimmen sie selbst lediglich die genaue Uhrzeit ab. Binta wirkt am Telefon auf die Forscherin wenig engagiert und interessiert an dem Gespräch, gleichzeitig scheint sie aber auch nicht abgeneigt zu sein. Als die Forscherin zur verabredeten Zeit in der Wohngemeinschaft Mohameds eintrifft, begrüßt Binta sie sehr freundlich, sie macht einen netten Eindruck. Sie ist gerade von der Arbeit in einer Wäscherei gekommen, wo sie während der Semesterferien jobbt, und davon etwas müde. Beide setzen sich an den Tisch der Gemeinschaftsküche, die Forscherin erklärt die Methode und fragt Binta, ob sie noch Fragen zum Gespräch habe. Als diese verneint, baut die Forscherin das Aufnahmegerät auf und erläutert ihr thematisches Anliegen für das Gespräch.
Initialszene M.G.: Binta: M.G.: Binta: M.G.: Binta: M.G.: Binta:
sowohl eh Ihre Es wäre gut, wenn Sie eine Frage stellen, dann können wir die Frage deplatzieren. Ja? Dann kommt Idee . und .. Mhm .. also mich interessiert so sowohl Ihre Kindheit *in Guinea *Mhm was Sie so erlebt haben, als auch so der Weg, wie Sie nach Deutschland gekommen sind. Wie Sie das erlebt haben. (leise) Okay .. kann ich anfangen ja?
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M.G.: Binta: M.G.: Binta: MG: Binta:
183 Sie fangen einfach an, wo Sie möchten Okay und wenn, kann ich immer noch ne Frage stellen, aber Sie können ja erstmal beginnen. Okay, jetzt schon? Ja. Okay. Also das ist so: ich lebe fast zwa- vier Jahre ungefähr so in Deutschland.
(Transkript, S.1) Die Aufnahme des Gesprächs beginnt mitten in einem Satzes der Forscherin, der von Binta unterbrochen wird: „Es wäre gut, wenn Sie eine Frage stellen“. Diese Aufforderung lässt vermuten, dass sie die Frage dann entsprechend beantworten möchte, also eine Art Anleitung für das Gespräch fordert. Binta fährt aber fort: „dann können wir die Frage deplatzieren“. Binta möchte wissen, was die Forscherin genau von ihr wissen möchte, um dieses Anliegen dann zu deplatzieren, also beiseite zu räumen. Sie möchte anscheinend etwas anderes als die Forscherin in diesem Gespräch verhandeln. Bevor sie ihr Anliegen anbringt, will sie aber erst die Frage der Forscherin beantworten. Der Begriff „deplatzieren“ ist hier äußerst irritierend, er bedeutet eine Verneinung des zuvor Eingeforderten, nämlich der Frage. Auffällig ist auch das „wir“ in dem Satz. Es lässt darauf schließen, dass sie gemeinsam mit der Forscherin handeln möchte und nicht getrennt von ihr. Der Satz lässt sich also so verstehen, dass Binta zunächst die Fragestellung der Forscherin abhandeln möchte, sie damit beiseite räumen, um anschließend Raum für ihr eigenes Thema zu bekommen, über das sie mit der Forscherin sprechen möchte. Die Forscherin fragt erstaunt „Ja?“, woraufhin Binta ihr Anliegen erläutert: „Dann kommt Idee . und ..“. Damit bezieht sie sich auf den ersten Teil ihres vorherigen Satzes, in dem sie die Forscherin auffordert, eine Frage zu stellen. Binta gibt damit zu verstehen, dass sie einen konkreten äußeren Anreiz braucht, um ihre Erzählung zu beginnen. Die Forscherin signalisiert mit „Mhm“ ihr Einverständnis und sagt dann: „also mich interessiert so sowohl Ihre Kindheit in Guinea, [Mhm] was Sie so erlebt haben, als auch so der Weg, wie Sie nach Deutschland gekommen sind. Wie Sie das erlebt haben“. Damit macht sie ihr Interesse an Binta deutlich, nämlich wie diese ihre „Kindheit in Guinea“ und den „Weg nach Deutschland“ erlebt hat. Im Vordergrund steht dabei das Erleben dieser Ereignisse, denn die Formulierung, was und wie Binta „erlebt“ hat, wiederholt sie zweimal. Binta ist anscheinend zufrieden mit dieser Fragestellung, denn sie antwortet „Okay .. kann ich anfangen ja?“. Sie sagt dies leise, wohl weil ihr bewusst ist, dass die Aufnahme bereits läuft und sie ihre Frage als nicht zum Gespräch gehörig versteht. Mit ihrer Frage vergewissert sie sich, dass die Forscherin fertig ist mit ihrer Fragestellung, und holt
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die Erlaubnis ein, anfangen zu dürfen. Die Forscherin sagt dann: „Sie fangen einfach an, wo Sie möchten“. Damit eröffnet sie Binta einen Spielraum, in dem sie selbst bestimmen kann, worüber sie spricht. Binta sagt daraufhin noch einmal „Okay“, die Forscherin fährt aber fort: „und wenn, kann ich immer noch ne Frage stellen, aber Sie können ja erstmal beginnen“. Was sie mit „und wenn“ meint, ist nicht deutlich. Sie kann damit einerseits auf Bintas Bedürfnis anspielen, auf eine konkrete Frage antworten zu wollen, oder darauf, dass Binta die Fragestellung der Forscherin vielleicht nicht in ihrem Sinne beantworten wird. Auf jeden Fall möchte die Forscherin, dass Binta „erstmal“ beginnt, sie will ihr anscheinend mit diesem Satz das Anfangen erleichtern. Binta antwortet daraufhin „Okay, jetzt schon?“. Sie ist offenbar unsicher, ob sie die Aufforderung der Forscherin richtig verstanden hat, und verlangt mit der Formulierung „jetzt schon“ die Zustimmung, wirklich anfangen zu dürfen. Wobei das „schon“ ein wenig ironisch anmutet, da es ja bereits die zweite Nachfrage Bintas ist, vielleicht ist sie schon ungeduldig geworden. Diesmal antwortet die Forscherin einfach mit „Ja“ und Binta sagt zum vierten Mal „Okay“. Ihr scheint es wichtig zu sein, ihr Einverständnis der Forscherin gegenüber zu signalisieren. Dann beginnt Binta ihre Erzählung: „Also das ist so:“, diese Formulierung hat etwas Förmliches, Offizielles, das sie ihrer Erzählung voranstellt, so als wollte sie ihre Geschichte damit festschreiben und sagen: So ist es gewesen und nicht anders. Dann fährt sie fort: „ich lebe fast zwa- vier Jahre ungefähr so in Deutschland“. Entgegen der vorangestellten förmlichen Einleitung ist Binta in ihrer Erzählung nun nicht so eindeutig. Statt „vier“ will sie zunächst zwei Jahre sagen und fügt dann ein „ungefähr so“ an, gerade als sei ihre Aussage insgesamt unsicher. Inhaltlich setzt sie den Akzent ihrer Erzählung auf die Zeit, die sie bereits hier in Deutschland lebt. Binta macht damit deutlich, dass sie über ihre Erlebnisse in Deutschland sprechen möchte. Zusammengefasst lässt sich die Eingangsszene folgendermaßen verstehen: Binta fordert von der Forscherin einen deutlichen Rahmen, einerseits um sich an ihm zu orientieren, andererseits um ihn umstoßen zu können. Ihre präsentierte Selbstständigkeit nimmt sie gleichzeitig wieder zurück, indem sie erst anfängt zu erzählen, nachdem sie dafür die Erlaubnis von der Forscherin erhalten hat. Ihre Erzählung ist geprägt von der Ambivalenz zwischen offizieller Förmlichkeit und kindlicher Unsicherheit. Binta kann sich offenbar selbst noch nicht verorten und schwankt zwischen beiden Polen hin und her. Im Vordergrund stehen aber ihre Selbstständigkeit und das Bestreben, gemeinsam mit der Forscherin zu handeln. Zur Forscherin setzt sie sich mit einer ambivalenten Haltung in Beziehung, indem sie von ihr etwas einfordert, was sogleich wieder verdrängt werden soll, und indem sie sich gleichzeitig selbstständig und unterwürfig präsentiert.
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Inhalt und Verlauf des Forschungsgesprächs Binta geht im Anschluss an die Intitialszene kurz auf ihre Kindheit ein, die sie als „sehr schön“ (S.1/19)44 bezeichnet. Die Familie habe viel Geld und daher „eigentlich kein Problem gehabt ja?“ (S.1/25). Die Bemerkung, sie seien „eigentlich so ein bisschen viele Kinder“ (S.1/20) gewesen, deutet auch auf Defizite hin, die Binta aber nicht benennt. Dann kommt sie auf ihre Migration zu sprechen. Binta hat ihrem Vater, nachdem sie die Prüfung zur Aufnahme an der Universität in Conakry nicht bestanden hatte, gesagt: „Okay ich fahr irgendwo anders nach Europa, nach Amerika zu studieren“ (S.1/32). Er war aber dagegen und wollte es seiner Tochter nicht erlauben, im Gegensatz zu seinem Sohn, der in Hamburg studiert. Binta habe jedoch „zum Glück“ (S.1/37) einen Onkel, der auch in Deutschland studiert hat und heute in Guinea arbeitet. Dieser habe sie in ihrem Migrationswunsch unterstützt und mit Bintas Vater gesprochen. Schließlich sei der Vater einverstanden gewesen und habe sie bei der Umsetzung ihrer Pläne unterstützt. Er habe die Bescheinigung, dass er für ihren Lebensunterhalt aufkommen kann, besorgt, Binta eignete sich die nötigen Deutschkenntnisse an und ein Bekannter von ihr nahm in Deutschland die Einschreibung an der Universität vor. Binta schildert dann, dass sie anfangs große Probleme hatte, sich an die „Lebensweise von der Deutschen also“ (S.2/35) zu gewöhnen. Sie habe bei einem Bekannten gewohnt, der den ganzen Tag nicht zu Hause war, und sich darum sehr einsam gefühlt. „Und ich hatte Heimweh, schrecklich Heimweh“ (S.2f). Aus Bintas Schilderungen wird deutlich, dass sie in den ersten Wochen in Deutschland eine heftige psychische Krise durchgemacht hat, weil sie das erste Mal von ihrer Familie getrennt und nicht daran gewöhnt war, alleine zu sein. Ihr Vater habe es in einem Telefongespräch jedoch abgelehnt, dass sie nach Guinea zurückkehrt, und ihre guineischen Freunde hätten über sie gelacht, weil sie sich so kindlich verhalten habe. Daraufhin habe Binta beschlossen zu kämpfen. Sie ist zunächst nach Hamburg zu ihrem Bruder gezogen und hat dort einen Deutschkurs besucht. Nach der bestandenen Sprachprüfung bewarb sie sich an der Uni für das Studienkolleg, bekam in Hamburg aber nicht sofort einen Platz. Mohamed ermutigte sie, nach Frankfurt zu kommen, wo sie sofort anfangen konnte mit dem Studienkolleg. Die Prüfungen seien ihr nicht leicht gefallen, doch mit Unterstützung von Mohamed habe sie alle bestanden. Binta beschließt ihre Eingangserzählung mit den Worten: „Und bis hierher das ist mein Erlebnis kann ich so sagen“ (S.4/39f) und fährt dann fort: „Also oft ist das Problem bei mir, dass . ich habe immer Angst davor, wenn ich mein Visum verlängern muss“ (S.4/42f). Binta kommt damit auf ihre Schwierigkeiten zu spre44
Die Zitate dieses Abschnitts stammen alle aus dem Transkript des Forschungsgesprächs mit Binta.
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chen, die sie in Deutschland hat. Anhand der ausführlichen Schilderungen mehrerer negativer Erlebnisse, die sie mit der Ausländerbehörde, dem Studentenwerk und dem Hausmeister des Studentenwohnheims hatte, wird deutlich, wie sehr es Binta verletzt, in Deutschland als Ausländerin abgelehnt zu werden. Binta zieht aus diesen Ereignissen für sich den Schluss: „Aber das Wichtigste für mich ist, dass man, dass ich mein Studium . also erfolgreich beende. Und dass ich irgendwann zurück in mein Heimatland nach dem Studium. Das will ich unbedingt“ (S.8/9ff). Binta erzählt, dass sie zunächst Betriebswirtschaft in Frankfurt studierte und nun für Internationales Recht in Darmstadt eingeschrieben ist. Ihre Perspektiven für die Zeit nach dem Studium sind für sie noch nicht konkret. Zunächst möchte sie ihr Examen machen und dann vielleicht ein Praxissemester in England verbringen. Später würde sie gerne Investoren finden, die mit ihr zusammen in Afrika eine Firma aufbauen. Der Sitz der Firma solle jedoch nicht Guinea, sondern Europa sein. Binta begründet dies mit der hohen Arbeitslosigkeit und der Korruption in Guinea, die es den im Ausland ausgebildeten Rückkehrern erschweren, einen normalen Arbeitsplatz zu erhalten. Sie erkennt ihre Schwierigkeiten, die in Deutschland erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten in Guinea auch umsetzen zu können. Daher hofft Binta auf Unterstützung seitens noch zu findender Investoren aus Europa: „und vielleicht kriege ich auch Glück irgendwann mit solche Leute zu arbeiten. Dann fahre ich dann zurück, glaube ich“ (S.9/29f). In Europa zu bleiben ist weniger eine Perspektive, weil Binta großes Heimweh hat. In Deutschland hat sie viele Bekannte, die auch aus Guinea kommen. Anfangs habe sie sich sehr eine deutsche Freundin gewünscht, diese aber nicht gefunden. Auch die Suche über das Internet blieb erfolglos. Binta erzählt dies mit großer emotionaler Beteiligung, ihre Stimme bebt dabei. Schließlich fasst sie sich wieder und sagt, dass sie damals eben habe schnell deutsch lernen wollen, was sie auch so einigermaßen geschafft habe. Sie habe auch gemerkt, dass „die Leute auch sehr . also . ein bisschen Angst vor Ausländern haben, das hab ich ein bisschen gespürt“ (S.10/9f). Ein Kollege habe ihr erzählt, dass die Deutschen ihre Freunde bereits als Kind kennen lernen, zusammen aufwachsen und daher später keine neuen Freunde bräuchten. Als die Forscherin über diese Erklärung lacht, antwortet Binta: „Ja ja, der hat mir so gesagt“ (S.10/24). Sie finde das „eigentlich auch blöd also“ (S.10/26), aber man gewöhne sich irgendwann daran. Sie habe sich anfangs nicht vorstellen können, sich an diese Lebensweise anzupassen, sei aber hier „jetzt wirklich sehr froh“ (S.13/12). Binta begründet dies mit ihrer hier gewonnenen Selbstständigkeit. Früher habe ihr Vater immer gesagt, wie sie etwas machen soll. „Aber jetzt, ich suche mir meine Wohnung selbst, die Wohnung . alles alles und ich lese alle meine Briefe selbst, unterschreibe alles. Und ich weiß jetzt also fast alles, was
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man mir erklärt. [Mhm] Und ich kann jetzt wo auch, also überall in Deutschland laufen, ohne Probleme. Und ich bin sehr froh darüber wirklich“ (S.13/13ff). Wenn sie auch nicht immer mit allem klarkommt, ist es für Binta sehr wichtig, eine andere Lebensweise kennen gelernt zu haben. Sie vergleicht ausführlich die Unterschiede zwischen Afrika und Europa insbesondere hinsichtlich der Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Kindern und Eltern und lobt die in Deutschland gewährte finanzielle Unterstützung vom Staat, mit der die Kinder viel früher von zu Hause ausziehen und selbstständig werden können. „Ja, so ich glaube in Deutschland das ist auch ein gutes System, ja“ (S.12/13). Binta erzählt, wie sehr sie sich in Guinea bemüht habe, selbstständig zu werden, daran jedoch stets von ihren Eltern gehindert worden sei. Sie berichtet davon, dass, als sie einen Job auf der Messe annehmen wollte, ihre Mutter dies habe verhindern wollen, da sie das Geld nicht nötig habe. Binta setzte sich jedoch gegen die Mutter durch und erhielt die Erlaubnis, dort zu arbeiten. Der Job habe Binta sehr viel bedeutet, das erste Mal habe sie Geld verdient und sagen können: „okay, ich kaufe mir das, für mich selbst“ (S.12/40). Heute findet Binta es „unglaublich“ (S.12/47), dass man in Guinea in ihrem Alter noch von den Eltern abhängig ist. Der Messejob war für Binta aber nicht nur wegen des Geldes wichtig, sondern weil sie erstmals ihre eigene Wirkmächtigkeit erlebt hat. Binta ist der Meinung, wenn ihre Eltern sie zu mehr Selbstständigkeit erzogen hätten, „dann hätte ich sehr . also besser bis jetzt hätte ich schon was . mein Diplom und alles“ (S.15/31f). Sie sagt, wenn man unselbstständig ist, denke man, alles sei einfach, „man denkt, das Leben ist nur Traum, ganz einfach. […] aber es ist das Gegenteil, wirklich“ (S.15/42f). Früher hätten die Eltern immer gesagt, was sie machen solle, zum Beispiel für die Schule lernen, aber hier habe sie gelernt, selbst zu entscheiden, wann und wie viel sie lerne. „Und ich weiß, wenn ich nicht lerne, ich kriege kein Visum. Ja? Wenn ich nicht lerne, ich kriege kein Semesterticket, gar nichts, und ich bin dann ab, weil ich werde dann zurück in mein Heimatland. Und das will ich nicht, ich will nicht etwas anfangen und nicht zu Ende bringen“ (S.16/28ff). Binta ist sich sicher, dass sie heute noch abhängig von den Eltern und unselbstständig wäre, wenn sie in Guinea geblieben wäre. Sie möchte das später bei ihren Kindern anders machen. Hinsichtlich der Familiengründung meint Binta, es werde nicht einfach, einen Mann zu heiraten, der nie aus Guinea herausgekommen sei, der würde er ihr „nur erlauben, also lassen, dass ich jeden Tag koche“ (S.17/41). Sie stelle sich eher einen Mann vor, der „schon Erfahrung hat“, der „auch schon in Europa studiert hat“ und „einmal selbstständig gewesen wäre“ (S.17/22f). Ein Mann aus Europa käme eher nicht in Frage. Bei diesem Thema sagt Binta: „ein Mann wäre ja schon gut für mich . aber [...] ich habe noch Zeit, glaube ich“ (S.18/7ff). Über ihre Familie spricht Binta auffällig wenig und bei Nachfragen der Forscherin
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wird sie stets sehr einsilbig. Die wichtigste Rolle spielt ihr Vater, der viel Geld hatte, immer alles bezahlte, was sie mehrmals betont. Er habe Binta auch stets gesagt, was sie tun solle. Es ist eine starke emotionale Bindung zu ihrem Vater spürbar, wenn Binta über ihn spricht. Vor einem halben Jahr ist der Vater gestorben, sie konnte nicht zur Beerdigung fahren, da sie gerade Prüfungen hatte. Sie weint, als sie das erzählt. Ihre Mutter erwähnt Binta so gut wie gar nicht. Sie ist Hausfrau, erklärt sie auf Nachfragen und spricht dann allgemein von der traditionellen Frauenrolle in Guinea. Für die Frauen sei es normal, die Hausarbeit zu machen, die Kinder zu versorgen und zu pflegen ohne Unterstützung durch den Mann. Auch ihre Geschwister erwähnt sie kaum, die Beziehung zu ihrem Bruder in Hamburg bleibt ebenfalls unklar. Gegen Ende des Gesprächs fragt die Forscherin, welche Träume Binta für ihr Leben habe. Sie antwortet, ihr erster Wunsch sei, „dass ich mein Studium wirklich erfolg- mit Erfolg beende“ (S.18/16). Weiter wünscht sie sich, einen Mann zu heiraten, „den ich wirklich liebe, der mich auch liebt“ (S.18/18), einen Arbeitsplatz und „dass ich wirklich glücklich bin“ (S.18/20). Außerdem möchte sie ihre Mutter glücklich machen, „wie sie mich glücklich gemacht hat“ (S.18/22). Und irgendwann einmal möchte sie auch in Afrika ein Haus bauen, ihre Kinder richtig erziehen „und manchmal auch nach Europa verreisen (amüsiert) und gucken, Urlaub machen und alles“ (S.18/25f). Auf die Frage nach Vorbildern antwortet Binta zunächst konfus und unverständlich. Sie spricht dann im Folgenden darüber, dass sie etwas für ihr „Heimatland“ tun möchte. Sie wisse zwar, dass sie die Macht nicht dazu bekommen werde, doch würde sie gerne die Schulpflicht einführen wie in Europa, die Rechte der Frauen „entwickeln“, dass sie sich nicht „immer oft von den Männern unterdrücken lassen“, und Kindergärten für arme Kinder einrichten, um denen eine Chance für die Zukunft zu geben (S.18f). Binta zweifelt zwar „ob das möglich, alles möglich für mich werde“, doch wolle sie das. Dann fügt sie jedoch hinzu: „Nur was ich jetzt sehe, ich meine, was ich morgen will, ich sehe das. Aber nicht kon- nicht konkret, nicht konkret, aber abstrakt“ (S.19/18f).
Verweigerung der Anerkennung Der folgende Gesprächsausschnitt gibt eines der Ereignisse wieder, anhand deren Binta ihre Ängste und Schwierigkeiten in Deutschland beschreibt. Es handelt sich hier um eine Begegnung mit dem Hausmeister des ersten Studentenwohnheims, aus dem sie ausziehen musste. Binta:
Und dann . also als ich so von dem ersten Wohnheim schnell also unter Druck ausziehen musste,
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M.G.: Binta:
M.G.: Binta:
M.G.: Binta:
M.G.: Binta: M.G.: Binta: MG: Binta:
189 Mhm habe ich eh so mit dem Hausmeister, ich habe so was von dem Hausmeister gehört, das was mir gar nicht gefallen hat. Also wenn man ausziehen muss, muss man eigentlich das Zimmer sauber machen und alles. Und wo ich wohnte, gab es so eine kleine Terrasse. Mhm Und es gab so einen Baum gegenüber der Terrasse und es fällt oft schmutziges (uv) so auf den Boden der Terrasse. Und der hat gesagt, er kommt hoch, okay du musst das sauber machen alles. Ich habe alles sauber gemacht alles. Und die Terrasse, ich konnte, das war gelb ganz wie wie Glibber. Mhm Ich musste das nur mit Wasser da ran. Es war (uv). Ich habe dann ein bisschen Wasser genommen. Und das Wasser ist alles da runter gefallen. Und der Hausmeister kommt aus seinem Büro und steht da und sagt: (mit verstellter Stimme) Was machst Du da oben? Glaubst du du bist in Afrika? Mhm (wieder normale Stimme) Ja er hat mir so gesprochen. (mit zittriger Stimme) Und . das . das werde ich wirklich nie vergessen. Mhm Und immer, ich sehe ihn manchmal, immer wenn ich ihn sehe . ich habe, also das nervt mich immer noch. Mhm ja, das glaube ich. Ja. .. Und das ist eigentlich, es gibt viel viel, was man eigentlich schon also als Student erlebt, kann ich so sagen. Sogar als ausländischer Student.
(Transkript S. 7f) Binta leitet die Szene mit dem Hinweis ein, dass sie aus dem Wohnheim unter Druck ausziehen musste. In dieser Situation hat sie etwas „von dem Hausmeister gehört, das mir gar nicht gefallen hat“. Damit kann eine Bemerkung Dritter gemeint sein, die sich über den Hausmeister geäußert haben, oder eine Äußerung vom Hausmeister selbst. Im nächsten Satz beginnt sie dann, die Situation näher zu erläutern: „Also wenn man ausziehen muss, muss man eigentlich das Zimmer sauber machen und alles“. Das Zimmer muss „eigentlich“ sauber gemacht werden. Diese Formulierung weist daraufhin, dass in Bintas Situation eine Abweichung von dem stattfand, was „eigentlich“ normal ist, sie also entweder ihr Zimmer nicht sauber machen musste oder aus irgendwelchen Gründen nicht sauber gemacht hat. Sie schildert, dass die zum Zimmer gehörige Terrasse von einem Baum gegenüber verschmutzt wird. Dann fügt Binta ein: „Und er hat gesagt, er kommt hoch, okay du musst das sauber machen alles“. Sie wusste also, dass der Hausmeister das Zimmer besichtigen würde und sie darum „alles“
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sauber machen musste. Die Wiederholung ihrer Pflicht, das Zimmer zu säubern, weist darauf hin, dass Binta damit ein Problem hatte, sie fühlte sich offenbar sehr unter Druck, das Zimmer zu reinigen. „Ich habe alles sauber gemacht alles. Und die Terrasse, ich konnte, das war gelb ganz wie Glibber". Offenbar bereitete ihr der gelbe „Glibber“ Probleme bei der Reinigung. „Ich musste das nur mit Wasser da ran“. Ohne Wasser konnte sie die Terrasse also nicht sauber bekommen. Binta beschreibt, dass sie „ein bißchen Wasser genommen“ habe, das dann „alles da runter gefallen“ ist. Daraufhin kommt der Hausmeister unten „aus seinem Büro und steht da und sagt: (mit verstellter Stimme) was machst du da oben? Glaubst du du bist in Afrika?“. Der Hausmeister duzt Binta und erniedrigt sie in dieser Szene zu einer Putzfrau, die nicht in der Lage sei, sich an hiesige Verhältnisse anzupassen. Was in Afrika üblich ist, gilt nicht für Deutschland, signalisiert er Binta. Dabei dramatisiert er aus Bintas Sicht den Umstand, dass lediglich etwas Wasser vom Balkon heruntergetropft ist. „Ja, er hat mir so gesprochen“. Binta betont damit noch einmal, dass er es wirklich so gesagt hat, als ob sie es selbst nicht glauben könne. „(mit zittriger Stimme) Und . das . das werde ich wirklich nie vergessen“. Sie ist sehr erregt bei der Schilderung dieser Szene, damit wird deutlich, wie sehr sie die Worte des Hausmeisters getroffen haben. Nachdem sie vorher so bemüht war, ihrer Pflicht nachzukommen und das Zimmer sauber zu übergeben, trifft sie seine Reaktion doppelt hart. Sie ist so betroffen, dass sie diese Reaktion des Hausmeisters „wirklich nie vergessen“ wird. Immer noch regt es sie auf, wenn sie dem Hausmeister heute begegnet. Binta beschließt die Schilderung dieser Situation dann mit den Worten: „Und das ist eigentlich, es gibt viel viel was man eigentlich schon also als Student erlebt, kann ich so sagen.“. Binta gibt zu verstehen, dass sie noch mehr Erlebnisse dieser Art schildern könnte, weil man als Student vieles erlebt. Sie fügt dann hinzu: „Sogar als ausländischer Student“. Damit macht sie deutlich, dass sie als ausländische Studentin eher Respekt und Zurückhaltung seitens der Deutschen erwartet, ihr stattdessen jedoch mit Respektlosigkeit und Erniedrigung begegnet wird. „Sogar“ den ausländischen Studenten begegnen die Deutschen mit ihrer fremdenfeindlichen Haltung. In dieser Szene wird deutlich, wie sehr Binta versucht, sich in Deutschland anzupassen. Sie macht jedoch die Erfahrung, dass, egal wie sehr sie sich bemüht, sie dennoch nie wirkliche Anerkennung seitens der Deutschen bekommen wird. Denn der Hausmeister kritisiert sie nicht inhaltlich, sondern gibt ihr unmissverständlich zu verstehen, dass er der Meinung ist, Binta sei hier nicht am richtigen Platz, sie gehöre nach Afrika. Bintas Erregung und die nachhaltige Wirkung, die diese Äußerung des Hausmeisters auf sie hat, zeigt, wie sehr er ihre innere Problematik getroffen hat und das Erlebnis mit ihm stellvertretend für die Erfahrungen steht, die Binta in Deutschland macht. Sie wird nicht ent-
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sprechend ihrem Status als ausländische Studentin behandelt, sondern fühlt sich zur Putzfrau und unerwünschten schwarzen Ausländerin degradiert. Diese Missachtung durch die Deutschen kann Binta schwer verwinden, weil ihr damit ihre Deplatziertheit in Deutschland deutlich gemacht wird, dem Land, wo sie gleichzeitig so wichtige positive Erfahrungen gemacht hat.
Schluss-Szene Gegen Ende des Gesprächs spricht Binta von der Rolle der Frauen in Guinea, die zu Hause alles machen. In der heutigen Generation gebe es jedoch eine gewisse „Traditionsveränderung“ (S.20/11), nicht so hundertprozentig, doch ein bisschen verändere sich schon. Sie nennt das Beispiel der Studenten, für die es ein Wohnheim an der Universität gibt und die ein wenig Unterstützung vom Staat bekommen und dadurch selbstständig leben können. Diese Möglichkeit gibt es zwar schon länger, doch anders als heute verweigerten die Eltern es den Kindern früher, sie in Anspruch zu nehmen. Binta bezeichnet es als „eigenartig“, dass die Eltern so reagierten, sie behandelten einen wie ein kleines Kind. Daran schließt sich die folgende Schlusspassage an. Binta:
M.G.: Binta: M.G.: Binta: M.G.: Binta: M.G.: Binta: M.G.: Binta: M.G.: Binta:
M.G.:
Ja (4 Sec. Pause) Das ist, ja . es ist sehr alt, aber jetzt wohn- viele wohnen jetzt dort. Meine Schwester studiert Medizin, sie hat ihr viertes Semester, ja sie wohnt auch dort. Sie kommt zu Hause nur in den Ferien, zurzeit sie hat Ferien, sie wohnt bei meiner Mutter. Sie sagt, sie sucht sich Arbeit, sie (uv Satz) Sie sagt nein, sie will lieber bei meiner Mutter bleiben. Und während des Semesters sie kommt auch oft am Wochenende, Samstag. Und dann fährt sie zurück. Mhm Aber sie sagt, das ist jetzt gut. ... Die Schwester ist jünger? Ja sie ist jünger, sie ist vierundzwanzig jetzt. Und Sie sind auch in Conakry aufgewachsen? Ja, sie ist in Conakry aufgewachsen. Aber Ihre Familie auch? Ja ja ja ja. Mhm Wir sind dort geboren und (uv) Und wo kommt die Familie Ihrer Eltern her? Meine Eltern kommen aus so aus einem Dorf, meine Mutter kommt aus einer Kleinstadt in Conakry. Das ist, wie heißt es? .. Also in Conakry gibt es bestimmte Regionen. Mhm ach sie kommen auch aus Conakry schon?
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Binta: M.G.: Binta: M.G.: Binta: M.G.: Binta: M.G.: Binta:
Ja genau, aus Conakry schon, aber die sind aus Conakry. Mhm Ja und meine Mutter kommt aus einem Stadtteil, das ist (uv). Mhm (5 Sec. Pause) mhm (7 Sec. Pause) (holt Luft) Ja . gibt es noch etwas, was Sie gerne erzählen möchten? Nee, ich glaube nicht. Aber ich glaube, ich habe alles erzählt. Ja? Ja, ich glaube. Okay, vielen Dank. Bitte bitte
(Transkript, S. 20f) Binta bestätigt zunächst mit einem „Ja“ ihre vorhergehende Aussage und macht dann eine Pause im Redefluss. Dann spricht sie darüber, dass die erwähnte Unterstützung vom Staat „sehr alt“ sei, jetzt aber viele dort wohnen würden, also das Angebot eher annähmen als früher. Binta spricht dann über ihre Schwester, die in dem Wohnheim der Universität wohnt und nur in den Ferien nach Hause zur Mutter kommt. Dies ist zurzeit gerade der Fall, die Schwester sucht Arbeit für die Ferien. Ein Satz bleibt unverständlich, so dass nicht deutlich wird, wozu die Schwester „nein“ sagt, vermutlich zu der Möglichkeit, auch während der Ferien in dem Wohnheim zu bleiben. Jedenfalls kommt sie auch am Wochenende oft zur Mutter. Binta beschließt diese Aussage dann: „Aber sie sagt, das ist jetzt gut“. Binta geht es wohl in diesem Abschnitt um die Beschreibung der wachsenden Selbstständigkeit der jüngeren Generation am Beispiel ihrer Schwester, was diese auch als positiv bewertet. Die Forscherin fragt dann, ob die Schwester jünger sei und Binta antwortet: „Ja, sie ist jünger, sie ist vierundzwanzig jetzt“. Die Forscherin spricht Binta nun persönlich an und fragt, ob sie selbst auch in Conakry aufgewachsen sei. Binta bezieht die Frage aber auf ihre Schwester und antwortet: „Ja sie ist in Conakry aufgewachsen“. Die Forscherin fragt dann nach der ganzen Familie: „Aber Ihre Familie auch?“. Binta antwortet mit einem viermaligen „Ja ja ja ja“ und als die Forscherin mit „Mhm“ bestätigt, fährt sie fort: „Wir sind dort geboren und (uv)“.Auf die Frage, woher die Familie von Bintas Eltern komme, antwortet Binta, dass ihre Eltern aus „so einem Dorf, meine Mutter kommt aus einer Kleinstadt in Conakry. Das ist, wie heißt es? .. Also in Conakry gibt es bestimmte Regionen“. Sie antwortet auf die Herkunft ihrer Eltern sehr vage. „so ein Dorf“ hört sich recht unpersönlich an, zumal sie darauf nicht weiter eingeht. Auch dass ihr der Name des Stadtteils von Conakry nicht einfällt, woher ihre Mutter stammt, ist auffällig. Diese Antwort zeugt von einer gewissen Distanziertheit Bintas zu der Familie ihrer Eltern oder auch davon, dass die Herkunft der Eltern in Bintas Leben keine Rolle spielt, so dass sie darüber zwar Bescheid weiß, aber keine praktische Erfahrung damit
4.2 Fallportraits
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hatte. Die Forscherin ist erstaunt darüber, dass Bintas Familie „schon“ aus Conakry stammt und nicht erst von außerhalb zugezogen sind. Binta bestätigt dann: „Ja genau, aus Conakry schon, aber die sind aus Conakry“. Sie scheint erleichtert, damit die Antwort gefunden zu haben. Was sie mit dem „aber“ meint, bleibt unklar. Sie fügt dann aber doch noch hinzu: „Ja und meine Mutter kommt aus einem Stadtteil, das ist (uv)“. Ihr ist offenbar doch noch der Name des Stadtteils eingefallen, aus dem die Mutter kommt, sie spricht ihn aber so undeutlich aus, dass er nicht verständlich ist. Nach einer Pause holt die Forscherin Luft und fragt dann: „Ja . gibt es noch etwas, was Sie gerne erzählen möchten?“. Die Pause scheint unangenehm, die Forscherin muss erst Luft holen, um diesen Satz zu sagen. Binta antwortet: „Nee, ich glaube nicht. Ich glaube, ich habe alles erzählt“. Sie verneint zunächst die Aufforderung, noch etwas zu sagen, sie glaubt, alles erzählt zu haben. Sicher ist sie nicht, sie glaubt es nur. Auch sagt sie nicht, was sie mit „alles“ genau meint. Die Forscherin fragt etwas ungläubig zurück: „Ja?“, was man verstehen könnte wie: Meinen Sie wirklich?. Binta bestätigt aber nochmals: „Ja, ich glaube“ und bleibt damit bei ihrer Aussage. Daraufhin beendet die Forscherin das Gespräch und bedankt sich bei Binta. Binta spricht zunächst ausführlich am Beispiel ihrer Schwester über die Situation der heute relativ selbstständigen StudentInnen in Conakry. Als die Forscherin den Bezug zur Familie aufgreift und Genaueres über die Lebensumstände und Herkunft von Bintas Familie wissen möchte, werden deren Antworten jedoch knapp und eher einsilbig. Binta möchte nicht über ihre Familie sprechen, das wird in dieser Schluss-Sequenz nochmals deutlich. Die Forscherin sieht an dieser Stelle das Gespräch an seinem Ende angelangt und gibt Binta abschließend die Gelegenheit, noch etwas zu sagen, was ihr wichtig ist. Binta glaubt jedoch, alles gesagt zu haben, woraufhin die Forscherin das Gespräch beendet. Binta zeigt in dieser Szene, dass sie selbst die Schwerpunkte des Gespräch zu setzen weiß. Sie tut dies jedoch nicht offensiv, sondern indirekt, indem sie den verschiedenen Themen einen unterschiedlichen Raum gibt. Indem sie „glaubt“, alles gesagt zu haben, sagt sie einerseits ihre Meinung, lässt aber offen, sich vielleicht doch geirrt zu haben.
Ausgestaltung der Forschungssituation Das Gespräch findet in der geräumigen Küche von Mohameds Wohngemeinschaft statt. Es herrscht eher die Atmosphäre eines öffentlichen Raums denn einer intimen, privaten Situation. Eine Mitbewohnerin kommt immer wieder herein und hantiert in der Küche. Auch Mohamed hält sich eine Weile in der
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Küche auf und räumt seine Einkäufe ein, einmal gleichzeitig mit der Mitbewohnerin. Binta sitzt mit dem Rücken zur Küchenzeile und sieht sich jeweils zaghaft um, wenn jemand hereinkommt. Ansonsten macht sie den Eindruck, als lasse sie sich von den anderen nicht stören. Binta geht in ihrer Eingangserzählung auf die Fragestellung der Forscherin ein und berichtet darin hauptsächlich über ihren Weg nach Deutschland und ihre ersten Erfahrungen hier. Dann kommt sie auf das Thema zu sprechen, das ihr am Herzen liegt, die wenig freundliche Umgangsweise der Deutschen mit ihr als Ausländerin. In ihrer Erzählung wird deutlich, wie sehr Binta gekränkt ist von der Haltung der Deutschen ihr gegenüber. Wichtiges Thema, welches das gesamte Gespräch prägt, ist Bintas Selbstständigkeit. Immer wieder kommt sie darauf zurück, und es wird deutlich, wie froh sie darüber ist, aus der Enge der familiären Kontrolle ausgebrochen zu sein. In der zweiten Hälfte des Gesprächs schaut Binta mehrmals verstohlen auf die Uhr an der Wand, ihr Interesse am Erzählen ermüdet langsam. Insgesamt wird das Gespräch stark von Binta bestimmt. Sie bringt ihre eigenen Themen ein, die Forscherin greift wenig ein. Im Forschungstagebuch protokollierte die Forscherin: „Die Atmosphäre war freundlich, aber distanziert. Ich spürte eine Grenze zwischen uns. Binta wollte nichts von mir, den Eindruck hatte ich. Sie war höflich und erfüllte einen Auftrag. Und ich war dankbar, dass sie es tat“45. Die Forscherin fühlte sich als Repräsentantin der Weißen, die Binta normalerweise nicht gut behandeln, denen Binta sich aber zu Dank verpflichtet fühlt. Im Forschungstagebuch heißt es dazu: „Sie wollte mich auf keinen Fall vor den Kopf stoßen, hatte aber kein eigenes Interesse an mir“46. Gleichzeitig war auch die Forscherin kaum berührt von Binta: „Es fällt mir schwer vorzustellen, wie sie dafür gekämpft hat, nach Deutschland zu gehen oder für etwas anderes, wie sie es schildert. Sie ist stolz auf ihre Unabhängigkeit /Selbstständigkeit. Doch ihre Person fehlt mir. Wo ist sie?“47 Es besteht eine Diskrepanz zwischen dem, was Binta erzählt, und dem wie sie sich als Person präsentiert. Binta führt dieses Gespräch auf Aufforderung von außen, sie nutzt es aber gleichzeitig, um ihren kränkenden Erfahrungen Ausdruck zu verleihen. Die Verwirrung der Forscherin weist auf starke Ambivalenzen Bintas hin, die zwischen der kindlichen und der erwachsenen Position hin- und herpendelt.
45 46 47
Zitat aus dem Gesprächsprotokoll, S. 2. Ebd. Ebd.
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Fazit Binta wächst verwöhnt und behütet in einer kinderreichen, sehr wohlhabenden Familie als zweitjüngste Tochter in Conakry auf. Die Beziehungen innerhalb der Familie sind sehr eng, alles, was Binta tut, wird von den Eltern bestimmt. Diese Überbehütung ist für Binta aber auch verbunden mit fehlender Anerkennung der individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten. Der familiären Rollenverteilung, die ein Autonomiestreben nur den männlichen Mitgliedern zugesteht und die weiblichen auf den häuslichen, fürsorglichen und emotionalen Bereich beschränkt, sollen auch die Kinder folgen. In ihrer adoleszenten Auseinandersetzung mit den Eltern strebt Binta eine Integration sowohl der väterlichen als auch der mütterlichen Anteile für ihren Lebensentwurf an. Dabei stößt sie jedoch auf den Widerstand der Eltern, die die Freiheit der Tochter begrenzen möchten. Das mit Hilfe des Onkels erkämpfte Einverständnis der Eltern zur Migration erweitert Bintas adoleszenten Entwicklungsspielraum. Dieser wird aber gleichzeitig von Schuldgefühlen begrenzt, weil die Abkehr vom mütterlichen Lebensentwurf von den Eltern eigentlich nicht gewünscht wird. Die Migration bewirkt zunächst einen Einbruch ihres Autonomiestrebens, da Binta in Deutschland von der fremden Lebensweise und deren Forderungen, ein selbstbestimmtes Leben führen zu müssen, überwältigt ist und mit Regression reagiert. Die radikale Trennung von ihrer Herkunftsfamilie und -kultur belebt zunächst ihre adoleszenten Rückbindungswünsche, die sie durch die Anbindung anfangs an ihren Bruder und später an Mohamed erfüllen kann. Mit deren Hilfe lebt sie sich allmählich in der fremden Welt ein, erobert sich nach und nach neue Lebensbereiche und ist heute stolz auf ihre bereits erfolgte Veränderung. Die Aneignung der fremden Lebensweise wird Binta zusätzlich erschwert durch die abweisende Haltung der Deutschen, die sie in ihrer Handlungsfähigkeit deutlich einschränkt. Die Diskriminierungserfahrungen seitens der Deutschen verunsichern sie sehr und vermischen sich mit den adoleszenten Empfindungen der Fremdheit sich selbst gegenüber. Diese inneren und äußeren Veränderungsprozesse verstärken Bintas adoleszente Fremdheitsgefühle erheblich und führen zu einer deutlichen Begrenzung ihres Entwicklungsspielraums. Zur Überwindung dieser Schwierigkeiten sucht Binta immer wieder die Unterstützung von Mohamed. Ihre Bemühungen, Freundschaften mit Deutschen, insbesondere mit Frauen zu schließen, bleiben erfolglos. Binta fällt es sehr schwer, Kontakte zu finden, weil sie es nicht gewohnt ist, von sich aus auf andere zuzugehen und Beziehungen zu knüpfen. Diese fehlenden Ressourcen erschweren Bintas Verankerung in Deutschland zusätzlich. Dies sowie ihr schlechtes Gewissen, die Familie verlassen zu haben, verhindern eine innere Distanzierung von den Eltern und eine reflexive Auseinandersetzung besonders mit der Mutter.
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Bintas dominierendes Adoleszenzthema ist die Frage, wie sie die Selbstständigkeit in ihren Weiblichkeitsentwurf integrieren kann. Offensichtlich ist ihr ambivalentes Ringen um Erweiterung ihrer Autonomie bei gleichzeitiger Angewiesenheit auf Unterstützung von außen. Einerseits setzt sie sich deutlich von dem Muster ihrer Mutter ab und sucht nach einem neuen Entwurf von Weiblichkeit. Ihr fehlen jedoch konkrete Vorbilder, mit deren Hilfe sie neue Erfahrungen hinsichtlich ihrer Position als Frau machen könnte. Bintas adoleszente Auseinandersetzung mit ihrer geschlechtlichen Identität wird somit blockiert, weil sie ihre erworbene Selbstständigkeit nur schwer mit ihrer Weiblichkeit verbinden kann. Auch in der Frage, wo sie später leben möchte, ist Binta ambivalent. Einerseits wünscht sie sich sehr in ihre Heimat zurück, andererseits weiß sie, dass sie nicht stark genug ist, um sich gegen die alten Abhängigkeitsstrukturen in ihrer Familie zu wehren, und befürchtet, sich ihre in Deutschland erworbene Selbstständigkeit in Guinea nicht bewahren zu können. Ein Verbleib in Deutschland kommt für Binta aufgrund der alltäglichen Rassismuserfahrungen und der fehlenden emotionalen Bindungen nicht in Frage. Sie lotet sehr genau aus, wie sich das Leben in Afrika im Vergleich zu Deutschland für sie gestaltet und kommt dabei immer wieder auf den Punkt, dass sie sich weder in Guinea noch in Deutschland gänzlich verorten kann, sondern in beiden Ländern die Erfahrung der Deplatziertheit macht. Hinsichtlich ihres zukünftigen Ehemannes orientiert Binta sich an guineischen Männern, die ebenfalls über Migrationserfahrungen verfügen. Damit hofft sie, automatisch eine gewisse Autonomie zugestanden zu bekommen, die zu erkämpfen ihr schwerfällt. Binta befindet sich mitten im adoleszenten Entwicklungsprozess, dessen Ausgang offen ist. Sie ist noch auf der Suche danach, wer sie ist, und kann noch keine realistischen Vorstellungen darüber entwickeln, wer sie sein möchte. Sie konzentriert sich auf ihre derzeitige krisenhafte Situation und kann kaum über die Zeit ihres Studiums hinausdenken. Deutlich ist das Fehlen einer weiblichen Identifikationsfigur, an der Binta sich orientieren könnte. Die Begegnung mit der Forscherin findet angeleitet von Mohamed statt. Binta präsentiert sich der Forscherin gegenüber als junges Mädchen, das stolz über seine bisherigen Erfolge berichtet und zu erkennen gibt, dass sie noch viel lernen möchte. Ihre Gesprächsführung zeigt aber, dass sie sich die Gelegenheit, mit einer weißen Forscherin als Repräsentantin der Gesellschaft, die ihr tendenziell ablehnend gegenübertritt, nutzt, um ihre eigenen Themen zu formulieren. Binta tut dies nicht offensiv und deutlich sichtbar, an ihrer Beharrlichkeit wird jedoch ihr Bemühen um Veränderung sichtbar. Sie zeigt ihre Verletzungen, möchte als Person ernstgenommen werden und in einen Dialog mit der hiesigen Gesellschaft treten. Damit ist Bintas Bereitschaft zu etwas Neuen, heute noch Unbe-
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kanntem sichtbar, dessen Herausbildung vom weiteren Verlauf ihrer Adoleszenzentwicklung abhängig ist. Bintas adoleszenter Möglichkeitsraum wurde durch die Familiendynamik stark eingeschränkt, ihre Entfaltungsmöglichkeiten sind somit blockiert. Eine offene Auflehnung gegen die Eltern findet nicht statt, die adoleszente Auseinandersetzung mit alternativen Lebensentwürfen erfolgt daher rudimentär und verhindert grundsätzlich die Ausbildung innerer Ressourcen. Bintas adoleszenter Möglichkeitsraum erfährt hinsichtlich ihrer praktischen Selbstständigkeit durch die Migration eine enorme Erweiterung. Fernab von der familiären Kontrolle kann sie heute ihr Leben relativ eigenständig organisieren, benötigt dafür aber stets Hilfe und Unterstützung von außen. Ihre Entwicklungspotentiale werden aber auch in der Migrationssituation durch die strukturell vorhandene Diskriminierung und die alltäglichen Rassismuserfahrungen wieder beschränkt, da die Ablehnung seitens der Deutschen Bintas Selbstvertrauen stark erschüttert. Sie hat wenig innere Ressourcen wie Konfliktfähigkeit oder Durchsetzungsvermögen zur Verfügung, mit denen sie sich gegen die Ablehnung zur Wehr setzen könnte. So erfährt Bintas adoleszenter Identitätsfindungsprozess aufgrund der fehlenden inneren und äußeren Ressourcen in Deutschland eine deutliche Einschränkung, die die innere Bindung an ihre Herkunftsfamilie und -kultur eher verstärkt denn lockert. Aufgrund dieser inneren Gebundenheit an die Familie kann sie den durch die Migration erweiterten adoleszenten Entwicklungsspielraum nur begrenzt ausschöpfen und ihre Ambivalenz zwischen Autonomie und Abhängigkeit nicht überwinden, die sich in dem Gefühl, sowohl in Guinea wie auch in Deutschland deplaziert zu sein, manifestiert.
4.2.6 Kallil Sow – Der Gehorsame Kallil Sow ist dreiundzwanzig Jahre alt und lebt seit zwei Jahren in Deutschland. Er ist das sechste von insgesamt sieben Kindern seiner Eltern. Eine ältere Schwester und ein älterer Bruder leben auch in Deutschland. Die Schwester Fatima kam zuerst und organisierte dann die Migration ihrer beiden Brüder nach Deutschland. Kallil lebte anfangs bei Fatima in Jena und lernte mit ihr Deutsch. Anschließend besuchte er das Studienkolleg in Rostock. Zurzeit ist er in Rostock für Physik eingeschrieben, wartet aber auf einen Studienplatz für Wirtschaftsingenieurwesen. Zwischenzeitlich jobbt er in Nürnberg, wo auch das Gespräch stattfindet.
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Kontaktaufnahme Der Kontakt zu Kallil kam über seine Schwester Nima zustande, mit der die Forscherin auch ein Gespräch geführt hatte. Als sie hörte, dass die Forscherin noch Gesprächspartner suchte, bot sie an, den Kontakt zu ihrem Bruder in Nürnberg herzustellen. Nachdem sie mit ihm gesprochen hatte, gab sie der Forscherin Kallils Telefonnummer. Diese notierte im Forschungstagebuch: „Sie hat ihn angerufen und ihm gesagt, er soll mit mir sprechen. Ich glaube nicht, dass er gefragt wurde“48. Die Forscherin erzählt Kallil beim ersten Telefongespräch von ihrer Forschungsarbeit und fragt ihn, ob er mitmachen möchte. „Seine Antwort war positiv. Er wirkte sehr nett und strukturiert. Wir verabredeten den Termin und ich hatte keinerlei Zweifel, dass es klappen würde, auch weil ich seine Schwester als sehr strukturiert und bestimmt erlebt hatte“49. Kallil ruft jedoch einen Tag vor dem Termin an und fragt, wann die Verabredung sei. Das Gespräch findet in Nürnberg in der Wohnung von Verwandten der Forscherin statt. Kallil kommt einige Minuten zu früh, als die Forscherin mit ihrem Mann Gerald und ihren Verwandten Sabine und Klaus noch am Kaffeetisch sitzen. Im Gesprächstagebuch protokolliert sie die erste Begegnung so: „Gerald begrüßte Kallil mit ‘on diarama’, der Begrüßungsformel der Fulbe. Kallil war verwirrt, ich erklärte ihm, dass wir schon einige Male in Guinea waren, da hellte sich sein Blick auf“50. Sabine bietet Kallil Kaffee und Kuchen an, was er jedoch mit Hinweis auf den Fastenmonat ablehnt. Klaus gibt Kallil einen Reiseführer über Guinea und erklärt, dass die Forscherin und ihr Mann die Autoren seien. Daraufhin setzt Kallil sich auf das Sofa und beginnt sogleich interessiert darin zu lesen. Nachdem die anderen die Wohnung verlassen haben, setzt sich die Forscherin zu Kallil und beschreibt ihr Verhältnis zu Guinea. Sie erzählt ihm, dass sie mit Dr. Diallo, einem aus Guinea stammenden Arzt, der schon lange in Deutschland lebt, medizinische Projekte in Guinea durchführt, und erläutert ihm dann das Anliegen ihrer Forschungsarbeit. Kallil hört aufmerksam zu, und weil er an dem Reiseführer so interessiert ist, schenkt die Forscherin Kallil das Buch. Nachdem sie das Aufnahmegerät getestet hat, schaltet sie es ein.
Initialszene M.G.: Kallil: 48 49 50
... was man als Kind erlebt hat Mhm
Zitat aus dem Forschungsprotokoll, S. 1. Ebd. Ebd.
4.2 Fallportraits
M.G:. Kallil: M.G.: Kallil: M.G.: Kallil: M.G.: Kallil:
199 aber auch was man jetzt hier aktuell erlebt. Ach so Ja? Einfach dass, dass du einfach anfängst zu erzählen das was dir am wichtigsten ist und dann können wir ja sehen Mhm ja .. und eh als ich Kind war, war ich immer so mit meine Bruder, . er ist auch meine beste Bruder. Er studiert zurzeit in Köln hier. Mhm mhm Er studiert eh . wie sagt man das mal . Wirtschaftsinformatik. Mhm Mhm . er hat so viel für mich getan, weil ich eh wirklich eh .. eh . wie sagt man das auf Deutsch eh . ich war . wirklich eine nerv- eine eine Mann, der der nervös ist.
(Transkript, S. 1) Die Aufnahme beginnt mitten im Satz, in dem die Forscherin erläutert, worum es ihr in dem Gespräch geht: „was man als Kind erlebt hat [Mhm] aber auch was man jetzt hier aktuell erlebt“. Auffällig ist die unpersönliche Formulierung „man“, mit der weder sie selbst noch Kallil in Erscheinung treten. Es geht ihr einerseits um Kindheit und andererseits um das, was heute erlebt wird. Damit öffnet die Forscherin zwei Perspektiven, die sie beide im Gespräch berücksichtigt sehen möchte. Kallil antwortet: „Ach so“ und signalisiert damit sein Erstaunen über das Anliegen der Forscherin, so als hätte er etwas anderes erwartet. Mit einem „Ja?“ fragt die Forscherin nach, ob Kallil sie verstanden hat, und fährt fort: „Einfach dass, dass du einfach anfängst zu erzählen das was dir am wichtigsten ist“. Sie spricht nun Kallil persönlich an. Offenbar möchte sie ihm den Anfang erleichtern, indem sie zweimal „einfach“ sagt und ihm dann eine Anleitung gibt, womit er anfangen soll, nämlich mit dem, was ihm am wichtigsten ist. Gleichzeitig mutet sie ihm damit eine Auswahl zu und signalisiert auch ihr Interesse an den wichtigen Dingen. Sie fügt hinzu: „und dann können wir ja sehen“. Diese Äußerung lässt sich einerseits so verstehen: Nachdem Kallil angefangen hat zu erzählen, soll noch etwas anderes kommen, was sie aber jetzt noch nicht benennt, sie hat daher etwas Geheimnisvolles oder auch Bedrohliches. Andererseits kann die Äußerung aber auch als eine Hilfestellung gelesen werden: Nachdem Kallil erst einmal angefangen hat, können beide gemeinsam sehen, wie sie das Gespräch weiter gestalten. Die Forscherin fordert ihn damit fürsorglich auf, die ersten Schritte zu gehen, und stellt dann ihre Hilfe in Aussicht. Kallil antwortet: „Mhm ja .. und eh als ich Kind war, war ich immer so mit meine Bruder, . er ist auch meine beste Bruder. Er studiert zurzeit in Köln hier“. Zunächst bestätigt Kallil die Aufforderung der Forscherin und signalisiert damit sein Einverständnis. Dann nimmt er Bezug auf seine Kindheit und erzählt, dass er als Kind immer mit seinem Bruder zusammen war. Der Bruder sei auch sein wich-
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tigster oder liebster Bruder, der heute in Köln studiert. Kallil antwortet damit auf alle von der Forscherin eingeforderten Aspekte und macht deutlich, dass sein Bruder eine zentrale Rolle in seinem Leben spielt. Er fährt fort: „Er studiert eh . wie sagt man das mal . Wirtschaftsinformatik“. Kallil spricht weiter von seinem Bruder und erläutert, was dieser in Köln studiert. Er sucht nach dem deutschen Wort und bringt damit seine Unsicherheit in der Sprache zum Ausdruck. Weiter erläutert Kallil, warum der Bruder ihm so wichtig ist, weil er nämlich viel für Kallil getan hat. „weil ich eh wirklich eh .. eh . wie sagt man das auf Deutsch eh ich war . wirklich eine nerv- eine eine Mann der der nervös ist“. Bei der Erklärung, warum der Bruder viel für Kallil getan hat, kommt er ins Stocken. Es fällt Kallil nicht leicht, etwas über sich zu sagen, darauf weist auch die zweimalige Formulierung „wirklich“ hin sowie seine Suche nach dem deutschen Wort. Schließlich sagt er, er „war“ ein Mann, der nervös „ist“. Seine Aussage ist so zu verstehen: Kallil war früher nervös und ist es noch heute. Der Bruder hilft ihm im Umgang mit seiner Nervosität und dafür ist er ihm sehr dankbar. Zusammengefasst lässt sich die Anfangsszene folgendermaßen verstehen: Die Beziehung zwischen Forscherin und Kallil gestaltet sich widersprüchlich. Die Haltung der Forscherin ist sowohl fordernd und unpersönlich wie auch fürsorglich und zugewandt. Auf die zunächst unpersönliche Aufforderung zu einer eigenständigen Erzählung antwortet Kallil verhalten. Erst als die Forscherin Kallil persönlich anspricht und die Gemeinsamkeit im Gespräch betont, beginnt er zu erzählen. Indem er mehr über seinen Bruder als über sich spricht, wird deutlich, dass der Bruder eine wichtige Rolle in seinem Leben spielt. Kallil kann sich nicht alleine denken, sondern nur zusammen mit dem Bruder. Über sich zu sprechen, fällt ihm schwer. Er präsentiert sich als unsicheres, hilfsbedürftiges Kind, das früher wie heute nur in Gemeinschaft handeln kann und das gehorsam den gestellten Erwartungen entsprechen will.
Inhalt und Verlauf des Forschungsgesprächs Kallil erzählt im Anschluss an die Intitialszene, dass er als Kind immer mit seinen Freunden „gekämpft“ (1/17)51 und dabei viele Freunde verletzt habe. Dadurch habe er „immer Problem mit eh mit den Eltern von eh von meine Freunde so“ (1/21) bekommen. Als er nach Deutschland kam, habe er sich verändert, was er als sehr positiv empfindet. Vor allem, „weil ich zur Zeit allein lebe, ohne Schwester, ohne Bruder, ohne Mutter, ohne Vater“ (1/29f). Früher 51
Alle Zitate dieses Abschnitts stammen aus dem Transkript des Forschungsgesprächs mit Kallil.
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habe besonders sein nächstälterer Bruder auf ihn aufgepasst. Als dieser vor Kallil nach Deutschland ausgewandert ist, hat er Kallil geraten, aufzupassen und sich zu verändern. Er habe gesagt: „du weißt unsere Eltern, sie machen gar nichts für dich. [Mhm] Sie lassen dich allein in deinem E- mit deinen Problemen und du musst das allein lösen“ (1/40ff). Kallil sagt, dass er trotz der Abreise seines Bruders nach Deutschland nicht allein gewesen ist, weil sein großer Bruder und seine große Schwester ja noch da waren. Der Bruder habe sich aber immer besonders um Kallil gekümmert und viel für ihn getan. Kallil versuchte, dem Rat des Bruders zu folgen und sich zu verändern, doch: „Da hat es nicht geklappt“ (1/47). Nachdem er dann sein Abitur bestanden hatte, war der Bruder der Meinung, dass es besser für Kallil sei, wenn er nach Deutschland komme, um „ein anderes Leben so leben“ (2/11). Kallil war einverstanden und seine Schwester Nima organisierte die Papiere für das Visum. In Deutschland lebte Kallil zunächst acht Monate in der Wohngemeinschaft von Nima und deren deutscher Freundin und lernte mit ihnen Deutsch. Durch die erste Sprachprüfung fiel er durch. Nachdem er die zweite bestanden hatte, ging er nach Rostock und besuchte das Studienkolleg. Dort lernte er einige Leute kennen. Kallil erzählt von seinen Erfahrungen im Osten Deutschlands, dass einige Leute nicht freundlich seien, weil sie zum Beispiel sagen: „eh raus Ausländer oder so etwas“ (3/24). Er würde das aber nicht hören, denn: „Ich bin nach Deutschland gekommen, um zu studieren. [Ja] num, nicht um mit die Leute so zu streiten oder so“ (3/26ff). Zunächst ging er aufgrund solcher Äußerungen nicht mehr aus dem Haus. Da er jedoch nur mit Ausländern zusammenlebte, konnte er zu Hause nicht Deutsch sprechen und sagte sich: „Wenn ich so bleibe, geht es nicht, ich werde nicht meine Sprache verbessern“ (3/47f). Kallil hat darum über das AStA-Büro der Universität „versucht einen Kontakt zu kriegen. Und dann habe ich einen Partner so gekriegt“ (4/1f), eine Deutsche, die aus Hamburg kommt und seit zwanzig Jahren in Rostock lebt. „und sie war wirklich mit mir sehr nett. Sie hat mir auch geholfen. [Mhm] sie hat mir die Sprache auch .. eh bei- [*gebracht] *beigebracht“ (3/14ff). Während Kallil in den anderen Fächern kaum Probleme hatte, fiel ihm das Erlernen der deutschen Sprache sehr schwer. Er versuchte daher immer, Leute kennen zu lernen, mit denen er sprechen konnte und ist heute froh, dass er sich einigermaßen verständigen kann. Kallil hat sich in verschiedenen Städten für einen Studienplatz in Wirtschaftsingenieurwesen beworben. Bisher hat er aber keine Zulassung bekommen und sich daher erst einmal in Rostock für Physik eingeschrieben, will es aber im nächsten Semester wieder versuchen. In der Zwischenzeit arbeitet er in Nürnberg als Gelegenheitsarbeiter. Die Forscherin fragt Kallil, warum er gerade Wirtschaftsingenieurwesen studieren möchte. Kallil antwortet, dass es während seiner Schulzeit eigentlich sein Wunsch war, Architektur zu studieren, „weil ich sehr gut zeich-
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nen konnte“ (5/6). Seine Geschwister rieten ihm jedoch dazu, etwas zu studieren, das mit Wirtschaft zu tun hat, „Weil in unsere, Sie wissen schon, in unsere Heimat, [Mhm] wenn man so Wirtschaft studiert, hat man so viele Chance“ (5/9ff). Ingenieurwesen interessiere ihn, daher kombiniere er beide Fächer. Die Forscherin kommt dann nochmals auf Kallils Kindheit zu sprechen und fragt, was das für Probleme waren, von denen er gesprochen habe. Kallil erzählt von seiner Mitgliedschaft in einem Clan in Conakry, der sich mit anderen verfeindeten Gruppen jeweils bekämpft habe. Dadurch hat er häufig Probleme mit der Polizei bekommen. Sein Bruder hat ihn dabei immer geholfen und ihm Ratschläge gegeben, wie er sich verhalten soll. „Mach so, mach so, was du zur Zeit machst ist anormal. Das ist für dich gut, deine Studium zuerst und dann kommt eine andere . ich habe gesagt okay, ich habe versuch,t immer mich zu zu verändern“ (6/7ff). Es sei ihm aber nicht leicht gefallen, sich zu verändern. In Guinea rauchte er auch immer Marihuana, womit er jetzt aber aufgehört habe. Als die Forscherin fragt, wie seine Eltern auf seine Aktivitäten in den Gruppen reagiert haben, antwortet Kallil, dass sein Vater gestorben ist, als er neunzehn Jahre alt war, und er immer mit seiner großen Schwester zusammengelebt habe, nicht mit Nima, sondern einer älteren Schwester, die heute noch in Guinea lebt. „Wir waren immer zusammen. Und sie hat für mich auch so viel getan“ (6/32), denn sie sei wie eine Mutter zu ihm gewesen. Er erläutert, dass in Afrika die Kinder von den Eltern geschlagen werden. Als Kallil nicht mehr in die Schule gehen wollte, hat seine Schwester ihn geschlagen, damit er weiter in die Schule geht. Kallil ist ihr heute dankbar dafür, denn wenn er seine Schule nicht beendet hätte, könnte er nicht in Deutschland sein und „Eine andere Leben so zu zu leben“ (6/50). Er erzählt, dass seine Mutter heute im Senegal lebt und die Kinder von dort aus finanziell unterstützt. Kallil hat sechs Geschwister und ist der Zweitjüngste. Die älteren sind in Guinea geboren, die drei jüngsten im Senegal. Als Kallil sieben Jahre alt war, zogen die Kinder vom Senegal nach Guinea, ein Jahr später folgten die Eltern nach. Die Mutter kehrte jedoch nach einiger Zeit in den Senegal zurück, der Vater blieb bei den Kindern. Kallil beschreibt die Zeit mit seiner Familie als schön. Sie seien sehr sozial, wenn er zum Beispiel ein Problem habe, „sie kommen immer mich zu unterstützen so“ (7/48f). In Deutschland hingegen gebe es so etwas nicht. „Ich bin hier immer allein. Gott sei Dank habe ich meine Schwester hier“ (8/1f). Darum gehe es ihm besser als einigen seiner Freunde, die ganz allein in Deutschland seien. Seine Freunde hätten oft Heimweh und wüssten nicht, was sie tun sollen. Bei ihm sei das anders, wenn er Heimweh hat: „Ich rufe Nima sofort an oder meine Bruder in Köln und wir reden ein bisschen, damit ich das vergesse“ (8/33f). Auf die Frage nach seinen Erfahrungen mit Deutschen erzählt Kallil, dass er nur in Rostock Schwierigkeiten gehabt habe, dort seien die Leute „nicht freundlich, sie gucken uns so böse
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an“ (8/46). Ihm sei das aber egal, er wolle hier studieren und nicht mit den Leuten streiten. In allen anderen Orten, wo er bisher war, habe er keine Probleme gehabt. Dann erzählt er von einem Erlebnis, das er mit seinem Freund im Zug von Erlangen nach Nürnberg hatte. Sein Freund hatte die falsche Fahrkarte gelöst, und die Kontrolleure waren sehr unfreundlich und wollten, dass er zweihundert Euro Strafe zahle. Kallil diskutierte mit der Kontrolleurin und wehrte sich gegen die hohe Strafe, da sein Freund ja eine Fahrkarte hatte und nur die falsche Zone gelöst hatte. Schließlich holten die Kontrolleure die Polizei. Zwei Frauen, die hinter ihnen saßen, mischten sich in die Diskussion ein und unterstützten Kallil und seinen Freund. Nach eingehender Untersuchung gab die Polizei schließlich Kallils Freund Recht, und er musste lediglich zehn Euro Strafe zahlen. Kallil betont dann: „aber hier gibt es Leute, die die wirklich wirklich nett sind“ (10/30). In Nürnberg hat er auch einen deutschen Freund, mit dem er am Vortag im Kino war. Am liebsten würde Kallil in Erlangen oder Fürth studieren. Aber auch Mainz fände er gut, weil dort in der Nähe ein Bekannter wohnt, der ihm beim Studium helfen könnte. Die Forscherin bemerkt, dass Kallil bereits viele Leute in Deutschland kennt. Kallil bestätigt dies und schränkt ein: „aber genau Afrikaner“ (11/14). Sie sind alle Studenten und haben zusammen ihr Studienkolleg besucht. Die Forscherin spricht noch einmal Kallils Bemerkung an, dass er sich gegenüber früher verändert habe. Kallil sagt, er habe es auch in Guinea immer versucht, aber ohne Erfolg, „zu Hause ja ich ich hatte mich so verändert, aber das war nicht so . ich kann so drei Monate so bleiben, . kann ich so machen oder sechs Monate und dann fange ich wieder an“ (12/16f). Erst als er nach Deutschland kam, veränderte er sich wirklich. Woran das liegt, kann Kallil nicht sagen, er zitiert seine Schwester, die immer sagte, es liege an seinen Freunden, mit denen er zusammen war. Nachdem er einige Monate in Deutschland bei Nima war und mit seiner Schwester in Guinea telefonierte, habe sie gefragt: „hast du dich verändert? Nee ich kann so etwas nicht sagen. Wie war ich in meine Heimat? Nee, du warst so so, wegen deine Freunde so warst du so. Ich habe gesagt: nee, ich weiß das nicht. Und Nima, als sie mit Nima gesprochen hat, Nima hat gesagt: ja er hat sich so viel verändert“ (12/ 38ff). Kallil erwähnt an anderer Stelle, dass er zwei Möglichkeiten hatte, über seinen älteren Bruder in Marokko oder über Nima in Deutschland zu studieren. Er wollte aber lieber nach Deutschland. In Marokko würden die Araber nicht akzeptieren, dass auch Schwarze Muslime sind. Er habe befürchtet, dass er sich mit ihnen streiten würde, wenn sie so etwas zu ihm sagen würden. Die Frage der Forscherin, ob er ein religiöser Mensch sei, bejaht Kallil, schränkt aber ein, dass er hier seit drei Wochen faste, aber nicht regelmäßig bete. „Ich möchte immer .. ein religiöser Mensch sein, aber leider klappt es klappt es nicht“ (14/43). Das sei auch in
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Guinea schon so gewesen, einige Monate schaffe er es, regelmäßig zu beten, und dann „fange ich wieder an“ (14/50). Kallil kann nicht erklären, warum er so ist und „in Deutschland hier, ich weiß nicht, was . was ich im Kopf so habe“ (15/4), das findet er schlimm. Auf die Frage, was Kallil nach dem Studium machen möchte, hat er noch keine Antwort. Sein Traum wäre aber, „Die Sachen, die die nicht in meine Heimat so gut sind, verändern“ (11/36f). Als Beispiel nennt er die Korruption, die er verändern möchte, weiß aber auch: „man kann das nicht allein machen“ (11/45). Auf jeden Fall möchte er zurück nach Guinea und auch gerne eine Familie haben. Seine Vorstellungen diesbezüglich sind aber sehr vage, seine Erfahrungen mit Frauen eher rudimentär. In Guinea hatte er eine Freundin, sie sei aber bereits vor acht Jahren nach Frankreich gegangen. In Deutschland habe er noch keine Freundin. Auf die Frage, ob Kallil ein Vorbild habe, nennt er seinen großen Bruder, der in Marokko studiert und heute einen guten Job in Guinea hat, mit dem er viel Geld verdient. Er wohnt in der Wohnung der Eltern und ist selbst noch nicht verheiratet. Kallil hofft auch auf einen guten Job in Guinea, wenn er sein Studium hier erfolgreich abschließt.
Orientierung an äußeren Regeln In der folgenden Szene geht es um Kallils Motivation, nach Deutschland zu migrieren. M.G.:
Kallil: M.G.: Kallil:
M.G.: Kallil:
M.G.: Kallil: M.G.:
Mhm .. und hast du das selber dir auch gewünscht, dass du nach Deutschland gehst, oder war das eher dein Bruder, der gesagt hat: komm mal her? Nee . das auch hab ich gewünscht. Ja? Aber mein Bruder wollte, dass ich nach Marokko studiere, unsere große Bruder. Er hat so in Marokko studiert, und er wollte, dass ich auch dorthin studiere. Mhm Ich habe gesagt: nee lieber in Deutschland. Mein Bruder hier hat gesagt, okay macht nichts und Nima, sie ha- sie haben sich .. so . sie haben ü- über mich so gesprochen die beide . und Nima hat auch so viel für uns getan. Wegen Nima ist mein Bruder hierher gekommen. Mhm Sie hat uns so viel geholfen. Sie hat un- sie hat für uns so viel getan. Das heißt, du hast gesagt: Nima ich möchte nach Deutschland und dann hat sie dir geholfen?
4.2 Fallportraits
Kallil:
M.G.: Kallil: M.G.: Kallil:
MG: Kallil:
205 Nee! sie hat nur gesagt okay, wenn du dein Abitur so schaffst .. ich gebe dir so eine, eine Chance nach Europa so zu fliegen. Ich habe gesagt: okay, versuche ich. Mhm Und ich war so, ich hatte keine Lust mehr in die Schule zu gehen. Mhm Ich bin immer so . so zu Hause so geblieben. Und einmal so hat sie angerufen, ich war zu Hause. Und das war so um neun Uhr so .. sie hat gesagt: ah bist du nicht zu- in die Schule gegangen? Ja, ich habe keine Lust mehr. Und: willst du nicht mehr in Deutschland oder so, in Europa so studieren? Ja, ich, nee ich ich habe Lust aber, nicht mehr in die Schule zu gehen. Sie hat gesagt: okay, mach was du willst. Sie war auf mich böse. Mhm Und dann hab ich versucht, mich so zu verändern.
(Transkript, S. 13f) Die Forscherin fragt, ob es Kallils eigener Wunsch war, nach Deutschland zu gehen oder ob er dem Wunsch des Bruders gefolgt ist. Kallil antwortet, dass es „auch“ sein Wunsch war und vereint damit beide Aspekte. Das „Ja?“ der Forscherin signalisiert Ungläubigkeit, ob dies wirklich so ist. Daraufhin erläutert Kallil die Situation: „Aber mein Bruder wollte, dass ich nach Marokko studiere, unsere große Bruder. Er hat so in Marokko studiert, und er wollte, dass ich auch dorthin studiere“. Mit dem „Aber“ am Anfang des Satzes deutet er eine Differenz zwischen seinem Wunsch und dem des Bruders an. Kallil betont, dass er hier von seinem älteren Bruder spricht, der selbst in Marokko studiert hat und wollte, dass Kallil auch nach Marokko geht. Er sagt „unsere große Bruder“ und sieht sich damit in einer Einheit mit seinen jüngeren Geschwistern, wozu auch sein Bruder in Köln und Nima zählen. Er fährt fort: „Ich habe gesagt: nee lieber in Deutschland. Mein Bruder hier hat gesagt, okay macht nichts“. Kallil betont, dass er sich von dem Wunsch des älteren Bruders distanziert hat und lieber nach Deutschland gehen wollte. Zu wem er dies gesagt hat, bleibt unklar. Sein Bruder, der heute in Köln lebt, habe ihm gesagt, dass es nicht schlimm sei, wenn er nicht nach Marokko wolle. Offenbar war es für Kallil nicht einfach, dem großen Bruder zu widersprechen, der andere Bruder hat Kallil verteidigt oder in Schutz genommen. „und Nima, sie ha- sie haben sich .. so . sie haben ü- über mich so gesprochen die beide . und Nima hat auch so viel für uns getan. Wegen Nima ist mein Bruder hierher gekommen“. Nun spricht Kallil auch über Nima. Sie und ihr Bruder, der in Köln lebt, haben über Kallil gesprochen. Auffällig ist, dass sie „über“ ihn sprechen und nicht mit ihm. Hierbei stockt Kallil, es fällt ihm nicht leicht, dies zu sagen. Wahrscheinlich hat der Bruder Kallils Wunsch, nach Deutschland zu gehen, Nima mitgeteilt. Kallil stellt klar, dass Nima diejenige
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ist, die viel für sie getan hat. Mit „uns“ meint er sich und seinen Bruder, denn der Bruder ist auch „wegen“ Nima nach Deutschland gekommen. „Sie hat uns so viel geholfen. Sie hat un- sie hat für uns so viel getan“. Hier wird Kallils Dankbarkeit Nima gegenüber deutlich, eine Dankbarkeit, die er mit seinem Bruder teilt, denn beiden hat Nima sehr geholfen. Die Forscherin fragt nach: „Das heißt, du hast gesagt: Nima, ich möchte nach Deutschland, und dann hat sie dir geholfen?“. Damit greift sie ihre Frage noch einmal auf, inwieweit die Migration von Kallil selbst gewünscht beziehungsweise initiiert wurde. Er antwortet: „Nee! Sie hat nur gesagt okay, wenn du dein Abitur so schaffst .. ich gebe dir so eine, eine Chance nach Europa so zu fliegen. Ich habe gesagt: okay, versuche ich“. Mit dem „Nee!“ verneint Kallil seine Initiative. Nima hat ihm „nur“ die Chance in Aussicht gestellt, nach Europa kommen zu können, sofern er sein Abitur schafft. Kallil war also nicht in der Rolle desjenigen, der Nima fragen konnte, ob sie ihm hilft, weil gar nicht sicher war, ob er überhaupt sein Abitur bestehen würde. Erst als Nima ihm die Möglichkeit eröffnete, nach Europa zu kommen, wollte Kallil versuchen, sein Abitur zu bestehen. Er fährt fort: „Und ich war so, ich hatte keine Lust mehr in die Schule zu gehen [Mhm] Ich bin immer so . so zu Hause so geblieben“. Ob Kallil sein Abitur schaffen würde, lag anscheinend nicht an seiner Fähigkeit, sondern an seiner Lust, überhaupt in die Schule zu gehen. Nima ruft aus Deutschland an und stellt fest, dass Kallil nicht in die Schule geht. Er sagt ihr offen, dass er keine Lust mehr hat, die Schule zu besuchen. Nima knüpft ihre Bereitschaft, Kallil ein Studium in Deutschland zu ermöglichen, an seine Bereitschaft, die Schule zu besuchen. Als Kallil seine Unlust bekundet, reagiert sie böse und überlässt ihn sich selbst. Sie signalisiert damit: Wenn du nicht tust, was ich von dir verlange, dann helfe ich dir nicht mehr. Kallil reagiert im Sinne der Schwester wie ein Kind, das die Mutter durch sein Verhalten verstimmt hat und Versöhnung will: „Und dann hab ich versucht, mich so zu verändern“. Kallil möchte nicht, dass Nima böse auf ihn ist, er möchte, dass sie ihm hilft, nach Deutschland zu kommen, darum tut er, was sie sagt. Offenbar ist es ihm schwer gefallen, denn er sagt wieder, dass er es „versucht“ hat. Die Initiative für Kallils Migration geht primär von seinen Geschwistern aus. Sie bieten ihm zwei Möglichkeiten an, Kallil entscheidet sich für Deutschland. Die Diskussion darüber führt er aber nicht selbst, sondern sein Bruder stellvertretend für ihn mit den älteren Geschwistern. Obwohl er selbst gerne in Deutschland studieren möchte, entwickelt er von sich aus nicht genügend Motivation, um seinen Wunsch zu realisieren. Er benötigt viel Unterstützung, um das Ziel zu erreichen, da er immer wieder vom Weg abkommt. Wie ein Kind braucht er einen von außen eng gesteckten Rahmen, innerhalb dessen er sich bewegen kann und an dessen Grenzen er sich immer wieder reibt. Nima bietet
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ihm diesen Rahmen, indem sie das Ziel vorgibt, ihn regelmäßig kontrolliert und entsprechend sanktioniert. Dafür ist Kallil ihr sehr dankbar und folgt jeweils gehorsam ihren Anweisungen.
Schluss-Szene Das Gespräch ist im weiteren Verlauf immer schwieriger in Gang zu halten. Die Forscherin weiß irgendwann nicht mehr, was sie Kallil noch fragen könnte. Draußen ist es dunkel geworden, daher steht die Forscherin auf und schaltet ein Licht ein. Kurz darauf entsteht eine Gesprächspause. M.G.: Kallil: M.G.: Kallil: M.G.: Kallil: M.G.: Kallil: M.G.: Kallil: M.G.: Kallil: M.G.:
Mhm (6 Sec. Pause) Ja und .. hast du noch irgendwas, was du gerne erzählen würdest? .. Nee Was dir wichtig wäre? Nee (5 Sec. Pause) Über was denn? Über irgendwas, das Leben in Deutschland oder deine . irgendwas, was dir einfällt zu dem Thema. Nee . das habe ich nicht Nee? Das habe ich nicht. ... Du machst einen relativ zufriedenen Eindruck auch. Bist du sehr, bist du so zufrieden mit deiner Situation jetzt hier? Ja Ja? Das eh ist auch so ein Eindruck, den ich hab. Mhm ... Okay .. dann vielen Dank (lachend) Bitte schön Mach ich das Gerät mal aus
(Transkript, S. 17) Nach einer Pause im Gespräch fragt die Forscherin Kallil, ob er noch etwas erzählen möchte. Kallil antwortet zunächst zögernd „Nee“ und die Forscherin fügt hinzu: „Was dir wichtig wäre?“. Sie möchte ihm offenbar Gelegenheit geben, über ein Thema, das ihm wichtig ist und das noch nicht erwähnt wurde, zu sprechen. Kallil sagt wieder „Nee“ und nach einer Pause: „Über was denn?“. Er scheint verunsichert, darum fragt er noch einmal nach, was die Forscherin meint. Sie antwortet: „Über irgendwas, das Leben in Deutschland oder deine .“. Die Formulierung „irgendwas“ ist unspezifisch. Die Forscherin möchte ihm dann Beispiele geben, worüber Kallil vielleicht noch sprechen könnte, bricht dann jedoch ab und wiederholt „irgendwas, was dir einfällt zu dem Thema“. Damit beschränkt sie ihn nun auf das Thema, das sie am Anfang des Gesprächs
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vorgegeben hatte. Kallil antwortet: „Nee . das habe ich nicht“. Seine Antwort ist nun bestimmter als vorher. Dennoch fragt die Forscherin nochmal nach: „Nee?“, so als glaube sie ihm nicht, und Kallil wiederholt: „Das habe ich nicht“. Daraufhin sagt die Forscherin: „Du machst einen relativ zufriedenen Eindruck auch. Bist du sehr, bist du so zufrieden mit deiner Situation jetzt hier?“. Sie sagt ihm, wie er auf sie wirkt und fragt nach, ob dieser Eindruck auch stimmt. Sie versucht nun auf diese Weise, Kallil noch zu einer Äußerung zu bewegen. Er antwortet: „Ja“ und sie fragt nochmals nach: „Ja?“. Offenbar möchte sie mehr hören als ein einfaches Ja, oder sie zweifelt an seiner Aussage. Sie begnügt sich dann aber mit einer Wiederholung ihrer Aussage und sagt nach einer kurzen Pause: „Okay .. dann vielen Dank“. Sie akzeptiert nun, dass Kallil nichts mehr sagen möchte und bedankt sich bei ihm. Kallil antwortet lachend: „Bitte schön“, so als falle nun eine Spannung von ihm ab oder als amüsiere er sich über die Bemühungen der Forscherin, ihn noch zum Sprechen zu bewegen. Sie fügt hinzu: „Mach ich mal das Gerät aus“ und tut es. Erkennbar ist hier das Bemühen der Forscherin, das Gespräch weiterzuführen, obwohl sie merkt, dass Kallil nicht mehr reden möchte. Bereits vor dieser Szene spürt sie, dass Kallil einsilbiger wird, und versucht vielleicht deshalb mit dem Einschalten des Lichts auch das Gespräch mehr auszuleuchten. Kallil hat nichts mehr zu sagen, möchte aber nicht unhöflich sein und antwortet unermüdlich auf das wiederholte Nachfragen der Forscherin. Seine Erleichterung über das Ende des Gesprächs drückt sich einzig in seinem Lachen am Schluss aus, ansonsten führt er seine Rolle als Interviewpartner äußerlich gehorsam aus.
Ausgestaltung der Forschungssituation Anfangs erzählt Kallil ziemlich dicht und fließend über Ereignisse in seiner Kindheit und über seine Migration nach Deutschland bis zu seiner heutigen Situation. Danach greift die Forscherin einige Aspekte seiner Erzählung auf, fragt nach und Kallil erläutert sie. Im Laufe des Gesprächs werden seine Antworten jedoch immer einsilbiger und es entstehen mehrmals längere Pausen. Nachdem die Forscherin das Aufnahmegerät abgeschaltet hat, erkundigt sich Kallil nach den beruflichen Aktivitäten von Dr. Diallo und denen des Ehemannes der Forscherin. Als sie über das Fasten sprechen, entschuldigt Kallil sich, steht auf und holt im Flur einen Apfel aus seiner Tasche, den er dann genüsslich isst. Abermals lehnt er ein Stück Kuchen ab und nimmt nur ein Glas Wasser an. Als er das Glas ausgetrunken hat, verabschiedet Kallil sich, beide bedanken sich für das Gespräch.
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Die Atmosphäre des Gesprächs ist auffällig ruhig und ausgeglichen. Kallil versucht den Erwartungen der Forscherin zu entsprechen und bringt kaum eigene Aspekte ein. Die Forscherin notiert im Forschungsprotokoll: „Kallil wirkte zwar selbstsicher und klar in seinem Auftreten, doch scheint er sein Leben und seine Erlebnisse in keiner Weise zu reflektieren und auch hinsichtlich seiner Zukunft keinerlei Perspektiven zu entwickeln. Wie ferngesteuert von seinen Geschwistern“52. Über seine geringe Reflexionsfähigkeit lacht die Forscherin einige Male, wie man über ein Kind lacht, da sie nicht glauben kann, dass Kallil so wenig über sich weiß. Kallil reagiert auf das Lachen nicht. Von Anfang an duzen sich Forscherin und Kallil, beide verfallen aber immer wieder in die SieForm. Daran lässt sich eine gewisse Distanz ablesen, die sie zueinander empfinden. Kallil ist sehr bemüht, auf die Fragen der Forscherin zu antworten, er hat jedoch kein eigenes Interesse an dem Gespräch oder der Forscherin als Person. Er zeigt lediglich nach Abschalten des Tonbandes Interesse am Ehemann der Forscherin sowie an ihrem guineischen Freund, der seit vielen Jahren in Deutschland lebt. Die Forscherin fühlt sich wie Kallils Tante oder ältere Schwester, die sowohl fürsorglich wie auch fordernd das Gespräch lenkt und nach deren Anweisungen oder Vorgaben Kallil handelt, in deren Beziehung er jedoch nichts Eigenes einbringt.
Fazit Kallil wächst als sechstes von insgesamt sieben Kindern zunächst im Senegal mit Eltern und Geschwistern auf. Im Alter von sieben Jahren erfolgt mit dem Umzug nach Guinea auch die Trennung von den Eltern, die Geschwister übernehmen von da an für Kallil die elterlichen Funktionen. Die faktische Abwesenheit der Eltern bewirkt einen engen Zusammenhalt unter den Geschwistern, verbunden mit dem ehrgeizigen Willen zum beruflichen Erfolg aller. Eine Liebesbeziehung oder Familiengründung spielt bei allen Geschwistern eine eher untergeordnete Rolle, die berufliche Orientierung dominiert. Dieses Familiencredo geben die älteren Geschwister an die jüngeren weiter und erlauben kein Abweichen von diesem Weg. Wer ausschert, droht alleine gelassen zu werden und unterzugehen. Insbesondere die Schwestern stehen für eine rigide Verfolgung der Regeln, die sie aktiv und bestimmend gegen Kallils Ausweichversuche durchsetzen. Fürsorglichkeit erfährt Kallil eher von seinem Bruder, der ihm Rat gebend und unterstützend zur Seite steht. Kallils Adoleszenzentwicklung findet 52
Zitat aus dem Forschungsprotokoll, S. 2.
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4 Fallanalysen
somit unter eingeschränkten Bedingungen statt. Das reale Verlassenwerden von den Eltern gibt ihm nicht die notwendige Sicherheit für seine adoleszenten Ablösebestrebungen von der Herkunftsfamilie. So verfügt Kallil innerlich wie äußerlich nicht über einen adoleszenten Möglichkeitsraum, in dem er alternative Lebenskonzepte etwa hinsichtlich seiner geschlechtlichen Identität oder seiner beruflichen wie familiären Lebensperspektive ausprobieren könnte, sondern steht ständig unter dem Druck, sich an die Erwartungen der Geschwister anzupassen. Dieser fehlende Spielraum verhindert, dass er einen selbstbestimmten Umgang mit seinen Wünschen und Bedürfnissen findet, stattdessen versucht er, sich die Wünsche der Geschwister zu eigen zu machen. Seine adoleszenten Ausbruchsversuche lebt er vorwiegend außerhalb der Familie aus, indem er sich an Schlägereien seiner Peergroup beteiligt. Den damit verbundenen Gesetzesübertretungen begegnen die Geschwister mit zunehmender Kontrolle auch des außerfamiliären Bereichs, was eine weitere Einschränkung seines adoleszenten Spielraums bedeutet. Aufgrund der fehlenden adoleszenten Auseinandersetzung verharrt Kallil in kindlicher Abhängigkeit von seinen Geschwistern und unterdrückt seine Ablösetendenzen. Er entwickelt somit keine eigenen Lebensperspektiven, sondern versucht stets, sich in die von den Geschwistern vorgezeichneten Bahnen einzufügen. So wird auch die Migration nach Deutschland von den Geschwistern vorgegeben, und Kallil folgt deren Wunsch. Die ersten neun Monate in Deutschland verbringt Kallil in der Obhut seiner Schwester Nima, die in Jena mit ihrer deutschen Freundin in einer Wohngemeinschaft lebt. Seine mit der Migration verbundenen inneren und äußeren Trennungserfahrungen kann Kallil durch die Nähe zur Schwester abmildern. Sie bietet ihm den nötigen Schutzraum, aus dem er sich der fremden Umgebung allmählich annähern und den Umgang mit der neuen Lebensweise schrittweise aneignen kann. Als er die nötige Sicherheit gewonnen hat, geht er alleine nach Rostock, absolviert dort das Studienkolleg und lebt erstmals alleine. Dort fühlt er sich den offenen Anfeindungen seitens der deutschen Bevölkerung, denen er als Schwarzer alltäglich ausgesetzt ist, schutzlos ausgeliefert. Die Konfrontation mit der äußeren Fremde verstärkt Kallils adoleszente innere Fremdheitsgefühle und seine Verlusterfahrungen. Er ist mit dieser Situation überfordert und beschränkt seine Kontakte auf Ausländer, die ähnliche Erfahrungen machen. Der Erwartungsdruck von Seiten seiner Geschwister, dass Kallil seine Prüfungen schafft, bewirkt jedoch eine Änderung seines Umgangs mit diesen Anfeindungen. Nach dem Vorbild seiner Schwester versucht er diese Einschränkungen seiner Migrationssituation aktiv zu bewältigen, indem er gezielt Kontakt zu Deutschen sucht, um seine Sprachkenntnisse zu verbessern. Dadurch lernt er auch die deutschen Lebensgewohnheiten besser kennen und erhöht seine Sicherheit im Umgang mit der hiesigen Gesellschaft, indem er versucht, sich ihr
4.2 Fallportraits
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anzugleichen. Mit dieser Strategie kann Kallil seine Unsicherheit in Deutschland langsam überwinden und benötigt die ständige Präsenz seiner Geschwister immer weniger. Er kann seinen Alltag heute weitgehend alleine bewältigen, allerdings in dem Bewusstsein, dass sie ihm jederzeit zur Seite stehen, wenn er ihre Hilfe benötigt. Zentrales Thema in Kallils Adoleszenz ist die Erfüllung der Erwartungen seiner Geschwister. Wenn in Guinea noch ein zaghaftes adoleszentes Aufbegehren in Form des Schuleschwänzens und der Schlägereien stattgefunden hatte, so wird dieser Raum für Kallil durch die Migration wieder eingeschränkt. Da die fremde Umgebung in Deutschland seine Verlassenheitsängste zusätzlich verstärken, intensiviert er die Bindung an seine Geschwister. Das führt dazu, dass er gar nicht weiß, wer er ist, er kann sich nur vermittelt durch seine Geschwister selbst erleben. Die von den Geschwistern begrüßte ‚Veränderung’, die Kallil im Zuge seiner Migration vollzogen hat, besteht in seiner von ihnen stets geforderten Anpassung an die Lebensentwürfe der Geschwister. Eine adoleszente Auseinandersetzung, bei der es um ein Geltendmachen bzw. Ausprobieren der eigenen inneren Bedürfnisse und Wünsche gehen würde, wird dabei vermieden. Kallil verfügt nicht über die nötige innere Distanz zu seiner Familie, um sich mit seiner Herkunft auseinandersetzen und einen eigenen Lebensentwurf entwickeln zu können. Auch die Dethematisierung seiner Männlichkeit ist Ausdruck der fehlenden adoleszenten Auseinandersetzung. Die Verfolgung seiner sexuellen Bedürfnisse, die Erprobung seiner Männlichkeit würde ihn aus der Familie hinausführen und die Bindung an sie gefährden. Seine beruflichen Zukunftsvorstellungen entwickelt Kallil ebenfalls eng an das Vorbild seines Bruders in Guinea angelehnt, eine Auseinandersetzung mit den realen Bedingungen zur Umsetzung dieses Ziels führt er nicht. Seiner allmählichen äußeren Ablösung von den Geschwistern in Deutschland folgt keine adoleszente innere Loslösung. Die Migration ermöglicht ihm zwar prinzipiell eine Erweiterung seines adoleszenten Spielraums, indem er sich von seiner Familie praktisch lösen und sein Leben in Deutschland eigenständig gestaltet könnte. Weil er innerlich aber weiter den Mustern der Geschwister folgt, bleibt diese Autonomie äußerlich. Kallil präsentiert sich im Gespräch als Delegierter seiner Familie, der von seiner Schwester zur Forscherin geschickt wird und folgsam den Auftrag ausführt, mit ihr über sein Leben zu sprechen. Er ist bemüht, die Fragen der Forscherin zu ihrer Zufriedenheit zu beantworten und hat selbst kein Interesse, durch das Gespräch etwas über sich zu erfahren oder eine andere als die ihm vertraute Beziehungserfahrung zu machen. Wie bereits in der Eingangsszene deutlich wird, übernimmt die Forscherin die Position der Schwester als fordernde und zugleich fürsorgliche Begleiterin. Kallil begegnet der Forscherin nicht als Mann, sondern als kleiner Bruder. Während des Gesprächs ist die Geschwis-
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tergruppe ständig präsent, Kallil bleibt als Individuum eher blass. Dominantes Thema ist seine Schwierigkeit, sich an die Vorgaben seiner Geschwister anzupassen, bei gleichzeitiger Demonstration seiner Dankbarkeit und seinem Gehorsam ihnen gegenüber. Kallils adoleszenter Entwicklungsspielraum ist in Guinea äußerlich wie innerlich stark eingeschränkt. Die abwesenden Eltern rufen Verlassenheitsängste hervor, die durch die Geschwister ständig erneuert werden und ermöglichen Kallil nicht, seinen adoleszenten Ablösebestrebungen nachzugeben. Die daraus resultierende enge Anbindung an seine Geschwistergruppe, verhindert somit jede Tendenz einer autonomen Entwicklung. Die Migration bewirkt eine Verstärkung seiner Verlusterfahrungen und intensiviert damit die Bindung an die Geschwister, weil Kallil von den Autonomieforderungen überfordert ist und sich von der Aufnahmegesellschaft nicht angenommen fühlt. Die durch die Migration verstärkten adoleszenten Ambivalenzen sucht er zu bewältigen, indem er den Vorgaben seiner Geschwister folgt und sich damit die Entwicklungsmöglichkeiten der deutschen Gesellschaft nur begrenzt zunutze macht. Die Unterstützung der Geschwister ermöglicht Kallil, die Migrationssituation äußerlich gut zu bewältigen, indem er lernt, sein Leben auf praktischer Ebene erstmals auch ohne seine Geschwister zu gestalten. Innerlich bleibt er aber stark an ihre Vorgaben gebunden, so dass Kallil kaum eine Entfaltungsmöglichkeit hat, eigene Wege zu suchen. Die Migration bewirkt somit eine weitere Einschränkung seiner Adoleszenzentwicklung, weil Kallil mit ihrer Bewältigung überfordert ist. Er hat bisher nicht genügend innere Ressourcen entwickelt, um den erweiterten adoleszenten Möglichkeitsraum in Deutschland für einen individuierten Lebensentwurf nutzen zu können. Daher bleibt er, stärker noch als in Guinea, an seine Herkunftsfamilie gebunden und versucht, sich gehorsam an sie anzupassen.
4.3 Charakteristische Entwicklungsmuster adoleszenter Migration In der Gesamtbetrachtung aller Einzelfälle der Studie, von denen hier exemplarisch sechs vorgestellt wurden, konnten grundlegende Gesetzmäßigkeiten herausgearbeitet werden, anhand derer sich die adoleszenten BildungsmigrantInnen in der Bewältigung ihrer Migrationssituation voneinander unterscheiden bzw. vergleichen lassen. Eine differenzierte Analyse verschiedener Dimensionen dieser Gesetzmäßigkeiten ergibt eine Unterteilung der untersuchten Fälle in drei Gruppen, die sich als charakteristische Entwicklungsmuster adoleszenter Migra-
4.3 Charakteristische Entwicklungsmuster adoleszenter Migration
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tion präzisieren lassen: die Offensive Neuschöpfung, die Defensive Anpassung und die Kompromisshafte Transformation53. Kennzeichnend für das Muster Offensive Neuschöpfung ist eine schöpferische Bearbeitung der adoleszenzspezifischen Themen, die durch die Migration eine deutliche Erweiterung und Vertiefung erfahren Die zur Verfügung stehenden Spielräume des adoleszenten Möglichkeitsraums werden offensiv genutzt, um mit eigenen Entwürfen zu experimentieren. Die Migration ist eigenmotiviert, sie wird als Zuwachs an Entfaltungsmöglichkeiten angesehen und wenn nötig gegen äußere Widerstände durchgesetzt. Migrationsbedingte Schwierigkeiten werden konstruktiv überwunden und strukturell vorhandene Probleme mit der Aufnahmegesellschaft dem Anspruch der Autonomieentwicklung untergeordnet. MigrantInnen dieses Musters scheuen keine Konflikte, sondern sehen diese als Erfahrungsgewinn an und nutzen sie entsprechend. Insgesamt trägt die Migration bei diesem Typus wesentlich zum Individuierungsprozess und damit zur Neuschöpfung von Lebensentwürfen bei. Das Muster Defensive Anpassung ist durch vorsichtige Zurückhaltung und Anpassung an von außen vorgegebene Regeln und Normen charakterisiert, was sich durch die Migration noch verstärkt. Der adolezenzspezifischen Auseinandersetzung wird soweit wie möglich ausgewichen, ein Experimentieren mit alternativen Entwürfen findet kaum statt. Stattdessen wird die Anbindung an familiale Bezugspersonen oder außerfamiliale Mentoren gesucht. Die Migration erfolgt zum großen Teil fremdbestimmt und dient der Erledigung eines bestimmten Auftrages, z.B. dem Reputationsgewinn für die Familie durch Auslands-Diplom, dessen Erwartungsdruck sich diese Jugendlichen kaum entziehen können. Die Migration bewirkt eine grundlegende Verunsicherung und stellt eine Überforderung dar, der durch enge Anbindung an vertraute Bezugspersonen begegnet wird. Auftretende migrationsbedingte Schwierigkeiten werden mit Unterstützung und Anleitung von Mentoren bewältigt. Die strukturell vorhandene Diskriminierung seitens der Aufnahmegesellschaft wird zugunsten des delegierten Auftrages verdrängt, Konflikte werden generell gescheut. Grundsätzlich werden die Anpassungsbestrebungen bei diesem Typus durch die Migration verstärkt, der Individuierungsprozess wird damit deutlich behindert. Das Entwicklungsmuster Kompromisshafte Transformation zeichnet sich durch unauflösbare Ambivalenzen aus. Die Bearbeitung der adoleszenzspezifischen Themen wird durch anhaltende Konflikte mit der Herkunftsfamilie blockiert. Diese Konflikte verhindern das Ausschöpfen vorhandener adoleszenter Entwicklungsspielräume und potenzieren sich durch die Migration. Die Motiva53
Diese Chrarkterisierung wurde in Auseinandersetzung mit Typologien verschiedener Adoleszenzverläufe vorgenommen, wie sie insbesondere von Bosse (1994a, 1995), King (2000a) und Sauter (2000) entwickelt wurden.
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4 Fallanalysen
tion zur Migration speist sich aus dem Wunsch, einen Ausweg aus der Verstrickung mit der Familie zu finden. Die Vermeidung einer offenen Auseinandersetzung führt jedoch in der Migration eher zu einer Verschärfung der Problematik. So bindet der Konflikt diese Jugendlichen an ihre Herkunftsfamilie und verhindert die innere Ablösung von ihr. Sie fühlen sich hin- und hergerissen zwischen der Bindung an ihre Herkunftsfamilie und -kultur, ihren inneren Autonomiebestrebungen und den äußeren Autonomieangeboten der Aufnahmekultur. Die migrationsbedingten Schwierigkeiten überwinden sie mit großer Anstrengung, in der strukturell vorhandenen Diskriminierung des Aufnahmelandes sehen sie eine erhebliche Beinträchtigung ihres Selbstwertgefühls. Die Migration bewirkt bei diesem Typus zwar eine Transformation in Richtung eines Individuierungsprozesses, aufgrund der kompromisshaften Lösung ihrer Konflikte bleibt dieser jedoch der äußeren Ebene verhaftet. Bei der Zuordnung der insgesamt dreizehn Fälle der Studie auf die drei Muster ergibt sich folgende Verteilung: Dem Muster Offensive Neuschöpfung lassen sich sechs der Fälle zuordnen, davon sind vier Frauen und zwei Männer. Das Muster Defensive Anpassung trifft bei vier Männern zu, während das Muster Kompromisshafte Transformation für einen Mann und zwei Frauen gilt. Anhand der sechs ausführlich vorgestellten Einzelfälle lassen sich nun die Bedingungen, die zur Entstehung der verschiedenen charakteristischen Entwicklungsmuster adoleszenter Migration führen, erläutern. Dazu wird jeweils die Qualität des adoleszenten Möglichkeitsraums in den Blick genommen und daraufhin untersucht, inwieweit er die innere und äußere Autonomieentwicklung ermöglicht bzw. behindert. Die im Kapitel 3.4 auf theoretischer Ebene entwickelten Kategorien dienen dabei als Grundlage der Analyse; anhand des Umgangs mit den zentralen Herausforderungen des doppelten Transformationsprozesses, der Bearbeitung der Migrationsentscheidung, den Trennungs- und Fremdheitserfahrungen, den veränderten Geschlechterverhältnissen sowie der räumlichen Verortung können die Bedingungen und Möglichkeiten der Bewältigung dezidiert aufgezeigt werden. Die geschlechtsspezifisch unterschiedliche Verteilung aller Einzelfälle innerhalb der typischen Entwicklungsmuster – die weiter unten diskutiert wird – bildet sich auch in der Aufteilung der sechs hier ausführlich vorgestellten Fälle auf die drei Muster aus. Wie im Folgenden deutlich wird, gehören dem Muster Offensiver Neuschöpfung eine Frau und ein Mann an, dem Muster Defensiver Anpassung ein Mann und dem Muster Kompromisshafter Transformation zwei Frauen und ein Mann an. Bei den charakteristischen Entwicklungsmustern adoleszenter Migration handelt es sich um eine Abstraktion, die das Allgemeine der einzelnen Biographien hervorhebt. Damit sollen die für die verschiedenen Entwicklungsverläufe grundlegenden Bedingungen, Faktoren oder Ursachen, die zur Herstellung des
4.3 Charakteristische Entwicklungsmuster adoleszenter Migration
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jeweiligen Entwicklungsmusters adoleszenter Migration systematisch beitragen, herausgearbeitet werden. Die fallspezifischen Differenzierungen werden in der folgenden Untersuchung der Entstehungsfaktoren der jeweiligen Muster durch Bezugnahme auf die jeweiligen Einzelfälle erkennbar.
4.3.1 Offensive Neuschöpfung Dem Muster Offensive Neuschöpfung lassen sich Aida Sangaré und Ibrahim Diallo zuordnen.
Die Charakteristik dieses Entwicklungsmusters liegt darin, dass die Migration genutzt wird, um einen eigenen, von den Eltern abweichenden Lebensentwurf zu entwickeln und dieses Ziel mit offensiver Durchsetzungskraft zu verfolgen. Bereits vor ihrer Migration verfügen die Adoleszenten dieses Musters über einen ausreichenden adoleszenten Spielraum, innerhalb dessen sie sich von den Vorstellungen und Erwartungen ihrer Eltern distanzieren und ihre Autonomie von den Eltern erkämpfen. Die Eltern verteidigen zwar ihre eigenen Entwürfe, stellen sich aber dennoch den Konflikten mit ihren Kindern, so dass sie relativ offen ausgetragen werden können und den Adoleszenten die Entfaltung ihrer Selbstbestimmung ermöglichen. Aida wurde dabei ein größerer Spielraum in der Erprobung ihrer Freiräume gewährt als Ibrahim. In ihrer Familie herrscht ein größeres Spektrum unterschiedlicher Lebensentwürfe vor, die schon seit mindestens einer Generation die kulturellgesellschaftlichen Normen teilweise neu interpretiert haben und über eine ausgeprägte Toleranz anderen Lebensformen gegenüber verfügen. Diese offene, auf individuelle Autonomie ausgerichtete Haltung ihrer Familie ermöglicht Aida, sich über Konventionen hinwegzusetzen und mit neuen Entwürfen zu experimentieren. Ibrahims adoleszenter Entwicklungspielraum war durch die aus inneren Konflikten resultierende autoritäre Haltung seines Vaters geprägt. Es gibt eine erhebliche Spannung zwischen Autonomieförderung und -einschränkung. Ibrahim nutzt seine Spielräume und fordert die offene Auseinandersetzung mit seinem Vater stetig durch die bewusste Überschreitung von Verboten heraus, womit er gegen den Entwurf des Vaters rebelliert.
Für die Adoleszenten dieses Musters bieten die Eltern wichtige Identifikationsflächen für transformierende Lebensentwürfe. In der Auseinandersetzung mit den Lebensentwürfen ihrer Eltern erkennen die Adoleszenten jedoch gleichzeitig eine Konflikthaftigkeit, die sie selbst nicht übernehmen wollen. Die im Rahmen der Schulausbildung gewährten Freiräume geben ihnen die Gelegenheit, in der Peergroup neue Erfahrungen zu sammeln und sich von den Eltern zu distanzieren. Die Streitbarkeit der Eltern ermöglicht ihnen, sich mit alternativen
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Lösungen intensiv auseinander zu setzen. Durch diese von ihren Familien gewährten Entwicklungsspielräume entwickeln diese Jugendlichen während ihrer Schulzeit in Conakry ein gewisses Maß an Selbständigkeit, Konfliktfähigkeit und Durchsetzungskraft, das sie darin bestärkt, ein Studium im Ausland anzustreben. An der Migrationsentscheidung sind die Adoleszenten dieses Musters aktiv beteiligt. Sie entwickeln eigene Vorstellungen darüber, dass und wo sie studieren wollen, und führen eine offene Auseinandersetzung hierüber mit ihren Eltern, in der sie versuchen, ihre Ansprüche durchzusetzen. Die Eltern stellen sich diesen Auseinandersetzungen, erkennen die Forderungen ihrer Kinder an, wenn sie ihnen auch nicht gänzlich nachgeben. Die Migration bedeutet für diese Jugendlichen eine Fortsetzung ihrer adoleszenten Explorationsbestrebungen. Denn neben der Verfolgung einer beruflichen Perspektive sehen sie in der räumlichen Trennung von ihrer Herkunftsfamilie eine Überwindung der Beschränkungen ihrer Selbstentfaltung und den daraus resultierenden Konflikten mit den Eltern. Aida benötigt ein Jahr, um ihre Eltern zu überzeugen, dass sie überhaupt ein Studium im Ausland aufnehmen darf. Schließlich finden sie einen Kompromiss darin, dass Aida statt in die USA nach Deutschland geht. Ibrahim muss nicht prinzipiell für ein Auslandsstudium kämpfen, da seine Eltern dies als notwendig und selbstverständlich ansehen. Er kann sich jedoch nicht gegen den Willen des Vaters durchsetzen, der ihn statt in die USA schließlich nach Deutschland schickt.
Der Aushandlungsprozess mit den Eltern über die Migrationspläne stellt eine wichtige Erfahrung für die Jugendlichen dieses Musters dar. Indem sie versuchen, ihre Bedürfnisse gegenüber den Eltern durchzusetzen, erleben sie ihre eigene Wirkmächtigkeit und gewinnen daraus eine zusätzliche innere Stärke, die eine wichtige Basis für ihre Migration darstellt. Selbst wenn die Entscheidung für Deutschland nicht ihren eigentlichen Wünschen entspricht, so erfahren sie in der Unterstützung der Eltern für ihr Migrationsprojekt doch eine grundsätzliche Achtung vor ihren individuellen Ansprüchen an ein selbstbestimmtes Leben. Dies stärkt ihre innere Motivation, aus der Migration ein erfolgreiches Projekt zu machen und aufkommende Schwierigkeiten selbstständig zu überwinden. Das Muster Offensive Neuschöpfung zeigt sich bei den Adoleszenten im produktiven Umgang mit Trennung und Bindung hinsichtlich ihrer Familie und Herkunftskultur, der ihren Individuierungsprozess vorantreibt. In den Auseinandersetzungen vor der Migration werden wichtige psychische Ressourcen entwickelt, mit denen die Entfaltung der Lebensentwürfe vorangetrieben werden kann. Die Ablösung von den Eltern kann jedoch aufgrund des kulturellen Rahmens nur in eingeschränktem Maße erfolgen, weil die Familien der Jugendlichen dieses Musters dem in Guinea vorherrschenden Senioritätsprinzip folgen,
4.3 Charakteristische Entwicklungsmuster adoleszenter Migration
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welches einen offenen Widerstand gegen die elterlichen Gebote verbietet und grundsätzlich ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Generationen vorsieht (vgl. Kap. 3.1.2). Die durch die Migration vollzogene radikale äußere Trennung von der Herkunftsfamilie wird bei diesem Muster vorwiegend als Befreiung von einengenden Regeln und Normen erlebt und der dadurch erweiterte Entwicklungsspielraum als Herausforderung angesehen. Der gleichzeitig vorhandene Trennungsschmerz wird ausreichend abgemildert durch die Fähigkeit, neue Kontakte mit anderen Guineern zu knüpfen, und durch die daraus resultierenden neuen Bindungen, die im Aufnahmeland eingegangen werden. Diese aus der Eingebundenheit in ein soziales Netz resultierende Sicherheit befähigt diese Jugendlichen, auch Beziehungen mit Angehörigen der Aufnahmekultur aktiv zu gestalten. Sowohl Aida wie auch Ibrahim betonen die Bedeutung, die ihre Freundschaft mit Deutschen für sie hat.
Der erweiterte adoleszente Entwicklungsspielraum kann somit auch zur inneren Ablösung von den Eltern und zur Modifikation des Verhältnisses zu ihnen genutzt werden. Aus der räumlichen Distanz findet eine intensive innere Beschäftigung mit der Familie und den darin gewonnenen Erfahrungen statt, welche zur Neubestimmung der eigenen Position führt. Gleichzeitig wird die reale Auseinandersetzung mit den Eltern fortgesetzt und damit die Beziehung zu ihnen auf einer anderen Ebene neu gestaltet. Aida berichtet, wie sie bei ihrem Besuch in Guinea ihrer Mutter auf neue Weise begegnet ist und nun auch über früher heikle Themen mit ihr offen sprechen kann. Auch Ibrahim betont, wie sich die Beziehung zu seinem Vater von einer konfrontativen zu einer einfühlsamen verändert hat, die heute von gegenseitiger Anerkennung gekennzeichnet ist.
In diesem Ablöseprozess von Herkunftsfamilie und -kultur werden die stärker auf Individualisierung zielenden kulturellen Praxen der Aufnahmegesellschaft grundsätzlich als Bereicherung für den eigenen Lebensentwurf empfunden. Die Trennung von der die Vergemeinschaftung eher betonenden Herkunftskultur befördert eine reflexiv-kritische Haltung zu ihr, ohne sie jedoch verleugnen zu müssen. Diese Adoleszenten sind in der Lage, die für ihre Entwürfe förderlichen Anteile zu übernehmen, negative zu verändern und somit durch die migrationsbedingte Auseinandersetzung mit der Aufnahmekultur ein neues Verhältnis auch zur Herkunftskultur einzugehen. Mit den durch die Migration ausgelösten inneren und äußeren Fremdheitserfahrungen finden die Adoleszenten dieses Entwicklungsmusters einen kon-
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struktiven Umgang. Der anfänglichen Verunsicherung in der neuen Umgebung begegnen sie eher mit Neugier und dem Bemühen, sich diese vorerst fremde Welt zu erobern. Sie verfügen bereits über Erfahrungen des Anders-Seins vor der Migration, denn schon in Guinea haben sie erlebt, dass die Durchsetzung ihrer Lebensvorstellungen mit Ablehnung wichtiger Bezugspersonen und mit Ausgrenzungstendenzen verbunden sein kann, deren Überwindung jedoch möglich ist. In diesem Prozess fand eine Auseinandersetzung mit Gefühlen der Fremdheit in einer unbekannten Welt bereits statt, so dass sie über ein relativ sicheres Gefühl dafür verfügen, wer sie selbst sind. Bei Aida und Ibrahim wird dies u. a. an ihrer engen Verbundenheit mit ihren Familien und deren Vorfahren deutlich, die wichtige Identifikationsmöglichkeiten für ihre Lebensentwürfe darstellen.
An diese Erfahrungen knüpfen sie in der Migration an und entwickeln eine Strategie, mit der sie auch den Diskriminierungserfahrungen als Schwarze in Deutschland begegnen können. Ein wichtiges Gegengewicht bei aufkommenden Fremdheits- und Entfremdungserfahrungen in der Migration stellt einerseits die ethnische Community dar. Die Adoleszenten verfügen über ein ausreichendes soziales Netz auch länger in Deutschland lebender Guineer, die zum Teil beruflich bereits etabliert sind. Aida hat zahlreiche Verwandte in Deutschland, Ibrahim in Frankfurt einen Onkel.
Besonders aber mit den gleichaltrigen BildungmigrantInnen aus ihrer Heimat können Gefühle der Entfremdung in vertrautem Rahmen bearbeitet werden. Diese stellen daher eine wichtige äußere Ressource bei der Bewältigung der Verlust- und Entfremdungserfahrungen und bei der Aneignung der zunächst fremden Welt dar. Diese Einbettung in ein sicheres Beziehungsnetz mit anderen Landsleuten ermöglicht auch einen offensiven Umgang mit Gefühlen der Fremdheit, indem Kontakte mit Deutschen bewusst gesucht und gepflegt und damit die zunächst fremden Anteile gezielt angeeignet werden. Auf diese Weise wird das Fremde vertraut und die vormals vertraute Welt Guineas ein Stück weit fremd. Durch eine offene adoleszente Auseinandersetzung mit dem inneren und äußeren Fremdsein in der Migration werden die Reflexion auf das eigene Leben und die verfolgten Wünsche gefördert und eine bewusste Positionierung, das bedeutet auch eine Integration von Anteilen beider Welten, möglich. Die Adoleszenten dieses Entwicklungsmusters verfügen insgesamt über ausreichende psychische Ressourcen, aber auch über vertraute Bezugspersonen für die Bewältigung ihrer inneren und äußeren Fremdheitsgefühle. Durch die aktive Verarbei-
4.3 Charakteristische Entwicklungsmuster adoleszenter Migration
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tung der migrationsbedingten Fremdheitserfahrungen integrieren sie Teile des vormals Fremden in ihren Lebensentwurf und schaffen damit etwas Neues. Der Umgang mit den veränderten Geschlechterverhältnissen in der Migrationssituation wird von diesen Jugendlichen aktiv gesucht. Eine intensive adoleszente Auseinandersetzung mit dem eigenen Geschlecht fand bereits vor der Migration statt. Die Kämpfe mit dem jeweils gleichgeschlechtlichen Elternteil sind auch als ein Ringen um einen anderen als den vorgelebten Entwurf als Frau beziehungsweise Mann zu verstehen. Dabei werden bewusst Grenzen überschritten, um mit neuen Erfahrungen zu experimentieren. Aida lebt dies in sexuellen Beziehungen zu jungen Männern aus, womit sie ihre Mutter provoziert. Ibrahim fordert seinen Vater ständig mit seinen auf körperlicher Ebene ausgetragenen lebensgefährlichen Handlungen heraus.
Die Migration bedeutet hier einen wichtigen Schritt, dem eigenen Entwurf als Frau bzw. Mann näherzukommen. Die partiell veränderten Geschlechterverhältnisse bzw. die größere Vielfalt gelebter Weiblichkeit und Männlichkeit in Deutschland gegenüber Guinea werden von den Adoleszenten dieses Musters als Herausforderung betrachtet, die eigenen Vorstellungen freier erproben zu können. Innerhalb gleichgeschlechtlicher Freundschaften können neue Identifikationsmöglichkeiten gefunden werden, anhand konkret gelebter Liebesbeziehungen erfahren diese Wünsche und Bedürfnisse eine Realitätsabgleichung und münden schließlich in einem realistischen Geschlechterentwurf. Hier treffen die äußeren Bedingungen auf innere, zur Entfaltung drängende Anliegen und ermöglichen die Ausbildung neuer Weiblichkeits- bzw. Männlichkeitsentwürfe. Zentral bei diesem Muster ist die Reflexivität, mit der die eigene Position im Geschlechterverhältnis gesucht wird, welche durch die bereits vor der Migration erfolgte adoleszente Auseinandersetzung gewonnen wurde. Durch die bewusste Auseinandersetzung hierüber werden die veränderten Bedeutungen, die den Geschlechtern im Aufnahmeland zugemessen werden, als Erweiterung der eigenen Möglichkeiten angesehen und können aktiv für die eigene Identitätsfindung genutzt werden. Der daraus resultierende Geschlechterentwurf ist als Integration von Elementen alter, aus elterlichen Identifizierungen gewonnener Lebensmodelle wie auch als Hervorbringung neuer, von den Adoleszenten im Zuge ihrer migrationsbedingten Auseinandersetzung gewonnener Lösungen anzusehen. Die räumliche Verortung bei der Entwicklung realistischer Zukunftsperspektiven spielt bei den Adoleszenten des Musters Offensive Neuschöpfung eine wichtige Rolle. Sie nehmen die Frage, wo sie einmal leben wollen, aktiv in ihren Lebensentwurf auf und setzen sich mit den durch ihre Migrationserfahrungen jeweils veränderten Bedingungen und Möglichkeiten der verschiedenen
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Orte realistisch auseinander. Dabei wägen sie ihre Vorstellungen über ein selbstbestimmtes Leben ab mit den Vorstellungen von ihrem zukünftigen Partner sowie von ihren beruflichen Perspektiven, prüfen die entsprechenden Möglichkeiten in Guinea oder Deutschland bzw. Europa oder Amerika und sind bestrebt, eine realistische Lösung zu finden. Die Bearbeitung der individuellen adoleszenten Thematik spielt bei der räumlichen Verortung eine zentrale Rolle. Diese findet in enger Verknüpfung mit den konkreten Migrationsbedingungen statt. Bei Aida steht die Verwirklichung ihres Weiblichkeitsentwurfs im Vordergrund, den sie denkt am ehesten in Deutschland umsetzen zu können. Daher setzt sie sich mit den realistischen Möglichkeiten auseinander, eine Aufenthaltserlaubnis nach dem Studium zu erhalten, ohne dafür zu viele Kompromisse eingehen zu müssen. Ibrahim, dessen adoleszentes Bestreben auf die Anerkennung seiner Person gerichtet ist, sieht in der Diskriminierung als Schwarzer und den aufenthaltsrechtlichen Beschränkungen ein wichtiges Hindernis für seinen langfristigen Verbleib in Deutschland. Mit seinem international ausgerichteten Studium verschafft er sich die Option, auch in anderen Ländern arbeiten zu können.
Die Adoleszenten dieses Musters setzen sich offen mit dem ursprünglichen Migrationsziel – mit erfolgreichem Studienabschluss nach Guinea zurückzukehren – auseinander und modifizieren dieses unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Ansprüche und der aktuellen Bedingungen ihrer Migrationssituation. Sie verfügen über eine hohe Reflexivität bezüglich ihrer individuellen Wünsche und einer sachlichen Einschätzung von deren Realisierung an in Frage kommenden Orten. Die Auseinandersetzung über ihre räumliche Verortung beginnt bei diesen Adoleszenten bereits bei der Bearbeitung der Migrationsentscheidung und wird während des Migrationsprozesses durch die dabei gewonnenen Erfahrungen fortgesetzt. Sie ist daher auch das Ergebnis der Erweiterung ihrer inneren und äußeren Autonomie, die ihnen eine Entscheidung über verschiedene Perspektiven ermöglichen. Nicht die endgültige Beantwortung der Frage ihrer räumlichen Verortung ist hier maßgeblich. Vielmehr zeigt sich im Abwägen verschiedener Möglichkeiten sowie in der realistischen Einschätzung ihrer Verwirklichung die Fähigkeit der Adoleszenten, verschiedene Positionen probehalber durchzuspielen und schließlich eine ihrer Situation angemessene Lösung anzustreben. Wie aus den Ausführungen deutlich wurde erfolgt die Aneignung des adoleszenten Entwicklungsspielraums in der Migration bei diesem Typus in offensiver Weise. Die Adoleszenten können die geforderte größere Autonomie und Selbstbestimmtheit für sich produktiv nutzen und die Einschränkungen, die sie durch strukturelle Diskriminierung und alltägliche Fremdenfeindlichkeit in
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Deutschland erfahren, schöpferisch bewältigen. Sie haben bereits in Guinea über einen weit gefassten adoleszenten Möglichkeitsraum verfügen können, in dessen Rahmen sie ein gewisses Maß an Durchsetzungs- und Konfliktfähigkeit entwickeln konnten. Diese inneren Ressourcen können sie zur Bewältigung ihrer anfänglichen Unsicherheit in der Migrationssituation mobilisieren und sich somit in der Aufnahmegesellschaft immer mehr verankern. Innerhalb eines von ihnen geknüpften Netzes sozialer Beziehungen eignen sie sich die verschiedenen Lebensbereiche der fremden Welt kreativ an. Diese Erfahrungen führen zu einem neuen Selbsterleben und treiben den Adoleszenzprozess voran. Intensiv setzen sie sich mit den veränderten Generationen- und Geschlechterbeziehungen auseinander und erproben neue Positionen. Aus der so gewonnenen inneren und äußeren Distanz entwickeln sie auch ein neues Verhältnis zur Herkunftsfamilie und -kultur. Die strukturelle Benachteiligung und den alltäglichen Rassismus in Deutschland erleben sie als deutliche Einschränkung ihrer Freiheit, die sie nicht hinnehmen, sondern aktiv zu bewältigen versuchen. Einerseits können sie dabei an frühere Fremdheitserfahrungen anknüpfen, andererseits mildern die neu gefundenen Bindungen zu Deutschen sowie die Eingebundenheit in die ethnische Community diese Kränkungen ab. Diese Mobilisierung von inneren und äußeren Ressourcen führt bei den Adoleszenten dieses Musters zu einer hohen Handlungssicherheit und einer kreativen Ausgestaltung der Migrationssituation. Die in Deutschland weiter gefassten Autonomiespielräume stellen eine Erweiterung ihres adoleszenten Möglichkeitsraums dar, der ihren Individuierungsprozess vorantreibt und neue Lebensentwürfe hervorbringt. Die Migration nach Deutschland treibt somit den adoleszenten Entwicklungsprozess des Musters Offensive Neuschöpfung entscheidend voran, weil sie sich mit den veränderten kulturell-gesellschaftlichen Bedingungen offensiv auseinandersetzen und neue individuelle Lösungen erproben.
4.3.2 Defensive Anpassung Aus den vorgestellten Fällen lässt Kallil Sow sich dem Muster Defensiver Anpassung zuordnen.
Kennzeichnend für dieses Muster ist, dass die Migration in enger Abstimmung mit der Familie erfolgt, deren beruflicher Erfolgsanspruch mit dem Auslandsstudium fortgesetzt werden soll. Die adoleszenten Spielräume vor der Migration sind eng gesteckt, so dass wenig Erfahrung mit anderen als den familialen Vorstellungen und Erwartungen möglich ist. Adoleszenzgemäße Versuche, mit anderen Entwürfen zu experimentieren, werden seitens der Familie durch An-
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drohung von Beziehungsabbruch abgewehrt. Bei den Jugendlichen dieses Musters handelt es sich meist um die jüngsten Kinder, deren Betreuung und Versorgung häufig von den älteren Geschwistern oder anderen Familienmitgliedern übernommen wurde. Die Auseinandersetzungen innerhalb der Familie werden nicht offen geführt, sondern sind geprägt von den einseitigen Forderungen nach Befolgung der familialen Regeln, was die Autonomieentwicklung eher hemmt als fördert. Die Angst vor Verlust der Bindung erschwert die Loslösung und provoziert stattdessen die Annäherung an die versorgenden Familienmitglieder bei gleichzeitiger Unterdrückung innerer, davon abweichender Bedürfnisse. In Kallils Beispiel zeigt sich dies in seinem Bemühen, sich gemäß den Vorstellungen seiner Schwester zu verhalten, weil sie immer wieder drohte, ihm ihre Unterstützung zu verweigern.
Die Eltern bzw. familialen Bezugspersonen der Adoleszenten dieses Musters repräsentieren einseitig transformierende Lebensentwürfe, die auf die berufliche Ebene beschränkt bleiben und als notwendige äußere Anpassung an die veränderte Arbeitswelt zu verstehen sind. Die mit der Bildungsaspiration gleichzeitig einhergehenden inneren Entwicklungen werden eingefroren bzw. abgewehrt. Sie scheuen Konflikte mit ihren adoleszenten Kindern und fordern von ihnen die Übernahme der eigenen Lösungen. Die im Zuge der Schulausbildung gewährten Spielräume können daher von den Adoleszenten nur begrenzt genutzt werden, um andere als die familialen Lebensentwürfe zu erproben. Die Bedürfnisse der Adoleszenten werden als Abweichung von der geltenden Norm interpretiert und kritisiert. Kallil beschreibt dies in den Forderungen seines Bruders: „Mach so, mach so, was du zur Zeit machst, ist annormal. Das ist für dich gut, deine Studium zuerst und dann kommt eine andere“.
Entsprechend dem so ausgestalteten adoleszenten Entwicklungsspielraum entfalten diese Jugendlichen ein hohes Maß an Anpassungsbereitschaft und Konfliktvermeidung und wenig Kompetenz bei der Bewältigung von Schwierigkeiten und bei der Durchsetzung eigener Bedürfnisse. Ihre Reflexionsbereitschaft ist gering ausgeprägt, da eine intensive Auseinandersetzung mit ihren inneren Strebungen sie in Konflikt mit den von außen an sie gerichteten Erwartungen bringen würde. An der Migrationsentscheidung sind die Jugendlichen dieses Entwicklungsmusters eher passiv beteiligt. Es sind ihre Familien, die ihnen das Anliegen eines Auslandsstudiums antragen und die damit verbundene Organisation übernehmen. Die Jugendlichen gehen jedoch insofern mit den Ansprüchen der Fami-
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lie konform, als sie sich deren Wunsch zu eigen machen. Auch die Aufbruchstimmung ihrer gleichaltrigen Schulkameraden, die mehr oder weniger alle ein Studium im Ausland ins Auge fassen, fördert die innere Bereitschaft zur Migration bei diesen Adoleszenten. Ihre Motivation speist sich demnach eher aus den Bedürfnissen nach Anpassung als aus denen nach Aufbruch oder Veränderung. Eine Bearbeitung der eigenen mit dem Auslandsstudium verbundenen Vorstellungen, Wünsche und Ziele findet nicht statt, die Migrationsmotivation bleibt somit eine äußerliche. Kallil wird von seiner Schwester zur Migration ermutigt. Um das Abitur als Voraussetzung dafür zu erreichen, braucht er viel Unterstützung von außen.
Mit der Migration ist für die Adoleszenten dieses Musters vorwiegend das Anliegen verbunden, ein erfolgreiches Studium zu absolvieren, um damit die Anerkennung und Wertschätzung der Familie zu erhalten. Sie orientieren sich einseitig an den Erfolgsgeschichten anderer Familienangehöriger und deren Erwartung an ihren Erfolg und setzen sich weniger mit mögliche Schwierigkeiten oder Hindernisse auf dem Weg dorthin auseinander. Ein adoleszenter Ablöseprozess wird diesen Jugendlichen somit durch die Migration von außen angetragen. Die Migration zwingt die Adoleszenten dieses Musters zu einem veränderten Umgang mit Trennung und Bindung. Die radikale Trennung von Familie und Herkunftskultur bedeutet eine Zäsur in ihrem Leben, da der Wechsel von ihren bisherigen sozialen Bezügen Orientierungslosigkeit und Verunsicherung verursacht. Der Wegfall sowohl der vertrauten Bezugspersonen als auch des stützenden kulturell-gesellschaftlichen Rahmens wird als Verlust der inneren Sicherheit empfunden und fordert sie zu neuen Lösungen heraus. Ihren bisherigen Entwicklungsspielräumen entsprechend, haben sie wenig Erfahrung in autonomer Lebensgestaltung und Konfliktbewältigung und sind darum zunächst damit überfordert, unter neuen Bedingungen Entscheidungen selbstständig zu treffen. Sie begegnen dieser Situation grundsätzlich mit enger Anbindung an Mentoren, an deren Vorbild sie sich orientieren und von denen sie gezielt Ratschläge, Hinweise und Handlungsanweisungen einfordern, mit denen sie ihren Alltag in der Migration gestalten. Auch den mit der Migration verbundenen Schmerz über die Trennung von der Familie und der vertrauten Umgebung versuchen diese Adoleszenten mit der engen Anbindung an verfügbare Bezugspersonen abzumildern. In Kallils Beispiel sind seine Geschwister trotz der räumlichen Trennung stets präsent. Akute Gefühle von Heimweh überwindet er, indem er immer sofort seine Schwester anruft.
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Die Bindungsbedürfnisse dieser Adoleszenten, die durch die Migration deutlich verstärkt werden, stehen den adoleszenten Ablösetendenzen entgegen. Die mit der Migration vollzogene äußere Trennung von der Herkunftsfamilie verhindert also eher eine innere Auseinandersetzung mit den Eltern bzw. familialen Bezugspersonen und wird daher nicht zur inneren Ablösung und Modifikation des Verhältnisses zu ihnen genutzt. Hinzu kommen die veränderten Ansprüche der stärker auf Individualisierung zielenden kulturellen Praxis in Deutschland, von denen sich diese Jugendlichen zusätzlich überfordert fühlen. In dem weiter gesteckten Feld verschiedener Möglichkeiten der Lebensausgestaltung verlieren sie sich, weil sie über wenig innere Ressourcen verfügen, einen Lebensentwurf auszubilden und zu verfolgen. Sie halten sich daher an die ihnen bekannten Entwürfe, um eine größtmögliche innere Sicherheit zu bewahren. Die durch die Migration verstärkt ausgelösten Gefühle des Fremd-Seins erleben die Adoleszenten dieses Entwicklungsmusters als drastische Einschränkung ihrer Entfaltungsmöglichkeiten, da sie ihre innere Verunsicherung verstärken. Diese Jugendlichen haben, entsprechend ihrem eingeschränkten adoleszenten Möglichkeitsraum, vor ihrer Migration wenig mit abweichenden Lebensentwürfen experimentiert und sich kaum mit Gefühlen der Fremdheit in einer unbekannten Welt offen auseinandergesetzt. Somit treffen die durch die Migration ausgelösten verdoppelten Fremdheits- und Entfremdungsempfindungen sich selbst und anderen gegenüber auf wenig ausgeprägte innere Ressourcen, die zur Bewältigung dieser Krise herangezogen werden können. Die Überwindung ihrer daraus resultierenden Unsicherheit gelingt ihnen daher am ehesten, indem sie ihre Bemühungen um Anpassung an verfügbare Mentoren erhöhen, um sich innerhalb dieser Beziehungen einen möglichst großen Raum der Vertrautheit zu schaffen. Die Kontakte dieser Adoleszenten beschränken sich im Wesentlichen auf Angehörige der ethnischen Community oder MigrantInnen aus anderen Ländern, weil die geteilte Erfahrung der äußeren Fremdheit eine Verbindung herstellt, die zur Abmilderung der Verunsicherung beiträgt. Den durch Diskriminierungserfahrungen ausgelösten äußeren Fremdheitserlebnissen versuchen sie aus dem Weg zu gehen oder diese passiv zu ertragen. Die damit verbundenen Gefühle werden durch Rückgriff auf bekannte Strategien zu bewältigen versucht: durch Verharmlosung oder Verdrängung und durch Reduzierung auf das mit der Migration verbundene Ziel, das Studium erfolgreich zu absolvieren. Kallil reagiert auf die rassistisch motivierten Anfeindungen in Rostock mit Verdrängung: ihm sei das egal, er will hier studieren und nicht mit den Leuten streiten.
Auch hierbei spielt die Orientierung an den vorhandenen Bezugspersonen eine wichtige Rolle, weil sie von ihnen konkrete Handlungsanweisungen erhalten,
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wie sie ihr Studium und die damit verbundenen Aufgaben bewältigen können. Die im Kontakt zu Angehörigen der Aufnahmekultur auflebenden Fremdheitsgefühle und damit verbundenen Ängste werden aus strategischen Gründen zugunsten des angestrebten Migrationsziels zu überwinden versucht. Kallil tut dies zum Beispiel, indem er über den AStA eine Partnerin sucht, um Deutsch zu lernen.
Diese Beziehungen sind wiederum geprägt von einer einseitigen Anbindung der Adoleszenten an die Erwartungen oder Vorgaben der jeweils anderen. Aufgrund dieser insgesamt ausweichenden Haltung wird eine adoleszente Auseinandersetzung mit dem eigenen inneren Fremden weiter vermieden. Eine Überwindung der Fremdheitsempfindungen scheint daher nur schwer möglich. Auch hinsichtlich der Auseinandersetzung mit den veränderten Geschlechterverhältnissen im Aufnahmeland wird die Tendenz der Adoleszenten dieses Musters sichtbar, sich an bekannten Vorbildern zu orientieren und deren Lösungen zu übernehmen. Eine adoleszente Auseinandersetzung mit dem eigenen Geschlecht und die Erprobung von anderen als den vorgegebenen Geschlechterentwürfen haben vor der Migration kaum stattgefunden. Eher erfolgt eine an den familialen Vorbildern orientierte Anpassung, wofür ihnen auch die entsprechende Anerkennung zuteil wird. Die Migration provoziert mit der Auflösung vertrauter Grenzen zwischen den Geschlechtern im Aufnahmeland die Verunsicherung dieser Adoleszenten, weil sie erstmals zu einer eigenen Positionierung herausgefordert werden, was ihrem Bemühen um Anpassung zuwiderläuft. Die Bewahrung bzw. Wiedererlangung ihrer inneren Sicherheit hinsichtlich ihrer Identität als Mann oder Frau gelingt ihnen eher mit der Fortführung des Bekannten als mit dem Experimentieren mit neuen Lösungen. Die geringe Reflexionsbereitschaft dieser Adoleszenten begünstigt die Übernahme vorhandener Geschlechterentwürfe, statt in der Auseinandersetzung mit eigenen Bedürfnisse neue Entwürfe zu erproben. In Kallils Fall wird seine Orientierung an dem Vorbild seines in Guinea lebenden älteren Bruders deutlich.
Aus der Verunsicherung hinsichtlich ihres eigenen Geschlechtsstatus vermeiden diese Adoleszenten im Aufnahmeland zunächst Liebesbeziehungen, was ihren adoleszenten Entwicklungsspielraum weiter einengt. Die räumliche Verortung bei der Entwicklung realistischer Zukunftsperspektiven spielt bei den Adoleszenten dieses Musters eine geringe Rolle, denn sie weichen der mit der Migration angestoßenen Frage, wo sie ihre Zukunftsperspektiven am ehesten verwirklichen möchten, eher aus. Grundsätzlich halten sie
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an dem ursprünglich mit der Migration verfolgten Ziel fest, nach erfolgreich abgeschlossenem Studium nach Guinea zurückzukehren und dort Karriere zu machen. Eine Auseinandersetzung mit vorhandenen realen Schwierigkeiten bei der Verfolgung dieses Ziels findet jedoch nicht statt. Eine Reflexion der eigenen Bedürfnisse hinsichtlich der Ausgestaltung des zukünftigen Lebens sowohl im beruflichen wie auch privaten Bereich ist kaum vorhanden. Die Erfahrungen, die im Zuge der Migration gewonnen werden, finden keinen Eingang in den Lebensentwurf, sondern bleiben den Adoleszenten äußerlich. An dem Thema ihrer räumlichen Verortung wird besonders die geringe Reflexionsbereitschaft dieser Jugendlichen sichtbar, die eine Bearbeitung der individuellen adoleszenten Thematik verhindert. Die Tendenz, Konflikte zu vermeiden und sich in vorgegebenen Bahnen zu bewegen, verstärkt sich durch die migrationsbedingte Überforderung und verhindert somit auch eine innere Bearbeitung der Zukunftsentwürfe. Veränderungen hinsichtlich der räumlichen Verortung erleben sie daher als von außen an sie herangetragen, bei denen sie selbst eine passive Rolle spielen. So werden beispielsweise objektive Umstände dafür verantwortlich gemacht, warum eine Rückkehr nach Guinea auch nach absolviertem Studium unmöglich ist, eine Veränderung der eigenen Perspektive diesbezüglich wird jedoch ausgeblendet und an dem Wunsch nach Rückkehr vordergründig festgehalten. Die fehlende innere und äußere Selbstständigkeit verhindert die Entwicklung alternativer Perspektiven und fördert eine defensive Verfolgung der an sie herangetragenen Ziele. Die Aneignung des adoleszenten Entwicklungsspielraums in der Migration erfolgt bei diesen Jugendlichen in defensiver Weise, indem sie sowohl der geforderten größeren Autonomie und Selbstbestimmtheit ausweichen als auch versuchen, den Einschränkungen, die sie durch strukturelle Diskriminierung und alltägliche Fremdenfeindlichkeit erfahren, aus dem Weg zu gehen. Die einseitige Verfolgung des von außen an sie herangetragenen Migrationsprojektes steht bei der Bewältigung der adoleszenten Migration im Mittelpunkt. Die Erfüllung der Bildungserwartung und Verwirklichung eines vorgegebenen Lebensentwurfes soll die dauerhafte Einbindung in ihre Familie sichern, eine Ablösung von ihr wird nicht angestrebt. Die erweiterten inneren wie äußeren Spielräume im Aufnahmeland stellen für die Lebensentwürfe dieser Adoleszenten eher eine Bedrohung dar, weil ihre Potentiale an Selbstbestimmtheit und Konfliktfähigkeit für einen spielerischen Umgang mit anderen Entwürfen und den damit verbundenen Unsicherheiten zu gering sind. Gleichzeitig verfügen sie von Seiten ihrer Bezugspersonen nicht über eine ermutigende Begleitung von außen, die ein adoleszentes Experimentieren mit diesen Unsicherheiten fördern würde. Die Auseinandersetzung mit den veränderten Lebensformen und deren Aneignung erfolgt somit auf einer rein praktischen Ebene. Zur Bewahrung der inneren Si-
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cherheit wird die Orientierung an von außen vorgegebene Regeln gesucht. Die Abhängigkeit von den Bezugspersonen erlaubt keine Ablösung von ihnen. Die Migration stellt für diese Jugendlichen des Musters Defensive Anpassung eine Überforderung dar, die ihre Anpassungsbemühungen an bewährte Lebensentwürfe verstärkt, womit sie einer adoleszenten Auseinandersetzung ausweichen.
4.3.3 Kompromisshafte Transformation Dem Muster Kompromisshafte Transformation folgen aus den vorgestellten Fällen Fatima Touré, Oumar Bah und Binta Traoré.
Kennzeichnend an diesem Entwicklungsmuster ist, dass die Migration die Bearbeitung adoleszenzspezifischer Themen intensiviert, die Entfaltung eigener Lebensentwürfe jedoch durch unlösbare innere Konflikte entscheidend beeinträchtigt wird. Belastende frühere Beziehungserfahrungen können im Zuge der Adoleszenzentwicklung nur partiell verändert werden und sind daher Anlass für aktuell bestehende Konflikte. Bei Fatima und Oumar blockieren unerfüllte Bindungswünsche den inneren Ablöseprozess von den Eltern und damit auch ihre Autonomieentwicklung. Bintas Ablösebedürfnisse werden durch die Enge der familiären Beziehungen eingeschränkt, ihre Autonomieentwicklung dadurch behindert.
Die adoleszenten Spielräume der Jugendlichen dieses Musters sind von konflikthaften Beziehungsdynamiken gekennzeichnet, aus denen die Jugendlichen einen Ausweg suchen. Seitens ihrer Familien finden sie jedoch wenig Bereitschaft zur Veränderung. Eine offene adoleszente Auseinandersetzung über die erlittenen Erfahrungen wird daher verhindert, was die Entwicklungsspielräume entsprechend einschränkt. Die Gleichaltrigenbeziehungen nähren das Bedürfnis dieser Adoleszenten nach anderen Lebensentwürfen, die familale Verstrickung beeinträchtigt jedoch ein Experimentieren mit den eigenen Vorstellungen der Lebensgestaltung. Entsprechend ihren unterschiedlich ausgestalteten adoleszenten Explorationsspielräumen entfalten diese Jugendlichen jeweils verschieden ausgeprägte Potentiale, mit denen sie sich den migrationsbedingten Herausforderungen stellen. Fatima hat bei ihrer emanzipierten Mutter ein hohes Maß an Selbstständigkeit entwickelt, das jedoch von der unerfüllten Sehnsucht nach Geborgenheit begleitet ist. Ihre fortwährende Suche nach Gemeinschaft beeinflusst auch die Entwicklung ihrer Konfliktfähigkeit und Reflexionsfähigkeit. Oumar hat die Erfahrung gemacht, sich
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durch rationale Erklärungen mit äußeren Umständen abfinden und seine Bedürfnisse zurückstellen zu müssen. Mit dem Rückhalt stabiler Beziehungen entwickelt er ein gewisses Maß an Anpassungsbereitschaft, Durchhaltevermögen und Frustrationstoleranz. Binta hat nur geringe Potentiale an Autonomie, Konfliktfähigkeit und Durchsetzungskraft entwickeln können, mobilisiert aber aus ihrem unbedingten Willen zur Veränderung mit der Hilfe von Mentoren Kräfte zur Überwindung ihrer Schwierigkeiten.
Die Adoleszenten dieses Musters sind bestrebt, die aus den erfahrenen Einschränkungen resultierenden Hindernisse in ihrem Individuierungsprozess aktiv zu bewältigen. Die Migrationsentscheidung ist für sie ein intensiver Prozess, an dem sie aktiv beteiligt sind. In den Auseinandersetzungen mit ihren Eltern über die Migrationspläne ist der Wunsch nach Überwindung der individuell empfundenen Einschränkungen ihrer Entwicklungspotentiale zu erkennen. Fatima und Binta müssen sich die Erlaubnis zum Auslandsstudium von ihren Eltern erkämpfen. Sie wollen sich durch die Migration aus den unbefriedigenden Beziehungen lösen und neue Erfahrungen suchen. Oumar hingegen wird von seinen Eltern überredet, ein Studium in Deutschland zu absolvieren. Er will die Nähe zu seinen Eltern unbedingt erhalten und stimmt daher nur widerstrebend seiner Migration zu.
Die generationentypische Frustration über die fehlenden Möglichkeiten im eigenen Land sowie die damit verbundene Aufbruchstimmung der gleichaltrigen AbiturientInnen sind auch bei den Adoleszenten dieses Musters ein wichtiger Motor bei der Entscheidung zur Migration. Dieser Entscheidungsprozess aktiviert die Beschäftigung der Adoleszenten mit ihren eigenen Wünschen und mit der Einschätzung ihrer möglichen Umsetzung. Die Beschäftigung mit ihren Migrationsplänen und die Auseinandersetzung mit den Eltern hierüber spiegeln aber auch deren grundlegende Beziehung sowie die Bewältigung des adoleszenten Ablösekonfliktes wider. Oumar folgt schließlich den Wünschen seiner Eltern, weil sie ihn rational von dem Nutzen des Auslandsstudiums überzeugen. Fatima handelt mit ihrer Mutter einen Kompromiss über das Migrationsland aus. Binta schafft es, mit der Unterstützung ihres Onkels, die Eltern von ihrer Migration zu überzeugen.
Die Adoleszenten setzen sich in diesen Diskussionen zu den Hoffnungen und Befürchtungen der Eltern in Beziehung und handeln eine Lösung aus. Die Unterstützung ihrer Eltern für ihr Migrationsprojekt bzw. die damit verbundenen Erwartungen stellen eine wichtige Bedingung für die innere Motivation der Adoleszenten dar, ihr Studium in Deutschland zum Erfolg zu führen. So unter-
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schiedlich sich die Ausgangsvoraussetzungen der Adoleszenten dieses Musters auch gestalten, gemeinsam ist ihnen dennoch, dass mit der Motivation zur Migration auch das Anliegen verbunden ist, eine neue Lösung für ihre inneren Konflikte finden zu können. Am Umgang mit Trennung und Bindung zeigt sich die Konflikthaftigkeit des Individuierungsprozesses dieser Adoleszenten in besonderer Weise. Ihr grundlegend konflikthaftes Bedürfnis nach Bindung erschwert den adoleszenten Trennungsprozess von der Familie entscheidend und führt zu einer anhaltenden Ambivalenz zwischen Ablösebestrebungen und Rückbindungswünschen. Entsprechend ihrer unterschiedlich vorhandenen Ressourcen gestaltet sich die Bearbeitung der radikalen Trennung von Familie und Herkunftskultur in verschiedener Weise. Oumar und Binta erlebten den Wechsel ihrer bisherigen sozialen Bezüge als sehr einschneidend, weil sie den Verlust ihrer Orientierung und emotionalen Sicherheit nicht ohne Weiteres ausgleichen können. Die Überwindung ihrer anfänglichen krisenhaften Verunsicherung wird ihnen aufgrund der abweisenden Haltung der Deutschen zusätzlich erschwert. Fatima dagegen kann ihre Bindungsbedürfnisse nach ihrer Ankunft in Deutschland mit zahlreichen gleichaltrigen Guineern ausleben und somit die Trennung von ihren kulturellen Bezügen abmildern. Kontakte zu Deutschen nimmt sie vorwiegend im Verbund der guineischen Gruppe auf.
Allen dreien gemeinsam ist, dass die Bewältigung der migrationsbedingten Trennungserfahrungen sowie die Aufnahme neuer Bindungen in Deutschland ihre gesamte Kapazität bindet oder sie gar überfordert. Dies führt einerseits zur Vernachlässigung ihres Studiums und damit auch ihres eigentlichen Migrationsziels. Andererseits bietet die äußere Trennung den Jugendlichen wenig Raum, durch innere Distanznahme auch eine neue, adoleszente Auseinandersetzung mit ihrer Familie zu führen und dadurch eine Veränderung in der Beziehung zu ihr herbeizuführen. Oumar gibt seinen Heimwehgefühlen nach und kehrt nach zwei Jahren in Deutschland nach Guinea zurück. Binta wird in ihren Rückkehrbetrebungen von ihrem Vater abgewiesen, was einen Entwicklungsschub in Gang setzt, in dem sie neue Lösungen zur Bewältigung der Krise sucht. Fatima hingegen erlebt durch die Sicherheit der Zugehörigkeit der guineische Gleichaltrigengruppe die Trennung von ihrer Mutter zunächst als neue Freiheit, die sie in extremer Weise auslebt.
Erst allmählich finden die Adoleszenten dieses Musters neue Wege zur Bewältigung ihres migrationsbedingten Trennungsschmerzes und suchen nach befriedigenden Lösungen, ihr Studium in Deutschland dennoch erfolgreich absolvieren zu können.
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Oumar sichert sich nach seiner Rückkehr aus Guinea mit dem Studienortwechsel den engen Kontakt zu guineischen Freunden und setzt sich in neuer Weise mit den Lebensformen des Aufnahmelandes auseinander. Binta sucht zunächst die Hilfe ihres Bruders, später eines guineischen Mentors, und gewinnt mehr Sicherheit im Umgang mit den Autonomieforderungen in Deutschland. Fatima vollzieht erneut eine radikale Trennung von ihren bisherigen sozialen Bezügen. Sie trennt sich von ihrer guineischen Community und sucht intensiv Bindungen zu Deutschen. Sie eignet sich gezielt die deutsche Lebensweise an, weil sie damit erfolgreicher ihr Studium verfolgen kann.
Die weniger vergemeinschafteten und stärker individualisierten kulturellen Praxen der Aufnahmegesellschaft stellen für diese Adoleszenten einerseits eine Herausforderung dar. Aufgrund ihres ungestillten emotionalen Bindungsbedürfnisses empfinden sie die stärker autonomieorientieren Beziehungen zu den Deutschen jedoch grundsätzlich als defizitär. Dies verstärkt ihre innere Distanz zur deutschen Aufnahmekultur und fördert entsprechend die emotionale Nähe zu ihrer Herkunftskultur. Diese Jugendlichen setzen sich zwar mit ihren Schwierigkeiten, sich in Deutschland verankern zu können, auseinander. Aufgrund der vermiedenen offenen Auseinandersetzung mit ihren inneren Konflikten bleiben die Lösungen aber auf halbem Weg stecken. Die Bewältigung der durch die Migration ausgelösten Fremdheitserfahrungen stellt für die Adoleszenten dieses Entwicklungsmusters ein schwer zu lösendes Problem dar. Ihre adoleszente Auseinandersetzung mit dem eigenen inneren Fremden findet innerhalb der vorhandenen Spielräume nur eingeschränkt statt. Durch die Migration ihrer äußeren sozialen und kulturellen Sicherheit enthoben, verstärkt sich die Unsicherheit durch die aufgrund ihrer Hautfarbe in Deutschland ständig erfahrene Andersartigkeit und die daraus resultierende Ausgrenzung durch die Aufnahmegesellschaft. Die Konfrontation mit ihrer Andersartigkeit mobilisiert frühere Entfremdungserfahrungen, die nicht befriedigend bewältigt werden konnten. Die Ablehnung und Diskriminierung durch die Deutschen stellt eine Wiederbelebung dieser Bedrohung des eigenen Selbstgefühls dar, die diese Jugendlichen überfordert. Sie suchen daher die Unterstützung eines vertrauten Umfeldes zur Bewältigung bzw. zu einem angemessenen Umgang mit diesen Erlebnissen. Fatima findet diese Unterstützung in der Gruppe der guineischen Gleichaltrigen, in die sie sofort nach ihrer Ankunft in Deutschland eintaucht. Oumar und Binta hingegen finden anfangs nur wenig Kontakt in Deutschland und reagieren mit einer psychischen Krise, aus der sie nur schwer wieder herausfinden.
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Nachdem sie eine Form des Umgangs mit den alltäglichen Fremdheitsgefühlen gefunden haben, setzen sich diese Adoleszenten intensiv mit den ihnen zunächst fremden Lebensentwürfen in Deutschland auseinander, eignen sich gezielt Anteile daraus an und versuchen sich damit die zunächst fremde Welt vertraut zu machen. Fatima sucht in Siegen gezielt Kontakte nur zu Deutschen und fühlt sich von ihnen aufgenommen, auch geht sie eine längere Liebesbeziehung zu einem deutschen Mann ein. Oumar hat ebenfalls einige deutsche Freunde und geht eine Liebesbeziehung zu einer deutschen Frau ein, bei der er sich sehr geborgen fühlt. Binta hingegen findet keine deutschen FreundInnen und leidet sehr darunter.
Das allgegenwärtige Gefühl des Fremd-Seins in der Aufnahmegesellschaft verhindert die Auseinandersetzung mit dem eigenen inneren Fremden zusätzlich und verstärkt die Sehnsucht nach vertrauten Beziehungsmustern. Somit tragen die äußeren Fremdheitserlebnisse in der Migration zur Verstärkung der Unsicherheit bei, weil die adoleszente Auseinandersetzung mit dem inneren Fremden verhindert wird, was den Individuierungsprozess bremst. Die Auseinandersetzung mit den veränderten Geschlechterverhältnissen stellt einen wichtigen Bestandteil der adoleszenten Auseinandersetzung bei diesen Jugendlichen dar. Die Konflikte mit dem jeweils gleichgeschlechtlichen Elternteil beeinflussen die Suche nach der eigenen Identität als Mann bzw. Frau. Während die Bindungsbedürfnisse bei Fatima und Oumar die Identifikation mit den elterlichen Vorbildern forcieren, entwickelt Binta Tendenzen, sich mit Herauslösung aus der familialen Überbehütung auch vom Weiblichkeitsbild der Mutter zu lösen.
Die mit der Migration angestoßenen Veränderungsprozesse hinsichtlich der veränderten Bedeutungen der Männlichkeits- und Weiblichkeitsbilder in Deutschland ermöglichen diesen Adoleszenten die probeweise Übernahme neuer Positionen im Geschlechterverhältnis und fördern damit die Veränderung der Geschlechterentwürfe. Die innere Gebundenheit an die elterlichen Entwürfe schränkt jedoch gleichzeitig die Entwicklung neuer Lösungen ein, weil die damit verbundene Distanz zu den Eltern gleichzeitig als belastend empfunden wird und die Konflikte wiederbelebt. Insbesondere die beiden jungen Frauen setzen sich intensiv mit den verschiedenen Entwürfen in Guinea sowie in Deutschland auseinander. Die Schwierigkeit, ihr Hin- und Herpendeln zwischen den verschiedenen Positionen aufzulösen, zeigt sich an ihrer Suche nach einem passenden Partner.
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Für Fatima und Binta stellt die Herauslösung aus fest gefügten weiblichen Rollenbildern eher eine Überforderung dar, der sie sich langfristig nicht gewachsen fühlen. Sie wünschen sich einen Partner, der sie in ihrer Selbstständigkeit achtet und dennoch die Dominanz in der Partnerschaft übernimmt. Oumar hingegen bietet die Migration die Möglichkeit, dem defensiven und partnerschaftlichen Männlichkeitsentwurf seines Vaters zu folgen und die Identifikation mit ihm beizubehalten. Daher gerät er weniger in Konflikt als die beiden Frauen.
Insgesamt zeigt sich am Umgang mit den veränderten Geschlechterverhältnissen dieser Adoleszenten die Schwierigkeit, sich von den elterlichen Vorbildern zu lösen und ihren eigenen Entwürfen als Mann bzw. Frau zu folgen. Mit ihrer räumlichen Verortung bei der Entwicklung realistischer Zukunftsperspektiven setzen sich die Adoleszenten dieses Musters intensiv auseinander, ohne jedoch eine ideale Lösung für die Frage, wo sie zukünftig leben wollen, finden zu können. Sie halten an ihrem grundsätzlichen Anliegen, nach Guinea zurückzukehren, fest, weil die dortige Lebensweise ihren Bindungsbedürfnissen näher kommt als die stärker auf Autonomie und Individualisierung ausgerichteten kulturellen Praxen in Deutschland. Auf der Grundlage ihrer Migrationserfahrungen setzen sie sich jedoch mit ihren Möglichkeiten in Europa und Guinea sowie den jeweiligen Bedingungen der verschiedenen Orte gründlich auseinander und wägen ihre jeweiligen beruflichen Perspektiven mit ihren individuellen Vorstellungen über ein selbstbestimmtes Leben bei gleichzeitiger Einbindung in befriedigende Beziehungen bzw. in eine Partnerschaft, ab. Die Entscheidung über ihre räumliche Verortung ist von ihrer jeweiligen adoleszenten Thematik deutlich geprägt. Fatima erkennt, dass die Migration nach Deutschland aufgrund der damit verbundenen Autonomieanforderungen ein Schritt zu weit für sie gewesen ist, und strebt daher eine Rückkehr nach Guinea an. Sie gerät dabei jedoch in unauflösbar scheinende Konflikte sowohl hinsichtlich der Wahl ihres zukünftigen Partners als auch der Verwirklichung ihrer beruflichen Vorstellungen. Welche Form von Kompromiss sie schließlich finden wird, ist offen. Oumar erkennt die Notwendigkeit einer Kompromisslösung sowohl in Europa als auch Guinea und entscheidet sich aus rationalen Gründen für Deutschland. In beruflicher, privater sowie in aufenthaltsrechtlicher Hinsicht schafft er sich Möglichkeiten, einen Verbleib in Deutschland auch über das Studium hinaus zu realisieren. Binta sieht in der fehlenden Anerkennung seitens der deutschen Gesellschaft ein unüberwindbares Hindernis, durch welches sie sich zur Rückkehr nach Guinea veranlasst sieht. Die Konflikthaftigkeit dieser Lösung zeigt sich in ihrer Schwierigkeit, realistische Zukunftsperspektiven in Guinea zu entwickeln, bei denen sie ihre in der Migration schwer errungene Selbstständigkeit bewahren kann.
4.3 Charakteristische Entwicklungsmuster adoleszenter Migration
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Die Adoleszenten dieses Musters setzen sich mit ihren ursprünglichen Migrationszielen zwar auseinander und passen sie ihren Erfahrungen gemäß an. Ihre Reflexivität hierüber endet jedoch an dem Punkt, wo ihre unbearbeiteten inneren Konflikte berührt werden. Um ihr schwer errungenes Gleichgewicht nicht wieder in Gefahr zu bringen, passen sie ihre biographischen Entwürfe den begrenzten inneren Spielräumen an. Die dabei auftretenden Unstimmigkeiten zwischen Wunsch und Wirklichkeit weisen auf die Schwierigkeit dieser Jugendlichen hin, ihre adoleszenten Ambivalenzen befriedigend aufzulösen. Die Aneignung des adoleszenten Entwicklungsspielraums in der Migration erfolgt bei den Adoleszenten dieses Entwicklungsmusters in kompromisshafter Weise. Die erweiterten Spielräume hinsichtlich der Erprobung neuer Lebensentwürfe und der damit verbundenen Autonomieanforderungen können sie nur in begrenztem Maße für sich nutzen, weil das „strukturell konflikthafte Verhältnis“ (King/Schwab 2000, 212) zur deutschen Aufnahmekultur sie in der Bearbeitung ihrer adoleszenten Thematik behindert. Die durch die Migration den Jugendlichen abverlangte Eigenständigkeit bei gleichzeitigem Verlust ihrer familialen Bindung führt zur Verunsicherung, die durch die Zurückweisung seitens der deutschen Gesellschaft weiter verstärkt wird. Die damit ausgelöste Krise veranlasst diese Adoleszenten, sich mit neuen Lebensentwürfen auseinanderzusetzen und bisherige zu überdenken. Sie versuchen den auftretenden Schwierigkeiten zu begegnen, indem sie sich mit fremden Lebensformen intensiv auseinandersetzen, sich diese aneignen. Sie gewinnen dadurch zwar nach und nach mehr Sicherheit. Die grundsätzlich fremdenfeindliche Haltung erschwert ihnen jedoch den Zugang zur hiesigen Gesellschaft, so dass die Jugendlichen dieses Entwicklungsmusters sich nur partiell verankern können. Dieses anhaltende Unsicherheitsgefühl behindert eine innere Distanznahme zur eigenen Familie und damit auch die adoleszente Bearbeitung der konflikthaften Beziehungserfahrungen. Die fehlende Verankerung in der Aufnahmegesellschaft nährt auch die Sehnsucht nach Vertrautheit, die durch Rückbindung an die Familie bzw. die ethnischen Community herzustellen versucht wird. Die inneren Ressourcen dieser Adoleszenten reichen nicht aus, um ohne ausreichende Hilfestellung von außen die Loslösung von ihrer Familie und ihrer Herkunftskultur zu bewältigen und neue Wege zu gehen. Die Migration nach Deutschland bewirkt daher bei den Adoleszenten des Musters Kompromisshafte Transformation zwar einen Entwicklungsschub, in dem neue Lösungen für bestehende Konflikte angestrebt werden. Von der damit verbundenen Herausforderungen sind sie jedoch überfordert, so dass sie in der Ambivalenz zwischen der Bewahrung des Alten und der Entwicklung von Neuem verhaftet bleiben.
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4 Fallanalysen
4.3.4 Diskussion der Entwicklungsmuster Die Erörterung der drei rekonstruierten Entwicklungsmuster adoleszenter Migration wurde anhand der inneren und äußeren Entwicklungsspielräume und Aushandlungsprozesse vorgenommen, die für die Ausbildung der jeweiligen Lebensentwürfe grundlegend sind. Dabei zeigt sich, dass Migration – wie Adoleszenz auch – nicht von vorneherein eine Transformation in Richtung autonomer, individuierter Lebensentwürfe impliziert. Vielmehr führt die jeweilige Ausgestaltung der Spielräume in dem doppelten Transformationsprozess zu unterschiedlichen Entwicklungsmustern adoleszenter Migration. Die Art der Bewältigung der zentralen Herausforderungen adoleszenter Migration wird wesentlich von der Möglichkeit zur Mobilisierung innerer und äußerer Ressourcen bestimmt. Maßgeblich für die Qualität des adoleszenten Möglichkeitsraums ist sowohl die Gewährung von Spielräumen zur Erprobung verschiedener Lebensentwürfe als auch die Unterstützung und Begleitung durch Bezugspersonen – zentral in diesem Prozesses sind also die Rahmenbedingungen und Beziehungsqualitäten. Dem unterschiedlich ausgestalteten adoleszenten Möglichkeitsraum vor und nach der Migration entsprechend, bilden die Jugendlichen verschiedene charakteristische Bewältigungsformen aus, mit denen sie den Krisen ihrer adoleszenten Migration begegnen und die ihre Identitätsentwicklung entscheidend prägen. Das größte Transformationspotential liegt im Entwicklungsmuster Offensive Neuschöpfung, weil hier ausgeprägte innere Ressourcen auf ausreichende äußere Ressourcen treffen. Eine stark ausgebildete psychische Sicherheit, die mit hoher Handlungskompetenz, Konfliktfähigkeit und einem ausgeprägten Reflexionsvermögen einhergeht, sowie das Vorhandensein bzw. die Fähigkeit zur Mobilisierung eines unterstützenden Netzes von Gleichaltrigen ermöglichen einen kreativen Umgang mit der konflikthaften Migrationssituation. Diese Konstellation ist die Voraussetzung für eine offensive innere und äußere Aneignung des durch die Migration erweiterten adoleszenten Entwicklungsspielraums und damit verbundener neuer Lebensformen. Daher erhält der begonnene adoleszente Umbildungsprozess durch die Migration einen bedeutsamen Schub und treibt den Individuierungsprozess entscheidend voran. Demgegenüber vollzieht das Muster Defensive Anpassung eine geringe Transformation, weil die inneren Ressourcen durch den Wegfall eines stützenden äußeren Rahmens, ohne ausreichende Unterstützung von außen eine deutliche Entkräftung erfahren. Die psychische Sicherheit, die von Orientierung gebenden Strukturen und Konfliktfreiheit abhängig ist, wird durch die Migration erschüttert und durch Anbindung an Mentoren wiederherzustellen versucht. Durch diese Anpassungsbestrebungen wird die Aneignung eines durch die Mi-
4.3 Charakteristische Entwicklungsmuster adoleszenter Migration
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gration erweiterten adoleszenten Entwicklungsspielraums und neuer Lebensformen begrenzt, da eine Reflexion der Krisen und Konflikte kaum stattfindet, die Aneignung vorwiegend auf einer praktischen Ebene stattfindet und den Adoleszenten damit äußerlich bleibt. Ein Entwicklungsprozess im Sinne adoleszenter Umbildung, der einen inneren Ablöseprozess von der Herkunftsfamilie und -kultur impliziert, wird durch die Migration somit eher blockiert. Die Migration führt bei diesem Muster zwar zur Individualisierung, nicht aber zur Individuierung. Das Transformationspotential des dritten Musters Kompromisshafte Transformation ist zwischen den extrem kontrastrierenden Polen der beiden anderen Muster angesiedelt und zeigt entsprechend geringere Kontraste zu den jeweils anderen. Kennzeichnend für das Muster Kompromisshafte Transformation ist die kaum überwindbare Ambivalenz, die ein Hin- und Herpendeln zwischen Neuschöpfung und Anpassung bewirkt. Ein gewisses Maß an inneren Ressourcen trifft hier auf ein nicht ausreichendes Maß an äußerer Unterstützung, wodurch die Entwicklungspotentiale des adoleszenten Migrationsprozesses beschränkt werden. Widersprüchliche und konflikthafte Beziehungskonstellationen haben die Ausbildung einer psychischen Stabilität in unterschiedlicher Weise beeinträchtigt und beeinflussen demgemäß auch die Bearbeitung der migrationsbedingten Krisensituation, weil eine innere Ablösung von Herkunftsfamilie und -kultur nur partiell erfolgen kann. Der erweiterte adoleszente Entwicklungsspielraum in der Migration befördert einerseits die Handlungs- und Konfliktfähigkeit, gleichzeitig wird jedoch die Aneignung dieses Raumes durch die mit den Diskriminierungserfahrungen verbundene Wiederbelebung der inneren Konflikte erschwert. Der adoleszente Umbildungsprozess wird somit durch die Migration grundsätzlich befördert, aufgrund des strukturell konflikthaften Verhältnisses zur Aufnahmekultur jedoch zugleich wieder begrenzt. Die Migration stößt daher einen Individuierungsprozess an, der jedoch bruchstückhaft bleibt. Die Fallbeispiele verdeutlichen, in welcher Weise die Auseinandersetzung mit den Herausforderungen adoleszenter Migration wesentlich von den inneren, biographisch erworbenen Wahrnehmungs- und Handlungsmustern abhängt, wie sie insbesondere durch die Ausgestaltung innerfamilialer Beziehungsdynamiken und die damit verbundenen Kommunikations- und Interaktionsformen erworben werden. Hier spielen besonders die familialen Vorbilder und Identifikationsmöglichkeiten eine wichtige Rolle, aber auch die Spielräume, die zur Ablösung von diesen Vorbildern gewährt werden, sowie die damit verbundene Austragung von Konflikten. Die äußeren Ressourcen der Migrationssituation, die sich durch die strukturellen Rahmenbedingungen, die Unterstützung und Begleitung durch präsente Bezugspersonen und die damit verbundenen Beziehungsqualitäten sowie die vorhandenen Handlungsspielräume definieren lassen, weisen bei den
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4 Fallanalysen
untersuchten guineischen BildungsmigrantInnen eine geringere Variationsbreite auf. Das Ausmaß der inneren Spielräume hingegen variiert erheblich und ist somit ein wesentliches Merkmal zur Differenzierung der drei charakteristischen Entwicklungsmuster adoleszenter Migration. Es zeigt sich, dass gerade die in Generationenbeziehungen und Familiendynamiken erlebten Erfahrungen und die im Zuge der Adoleszenz erworbenen psychosozialen Kompetenzen die Bewältigung der Migrationssituation entscheidend prägen. Die Migration wirkt somit quasi als Katalysator der vorhandenen, im jeweiligen Individuum virulenten Themen, indem sie eine krisenhafte Verstärkung hervorruft und die Möglichkeit der Neubearbeitung bietet. Die Art und Weise, wie die Migrationssituation von den untersuchten BildungmigrantInnen erlebt und bearbeitet wird, ist wesentlich bestimmt von den individuell verschieden gelagerten Adoleszenzthemen. Beispielsweise führen die Diskriminierungs-erfahrungen zu einer ganz unterschiedlichen Verarbeitung, je nachdem, in welcher Weise sie sich mit den Adoleszenzthemen verknüpfen. Sie können als Herausforderung im adoleszenten Kampf um Anerkennung als Anderer angesehen werden oder als Einschränkung der adoleszenten Explorationsbestrebungen wegen der damit verbundenen tiefgreifenden Verunsicherung. Ebenso können die alltäglich vorhandenen Zurückweisungen aus unterschiedlichen Gründen bagatellisiert werden, entweder aufgrund von Verdrängung, um die Bedrohung abzuweisen, oder weil andere Themen, wie z. B. die Verwirklichung des Geschlechterentwurfs, im Vordergrund stehen. Wie bereits deutlich wurde, ergab sich bei der Verteilung der 13 Fälle auf die drei charakteristischen Entwicklungsmuster bei den Mustern Offensive Neuschöpfung und Kompromisshafte Transformation eine tendenzielle Häufung zugunsten der weiblichen und beim Muster Defensiver Anpassung zugunsten der männlichen Bildungsmigranten54. Die Hintergründe dieser Unterscheidung sollen im Folgenden näher beleuchtet werden. Dazu gilt es, die spezifischen Bedingungen der Migration in den Blick zu nehmen. Es zeigt sich, dass die Migration bei den männlichen Adoleszenten deutlich schwächer und seltener eigenmotiviert ist als bei den weiblichen. Dies resultiert aus dem Umstand, dass die Söhne in Guinea grundsätzlich von ihren Familien bei ihrem Migrationsvorhaben unterstützt, häufig sogar zur Migration gedrängt werden. Die Töchter hingegen werden eher davon abgehalten im Ausland zu studieren, ihnen wird die Migration häufiger verwehrt, so dass insgesamt weniger Frauen migrieren 54
Von den Frauen der Gesamtgruppe konnten insgesamt vier dem Muster Offensive Neuschöpfung, zwei dem Muster Kompromisshafte Transformation und keine dem Muster Defensive Anpassung zugeordnet werden. Bei den Männern hingegen lassen sich zwei dem Muster Offensive Neuschöpfung, einer der Kompromisshaften Transformation und immerhin vier dem Muster Defensive Anpassung zuordnen.
4.3 Charakteristische Entwicklungsmuster adoleszenter Migration
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als Männer55. Die jungen Frauen der vorliegenden Untersuchung haben sich somit die Migration in der Regel erkämpft, indem sie eine Auseinandersetzung mit ihren Eltern führten, in der sie diese davon überzeugten, ihnen die Erlaubnis zur Ausreise zu geben. Während dieses Prozesses setzen sich die adoleszenten Frauen im Vorhinein der Migration weit intensiver als die jungen Männer, mit ihren damit verbundenen inneren Erwartungen, Bedürfnissen und Hoffnungen auseinander, die wiederum Eingang in ihren jeweiligen Lebensentwurf finden. In dieser Auseinandersetzung mit ihrer Migrationsmotivation und dem damit verbundenen Kampf mit den Eltern und der konstruktiven Bewältigung dieses Konfliktes, erwerben die weiblichen Adoleszenten entscheidende psychosoziale Ressourcen und Kompetenzen, auf die sie in späteren Krisensituationen zurückgreifen können. Wie die Fallanalysen zeigen ist die Voraussetzung für diesen Aushandlungsprozess ausreichend vorhandene Spielräume, in denen Konflikte ausgetragen werden können, durch die Veränderung möglich ist. Das bedeutet tragfähige und verlässliche Beziehungen, ein gewisser Grad an zugestandener Autonomie und Vertrauen in die Fähigkeiten der Adoleszenten, Schwierigkeiten alleine überwinden zu können. Die jungen Männer der Studie hingegen scheinen sich im Vorfeld der Migration in der Regel weniger mit ihren inneren Strebungen auseinandergesetzt zu haben, da die Motivation zur Migration ihnen eher von außen angetragen wurde und sie insgesamt über geringere adoleszente Spielräume verfügten. Entsprechend dieser fehlenden Bearbeitung ihrer eigenen Erwartungen, Bedürfnisse und Hoffnungen verfügen sie über geringere psychosoziale Kompetenzen, um Krisensituationen schöpferisch begegnen zu können. Ausnahme bilden die beiden adoleszenten Männer des Musters Offensive Neuschöpfung56, die, ähnlich wie die meisten jungen Frauen, eine Auseinandersetzung mit ihren Eltern über die Migration führen und aus dieser Erfahrung wichtige Ressourcen zur Konfliktbewältigung ausbilden. Kennzeichnend ist auch bei ihnen, dass sie über einen ausreichenden adoleszenten Entwicklungsspielraum verfügen, in dem sie Konflikte mit ihren Familien konstruktiv austragen können. Entsprechend flexibler gehen auch sie mit den migrationsbedingten Schwierigkeiten um. Die realen, von ungleichen Machthierachien geprägten Geschlechterverhältnisse führen folglich bei den Adoleszenten zu einer unterschiedlichen Auseinandersetzung mit ihren Geschlechterentwürfen. Während die jungen Männer ihre Rolle als Mann selten problematisieren und deutlich weniger reflektieren, stehen bei allen jungen Frauen der Studie ihre Autonomieansprüche und deren Verknüpfung mit dem entsprechenden Weiblichkeitsentwurf im Zentrum der 55 56
Im Wintersemester 2005/06 waren an deutschen Hochschulen insgesamt 207 Studierende aus Guinea eingeschrieben, davon 176 Männer und 31 Frauen (Statistisches Bundesamt 2006). Von den beiden wurde Ibrahim im Kapitel 4.2.2 portraitiert.
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4 Fallanalysen
Adoleszenzentwicklung. Bei den adoleszenten guineischen Frauen der vorliegenden Untersuchung handelt es sich somit um eine besondere Gruppe, die sich dadurch auszeichnet, dass sie grundsätzlich über einen ausreichenden adoleszenten Entwicklungsspielraum verfügen, in dem sie ihren Migrationswunsch gegen die Widerstände ihrer Familien durchsetzen konnten. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Position im Geschlechterverhältnis ist bei ihnen Auslöser für Krisen, aus deren Bewältigung sie innere Ressourcen entwickeln, die sie in der Migrationssituation zur Bewältigung der zentralen Herausforderungen mobilisieren können. Ihre Motivation zur Migration speist sich aus ihrem Emanzipationsstreben, das sich zunächst in dem Wunsch nach einer den Männern ebenbürdigen Berufsausbildung ausdrückt. Durch die Migration erhoffen sie sich jedoch zugleich mehr Spielräume für die Verwirklichung ihrer Weiblichkeitsentwürfe, die auf größere Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit ausgelegt sind, als dies in Guinea üblich ist. Wie die Fallanalysen zeigen, dreht sich die Adoleszenzkrise der jungen Frauen immer in irgendeiner Weise um die Realisierung ihres nach Autonomie strebenden Weiblichkeitsentwurfes. Die besondere Konflikthaftigkeit der jugendlichen Migrantinnen liegt darin, dass deren Verwirklichung durch die Rückkehr nach Guinea deutlich bedroht ist. Die Lösung dieser Krise motiviert sie in einer intensiveren und vielfältigeren Weise als die Männer dazu, sich mit den sozialen Bedingungen der Migrationssituation auseinanderzusetzen und systematisch einen für sie gangbaren Weg zu finden. Dabei ist es ihnen ein besonderes Anliegen ihre bisherigen biographischen Erfahrungen in die aktuellen Bedingungen der Migration zu integrieren. Die Lösungen, die die jungen Frauen der Studie für die Realisierung ihrer emanzipierten Lebensentwürfe finden, sind entsprechend ihrer familialen Ressourcen und den damit verbundenen biographischen Erfahrungen unterschiedlich. Denjenigen Adoleszenten, die dem Muster Offensive Neuschöpfung zugehören, gelingt es in befriedigender Weise, ihre Ansprüche an ein Weiblichkeitsideal mit den realen Verhältnissen kreativ zu verbinden. Die jungen Frauen des Musters Kompromisshafte Transformation können die Ambivalenzen weniger gut auflösen, weil die äußeren und inneren Bedingungen, die innerfamilialen Beziehungsdynamiken und die damit verbundenen Aushandlungsprozesse und Identifikationsmöglichkeiten sie stärker an die traditionellen Generationen- und Geschlechterverhältnisse gebunden hält, was die Kreativität ihrer Identitätsbildung erheblich einschränkt. Am Beispiel Binta Traorés, die im Kapitel 4.2.5 vorgestellt wurde, zeigt sich dieses adoleszente Spannungsverhältnis zwischen Emanzipationsstreben und Gebundenheit an traditionellen Familienverhältnissen besonders deutlich. Einerseits ist Binta ein Beispiel dafür, wie aus den geschlechtsspezifischen Krisenerfahrungen im Zuge der Adoleszenz Ressourcen gewonnen werden können,
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die einen adoleszenten Entwicklungsprozeß befördern. Binta Traorés adoleszenter Möglichkeitsraum ist aufgrund enger familialer Beziehungsdynamiken und dem Festhalten an traditionalen Geschlechter- und Generationenverhältnissen eher als eingeschränkt anzusehen, wie er am ehesten bei den Adoleszenten des Musters Defensive Anpassung vorgefunden wurde. Anders als die männlichen Jugendlichen dieses Musters führen Bintas individuelle, milieu- und generationsspezifisch geprägte Erfahrungen mit Gleichaltrigen jedoch zu einer intensiven Auseinandersetzung mit den bestehenden Geschlechterverhältnissen und dem Bedürfnis der Modifikation des mütterlichen Lebensentwurfs. Zur Erprobung ihres Lebensentwurfs kämpft Binta um die Gewährung größerer Freiräume durch ihre Eltern und bildet damit ein gewisses Maß an Konflikt- und Handlungsfähigkeit aus. Aus diesem adoleszenten Konflikt um einen anderen Weiblichkeitsentwurf speist sich auch Bintas Motivation zur Migration, da sie mit der räumlichen Trennung von den Eltern eine Erweiterung ihrer individuellen Spielräume verbindet. Aufgrund der engen innerfamilialen Beziehungsdynamiken und den fehlenden Spielräumen, sich in Selbständigkeit und autonomer Lebensführung zu erproben, ist Binta andererseits mit den durch die Migration gewonnenen Freiräumen jedoch überfordert. Dieser Überforderung begegnet sie zwar mit den in der Auseinandersetzung mit den Eltern ausgebildeten inneren Ressourcen. Die mit ihrem Geschlechtsstatus verbundene Erfahrungsverarbeitung ermöglicht es Binta so zunächst, aus dem engen familialen Muster auszubrechen und Neues zu wagen. Ihre hohe Motivation zur Umbildung des mütterlichen Lebensentwurfs allein reicht aber nicht aus, um den begonnenen inneren Ablöseprozess in der Migration fortzusetzen. Die enge Bindung an die durch ihre Familie transportierten Geschlechterentwürfe behindern Binta bei der Verwirklichung ihres davon abweichenden Weiblichkeitsentwurfs. Sie hat in dem beschränkten adoleszenten Möglichkeitsraum nicht genügend inneren Ressourcen ausbilden können, um sich über die traditionellen Familienverhältnisse hinwegzusetzen. Somit erhält Bintas adoleszente Auseinandersetzung durch ihre geschlechtsspezifische Erfahrungsverarbeitung eine besondere Dynamik, die bei den adoleszenten Männern der Studie in dieser Weise nicht vorgefunden wurde. Die Gebundenheit an die traditionellen Familienmuster verhindert jedoch zugleich die Verwirklichung ihres Weiblichkeitsentwurfes. Resümierend kann festgehalten werden, dass sich bei den guineischen Jugendlichen der vorliegenden Studie im Prozess adoleszenter Migration die migrationsspezifischen mit den adoleszenzspezifischen Themen in einer je individuellen Weise verbinden, die wiederum geschlechtsspezifisch unterschiedlich gelagert sind. Das jeweils virulente Adoleszenzthema bestimmt somit die Wahrnehmung und Bewältigung der Migration. Die Bearbeitung der Migrationssituation ist jedoch wesentlich abhängig von der Qualität des adoleszenten Möglich-
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4 Fallanalysen
keitsraums vor und nach der Migration und den in ihm ausgebildeten inneren Spielräumen.
5 Schlussbetrachtung
Ausgangspunkt der vorliegenden Studie war die Frage nach der Bearbeitung der adoleszenten Migrationssituation bei guineischen BildungsmigrantInnen in der Bundesrepublik hinsichtlich der diesem Prozess innewohnenden mehrdimensionalen Transformationspotentiale. Anhand der sich konstituierenden Lebensentwürfe adoleszenter MigrantInnen sollte das Zusammenspiel der adoleszenten mit der migrationsspezifischen Auseinandersetzung im Hinblick auf die Ermöglichung oder Verhinderung von Wandlungsprozessen untersucht werden. Es wurde dargestellt, dass die Bearbeitung der adoleszenten wie auch der migrationsspezifischen Themen wesentlich von den inneren und äußeren Möglichkeiten abhängt, mit den eigenen kreativen Potentialen experimentieren zu können. Diese stehen im Zusammenhang mit den aus unterschiedlichen biographischen Erfahrungen gewonnenen Ressourcen sowie den jeweils vorfindbaren sozialen Kontexten. Die Analyse des psychosozialen Möglichkeitsraums bringt Erkenntnisse über die Bedingungen der subjektiven Erfahrungsverarbeitung dieses doppelten Transformationsprozesses und ermöglicht daher Aussagen über die individuellen und strukturellen Bedingungen von Individuation bzw. Transformation. Die Auseinandersetzung mit der Forschung zu jugendlichen MigrantInnen im deutschsprachigen Raum machte die vorrangige Problemorientierung innerhalb der Migrationsforschung sowie eine Konzentration der theoretischen Konzepte auf Kategorien wie Kultur oder Zugehörigkeit deutlich. Das in der vorliegenden Arbeit verfolgte Interesse, die Auswirkungen des Migrationsprozesses auf die adoleszente Identitätsbildung aus psychosozialer Perspektive zu untersuchen, wird bisher nur in geringem Maße verfolgt. Ebenso zeigte sich, dass die elternunabhängige Migration bei Jugendlichen weitgehend unerforscht ist. Zur Behebung dieses Forschungsdesiderates galt es daher, zunächst auf theoretischer Ebene das dieser Arbeit zugrunde liegende Verständnis von Migration und Adoleszenz zu bestimmen. Die wesentliche Aufgabe dieser theoretischen Auseinandersetzung bestand darin, Migrations- mit Adoleszenztheorien zu verknüpfen und damit die konzeptionelle Grundlage für die empirische Untersuchung zu erarbeiten. Um das Ineinanderwirken des doppelten Transformationsprozesses zu beleuchten, wurden fünf zentrale Herausforderungen adoleszenter Migration für die guineischen StudentInnen herausgearbeitet. Diese Herausforderungen
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5 Schlussbetrachtung
werden folgendermaßen benannt: 1. Die Migrationsentscheidung, 2. Umgang mit Trennung und Bindung, 3. Bewältigung von Fremdheitserfahrungen, 4. Auseinandersetzung mit veränderten Geschlechterverhältnissen und 5. Räumliche Verortung im Zuge der Entwicklung realistischer Zukunftsperspektiven. Mit dieser Konzeption wurde das jeweilige Zusammenspiel der adoleszenten und migrationsspezifischen Auseinandersetzungen in seiner psychosozialen Dynamik herausgearbeitet. Sie ermöglichte eine systematische Analyse der spezifischen Bewältigungsformen der adoleszenten Migrationssituation bei guineischen BildungsmigrantInnen. Die empirische Untersuchung bediente sich der Methode der Ethnohermeneutik, mit deren Instrumentarium Lebensentwürfe als Resultat der Erfahrungsbearbeitung sowohl psychischer wie sozialer Prozesse in ihren bewussten wie unbewussten Anteilen erhoben wurden. Die Rekonstruktion der insgesamt dreizehn untersuchten Einzelfälle dieser Studie – von denen sechs exemplarisch dokumentiert wurden – zeigt ein breites Spektrum der adoleszenten Bearbeitung der Migrationssituation auf. Angesichts der Komplexität dieses verdoppelten Transformationsprozesses ermöglicht die Konzentration auf eine relativ homogene Untersuchungsgruppe der guineischen BildungsmigrantInnen in Deutschland eine Fokussierung auf individuelle Varianzen. So zeichnet sich die von mir gewählte Untersuchungsgruppe im Wesentlichen durch folgende allgemeine Merkmale ihrer Lebenszusammenhänge aus: Die Herkunftsfamilien der Jugendlichen sind muslimischen Glaubens und gehören hinsichtlich ihres finanziellen und beruflichen Status, ihres Bildungsgrades sowie ihrer internationalen Netzwerke zur Elite ihres Landes. Die Jugendlichen wuchsen mehrheitlich in der Hauptstadt Guineas auf, was hinsichtlich ihrer Herkunft und ihrer Mehrsprachigkeit in der Regel eine multiethnische Sozialisation bedeutet. Die streng hierarchischen Generationen- und Geschlechterverhältnisse der guineischen Gesellschaft gestehen den Jugendlichen grundsätzlich geringe Spielräume für autonome Lebensentwürfe zu. Mit stetig absinkender Wirtschaftskraft Guineas verengen sich die Zukunftsperspektiven der nachwachsenden Generationen kontinuierlich. Die Migration stellt daher für die Generation der untersuchten Guineer die einzige Gewähr für eine realistische berufliche Perspektive dar. Während jedoch die Söhne von ihren Familien bei ihrem Migrationsvorhaben häufiger unterstützt ja mitunter dazu gedrängt werden, werden die Töchter von der Migration eher zurückgehalten, weil autonome Lebensentwürfe bei Frauen eine geringere gesellschaftliche Akzeptanz haben als bei Männern. Weiterhin reisen die adoleszenten Guineer alle allein, ohne Familienangehörige nach Deutschland ein. Sie haben in der Regel eine Kontaktperson, die für Rat und Hilfe zur Verfügung steht. Auf die alltäglichen und strukturellen Diskriminierungen, denen die jugendlichen Guineer aufgrund ihrer Hautfarbe in der Bun-
5 Schlussbetrachtung
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desrepublik ausgesetzt sind, treffen sie quasi unvorbereitet. Diese Ethnisierungsund Ausgrenzungsprozesse bewirken einen deutlichen Statusverlust, mit dem sie sich auseinandersetzen müssen. Kennzeichnend für die Gruppe der untersuchten guineischen BildungsmigrantInnen ist, dass die Migration im Alter von mindestens 20 Jahren erfolgt. Zu diesem Zeitpunkt haben wichtige adoleszente Entwicklungsprozesse bereits stattgefunden, beispielsweise die mit der körperlichen Reifung einhergehende Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechtlichkeit und den damit verbundenen gesellschaftlichen Positionen. Die Qualität des adoleszenten Möglichkeitsraums ist sowohl durch die Gewährung von Spielräumen zur Erprobung verschiedener Lebensentwürfe als auch durch die Unterstützung und Begleitung durch Bezugspersonen bestimmt. Den Rahmenbedingungen und Beziehungsqualitäten kommt daher eine zentrale Bedeutung zu. In diesem Zusammenhang sind beispielsweise die auf kulturell-gesellschaftlicher Ebene vorhandenen Differenzen zwischen Guinea und der Bundesrepublik bedeutsam, hinsichtlich der Gewährung adoleszenter Entwicklungsspielräume. So weisen die stärker hierarchischen Generationen- und Geschlechterverhältnisse in Guinea auf deutlich geringere Autonomiepotentiale hin, als dies in Deutschland der Fall ist. Die Bildungsmigration führt somit grundsätzlich zu einer Erweiterung der psychosozialen Möglichkeitsräume und damit zu einer Verlängerung der Adoleszenz. Die Migrationssituation dieser Untersuchungsgruppe strukturiert sich im Wesentlichen durch folgende Merkmale: Die eltern- bzw. familienunabhängige Migration bedingt eine auch räumliche Trennung sowohl von der Herkunftsfamilie als auch von ihrer Herkunftskultur. Die jugendlichen Studierenden aus Guinea sehen sich mit der Situation konfrontiert, neben der psychischen Verarbeitung dieser Trennung erstmals ihr Leben in die eigenen Hände nehmen und sich gleichzeitig ein neues soziales Bezugssystem schaffen zu müssen. Die kulturell-gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland eröffnen den guineischen Adoleszenten einerseits einen erweiterten Spielraum hinsichtlich stärker auf Autonomie ausgerichteter Lebensentwürfe, andererseits wird dieser auch erheblich beschränkt. Denn die adoleszenten MigrantInnen, die der Elite ihres Herkunftslandes angehören, erfahren durch die Ethnisierungs- und Ausgrenzungsprozesse und dem damit einhergehenden Statusverlust im Aufnahmeland eine erhebliche Beeinträchtigung ihres Identitätsbildungsprozesses. Die Wahrnehmung und Ausgestaltung dieser spezifischen Migrationssituation erfolgt entsprechend den individuell unterschiedlichen psychischen und sozialen Erfahrungen, die die Jugendlichen vor ihrer Migration gemacht haben und die in die aktuelle Situation hineinwirken. Die Art der Bewältigung der zentralen Herausforderungen adoleszenter Migration wird wesentlich von der Möglichkeit zur Mobilisierung innerer und äußerer Ressourcen bestimmt. Dem unterschiedlich
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5 Schlussbetrachtung
ausgestalteten adoleszenten Möglichkeitsraum vor und nach der Migration entsprechend, bilden die guineischen BildungsmigrantInnen verschiedene charakteristische Bewältigungsformen aus, mit denen sie den Krisen ihrer adoleszenten Migration begegnen und die ihre Identitätsentwicklung entscheidend prägen. Das Ineinanderwirken von adoleszenztypischen Identitätsthemen und migrationsspezifischen Veränderungsprozessen führt zu ganz unterschiedlichen Konstellationen und individuellen Entwicklungsverläufen. Es zeigte sich, dass es sich bei den Themen, die die adoleszenten MigrantInnen bearbeiten, um genuine Adoleszenzthemen handelt, die durch die Migration eine krisenhafte Verstärkung erfahren, weil die Migration eine Neubearbeitung der indiviuellen Themen herausfordert und der jeweiligen Konstellation entsprechend den Individuierungsprozess vorantreiben oder blockieren kann. Anhand des Zusammenspiels der biographisch erworbenen inneren Ressourcen mit den äußeren Verhältnissen der Migrationssituation, die unterstützend oder hemmend wirken, wurden unterschiedliche Entwicklungsverläufe herausgearbeitet. Zur Bestimmung der Bedingungen dieser Entwicklungsverläufe hinsichtlich ihres Transformationspotentials wurden alle Einzelfälle der Studie mittels der im theoretischen Teil entwickelten Kriterien der zentralen Herausforderungen adoleszenter Migration systematisch analysiert. Aus dieser Analyse konnten für die guineischen BildungsmigrantInnen drei charakteristische Entwicklungsmuster adoleszenter Migration herausgearbeitet werden: Offensive Neuschöpfung, Defensive Anpassung und Kompromisshafte Transformation. Vermittels dieser drei Muster wurde es möglich, den Zusammenhang zwischen den biographischen, also im Zuge der Adoleszenzentwicklung vor der Migration erworbenen inneren Ressourcen und den äußeren Bedingungen der adoleszenten Auseinandersetzung mit der aktuellen Migrationssituation konkreter zu fassen. Als maßgeblich für die unterschiedliche Bearbeitung der Migrationssituation erweisen sich die psychosozialen Kompetenzen, die die BildungsmigrantInnen in unterschiedlicher Weise in die Lage versetzen, sich mit den Herausforderungen adoleszenter Migration auseinanderzusetzen. Hinsichtlich der innerfamilialen Beziehungsdynamiken, Generationenverhältnisse, Identifikationsmöglichkeiten und der damit verbundenen Aushandlungsprozesse konnten die größten Unterschiede zwischen den drei Mustern ausgemacht werden. Es zeigte sich, dass die familialen Ressourcen wesentlich sind für die Ausbildung psychosozialer Kompetenzen wie Handlungs- und Konfliktfähigkeit, Durchsetzungsvermögen und Selbstbehauptung, die zur Bewältigung der migrationsbedingten Krise herangezogen werden können. Als bedeutendstes Hindernis in der Bewältigung der Herausforderungen adoleszenter Migration sind die Diskriminierungserfahrungen in der Bundesrepublik zu nennen. Die Ergebnisse dieser Studie erhellen somit die Dialektik von Individuum und Gesellschaft, indem sie die Wechsel-
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wirkung zwischen den äußeren Bedingungen und den psychosozialen Kompetenzen aufzeigt. Hinsichtlich der geschlechtsspezifischen Bearbeitung der Migrationssituation konnte tendenziell ein größeres Transformationspotential bei den weiblichen Bildungsmigranten festgestellt werden. Der Grund hierfür ist zunächst in der Motivation zur Migration zu suchen. Während nahezu alle Frauen der Studie eine hohe Eigenmotivation zur Migration aufweisen und sich die Migration in der Regel in Auseinandersetzung mit ihren Eltern erkämpfen mussten, weisen insbesondere diejenigen Männer, die dem Muster Defensive Anpassung folgen, eine geringe Migrationsmotivation auf und können eher als Delegierte ihrer Familien bezeichnet werden. Die genauere Betrachtung dieser Differenzierungen verweist wiederum auf unterschiedlich ausgestaltete Entwicklungsspielräume vor der Migration. Das bedeutet, auch diejenigen Männer des Musters Offensive Neuschöpfung haben im Vorfeld mit ihren Familien eine Auseinandersetzung über die Erlaubnis zur Migration geführt. Diese Aushandlungsprozesse weisen auf die generelle Familiendynamik und die in ihnen vorhandenen adoleszenten Entwicklungsspielräume hin. Diejenigen Jugendlichen, die eine offene Auseinandersetzung mit ihren Eltern über ihren Migrationswunsch führen und sich in diesem Prozess durchsetzen konnten, verfügen auch in anderen Bereichen über ausreichende Spielräume, um sich von den familialen Vorbildern ablösen und mit alternativen Lebensentwürfen experimentieren zu können. Die in diesem Prozess erworbenen psychosozialen Kompetenzen ermöglichen ihnen, den Herausforderungen adoleszenter Migration offensiv zu begegnen und eine konstruktive Konfliktbearbeitung zu erreichen. Der Umstand, dass junge Frauen aus Guinea deutlich höhere Hürden bewältigen müssen, um ihre Bildungsmigration zu verwirklichen, als junge Männer, erweist sich hinsichtlich ihrer Kreativität neue Lebensentwürfe auszubilden, als vorteilhaft. Wesentlicher Antrieb ist das eng mit der Bildungsaspiration verbundene Emanzipationsstreben, die bestehende Geschlechterdifferenz überwinden zu wollen, welches sie glauben, durch die Migration eher realisieren zu können. Die Adoleszenzkrise der untersuchten guineischen Frauen ist somit verknüpft mit ihrem nach Autonomie strebenden Weiblichkeitsentwurf, der durch eine Rückkehr nach Guinea deutlich bedroht ist. Sie setzen sich daher offener mit den sozialen Bedingungen ihrer Migrationssituation auseinander und suchen systematischer nach Lösungen, die eine Integration ihrer biographischen Erfahrungen mit den aktuellen Bedingungen der Migration ermöglichen. Als zentrales Ergebnis der Studie ist erstens festzuhalten, dass die Bearbeitung der adoleszenten Migrationssituation maßgeblich von der Qualität der familialen Ressourcen bestimmt wird, auf die die Jugendlichen zurückgreifen
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5 Schlussbetrachtung
können. Insbesondere die innerfamilial gewährten Spielräume für adoleszentes Probehandeln, verlässliche und streitbare Bezugspersonen sowie die seitens der Familie gewährte Autonomie ermöglichen Prozesse der inneren Ablösung und schaffen damit die Grundlage für eine schöpferische Aneignung der migrationsspezifischen Veränderungen. Zweitens lassen sich die geschlechtsspezifischen Krisenerfahrungen und die damit verbundene adoleszente Verarbeitung als Ressource betrachten, die von den adoleszenten Frauen in der Migrationssituation zur Bewältigung der entsprechenden Herausforderungen mobilisiert werden kann. Hieraus ergibt sich bei den Frauen ein deutlich höheres Reflexionsvermögen hinsichtlich ihrer eigenen Fähigkeiten und den sozialen bzw. kulturell-gesellschaftlichen Bedingungen. Dieses ermöglicht ihnen eher als den Männern ein differenziertes Ausloten der verschiedenen Möglichkeiten und die Integration auch gegensätzlich wirkender Interessen in ihren Lebensentwurf. Drittens wird der durch die Migration grundsätzlich erweiterte adoleszente Möglichkeitsraum durch die äußeren sozialen Bedingungen der Migrationssituation wesentlich bestimmt. Die massiven Diskriminierungen, denen die hier untersuchte Gruppe in der Bundesrepublik ausgesetzt ist, schränken ihre Entwicklungspotentiale erheblich ein. Diese migrationsbedingten äußeren Begrenzungen können ohne ausreichende psychosoziale Kompetenzen nur schwer kompensiert werden, so dass die Migration in diesen Fällen hemmend auf den Adoleszenzprozess einwirkt. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie zeigen, dass es sich bei Adoleszenz wie bei Migration um Modernisierungsdynamiken handelt, die sich in Wechselwirkung zwischen Individuum und Gesellschaft vollziehen. Anliegen der Arbeit ist es, den Blick zu schärfen für die individuelle Dimension, die in soziologischer Forschung häufig unsichtbar bleibt, die aber einen entscheidenden Anteil an Transformationsprozessen hat. Die Studie weist nach, dass und inwiefern es sich bei den ausländischen Studierenden um eine potentielle Einwanderergruppe handelt. Damit verbunden steht die Aufforderung an die Migrationsforschung BildungsmigrantInnen als relevante Gruppe wahrzunehmen. Die analysierten Biographien der guineischen BildungsmigrantInnen verdeutlichen, dass es nicht die Bezogenheit auf bestimmte kulturelle Praxen ist, die Kreativität und damit Veränderungen von Lebensentwürfen ermöglicht oder verhindert. Vielmehr sind hierfür innere und äußere Spielräume verantwortlich, innerhalb derer mit unterschiedlichen Entwürfen experimentiert werden kann. Damit sind einmal mehr alle diejenigen Ansätze revidiert, die soziale Praxen vordergründig anhand von Kategorien wie Kultur oder Ethnizität deuten und bei denen meist ein Anspruch auf Integration im Vordergrund steht. Die Beispiele
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der Adoleszenzverläufe der guineischen BildungsmigrantInnen zeigen auf, wie verschieden die individuellen Sozialisationserfahrungen vor demselben kulturellen Hintergrund sein können. Die adoleszenten Spielräume werden zwar wesentlich von sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen strukturiert, innerhalb derer sich unterschiedliche adoleszente Dynamiken und Problemlagen entfalten. Die Ausgestaltung dieser Spielräume wird jedoch ebenso wesentlich von den familialen Bedingungen mitbestimmt. Wenn auch das Transformationspotential der drei Entwicklungsmuster adoleszenter Migration erheblich variiert, so wird doch in allen drei Mustern deutlich, dass die Migration die adoleszente Auseinandersetzung grundsätzlich fördert. Die Migration bietet den Adoleszenten die Möglichkeit, sich mit ihren individuellen Entwicklungskonflikten in neuer Weise auseinanderzusetzen. Die Lösungen, die sie entsprechend dieser spezifischen Bedingungen jeweils finden, sind abhängig von ihren inneren und äußeren Ressourcen, die sie zur Bearbeitung ihrer jeweiligen Adoleszenzthematik heranziehen können. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie demonstrieren auch, dass die in der Ethnizitätsdebatte gängigen Kategorien wie kulturelle oder ethnische Identität im Identitätsbildungsprozess Jugendlicher eine deutlich geringere Rolle spielt, als häufig unterstellt. Es sind eher die jeweiligen Zuschreibungen von außen, seitens der Ankunftsgesellschaft, aufgrund derer sich die Jugendlichen hinsichtlich ihrer als ethnisch oder muslimisch definierten Herkunft auseinandersetzen. Der methodisch offene Zugang ermöglichte es, die für die Jugendlichen relevanten Themen aufzuspüren und eine Kategorisierung im Vorhinein zu vermeiden. Anhand der sich daraus entfaltenden Lebensentwürfe der guineischen BildungsmigrantInnen konnte gezeigt werden, wie adoleszente Migration die Möglichkeiten zur Transformation bisheriger sozialer Praxen in Familien, Kulturen, Gesellschaften eröffnet und damit neue Konstellationen schafft. Diese Neuschöpfungen sind transkulturell ausgerichtet und lassen sich mit bisherigen Kategorien nicht immer adäquat erfassen. Denn diese hybriden Identitäten sind kreativer Ausdruck der Auseinandersetzung mit sich verändernden sozialen Verhältnissen, für die es keine vorgezeichneten Wege gibt. Dieses schöpferische Potential gilt es auf gesellschaftspolitischer wie politischer Ebene zu erkennen und für soziale und gesellschaftliche Wandlungsprozesse fruchtbar zu machen. Gerade die individuelle Perspektive, die bei der Analyse der Herausforderungen adoleszenter Migration eingenommen wurde, kann somit für die wissenschaftliche Debatte um die Konstruktion von Ethnizität einen wichtigen Beitrag leisten. Im Wesentlichen zeigt die Untersuchung, wie sich im Zuge des verdoppelten Transformationsprozesses adoleszenter Migration individuelle Verarbeitungsmuster im Kontext intergenerationaler Beziehungserfahrungen der Herkunftsfamilie als Ressource oder Hemmnis erweisen. Diese Perspektive verstehe
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ich als Erweiterung gängiger Migrationsforschung, die ebenfalls vorwiegend mit Kategorien wie sozialer Positionierung oder Zuschreibungsprozessen operiert. Dass und wie die Auseinandersetzung mit sozialen Zuschreibungen wie sie mit den Begriffen Geschlecht, Klasse und Ethnie verbunden sind, immer mit individuellen, meist in familialen Kontexten erlebten, Beziehungserfahrungen verknüpft ist, wurde anhand der Fallbeispiele herausgearbeitet. In einem weiteren Schritt könnte das Konzept der Herausforderungen adoleszenter Migration erweitert werden, um die Verknüpfungen zwischen den individuellen Verarbeitungsmustern und den sozialen Zuschreibungsprozessen expliziter zu machen. So könnte die Erfahrungsverarbeitung auf gesellschaftlicher Ebene beispielsweise anhand des Umgangs mit dem veränderten sozialen Status oder dem veränderten Bildungssystem in der Migration oder auch der Auseinandersetzung mit dem im Aufnahmeland vorherrschenden Bildern der schwarzen Frau / des schwarzen Mannes sowie der Positionierung im Geschlechterverhältnis erfasst werden. Damit zeigt die vorliegende Arbeit einen Weg auf, um die in der Intersektionalitäts-Debatte geforderte Analyse der sozialen Ungleichheitsfaktoren und ihrer komplexen Vermittlung sowohl auf individueller wie sozialer Ebene systematisch vorzunehmen. Die in dieser Studie auf theoretischer wie empirischer Ebene vorgenommene Verknüpfung der Adoleszenzprozesse mit den Migrationsprozessen ermöglicht es, die Identitätskonflikte jugendlicher MigrantInnen differenziert zu analysieren und die Bedeutung des Ineinanderwirkens adoleszenz- und migrationsspezifischer Konflikte herauszuarbeiten. Es wurde gezeigt, dass die Untersuchung von Adoleszenzprozessen auch in verschiedenen kulturellen Kontexten fruchtbar ist. Denn die der Arbeit zugrundegelegte Adoleszenztheorie vermag aufgrund ihrer differenzierten Konzeption psychischer Prozesse und sozialer Bewältigungsformen sowie deren systematische Verbindung mit Migrationstheorien die spezifischen Problemlagen, mit denen sich adoleszente MigrantInnen konfrontiert sehen, in ihrer Komplexität zu erfassen und zu verknüpfen. Damit werden Aussagen darüber möglich, wie Veränderungsprozesse sich jeweils vollziehen und von welchen Bedingungen sie abhängig sind. Insgesamt zeigt die vorgelegte Studie, dass die Perspektive auf adoleszente Entwicklungsprozesse bei MigrantInnen eine Erweiterung bisheriger Sichtweisen ermöglicht, weil sie den Blick quer auf übliche sozialwissenschaftliche Kategorien legt und somit Zusammenhänge anders erkennbar macht. Die Analyse der Adoleszenzverläufe guineischer BildungsmigrantInnen in der Bundesrepublik Deutschland hat deutlich gemacht, wie insbesondere der alltägliche Rassismus sich als bedeutendes Hindernis für transformierende Lebensentwürfe erweist. Während die Adoleszenten des Musters Offensive Neuschöpfung über so weitreichende psychosoziale Kompetenzen verfügen, dass sie
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die psychischen und physischen Einschränkungen, die mit den Diskriminierungserfahrungen verbunden sind, kompensieren können, wirken sich diese Einschränkungen auf die Identitätsentwicklungen der Jugendlichen des Musters Kompromisshafte Transformation begrenzend und für die des Musters Defensive Anpassung gar blockierend aus. Die Migrationssituation gestaltet sich somit insbesondere für schwarze BildungsmigrantInnen in Deutschland aufgrund der allgegenwärtigen Diskriminierung als besondere Schwierigkeit, deren Bewältigung vor allem den von ihnen mitgebrachten inneren Ressourcen anzurechnen ist. Als Bildungselite ihres Landes verfügen die adoleszenten Guineer – abgesehen von ihren unterschiedlichen psychosozialen Kompetenzen – über eine gute Schulausbildung, hohe Sprachkompetenz, interkulturelle Praxis sowie eine hohe Motivation für eine außerordentliche berufliche Karriere. Das Auslandsstudium stellt für sie eine Voraussetzung dar, im internationalen Wettbewerb der globalisierten Welt konkurrenzfähig zu sein. Mit diesen Potentialen treffen sie in der Bundesrepublik auf eine monokulturell ausgerichtete Gesellschaft mit geringer Bereitschaft zur Veränderung. Das vorwiegend monolinguale und wenig flexible Bildungssystem zwingt die guineischen BildungsmigrantInnen zu einer Anpassungsleistung, die sie innerhalb kurzer Zeit vollziehen. Dennoch besteht eine erhebliche Diskrepanz für sie zwischen ihren adoleszenten Entwicklungsmöglichkeiten und den Beschränkungen aufgrund der von Fremdenfeindlichkeit dominierten Migrationssituation. Die seitens der Politik sowie der Öffentlichkeit geforderte Integration der MigrantInnen in die hiesige Gesellschaft wird mit der strukturell wie alltäglich vorhandener Diskriminierung konterkariert. Hinzu kommen die Rückkehrforderungen, mit denen die guineischen BildungsmigrantInnen seitens der Ausländerbehörden regelmäßig konfrontiert werden und die die Aussichtslosigkeit einer ihrer Ausbildung entsprechenden Berufstätigkeit in Guinea ignorieren. Die hinter den Rückkehrprogrammen stehende entwicklungspolitische Absicht, einen brain drain der Herkunftsländer einzudämmen, lässt wissenschaftliche Erkenntnisse ungeachtet, die belegen, dass einerseits nicht alle AuslandsstudentInnen aus persönlichen oder strukturellen Gründen nach ihrer Rückkehr zur Entwicklung ihres Landes beitragen und andererseits gerade die Nicht-Rückkehrer aufgrund ihrer transnationalen und -kulturellen Orientierung entwicklungsfördernde Transferleistungen in ihre Heimatländer erbringen. Die Widerstände seitens der deutschen Gesellschaft, den guineischen Studierenden einen angemessenen Platz zuzugestehen, wirken sich destruktiv auf ihre Identitätsentwürfe aus, wie die vorliegende Studie gezeigt hat. Zugleich werfen diese Ergebnisse die Frage auf, warum die Potentiale der BildungsmigrantInnen so wenig Aufmerksamkeit erhalten. In Anbetracht der seit einigen Jahren geführten Debatte um die Wettbewerbsfähigkeit
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Deutschlands in der globalisierten Wirtschaft bieten die BildungsmigrantInnen aufgrund ihrer hohen Qualifikation und ihrer vielfältigen inneren Ressourcen die für diesen Wettbewerb notwendigen Kompetenzen. Neben der hier erworbenen hochqualifizierten Berufsausbildung verfügen sie auch über die für internationale Arbeitsmärkte notwendigen interkulturellen Fähigkeiten, Kenntnisse und Erfahrungen. Die vielfältigen Potenziale der in Deutschland ausgebildeten guineischen AkademikerInnen machen deren Beschäftigung in Bereichen wie Wirtschaft, Politik und Internationale Beziehungen zu einem Desiderat, was von der einseitig auf Reintegration ausgerichteten Politik der Bundesrepublik ignoriert wird, die stattdessen die Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland favorisiert. Hier besteht meines Erachtens auf politischer Ebene Diskussionsbedarf, inwieweit diese sich widersprechende und Ressourcen verschwendende Praxis fortgesetzt werden soll.
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Notation
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